Sehnsucht nach Wieder-verzauberung - Internationale Politik
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Sylke-Tempel-Fellowship 2021 Sehnsucht nach Wieder- verzauberung Gegen Liberalismus und Demokratie: Politische Theologie in den USA, Israel und Deutschland. Ein Text von Jakob Flemming E s ist der Silvester-Abend im Polen des Jahres beschreibt, zieht sich nicht nur durch ihre damali- 1999. Anne Applebaum und ihre überwie- ge Silvester-Gesellschaft. Er beschränkt sich auch gend bürgerlich-konservative Festgesell- nicht auf die polnische Gesellschaft, sondern er schaft blicken voller Optimismus auf das vor ihnen ist ein Symptom eines in allen westlichen Gesell- liegende Jahrhundert; die noch junge Niederlage schaften erstarkenden Autoritarismus, der die li- des Kommunismus scheint auch der Sieg der libe- berale Demokratie und ihren Zusammenhalt auf ralen Demokratie zu sein. die Probe stellt. Doch gut 20 Jahre später geht ein Riss durch die Anne Applebaum ist eine amerikanische Silvester-Gesellschaft von 1999: Manche unterstüt- Historikerin und Publizistin, die als Vertreterin zen die seit 2015 in Polen regierende rechtspopu- der sogenannten „Neokonservativen“ galt, als listische PiS, andere, zu denen Applebaum gehört, der Konservatismus in den USA noch für einen betrachten sie als Teil einer autoritären Revolte amerikanischen Exzeptionalismus stand, der gegen die liberale Demokratie. Aus persönlichen seine Errungenschaften – Demokratie, Rechts- und politischen Freunden sind Feinde geworden. staat, Menschenrechte – stolz in die Welt tragen Dieser tiefe Riss, den Applebaum in ihrer jüngs- wollte. In den 1990er Jahren schrieb sie für die ten Buchveröffentlichung „Twilight of Democracy“ einschlägigen neokonservativen Magazine wie 66 | IP Special • 7 / 2021
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Sylke-Tempel-Fellowship 2021 den Spectator und den Weekly Standard und war sellschaftlichen und politischen Polarisierung Fellow am American Enterprise Institute, dem verbunden ist, die politische Verbündete, Freun- Flaggschiff der Neokonservativen. Als Architek- deskreise und Familien auseinandergerissen hat. ten der verhassten „endlosen Kriege“ dienen die Neocons sowohl der amerikanischen Linken als Carl Schmitts antiliberale Sehnsucht auch der Rechten nach ihrer Hinwendung zum Iso- Die Ursache für die synchron auftretenden Ten- lationismus als Feindbilder. Und so ist es einsam denzen der Polarisierung in den demokratischen geworden zumindest um jene Neokonservativen, Gesellschaften sucht Applebaum in der „autoritä- die den Wandel des amerikanischen Konservatis- ren Prädisposition“ des Menschen. Danach fühlten mus nicht selbst mitgemacht haben und deshalb sich Menschen zu autoritären Ideen hingezogen, heute oft zu den sogenannten „Never Trumpern“ weil sie von einer immer komplexer werdenden der amerikanischen Rechten zählen. Welt überfordert seien. Sie suchten Einheit, weil Mit der persönlichen Anekdote vom Silves- sie Spaltung ablehnten. ter-Abend 1999 erfasst Applebaum, die die pol- Das erscheint zunächst paradox: Warum folgt nische Staatsbürgerschaft besitzt, viele Jahre in man in dem Streben nach Einheit einer autori- Polen gelebt hat und Expertin für osteuropäische tären Idee, die eine klare Freund-Feind-Unter- Geschichte ist, ein neues politisches Klima, in scheidung vornimmt und kaum Interesse an dem nicht mehr wie gewohnt Argumente aus- getauscht werden und in liberaldemokratischer Tradition ein Konsens angestrebt wird, sondern der politische Gegner nur noch als existenzieller Feind begriffen und entsprechend bekämpft wird. Menschen fühlen sich Über Polen reist sie in „Twilight of Democracy“ weiter nach Ungarn, ins Vereinigte Königreich zu autoritären Ideen und in die USA. Trotz ihrer so unterschiedlichen Geschichte, Kultur und politischen Systeme erkennt Apple- hingezogen, weil sie baum in allen vier Ländern verblüffend ähnliche und zeitlich parallel auftretende rechtsautoritäre von einer immer kom- Bewegungen. In Polen arbeitet die PiS seit 2015 an der Aushöhlung des Rechtsstaats, in Ungarn wickelt die Fidesz-Regierung seit 2010 Minderhei- plexer werdenden tenrechte ab, in Großbritannien wurde 2016 der Austritt aus der Europäischen Union eingeleitet, Welt überfordert sind und in den USA steht nach vierjähriger Präsident- schaft Donald Trumps das Prinzip der freien und fairen Wahlen zur Disposition. Allen vier Fällen sei gemeinsam, so Apple- demokratischem Diskurs und Konsensfindung baum, dass dem Aufstieg des Autoritarismus eine hat? Zur Auflösung dieses Paradoxons könnte Carl „mittelgroße Lüge“ zugrunde liege (in Polen bei- Schmitts Politische Theologie beitragen, an de- spielsweise die Verschwörungstheorien rund um ren Terminologie und Begriff des Politischen die den Flugzeugabsturz des ehemaligen polnischen politischen Diskurse der Gegenwart westlicher Präsidenten Lech Kaczyński, in den USA die Fik- Gesellschaften zumindest stark erinnern. Diese tion eines Wahlbetrugs bei den Präsidentschafts- Diskurse gleichen immer häufiger dem „Diskurs“ wahlen 2020) und dass er mit einer massiven ge- von Fans verfeindeter Fußball-Mannschaften, de- 68 | IP Special • 7 / 2021
Sehnsucht nach Wiederverzauberung ren einziges Ziel die Abqualifizierung des Geg- ners ist und deren Mitglieder sich die Realität so Mit Carl Schmitt zurechtbiegen, dass sie die Zugehörigkeit zum eigenen Lager legitimiert. könnte der moderne Im Mai 1933 trat der Staatsrechtler Carl Schmitt der NSDAP bei, und so ist es wenig überraschend, dass sein Denken und Wirken getrieben war vom Autoritarismus auch Kampf gegen Liberalismus und Demokratie. Sei- ne Ablehnung der liberalen Demokratie ist in der nach Einheit streben, Politischen Theologie begründet, nach der alle Begriffe der modernen Staatsrechtslehre auf sä- kularisierte Begriffe zurückzuführen seien, wie sich aber primär nach Schmitt in seinen „Vier Kapiteln zur Lehre der Souveränität“ von 1922 schreibt. Er kritisiert, einer „Wiederverzau- dass der moderne Rechtsstaat mit „positivisti- scher Gleichgültigkeit gegen jede Metaphysik“ den theologischen Ursprung seiner Begriffe ignoriere. berung der Politik“ Der zentrale Begriff ist dabei der des Ausnah- mezustands, der seinen religiösen Ursprung im sehnen, einer in der Begriff des Wunders habe. Wie das Wunder die Naturgesetze überwinde und durchbreche, so konstituiere der Ausnahmezustand einen Eingriff Metaphysik liegenden des Souveräns in die geltende Rechtsordnung. Da- raus leitet Schmitt seine bekannte Setzung ab, Letztbegründung von dass souverän sei, wer über den Ausnahmezu- stand entscheide. Weil sich der liberaldemokrati- sche Staat seiner theologischen Letztbegründung Herrschaft und insofern auch einem dezisionistischen Ver- ständnis von Demokratie entziehe, verkommt er nach Schmitt zu einer funktionalistischen Hülle für bloße „Mehrheits- und Minderheitsmathema- doch schon die Verachtung der Wahlen als zen- tik“, wie er 1932 in „Legalität und Legitimität“ trale Institution der liberalen Demokratie an –, schreibt. dass Carl Schmitt schließlich 1934 in „Der Führer Als Alternative zu dieser ihres Inhalts beraub- schützt das Recht“ in Hitler den „wahren Führer“ ten Form von Demokratie schlägt Schmitt schon sieht, der den homogenen Volkswillen zu antizi- 1926 in „Der Gegensatz von Parlamentarismus und pieren vermöge. moderner Massendemokratie“ einen Staat vor, der Mit Carl Schmitt könnten die modernen autori- auf der substanziellen Gleichheit des Volkes be- tären Bewegungen zwar sekundär auch – wie von ruhe und der alles Nicht-Identische notfalls „aus- Applebaum vermutet – auf der Suche nach Einheit scheiden oder vernichten“ müsse. Übrig bleibe ein sein, sich aber primär nach einer „Wiederverzau- homogenes Volk, dessen „Wille durch Zuruf, durch berung der Politik“ sehnen, das heißt nach einer acclamatio, durch selbstverständliches, unwider- in der Metaphysik liegenden Letztbegründung von sprochenes Dasein“ mindestens genauso gut wie Herrschaft, die der liberalen Demokratie fehlt, die durch einen „statistischen Apparat“ festgestellt als technisch-bürokratische und reiner Arithme- werden könne. Es verwundert nicht – klingt hier tik folgende Herrschaft wahrgenommen wird. IP Special • 7 / 2021 | 69
Sylke-Tempel-Fellowship 2021 Anhaltspunkte für solch eine antiliberale Sehn- wählten Präsidenten Joe Biden – zu glauben und sucht lassen sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit öffentlich zu verbreiten. in den politischen Systemen der USA, Israels und Liz Cheney, die im Repräsentantenhaus die Deutschlands finden. Gleichzeitig haben diese einzige Abgeordnete für den konservativen Bun- drei Systeme ihre je eigenen Abwehrmechanis- desstaat Wyoming ist, war im Januar 2021 eine der men zur Verteidigung ihres Rechtsstaats und ihrer wenigen republikanischen Abgeordneten, die für Demokratie. das Impeachment gegen den damaligen Präsiden- ten Trump stimmten. Seither spricht sie sich regel- „The Big Lie“: Probe des Ausnahmezustands mäßig öffentlich gegen die Verschwörungsmythen Die Kongressabgeordnete Liz Cheney gilt oder galt rund um die Präsidentschaftswahl und für demo- bislang nicht als eine besonders moderate Repu- kratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien blikanerin. In allen „partisan issues“, seien es aus. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Präsi- Fiskal-, Grenz- oder Außenpolitik, vertritt Cheney dentschaftswahl ist für die Republikanische Partei ausweislich ihres Abstimmungsverhaltens konse- mittlerweile zu einem derart identitären Thema quent konservative, traditionell republikanische geworden, dass Cheney für ihre Abweichung von der Parteilinie im Mai aus der Fraktionsführung der Republikaner im Repräsentantenhaus hinaus- gewählt wurde. Stattdessen wurde sie im Juli von Als „Republican In der Demokratin Nancy Pelosi zum Mitglied des überparteilichen Komitees ernannt, das den Sturm Name Only“ gelten auf das Kapitol vom 6. Januar aufarbeiten soll. Am Fall Cheney und „The Big Lie“ zeigt sich zweierlei: Zum einen wird offenbar, wie der Main- für die Parteibasis stream der Republikanischen Partei bewusst Misstrauen im demokratischen Prozess des li- alle, die sich weigern, beralen Rechtsstaats schürt. Zum anderen wird deutlich, wie konsequent die Partei Abweichler in dieser Frage bestraft und darauf bedacht ist, die große Lüge vom ideologische Homogenität in den eigenen Reihen herzustellen. Wahlbetrug bei der In der Fiktion eines Wahlbetrugs und in der Delegitimierung der US-Präsidentschaftswahlen 2020 werden einige Komponenten der Politischen US-Wahl 2020 zu Theologie Carl Schmitts sichtbar. So ist der Angriff auf freie Wahlen an sich bereits ein antiliberaler verbreiten Akt, und auch die Erzählung hinter „The Big Lie“ erinnert auffällig an Schmitts Aversion gegen den Parlamentarismus: Der angebliche Wahlbetrug Positionen. Dennoch ist sie für die Mehrheit der wird als das Werk einer abgehobenen Washing- republikanischen Parteibasis, die Ex-Präsident toner Elite inszeniert, die die Wahl Trumps, den Trump treu ergeben ist, ein „RINO“, ein „Repub- Kandidaten der „silent majority“, mit allen Mitteln lican In Name Only“. Als „RINO“ gelten für diese zu verhindern suchte. Bei Schmitt klingt das noch Parteibasis inzwischen alle, die sich weigern, „The so: „Heute erscheint das Parlament eher selbst als Big Lie“ – die große Lüge vom Wahlbetrug bei der eine riesige Antichambre vor den Bureaus oder US-Präsidentschaftswahl 2020 zugunsten des ge- Ausschüssen unsichtbarer Machthaber.“ 70 | IP Special • 7 / 2021
Sehnsucht nach Wiederverzauberung Der Aufstand gegen die „unsichtbaren Macht- zeiungen haben auf Gläubige in der Regel nicht haber“ wurde vorerst im Januar beim Sturm auf den erwarteten Effekt. das Kapitol geprobt. Die Institutionen des liberalen Rechtsstaats hielten stand und stellten eine Über- Die Alternative zum Autoritarismus gabe der Macht an den Gewinner der demokrati- Auch wenn in Deutschland gerne so getan wird, schen Wahl, Joe Biden, sicher. Und doch kann die als sei die Verlockung des Autoritären ein vor al- weiterhin vorgetragene „Big Lie“, dass Trump noch lem amerikanisches Phänomen, und es manchmal immer der rechtmäßige Präsident der USA sei, als scheint, als schwinge bei den mit markigen Worten eine Probe des Ausnahmezustands gelten, die die vorgetragenen Abgesängen auf die amerikanische Frage nach der Souveränität stellt. Demokratie eine gute Portion Schadenfreude mit, Während die liberale Demokratie sich nur sitzt in der Bundesrepublik mit der AfD eine rechts- prozedural etwa mit freien Wahlen rechtfertigen autoritäre Partei seit vier Jahren im Bundestag. kann, sucht der Autoritarismus seine Rechtferti- Spätestens mit dem Einzug der AfD ins Parlament gung in der Metaphysik und in einem homoge- etablierte sich auch ein neuer, verschärfter Ton, nen Volkswillen. Nur so ist nachvollziehbar, dass der zuletzt im Wahlkampf zur Bundestagswahl Anhänger Trumps und wohl sogar Trump selbst 2021 sichtbar wurde. die Regeln des Verfassungsstaats gänzlich außer Auffällig ist dabei, dass der Vorwurf selbst, sich Acht lassen und davon überzeugt sind, dass der polarisierender Rhetorik zu bedienen, zu einem Ex-Präsident am Tag X wieder eingesetzt wird (das zentralen Gegenstand der politischen Debatte ge- zuletzt kursierende Datum für das „reinstatem- worden ist, und dass dieser Vorwurf kaum ohne ent“ war der August 2021). Behielten sie recht, einen Verweis auf die USA auskommt. In der Dis- wäre es in der Tat ein Wunder, das die ultimative kussion um Plagiate in ihrem Buch insinuierte die Letztbegründung für einen antiliberalen Staat Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock im Sinne Carl Schmitts liefern würde. Geschieht gegenüber der Brigitte, dass die Plagiatsvorwürfe kein Wunder, hat die liberale Demokratie in den eine „Vermischung von Wahrheit und Unwahr- USA vorerst gewonnen, aber falsifizierte Prophe heit“ seien, wie man sie aus den USA kenne. Im Ge- genzug schrieb die Neue Zürcher Zeitung in Reak- tion auf die harte Verteidigungslinie der Grünen, dass die Grünen in den „Trump-Modus“ verfielen. Anhänger Donald Die polarisierten deutschen Debatten der ver- gangenen Jahre drehten sich meist um identitäts- Trumps und vermut- politische Themen wie Migration, Islam oder auch das Gendern. Und während die autoritäre Rechte auf diese Fragen ihre bekannten rechtspopulisti- lich sogar Trump schen, xenophoben, sexistischen und völkischen Antworten gab, hat sich auf der Gegenseite eine selbst sind überzeugt, autoritäre Attitüde entwickelt, mit der jede Abwei- chung vom eigenen moralischen Standard unmit- telbar abgestraft wird. Wer seine Sprache nicht dass der Ex-Präsident gendert oder eine aufklärerische Islamkritik for- muliert, gilt schnell als Rechtsaußen und hat sich am Tag X wieder für den Diskurs der Anständigen disqualifiziert. Es scheint, als versuchten Teile der politischen Linken, auf die Sehnsucht der Rechten nach eingesetzt wird Wiederverzauberung der Politik im Sinne einer IP Special • 7 / 2021 | 71
Sylke-Tempel-Fellowship 2021 ethnisch homogenen Volksgemeinschaft mit nau das passiert, wenn auch nicht entlang einer einer Sehnsucht nach einer moralisch homoge- ideologischen Konfliktlinie, sondern entlang der nen Gesellschaft zu antworten. Letztere ist zwar Haltung zum langjährigen Premierminister Ben- sympathischer als erstere, allein weil ihr der völ- jamin Netanjahu. kische Beigeschmack abgeht, aber die Rettung der Obwohl die Parteien, die nominell rechts der liberalen Demokratie vor der autoritären Versu- politischen Mitte zu verorten sind, zusammen mit chung kann sie nicht sein. 72 von 120 Sitzen eine komfortable Mehrheit er- Im linken Diskurs der Bundesrepublik gibt es reichten, konnte Netanjahu, der sich als Anführer jedoch Stimmen, die diese Leerstellen reflektie- dieses rechten Blockes versteht, keine Regierung ren und ungeachtet der politischen Konsequenzen bilden. Gleich drei Parteien des rechten Lagers – Stellung gegen eine Mehrheit im eigenen Lager die nationalreligiöse Yamina von Naftali Bennett beziehen. Zu nennen sind hier Cem Özdemir, der und Ayelet Shaked, die säkular-nationalistische seit Jahren trotz teils heftigen Gegenwinds aus Yisrael Beiteinu von Avigdor Lieberman und die den eigenen Reihen eine klare Haltung gegen jede Likud-Ausgründung Tikva Chadasha von Gideon Form des Antisemitismus und für Israel vertritt, Sa’ar – weigerten sich, in eine Koalition mit Ne- oder Kevin Kühnert, der 2020 eine Debatte inner- tanjahu einzutreten. Ganz überwiegend hat dies halb der politischen Linken über ihre Haltung weniger mit ideologischen Problemen als viel- zum Islamismus anstieß. Nur mit einem solchen offenen demokratischen Diskurs lässt sich dem er- starkenden Autoritarismus etwas entgegensetzen. Denn wenn ein sich auf Carl Schmitt beziehen- der rechter Autoritarismus gegen einen sich auf Chantal Mouffe und Ernesto Laclau beziehenden Es scheint, als ver- linken Autoritarismus antritt, hat die liberale Demokratie schon verloren. Statt den politischen suchten Teile der poli- Gegner moralisch zu delegitimieren, gilt es, die Prinzipien der liberalen Demokratie und der Frei- heit zu verteidigen und trotz politischer Differen- tischen Linken, auf die zen das Gemeinsame zu suchen. Sehnsucht der Rechten Vereint gegen „Bibi“ Die politischen Rahmenbedingungen in Israel sind gänzlich andere als in den USA oder Deutschland: nach ethnischer Homo- So ist Israel statt eines präsidentiellen Zweipartei- ensystems wie in den USA eine parlamentarische genität mit einer Sehn- Demokratie, in der sich mittlerweile, anders als in Deutschland, ein Parteiensystem mit ausgespro- chen vielen Parteien herausgebildet hat. Bei der sucht nach einer jüngsten Parlamentswahl wurden 13 verschiedene Listen in die Knesset gewählt, die viele verschie- moralisch homogenen dene ideologisch oder demografisch eingrenzbare Interessen vertreten. Dementsprechend erschien es unwahrscheinlich, dass es in Israel zu einer Gesellschaft zu ant- Polarisierung in zwei sich feindlich gegenüber- stehende Lager kommen kann. Und doch ist ge- worten 72 | IP Special • 7 / 2021
Sehnsucht nach Wiederverzauberung mehr mit persönlichen Vorbehalten gegen die Person Netanjahu zu tun. Sowohl Bennett und Für Carl Schmitt wäre Shaked als auch Lieberman und Sa’ar tragen ihre je eigene Privatfehde mit dem langjährigen sie ein Exzess der rei- Premierminister aus, dessen Verbündete sie alle einst waren. Statt also eine Koalition des rechten Blockes nen „Mehrheits- und mit Netanjahus Likud zu bilden, gingen die drei Parteien ein Bündnis mit den Parteien des Zen Minderheitsmathema- trums und des linken Flügels ein. Um die knappe Mehrheit zu sichern, war es überdies notwendig, die islamistische Ra’am-Partei einzubeziehen. tik“ – tatsächlich ist Und so wählte zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Partei als Teil einer Regie- die israelische Regie- rungskoalition einen Premierminister, in diesem Fall den als rechter Hardliner geltenden Bennett, der nach zwei Jahren im Amt vom liberalen Yair rungsbildung ein Sieg Lapid abgelöst werden soll. Netanjahu reagierte entsprechend brüskiert, der realen Demokratie nannte die Koalition eine „gefährliche Koalition des linken Flügels“ und warf insbesondere den beteiligten Parteien des rechten Spektrums vor, und ein Zeichen ihrer israelische Interessen an Linksradikale und die arabische Minderheit verkauft zu haben. Tagelang Vitalität wurde der Privatwohnsitz von Bennett und Sha- ked von wütenden Anhängern Netanjahus bela- gert. Die politische Rhetorik zwischen Pro- und Anti-Netanjahu-Block ist nur noch schwerlich als demokratischer Wettstreit um die besten Argu- der Stimmen auf sich vereinen konnte, in bester mente zu erkennen, sondern erinnert, wie in den liberaldemokratischer Manier einen Konsens mit USA und in Carl Schmitts Begriff des Politischen, sieben anderen Parteien erzielte, um sich eine an eine existenzielle Auseinandersetzung zwi- knappe Mehrheit in der Knesset zu sichern und schen zutiefst verfeindeten Lagern. sich zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Yoaz Mendel, ebenfalls ein ehemaliger Wegge- Für ihn wäre es der Exzess bloßer „Mehrheits- fährte Netanjahus und Kommunikationsminister und Minderheitsmathematik“, das endgültige der neuen Regierung für Tikva Chadasha, erklärt Verkommen der Demokratie zur funktionalis- die bemerkenswerte politische Komposition der tischen Hülle, in der Politiker machtpolitische neuen Regierung so: „Being right-wing does not und pragmatische Bündnisse eingehen und den mean being a Bibi-ist.“ Und doch erstaunt es, dass „Volksw illen“ scheinbar völlig ignorieren. Tat- das Einende der Opposition zur Person Netanjahu sächlich jedoch ist die israelische Regierungsbil- offenbar stärker war als die zweifellos riesigen dung ein Sieg der liberalen Demokratie und ein ideologischen Differenzen zwischen den Koali- Zeichen ihrer Vitalität. Denn ohne die Fähigkeit, tionsparteien. gegenläufige Interessen auszubalancieren und Carl Schmitt hätte es sicherlich nicht gefallen, einen Konsens herbeizuführen, kann die liberale dass der Kandidat einer Partei, die gut 6 Prozent Demokratie nicht überleben. • IP Special • 7 / 2021 | 73
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