Sehnsucht nach Wieder-verzauberung - Internationale Politik

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Sylke-Tempel-Fellowship 2021

                              Sehnsucht
                             nach Wieder-
                             verzauberung
                             Gegen Liberalismus und Demokratie: Politische
                             Theologie in den USA, Israel und Deutschland.

                                         Ein Text von Jakob Flemming

E
       s ist der Silvester-Abend im Polen des Jahres    beschreibt, zieht sich nicht nur durch ihre damali-
       1999. Anne Applebaum und ihre überwie-           ge Silvester-Gesellschaft. Er beschränkt sich auch
       gend bürgerlich-konservative Festgesell-         nicht auf die polnische Gesellschaft, sondern er
schaft blicken voller Optimismus auf das vor ihnen      ist ein Symptom eines in allen westlichen Gesell-
liegende Jahrhundert; die noch junge Niederlage         schaften erstarkenden Autoritarismus, der die li-
des Kommunismus scheint auch der Sieg der libe-         berale Demokratie und ihren Zusammenhalt auf
ralen Demokratie zu sein.                               die Probe stellt.
    Doch gut 20 Jahre später geht ein Riss durch die        Anne Applebaum ist eine amerikanische
Silvester-Gesellschaft von 1999: Manche unterstüt-      Historikerin und Publizistin, die als Vertreterin
zen die seit 2015 in Polen regierende rechtspopu-       der sogenannten „Neokonservativen“ galt, als
listische PiS, andere, zu denen Applebaum gehört,       der Konservatismus in den USA noch für einen
betrachten sie als Teil einer autoritären Revolte       amerikanischen Exzeptionalismus stand, der
gegen die liberale Demokratie. Aus persönlichen         seine Errungenschaften – Demokratie, Rechts-
und politischen Freunden sind Feinde geworden.          staat, Menschenrechte – stolz in die Welt tragen
    Dieser tiefe Riss, den Applebaum in ihrer jüngs-    wollte. In den 1990er Jahren schrieb sie für die
ten Buchveröffentlichung „Twilight of Democracy“        einschlägigen neokonservativen Magazine wie

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Sehnsucht nach Wiederverzauberung

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Sylke-Tempel-Fellowship 2021

den ­Spectator und den Weekly Standard und war       sellschaftlichen und politischen Polarisierung
Fellow am American Enterprise Institute, dem         verbunden ist, die politische Verbündete, Freun-
Flaggschiff der Neokonservativen. Als Architek-      deskreise und Familien auseinandergerissen hat.
ten der verhassten „endlosen Kriege“ dienen die
Neocons sowohl der amerikanischen Linken als         Carl Schmitts antiliberale Sehnsucht
auch der Rechten nach ihrer Hinwendung zum Iso-      Die Ursache für die synchron auftretenden Ten-
lationismus als Feindbilder. Und so ist es einsam    denzen der Polarisierung in den demokratischen
geworden zumindest um jene Neokonservativen,         Gesellschaften sucht Applebaum in der „autoritä-
die den Wandel des amerikanischen Konservatis-       ren Prädisposition“ des Menschen. Danach fühlten
mus nicht selbst mitgemacht haben und deshalb        sich Menschen zu autoritären Ideen hingezogen,
heute oft zu den sogenannten „Never Trumpern“        weil sie von einer immer komplexer werdenden
der amerikanischen Rechten zählen.                   Welt überfordert seien. Sie suchten Einheit, weil
   Mit der persönlichen Anekdote vom Silves-         sie Spaltung ablehnten.
ter-Abend 1999 erfasst Applebaum, die die pol-          Das erscheint zunächst paradox: Warum folgt
nische Staatsbürgerschaft besitzt, viele Jahre in    man in dem Streben nach Einheit einer autori-
Polen gelebt hat und Expertin für osteuropäische     tären Idee, die eine klare Freund-Feind-Unter-
Geschichte ist, ein neues politisches Klima, in      scheidung vornimmt und kaum Interesse an
dem nicht mehr wie gewohnt Argumente aus-
getauscht werden und in liberaldemokratischer
Tradition ein Konsens angestrebt wird, sondern
der politische Gegner nur noch als existenzieller
Feind begriffen und entsprechend bekämpft wird.
                                                     Menschen fühlen sich
Über Polen reist sie in „Twilight of Democracy“
weiter nach Ungarn, ins Vereinigte Königreich        zu autoritären Ideen
und in die USA.
   Trotz ihrer so unterschiedlichen Geschichte,
Kultur und politischen Systeme erkennt Apple-
                                                     hingezogen, weil sie
baum in allen vier Ländern verblüffend ähnliche
und zeitlich parallel auftretende rechtsautoritäre   von einer immer kom-
Bewegungen. In Polen arbeitet die PiS seit 2015
an der Aushöhlung des Rechtsstaats, in Ungarn
wickelt die Fidesz-Regierung seit 2010 Minderhei-
                                                     plexer werdenden
tenrechte ab, in Großbritannien wurde 2016 der
Austritt aus der Europäischen Union eingeleitet,     Welt überfordert sind
und in den USA steht nach vierjähriger Präsident-
schaft Donald Trumps das Prinzip der freien und
fairen Wahlen zur Disposition.
   Allen vier Fällen sei gemeinsam, so Apple-        demokratischem Diskurs und Konsensfindung
baum, dass dem Aufstieg des Autoritarismus eine      hat? Zur Auflösung dieses Paradoxons könnte Carl
„mittelgroße Lüge“ zugrunde liege (in Polen bei-     Schmitts Politische Theologie beitragen, an de-
spielsweise die Verschwörungstheorien rund um        ren Terminologie und Begriff des Politischen die
den Flugzeugabsturz des ehemaligen polnischen        politischen Diskurse der Gegenwart westlicher
Präsidenten Lech Kaczyński, in den USA die Fik-      Gesellschaften zumindest stark erinnern. Diese
tion eines Wahlbetrugs bei den Präsidentschafts-     Diskurse gleichen immer häufiger dem „Diskurs“
wahlen 2020) und dass er mit einer massiven ge-      von Fans verfeindeter Fußball-Mannschaften, de-

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Sehnsucht nach Wiederverzauberung

 ren einziges Ziel die Abqualifizierung des Geg-
 ners ist und deren Mitglieder sich die Realität so
                                                        Mit Carl Schmitt
 zurechtbiegen, dass sie die Zugehörigkeit zum
 eigenen Lager legitimiert.                             könnte der moderne
     Im Mai 1933 trat der Staatsrechtler Carl Schmitt
 der NSDAP bei, und so ist es wenig überraschend,
 dass sein Denken und Wirken getrieben war vom
                                                        Autoritarismus auch
 Kampf gegen Liberalismus und Demokratie. Sei-
 ne Ablehnung der liberalen Demokratie ist in der       nach Einheit streben,
 Politischen Theologie begründet, nach der alle
 Begriffe der modernen Staatsrechtslehre auf sä-
 kularisierte Begriffe zurückzuführen seien, wie
                                                        sich aber primär nach
 Schmitt in seinen „Vier Kapiteln zur Lehre der
 ­Souveränität“ von 1922 schreibt. Er kritisiert,       einer „Wiederverzau-
  dass der moderne Rechtsstaat mit „positivisti-
  scher Gleichgültigkeit gegen jede Metaphysik“ den
  theologischen Ursprung seiner Begriffe ignoriere.
                                                        berung der Politik“
     Der zentrale Begriff ist dabei der des Ausnah-
mezustands, der seinen religiösen Ursprung im           sehnen, einer in der
Begriff des Wunders habe. Wie das Wunder die
­Naturgesetze überwinde und durchbreche, so
 konstituiere der Ausnahmezustand einen Eingriff
                                                        Metaphysik liegenden
 des Souveräns in die geltende Rechtsordnung. Da-
 raus leitet Schmitt seine bekannte Setzung ab,         Letztbegründung von
 dass souverän sei, wer über den Ausnahmezu-
 stand entscheide. Weil sich der liberaldemokrati-
 sche Staat seiner theologischen Letztbegründung
                                                        Herrschaft
 und insofern auch einem dezisionistischen Ver-
 ständnis von Demokratie entziehe, verkommt er
 nach Schmitt zu einer funktionalistischen Hülle
 für bloße „Mehrheits- und Minderheitsmathema-          doch schon die Verachtung der Wahlen als zen-
 tik“, wie er 1932 in „Legalität und Legitimität“       trale Institution der liberalen Demokratie an –,
 schreibt.                                              dass Carl Schmitt schließlich 1934 in „Der Führer
     Als Alternative zu dieser ihres Inhalts beraub-    schützt das Recht“ in Hitler den „wahren Führer“
ten Form von Demokratie schlägt Schmitt schon           sieht, der den homogenen Volkswillen zu antizi-
1926 in „Der Gegensatz von Parlamentarismus und         pieren vermöge.
moderner Massendemokratie“ einen Staat vor, der            Mit Carl Schmitt könnten die modernen autori-
auf der substanziellen Gleichheit des Volkes be-        tären Bewegungen zwar sekundär auch – wie von
ruhe und der alles Nicht-Identische notfalls „aus-      Applebaum vermutet – auf der Suche nach Einheit
scheiden oder vernichten“ müsse. Übrig bleibe ein       sein, sich aber primär nach einer „Wiederverzau-
homogenes Volk, dessen „Wille durch Zuruf, durch        berung der Politik“ sehnen, das heißt nach einer
acclamatio, durch selbstverständliches, unwider-        in der Metaphysik liegenden Letztbegründung von
sprochenes Dasein“ mindestens genauso gut wie           Herrschaft, die der liberalen Demokratie fehlt, die
durch einen „statistischen Apparat“ festgestellt        als technisch-bürokratische und reiner Arithme-
werden könne. Es verwundert nicht – klingt hier         tik folgende Herrschaft wahrgenommen wird.

                                                                                           IP Special • 7 / 2021   | 69
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Anhaltspunkte für solch eine antiliberale Sehn-       wählten Präsidenten Joe Biden – zu glauben und
sucht lassen sich trotz ihrer ­Unterschiedlichkeit    öffentlich zu verbreiten.
in den politischen Systemen der USA, Israels und         Liz Cheney, die im Repräsentantenhaus die
Deutschlands finden. Gleichzeitig haben diese         einzige Abgeordnete für den konservativen Bun-
drei Systeme ihre je eigenen Abwehrmechanis-          desstaat Wyoming ist, war im Januar 2021 eine der
men zur Verteidigung ihres Rechtsstaats und ihrer     wenigen republikanischen Abgeordneten, die für
­Demokratie.                                          das Impeachment gegen den damaligen Präsiden-
                                                      ten Trump stimmten. Seither spricht sie sich regel-
„The Big Lie“: Probe des Ausnahmezustands             mäßig öffentlich gegen die Verschwörungsmythen
Die Kongressabgeordnete Liz Cheney gilt oder galt     rund um die Präsidentschaftswahl und für demo-
bislang nicht als eine besonders moderate Repu-       kratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien
blikanerin. In allen „partisan issues“, seien es      aus. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Präsi-
Fiskal-, Grenz- oder Außenpolitik, vertritt Cheney    dentschaftswahl ist für die Republikanische Partei
ausweislich ihres Abstimmungsverhaltens konse-        mittlerweile zu einem derart identitären Thema
quent konservative, traditionell republikanische      geworden, dass Cheney für ihre Abweichung von
                                                      der Parteilinie im Mai aus der Fraktionsführung
                                                      der Republikaner im Repräsentantenhaus hinaus-
                                                      gewählt wurde. Stattdessen wurde sie im Juli von
Als „Republican In                                    der Demokratin Nancy Pelosi zum Mitglied des
                                                      überparteilichen Komitees ernannt, das den Sturm
Name Only“ gelten                                     auf das Kapitol vom 6. Januar aufarbeiten soll.
                                                         Am Fall Cheney und „The Big Lie“ zeigt sich
                                                      zweierlei: Zum einen wird offenbar, wie der Main-
für die Parteibasis                                   stream der Republikanischen Partei bewusst
                                                      Misstrauen im demokratischen Prozess des li-
alle, die sich weigern,                               beralen Rechtsstaats schürt. Zum anderen wird
                                                      deutlich, wie konsequent die Partei Abweichler
                                                      in dieser Frage bestraft und darauf bedacht ist,
die große Lüge vom                                    ideologische Homogenität in den eigenen Reihen
                                                      herzustellen.
Wahlbetrug bei der                                       In der Fiktion eines Wahlbetrugs und in der
                                                      Delegitimierung der US-Präsidentschaftswahlen
                                                      2020 werden einige Komponenten der Politischen
US-Wahl 2020 zu                                       Theologie Carl Schmitts sichtbar. So ist der Angriff
                                                      auf freie Wahlen an sich bereits ein antiliberaler
verbreiten                                            Akt, und auch die Erzählung hinter „The Big Lie“
                                                      erinnert auffällig an Schmitts Aversion gegen den
                                                      Parlamentarismus: Der angebliche Wahlbetrug
Positionen. Dennoch ist sie für die Mehrheit der      wird als das Werk einer abgehobenen Washing-
republikanischen Parteibasis, die Ex-Präsident        toner Elite inszeniert, die die Wahl Trumps, den
Trump treu ergeben ist, ein „RINO“, ein „Repub-       Kandidaten der „silent majority“, mit allen Mitteln
lican In Name Only“. Als „RINO“ gelten für diese      zu verhindern suchte. Bei Schmitt klingt das noch
Parteibasis inzwischen alle, die sich weigern, „The   so: „Heute erscheint das Parlament eher selbst als
Big Lie“ – die große Lüge vom Wahlbetrug bei der      eine riesige Antichambre vor den Bureaus oder
US-Präsidentschaftswahl 2020 zugunsten des ge-        Ausschüssen unsichtbarer Machthaber.“

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Sehnsucht nach Wiederverzauberung

   Der Aufstand gegen die „unsichtbaren Macht-         zeiungen haben auf Gläubige in der Regel nicht
haber“ wurde vorerst im Januar beim Sturm auf          den erwarteten Effekt.
das Kapitol geprobt. Die Institutionen des liberalen
Rechtsstaats hielten stand und stellten eine Über-     Die Alternative zum Autoritarismus
gabe der Macht an den Gewinner der demokrati-          Auch wenn in Deutschland gerne so getan wird,
schen Wahl, Joe Biden, sicher. Und doch kann die       als sei die Verlockung des Autoritären ein vor al-
weiterhin vorgetragene „Big Lie“, dass Trump noch      lem amerikanisches Phänomen, und es manchmal
immer der rechtmäßige Präsident der USA sei, als       scheint, als schwinge bei den mit markigen Worten
eine Probe des Ausnahmezustands gelten, die die        vorgetragenen Abgesängen auf die amerikanische
Frage nach der Souveränität stellt.                    Demokratie eine gute Portion Schadenfreude mit,
   Während die liberale Demokratie sich nur            sitzt in der Bundesrepublik mit der AfD eine rechts-
prozedural etwa mit freien Wahlen rechtfertigen        autoritäre Partei seit vier Jahren im Bundestag.
kann, sucht der Autoritarismus seine Rechtferti-       Spätestens mit dem Einzug der AfD ins Parlament
gung in der Metaphysik und in einem homoge-            etablierte sich auch ein neuer, verschärfter Ton,
nen Volkswillen. Nur so ist nachvollziehbar, dass      der zuletzt im Wahlkampf zur Bundestagswahl
Anhänger Trumps und wohl sogar Trump selbst            2021 sichtbar wurde.
die Regeln des Verfassungsstaats gänzlich außer           Auffällig ist dabei, dass der Vorwurf selbst, sich
Acht lassen und davon überzeugt sind, dass der         polarisierender Rhetorik zu bedienen, zu einem
Ex-Präsident am Tag X wieder eingesetzt wird (das      zentralen Gegenstand der politischen Debatte ge-
zuletzt kursierende Datum für das „reinstatem-         worden ist, und dass dieser Vorwurf kaum ohne
ent“ war der August 2021). Behielten sie recht,        einen Verweis auf die USA auskommt. In der Dis-
wäre es in der Tat ein Wunder, das die ultimative      kussion um Plagiate in ihrem Buch insinuierte die
Letztbegründung für einen antiliberalen Staat          Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock
im Sinne Carl ­Schmitts liefern würde. Geschieht       gegenüber der Brigitte, dass die Plagiatsvorwürfe
kein Wunder, hat die liberale Demokratie in den        eine „Vermischung von Wahrheit und Unwahr-
USA vorerst gewonnen, aber falsifizierte Prophe­       heit“ seien, wie man sie aus den USA kenne. Im Ge-
                                                       genzug schrieb die Neue Zürcher Zeitung in Reak-
                                                       tion auf die harte Verteidigungslinie der Grünen,
                                                       dass die Grünen in den „Trump-Modus“ verfielen.
Anhänger Donald                                           Die polarisierten deutschen Debatten der ver-
                                                       gangenen Jahre drehten sich meist um identitäts-
Trumps und vermut-                                     politische Themen wie Migration, Islam oder auch
                                                       das Gendern. Und während die autoritäre Rechte
                                                       auf diese Fragen ihre bekannten rechtspopulisti-
lich sogar Trump                                       schen, xenophoben, sexistischen und völkischen
                                                       Antworten gab, hat sich auf der Gegenseite eine
selbst sind überzeugt,                                 autoritäre Attitüde entwickelt, mit der jede Abwei-
                                                       chung vom eigenen moralischen Standard unmit-
                                                       telbar abgestraft wird. Wer seine Sprache nicht
dass der Ex-Präsident                                  gendert oder eine aufklärerische Islamkritik for-
                                                       muliert, gilt schnell als Rechtsaußen und hat sich
am Tag X wieder                                        für den Diskurs der Anständigen disqualifiziert.
                                                          Es scheint, als versuchten Teile der politischen
                                                       Linken, auf die Sehnsucht der Rechten nach
eingesetzt wird                                        Wiederverzauberung der Politik im Sinne einer

                                                                                            IP Special • 7 / 2021   | 71
Sylke-Tempel-Fellowship 2021

ethnisch homogenen Volksgemeinschaft mit                nau das passiert, wenn auch nicht entlang einer
einer Sehnsucht nach einer moralisch homoge-            ideologischen Konfliktlinie, sondern entlang der
nen Gesellschaft zu antworten. Letztere ist zwar        Haltung zum langjährigen Premierminister Ben-
­sympathischer als erstere, allein weil ihr der völ-    jamin Netanjahu.
 kische Beigeschmack abgeht, aber die Rettung der          Obwohl die Parteien, die nominell rechts der
 liberalen Demokratie vor der autoritären Versu-        politischen Mitte zu verorten sind, zusammen mit
 chung kann sie nicht sein.                             72 von 120 Sitzen eine komfortable Mehrheit er-
    Im linken Diskurs der Bundesrepublik gibt es        reichten, konnte Netanjahu, der sich als Anführer
 jedoch Stimmen, die diese Leerstellen reflektie-       dieses rechten Blockes versteht, keine Regierung
 ren und ungeachtet der politischen Konsequenzen        bilden. Gleich drei Parteien des rechten Lagers –
 Stellung gegen eine Mehrheit im eigenen Lager          die nationalreligiöse Yamina von Naftali Bennett
 beziehen. Zu nennen sind hier Cem Özdemir, der         und Ayelet Shaked, die säkular-nationalistische
 seit Jahren trotz teils heftigen Gegenwinds aus        Yisrael Beiteinu von Avigdor Lieberman und die
 den eigenen Reihen eine klare Haltung gegen jede       Likud-Ausgründung Tikva Chadasha von Gideon
 Form des Antisemitismus und für Israel vertritt,       Sa’ar – weigerten sich, in eine Koalition mit Ne-
 oder Kevin Kühnert, der 2020 eine Debatte inner-       tanjahu einzutreten. Ganz überwiegend hat dies
 halb der politischen Linken über ihre Haltung          ­weniger mit ideologischen Problemen als viel-
 zum Islamismus anstieß. Nur mit einem solchen
 offenen demokratischen Diskurs lässt sich dem er-
 starkenden Autoritarismus etwas entgegensetzen.
    Denn wenn ein sich auf Carl Schmitt beziehen-
der rechter Autoritarismus gegen einen sich auf
Chantal Mouffe und Ernesto Laclau beziehenden
                                                        Es scheint, als ver-
linken Autoritarismus antritt, hat die liberale
Demokratie schon verloren. Statt den politischen        suchten Teile der poli-
Gegner moralisch zu delegitimieren, gilt es, die
Prinzipien der liberalen Demokratie und der Frei-
heit zu verteidigen und trotz politischer Differen-
                                                        tischen Linken, auf die
zen das Gemeinsame zu suchen.
                                                        Sehnsucht der Rechten
Vereint gegen „Bibi“
Die politischen Rahmenbedingungen in Israel sind
gänzlich andere als in den USA oder Deutschland:
                                                        nach ethnischer Homo-
So ist Israel statt eines präsidentiellen Zweipartei-
ensystems wie in den USA eine parlamentarische          genität mit einer Sehn-
Demokratie, in der sich mittlerweile, anders als in
Deutschland, ein Parteiensystem mit ausgespro-
chen vielen Parteien herausgebildet hat. Bei der
                                                        sucht nach einer
jüngsten Parlamentswahl wurden 13 verschiedene
Listen in die Knesset gewählt, die viele verschie-      moralisch homogenen
dene ideologisch oder demografisch eingrenzbare
Interessen vertreten. Dementsprechend erschien
es unwahrscheinlich, dass es in Israel zu einer
                                                        Gesellschaft zu ant-
Polarisierung in zwei sich feindlich gegenüber-
stehende Lager kommen kann. Und doch ist ge-            worten
72 | IP Special • 7 / 2021
Sehnsucht nach Wiederverzauberung

mehr mit persönlichen Vorbehalten gegen die
Person Netanjahu zu tun. Sowohl Bennett und
                                                      Für Carl Schmitt wäre
Shaked als auch Lieberman und Sa’ar tragen
ihre je eigene Privatfehde mit dem langjährigen       sie ein Exzess der rei-
Premierminister aus, dessen Verbündete sie alle
einst waren.
   Statt also eine Koalition des rechten Blockes
                                                      nen „Mehrheits- und
mit Netanjahus Likud zu bilden, gingen die drei
Parteien ein Bündnis mit den Parteien des Zen­        Minderheitsmathema-
trums und des linken Flügels ein. Um die knappe
Mehrheit zu sichern, war es überdies notwendig,
die islamistische Ra’am-Partei einzubeziehen.
                                                      tik“ – tatsächlich ist
Und so wählte zum ersten Mal in der Geschichte
Israels eine arabische Partei als Teil einer Regie-   die israelische Regie-
rungskoalition einen Premierminister, in diesem
Fall den als rechter Hardliner geltenden Bennett,
der nach zwei Jahren im Amt vom liberalen Yair
                                                      rungsbildung ein Sieg
Lapid abgelöst werden soll.
   Netanjahu reagierte entsprechend brüskiert,        der realen Demokratie
nannte die Koalition eine „gefährliche Koalition
des linken Flügels“ und warf insbesondere den
beteiligten Parteien des rechten Spektrums vor,
                                                      und ein Zeichen ihrer
israelische Interessen an Linksradikale und die
arabische Minderheit verkauft zu haben. Tagelang      Vitalität
wurde der Privatwohnsitz von Bennett und Sha-
ked von wütenden Anhängern Netanjahus bela-
gert. Die politische Rhetorik zwischen Pro- und
Anti-Netanjahu-Block ist nur noch schwerlich als
demokratischer Wettstreit um die besten Argu-         der Stimmen auf sich vereinen konnte, in bester
mente zu erkennen, sondern erinnert, wie in den       liberaldemokratischer Manier einen Konsens mit
USA und in Carl Schmitts Begriff des Politischen,     sieben anderen Parteien erzielte, um sich eine
an eine existenzielle Auseinandersetzung zwi-         knappe Mehrheit in der Knesset zu sichern und
schen zutiefst verfeindeten Lagern.                   sich zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen.
   Yoaz Mendel, ebenfalls ein ehemaliger Wegge-          Für ihn wäre es der Exzess bloßer „Mehrheits-
fährte Netanjahus und Kommunikationsminister          und Minderheitsmathematik“, das endgültige
der neuen Regierung für Tikva Chadasha, erklärt       Verkommen der Demokratie zur funktionalis-
die bemerkenswerte politische Komposition der         tischen Hülle, in der Politiker machtpolitische
neuen Regierung so: „Being right-wing does not        und pragmatische Bündnisse eingehen und den
mean being a Bibi-ist.“ Und doch erstaunt es, dass    „Volks­w illen“ scheinbar völlig ignorieren. Tat-
das Einende der Opposition zur Person Netanjahu       sächlich jedoch ist die israelische Regierungsbil-
offenbar stärker war als die zweifellos riesigen      dung ein Sieg der liberalen Demokratie und ein
ideologischen Differenzen zwischen den Koali-         Zeichen ihrer Vitalität. Denn ohne die Fähigkeit,
tionsparteien.                                        gegenläufige Interessen auszubalancieren und
   Carl Schmitt hätte es sicherlich nicht gefallen,   einen Konsens herbeizuführen, kann die liberale
dass der Kandidat einer Partei, die gut 6 Prozent     ­Demokratie nicht überleben. •

                                                                                         IP Special • 7 / 2021   | 73
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