Sekt, Champagner & Co - So prickelnd kann Chemie sein
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
DOI: 10.1002/ciuz.200900520 So prickelnd kann Chemie sein Sekt, Champagner & Co. K LAUS R OTH Bild: Verband Deutscher Sekt- kellereien 418 © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 |
SEKT K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H … | Wie in jeder Silvesternacht werden wir auch Für die Franzosen ist selbstverständlich ein Franzose der diesmal das Neue Jahr mit guten Vorsätzen Erfinder des Champagners: der Benediktinermönch Dom Pierre Pérignon (1638–1715). Als Kellermeister der Abtei und einem Glas Sekt oder Champagner be- Saint-Pierre d’Hautviller in der Champagne hat er die mé- grüßen. Wohl jeder von uns hat schon einmal thode champenoise maßgeblich mitentwickelt und per- verzückt das perlende Getränk im Glas beob- fektioniert. Dies war ein langjähriger Prozess, so dass die Festlegung des Geburtsjahres des Champagners auf das Jahr achtet, wie die Gasbläschen scheinbar aus dem Nichts kommend aufsteigen und schließlich an der Oberfläche zerplatzen. ABB. 1 S T Ö C H I O M E T R I E E I N E R TOTA L E N F L A S C H E N G Ä R U N G Wenn Sie aber glauben, chemisch-physika- | lisch sei dabei nicht viel los, dann irren Sie ge- waltig. Sekt & Co sind weit mehr als nur ein Korkenknall und ein bisschen Prickeln auf der Zunge. Lassen Sie sich überraschen! Für die einfachste Sektherstellung (Achtung, Gedankenexperiment!!) bräuchte man nur Most und Hefe direkt in eine Flasche abzufüllen und fest zu verschließen. Glücklicherwei- se bewahrt uns eine kleine stöchiometrische Überschlagsrechnung vor dieser Dummheit. Ein Liter eines typischen Traubenmosts enthält etwa 200 g Zu- D ie alkoholische Gärung ist der älteste von Menschen genutzte biotechnologische Prozess [1]. Nach der in Gleichung (1) zusammengefassten Reaktionssequenz bauen cker, aus dem nach Gleichung (1) bei vollständiger Gärung 102 g Ethanol (etwa 13 Vol%) und 98 g Kohlendioxid gebildet werden. In einer üblichen 0,75 L-Flasche wären dies 74 g CO2 entsprechend Hefezellen Zucker bei Sauerstoffausschluss zu Ethanol und 38 Liter bei einer Atmosphäre und 0 °C. Kohlendioxid ab. Maximal können Ethanolgehalte bis zu Bei 10 °C und 1 atm Druck lösen sich in 0,75 L Wasser 1,6 g CO2. Da nach dem Gesetz von William Henry die gelöste Menge ei- 14 Vol% erreicht werden, denn bei diesen hohen Ethanol- nes Gases proportional zum Gasdruck ist, würde sich nach voll- konzentrationen sterben Hefezellen durch ihr eigenes Stoff- ständigem Lösen von 74 g Kohlendioxid in 0,75 L Wein ein Druck wechselprodukt ab. Nach Abfiltrieren der Hefezellen ist der von 46 atm aufbauen. Mit anderen Worten: Bei einer direkten Fla- Wein im Prinzip trinkfertig [2]. schenvergärung von Traubenmost würde uns jede Glasflasche um Gleichung (1) drängt die Herstellung eines sprudeln- die Ohren fliegen. Der übliche CO2-Druck in einer Sektflasche von William Henry 4–6 atm kann nur erreicht werden, wenn die Gärung in zwei ge- (1775–1836) den (moussierenden) Weines geradezu auf. Das bei der Gä- trennten Stufen abläuft, die Hauptgärung zunächst drucklos und [Foto: wikimedia rung entstehende CO2 muss einfach nur im entstehenden anschließend eine druckerzeugende Zweitgärung. commons] Wein verbleiben. Was läge näher, als Traubenmost und He- fe einfach in eine Flasche abzufüllen und fest zu verkorken? Eine auf den ersten Blick brillante Idee, die in der Praxis lei- ABB . 2 DER UR SPRUNG DES CHAMPAG NER S: BRITISH ODER FRANÇAIS ? der völlig fehlschlägt, denn bei der Gärung entstünde soviel CO2, dass der Druck in der verschlossenen Flasche auf fast 50 atm ansteigen und sie unweigerlich explodieren würde | Durch Zucker- und Hefezugabe zu einem durchgegorenen (Abbildung 1). So einfach kann man Sekt leider nicht her- leichten Wein kann eine zweite Gärung eingeleitet werden. stellen! Über dieses heute als méthode champenoise bezeichnete Verfahren berichtete erstmals 1662 nicht ein Franzose, son- Die Anfänge der schäumenden Weine [3] dern der Engländer Christopher Merret (1614 –1695) vor der Moussierende Weine sind schon seit dem Altertum bekannt, Royal Society in London. RidgeView Estate, ein führender englischer Sekthersteller, bezeichnet seine aus südengli- aber galten und gelten noch heute meist als minderwertig, schen Weinen durch Flaschengärung hergestellten Schaum- denn der Wein wurde offensichtlich zu früh, also vor Ende weine nicht als „sparkling wine“, sondern voller National- der Gärung, auf Flaschen gezogen, in denen es zu einer un- stolz als „Merret“. [Foto: The Royal College of Physicians, beabsichtigten Zweitgärung kam [4]. Es lag nahe, dass ir- London] gendwann einmal ein pfiffiger Kellermeister aus der Not ei- Aus französischer Sicht ist der Benediktinermönch Dom ne Tugend machte und durch eine gut kontrollierte Zweit- Pierre Pérignon (1638–1715) Vater des Champagners. Als gärung ein geschmacklich ansprechendes Getränk entwi- Kellermeister entwickelte und vervollkommnete er die Fla- ckelte. Wann dies geschah und wer die zündende Idee hat- schengärung und machte den in der Champagne produzier- te, ist unklar und darüber lässt sich vortrefflich streiten. Die ten Schaumwein zu einem Spitzenprodukt. Ihm verdanken Engländer reklamieren die Entdeckung der Flaschengärung wir auch die Flaschengröße von 0,75 Liter, die nach seiner Auffassung genau der Menge entsprach, die damals ein für sich, denn Christopher Merret berichtete erstmals 1662 Mann von Welt zum Abendessen trank. Nach Dom Pérignon vor der Royal Society über dieses Verfahren als Methode, um wird heute eine hochwertige Champagnermarke der Firma importierte französische Weine (vor allem die aus der Cham- Moët & Chandon benannt. [Foto: wikimedia commons] pagne!) geschmacklich zu verbessern [5]. Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 419
Bild: Verband Deutscher Sektkellereien e. V. 1695 willkürlich erscheint. Dass Dom Pérignon nach der Ob nun der Erfinder des hochwertigen Schaumweins Entdeckung seinen Klosterbrüdern zugerufen haben soll: beim Öffnen der ersten Flasche „Heureka!“ mit französi- „Brüder, kommt geschwind. Ich trinke Sterne!“, ist wohl schem oder englischen Akzent ausrief, bleibt ein Geheim- eher eine hübsche Anekdote. Sicher ist aber, dass Dom Pé- nis [6]. Eins steht allerdings fest: Die Mönche und Winzer rignon die Zweitgärung auf der Basis von Mischungen ver- der Champagne haben die Flaschengärung über Jahrhun- schiedener Weine und die zusätzliche Sicherung des Fla- derte durch strenge Produktionsvorschriften so perfektio- schenverschlusses durch eine Kordel um den Flaschenhals niert, dass heute eine Flasche guter Champagner das Ge- einführte (Abbildung 2). tränk für die besonderen Anlässe im Leben ist. Verfolgen wir den Herstellungsweg vom Weinberg über die Flasche bis in unser Glas und ergründen dabei, welche prominente und so erfreulich schmackhafte Rolle die Chemie dabei spielt ABB. 3 S C H AU M W E I N E – E I N E K L E I N E WA R E N KU N D E | [7, 8]. Schaumweine sind wein- und kohlensäu- neute Gärung nach einem der folgenden Vom Weinberg in die Sektkellerei rehaltige Getränke, die unter einem durch Verfahren hergestellt: Flaschen-, Transva- Ausgangspunkt aller Sekte ist ein stiller Grundwein (Abbil- Gärung entstandenen Kohlensäure-Druck sier- und Großraumgärung. dung 3). Bei dessen Herstellung werden relativ früh geern- von mindestens 3 atm bei 20 °C stehen tete, also nicht vollreife Trauben verarbeitet, die wegen ih- [42]. Je nach Ursprung, Herstellung und Schaumweine werden in folgende Quali- res geringen Zuckergehalts nach der Vergärung leichte Wei- Eigenschaften werden die Schaumweine tätsklassen unterteilt: unterteilt und entsprechend deklariert. Bei Alkoholgehalten < 10 Vol% spricht ne mit Alkoholgehalten um 9–10 Vol% ergeben. Hier nur ein kleiner Ausschnitt aus dem man von Schaumwein, bei Alkoholgehal- Bei den meisten Sekten geht man nicht von einem ein- komplexen EU-Gesetzeswerk: ten > 10 Vol% und einem Flaschendruck zigen Wein aus, sondern aus bis zu 80 Weinen verschiede- > 3,5 atm bei 20 °C von Qualitätsschaum- ner Traubensorten, Jahrgänge und Lagen wird eine Cuvée Schaumweine mit zugesetzter Kohlen- wein. Zusätzlich muss bei Qualitäts- komponiert. Die hohe Kunst des Mischens (assemblage) säure sind Weine, in die gasförmiges CO2 schaumwein die Herstellzeit im Groß- unter Druck eingepresst wurde (Impräg- raumverfahren mindestens 6 Monate (da- wurde besonders von Dom Pérignon kultiviert, um in den nierverfahren). von 60 Tage auf der Hefe) und bei der Fla- verschiedenen Jahren eine gleichbleibend gute Qualität zu schengärung 9 Monate (davon 90 Tage erreichen. Keineswegs gilt das Mischen verschiedener Wei- Schaumweine aus einmaliger Gärung auf der Hefe) betragen. ne zur Sektherstellung als etwas Anrüchiges, im Gegenteil, entstehen aus Trauben von Bukettsorten, Ein Qualitätsschaumwein darf nur viele der besten und teuersten Champagner entstanden aus die durch Unterbrechung der Gärung süß dann als Champagner bezeichnet werden, gehalten werden, dann in Flaschen abge- wenn die Grundweine aus der Champagne einer meisterlichen Cuvée. füllt und verschlossen werden und an- stammen und auch dort versektet wur- Dem stillen Grundwein wird eine Fülldosage (liqueur schließend in der Flasche durchgegoren den. Außerhalb der Champagne werden de tirage) zugegeben, eine Mischung von Hefe und Zucker. werden. Typische Vertreter sind Asti spu- Qualitätsschaumweine in Frankreich als Nach Überführen in ein Druckgefäß (Drucktank oder Fla- mante und Blanquette de Limoux [43]. Crémant, in Deutschland als Sekt, in Spa- sche) setzt die zweite Gärung ein. Die zugegebene Zu- nien als Cava, in Italien als Spumante und Schaumweine aus zweimaliger Gärung in der Ukraine als Krimskoje (Krimsekt) ckermenge führt nach der Vergärung zur Erhöhung des Al- werden nach Zucker- und Hefezugabe aus bezeichnet. koholgehalts um etwa 1,5 Vol% und zum Druckaufbau durchgegorenen Grundweinen durch er- durch das entstandene Kohlendioxid. Am Ende der Gärung und nach einer längeren Reifezeit wird die Hefe abgetrennt. Zum Abschluss wird der Sekt mit einer Versanddosage ver- setzt, einer Mischung aus Zucker, Most und Wein, mit der ABB. 4 D I E S Ü ß E VO N S E K T U N D C H A M PAG N E R | die Süße entsprechend den Kundenwünschen eingestellt wird (Abbildung 4). Sekt wird heute nach drei Verfahren hergestellt: Groß- Vor der Flaschenabfüllung wird Sekt mit einer Versanddosage versetzt. Mit dieser Mischung aus Wein, Most und Zucker wird die gewünschte Süße eingestellt. Die ent- raum- und Flaschengärung sowie das Transvasierverfahren. sprechenden Attribute sind mit denen von Weinen nicht direkt vergleichbar, da infolge Großraumgärung: Der Grundwein wird in riesige des höheren Säuregehalts ein Sekt bei gleichem Restzuckergehalt weniger süß schmeckt druckfeste Edelstahlbehälter (Fassungsvermögen von als der entsprechende Wein. 200 000 l und mehr) gefüllt und mit Hefe und Zucker ver- setzt. Während der einsetzenden Gärung und der an- Attribute Zuckergehalt [g/l] schließenden Reifung von mehreren Monaten liegt der brut nature/naturherb 0– 3 Sekt auf der Hefe und verbessert dabei seine sensorischen Extra brut 3–6 Eigenschaften erheblich. Nach Abfiltrieren der Hefe wird brut bis 15 der Sekt auf Flaschen gezogen. Mit diesem Verfahren ar- extra trocken 11–20 beiten die meisten Sektkellereien, da so große Mengen sec(co)/trocken 17–35 qualitativ guter und dabei preiswerter Sekte hergestellt demi sec/halbtrocken 33–50 werden können. doux/mild über 50 Flaschengärung: Dies ist das klassische Verfahren zur Herstellung hochwertiger Sekte und des Champagners. Die 420 © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 |
SEKT K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H … | Zweitgärung erfolgt in flach liegenden, mit einem Kron- korken verschlossenen Flaschen. Die Hefe liegt zunächst ABB. 5 DIE TRADITIONELLE FLASCHENGÄRUNG am Boden und muss nach der Vergärung und mehrmonati- ger Reifung abgetrennt werden. Dies ist bei einer unter | Druck stehen Flasche nicht einfach. Folgendes trickreiche a) b) Verfahren hat sich bewährt: Die Flaschen werden in ein so genanntes Rüttelpult schräg gelegt, wobei der Flaschenhals nach unten zeigt. Nun wird die Flasche vielfach „gerüttelt“, um die am Boden liegende Hefe von der Glaswand abzulö- sen. Gleichzeitig wird die Flasche nach jedem „Rütteln“ um 1/8 Umdrehung gedreht und ein wenig steiler aufgestellt. Nach etwa 21 Tagen steht die Flasche schließlich senkrecht und die gesamte Hefe hat sich im Flaschenhals gesammelt (Abbildung 5). Heute übernimmt in vielen Kellereien eine c) d) Rüttelmaschine diese zeitaufwendige Handarbeit, allerdings beschäftigen namhafte Sektkellereien noch immer speziali- sierte Fachkräfte für diese Handarbeit. Zur Enthefung wird der Flaschenhals in ein Kältebad von –20 °C eingetaucht, bis die Flüssigkeit um die Hefe im Flaschenhals gefroren ist. Die Flasche wird kurz geöffnet (degorgiert), so dass durch den Druck der Eispfropfen incl. Hefereste herausschießt. Danach wird die Versanddosage zugesetzt, mit der die Süße des Schaumweins eingestellt e) f) wird. Schließlich wird die Flasche mit einem Korken aus Ei- chenkork oder Kunststoff verschlossen und der Verschluss mit einem zusätzlichen Draht (agraffe) gesichert. Das sehr arbeitsaufwendige Verfahren der Flaschengä- rung nach traditioneller Art (méthode traditionelle) [9] macht die Herstellung sehr teuer und wird deswegen nur bei höherwertigen Produkten angewandt. Transvasierverfahren: In diesem Verfahren wird die Großraum- mit der Flaschenvergärung kombiniert. Die (a) In einer dickwandi- g) h) Zweitgärung selbst erfolgt zwar in Flaschen, die aber nicht gen Flasche wird ein degorgiert, sondern in große Edelstahltanks unter Druck leichter Grundwein bzw. entleert werden. Die aufwendige Abtrennung der Hefe Verschnitt verschiedener durch Filtration erfolgt aus dem Edelstahltank und schließ- Weine (Cuvée) mit einer lich werden die Flaschen abgefüllt. Die mit diesem Verfah- Mischung aus Zucker und Hefe (liqueur des ti- ren hergestellten Sekte dürfen mit dem Hinweis „im Fla- rage) versetzt. (b) Die schengärverfahren hergestellt“ deklariert werden. Flaschen werden mit ei- nem provisorischen Sekt oder Champagner, das ist hier die Frage! Kronkorken verschlos- Der Champagner ist der unbestrittene König aller schäu- sen. (c) Die verschlossenen Flaschen werden zur Vergärung waagerecht gelegt, da- mit die Flüssigkeit guten Kontakt zur Hefe hat. (d) Am Ende der Vergärung bleibt menden Weine. Der Wein darf nach den strengen Regeln der Sekt während einer mehrmonatigen Reifezeit „auf der Hefe stehen“. Der dabei der „Appelation d’Origine Contrôlée“ nur aus der Cham- erfolgende Abbau der Hefereste führt zu einer wesentlichen Aromaverbesserung pagne rund um Reims stammen und „Champagner“ muss des Sekts. (e) Nach mindestens sechsmonatiger Alterung werden die Flaschen mit dort nach einem festgelegten Verfahren hergestellt worden dem Hals nach unten in ein Rüttelbrett gestellt und immer wieder über einige Zeit sein. Der Begriff ist streng geschützt (Abbildung 6). gerüttelt und jeweils um etwa eine Achtel Umdrehung gedreht. (f) Beim Rütteln lö- sen sich die Hefereste von der Innenwand der Flaschen und setzen sich im Flaschen- Um die hohe Qualität aller Champagner zu gewähr- hals ab. Während der Rüttelung wird die Flasche schrittweise immer steiler aufge- leisten, muss jeder Hersteller einer Vielzahl von detaillier- stellt, so dass sich am Ende die gesamte Hefe im Flaschenhals als Bodensatz ange- ten Herstellungsvorschriften folgen, so dass Champagner sammelt hat. (g) Nach dem Eintauchen des Flaschenhalses in ein –20 °C Kältebad das wohl am strengsten kontrollierte Getränk überhaupt wird die Flüssigkeit um die Hefereste eingefroren und beim Öffnen des Kronkor- ist. Hier eine kleine Auswahl dieser Vorschriften: kens schießt der Eispfropfen mitsamt der Hefe aus der Flasche (degorgieren). (h) Zum Abschluss wird die Versanddosage zugesetzt, eine Mischung aus Zucker, – Das genau abgegrenzte Anbaugebiet umfasst seit 1927 Most und Wein, mit der die Süße des Endprodukts eingestellt wird. Zu guter Letzt nur 36.000 Hektar. wird die Flasche mit einem Korken verschlossen. – Dem Prinzip „Qualität vor Quantität“ folgend wird jedes [Fotos: wikimedia commons (d), Sektkellerei Dirk Kessler, Wintrich, Mosel (a–c, e–h)] Jahr die maximale Traubenmenge je Hektar festgelegt. Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 421
Abb. 6 Cham- – Nur mit Hand geerntete, in der Champagne gewachse- pagner und der ne Trauben der Sorten Chardonnay, Pinot Noir (Spät- Versailler Vertrag burgunder) und Pinot Meunier (Schwarzriesling) dürfen von 1919 für den Grundwein verwendet werden [10]. – Aus 160 kg Trauben dürfen maximal 100 L Most ausge- presst werden. Die Pressung muss schnell und scho- nend erfolgen, damit die in der Schale befindlichen ro- ten Farbstoffe der beiden Pinots nicht in den Most dif- fundieren. – Nach der dreiwöchigen Vergärung muss der Champag- ner mindestens 15 Monate auf der Hefe stehen, bei Jahr- gangs-Champagnern sogar drei Jahre. Kein Wunder, dass dieser große Aufwand seinen Preis hat. Da die jährliche Traubenernte gesetzlich begrenzt wird, können maximal 350 Millionen Champagner-Flaschen im Jahr hergestellt werden. Wegen der langen Reifungszeiten lagern in den Kellern der Champagner-Häuser schätzungs- weise 1,5 Milliarden Flaschen. Zwischen den verschiede- Die beiden Artikel 274 und 275 des Vertrages von Versailles nen Champagnern gibt es große Qualitätsunterschiede, die werden als Champagner-Paragraphen bezeichnet. Darin „[...] verpflichtet sich Deutschland zur Beachtung der Gesetze [...], sich in einer nach oben recht offenen Preisskala ausdrü- die in einem alliierten oder assoziierten Lande in Kraft sind cken. Neben Champagner-Raritäten, die auf Auktionen vier- [...] und die das Recht einer örtlichen Herkunftsbezeichnung bis fünfstellige Eurobeträge erreichen (pro Flasche!), be- für Weine oder Spirituosen festsetzen [...].“ Mit anderen Wor- kommt man aber schon für 150 1 etwas Ordentliches, z.B. ten: Die in Frankreich seit 1883 geltenden gesetzlich ge- eine Flasche Champagne Krug Grande Cuvée, der 6 Jah- schützten Herkunftsbezeichnungen für „Champagner“ und „Cognac“ galten auch in Deutschland. Seitdem werden ver- re auf der Hefe gestanden hat und den der Wein-Guru Ro- gleichbare Produkte in Deutschland als „Sekt“ bzw. „Wein- bert Parker mit „kraftvoll, ausdruckstark, verwegen und brand“ bezeichnet werden. [Gemälde von William Orpen, Bild- überbordend“ beschreibt und von den „kräftigen, fruchti- quelle: wikimedia commons] gen, würzigen Aromen und der immensen Tiefe“ schwärmt. Und die besonders feine und beständige perla- Abb. 7 Sebastian Vettel und Mark ge soll „grandios“ sein! Webber im Cham- Es muss aber nicht immer Champagner sein. Auch au- pagner-Moment ßerhalb der Champagne werden hervorragende Produkte nach dem gleichen Verfahren hergestellt, nur sie müssen an- ders benannt werden: Crémant in Frankreich, Sekt in Deutschland, Cava in Spanien, Spumante in Italien und Krimskoje (Krimsekt) in der Ukraine. Letztlich entscheidet nicht das Flaschenetikett über die Qualität, sondern die Zun- ge und Nase des Verbrauchers. Eine von der Zeitschrift „Stern“ 2007 durchgeführte große Blindverkostung von über 300 internationalen Sekten und Champagnern (Flaschen- preise < 60 1) ergab ein interessantes Bild. Zwar waren es vier Champagner (Flaschenpreis um die 50 1), die mit mehr als 88 von 100 möglichen Punkten mit Gold ausgezeichnet wurden, jedoch tauchten unter den mit Silber bewerteten Produkten auch einige deutsche Erzeugnisse auf, u.a. ein Das Schütteln und Öffnen einer lauwarmen Magnum-Flasche Sekt Cabinet extra trocken der Sektkellerei Kessler in Ess- Sekt oder Champagner und das anschließende Duschbad lingen, der mit einem Flaschenpreis von 7,20 1 viele, we- scheint ein unverzichtbares Ritual nach Autorennen zu sein. sentlich teurere Champagner mit klangvollen Namen hinter Am 19. April 2009 zelebrierten die beiden Bestplatzierten nach dem Grand Prix von China in Shanghai diese aus Sicht sich ließ [11]. Für den Novizen gilt wie bei allen Genüssen: eines Genießers unsinnige Barbarei. Aus physikalisch-chemi- Probieren geht über Studieren. Aber Achtung! Auch in größ- scher Sicht ist dieses Ritual jedoch hochinteressant, denn ter Sektlaune kann kritische Aufmerksamkeit nicht schaden: durch das kräftige Schütteln wird nicht etwa der Druck in der Bei einer Schaumweinsteuer von 1,02 1 je Flasche freut sich Flasche von etwa 7–8 atm erhöht, sondern es bilden sich beim der Finanzminister über jede getrunkene Flasche. Wieviel Schütteln unzählige kleine Gasbläschen in der Flüssigkeit, über deren Grenzfläche nach Öffnen der Flasche das CO2 ra- Qualität kann aber ein Verbraucher von einer Flasche er- sant in die Gasphase übertritt und für das beeindruckende warten, die beim Discounter für 2,29 1 inkl. Mehrwert- und Sprudelbad sorgt. [Foto: redbull technology] Sektsteuer über den Ladentisch geht? 422 © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 |
SEKT K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H … | Öffnen einer Flasche Sekt – Eine Frage von Kultur und Thermodynamik M A DA M E L I LY B O L L I N G E R Sekte verlassen die Kellerei ausgereift, ihre Qualität ver- bessert sich also nicht mit der Lagerzeit, da der CO2-Druck | unweigerlich abnehmen muss. Flaschen mit Naturkorken Madame Lily Bollinger, die damalige Besitzerin des können liegend 8–10 Jahre, mit Kunststoffkorken etwa 2 gleichnamigen Sekthauses, stellte am 17.Oktober Jahre stehend zwischen 10–15 °C und unbedingt dunkel 1961 in London den 1955er Jahrgang vor. Auf die Fra- ge eines Reporters vom Daily Mail, zu welchen Gele- aufbewahrt werden. genheiten sie denn Champagner trinke, antwortete Zum richtigen Öffnen einer Flasche Sekt oder Cham- sie: „Ich trinke ihn, wenn ich fröhlich bin und wenn ich pagner braucht man nur ein paar Regeln zu beachten und traurig bin. Manchmal trinke ich davon, wenn ich al- seinen gesunden Menschenverstand zu benutzen. Sekte soll- lein bin, und er darf nicht fehlen, wenn ich in Gesell- ten mit 6–8 °C serviert werden, bei zu tiefen Temperaturen schaft bin. Wenn ich keinen Hunger habe, mache ich mir mit ihm Appetit, und wenn ich hungrig bin, lasse entwickelt sich kein Aroma und in der Wärme verliert je- ich ihn mir schmecken. Sonst aber rühre ich ihn nicht der eingeschenkte Sekt schnell an Frische und wird schal. an, außer wenn ich Durst habe.“ Die Flasche kommt in aller Regel aus dem Kühlschrank und sollte dort bereits einige Stunden ruhig gestanden haben. Beim und nach dem Herausnehmen sollte die Flasche mög- ABB. 8 D R U C K U N D L Ö S L I C H K E I T VO N CO 2 I N E I N E M M O D E L L- S E K T lichst wenig bewegt und schon gar nicht geschüttelt wer- den, denn das Ziel ist ja nicht ein gewaltiger Knall oder das Überschäumen des halben Flascheninhalts, sondern nur ein | (12,5 % ETHANOL, 10 G/L ZUCKER) leises „Plopp“, damit möglichst viel des herrlichen Getränks In einer handelsüblichen Flasche (0,75 L) Sekt oder Champagner herrscht bei im Glas und nicht auf dem Teppich landet. Wie alles falsch 10 °C ein CO2-Druck von etwa 5,6 atm, was einer gelösten CO2-Gesamtmenge von gemacht werden kann, demonstrieren uns die Sieger jedes etwa 9,5 g je Flasche entspricht. Nach dem Öffnen der Flasche sinkt der CO2- Formel-1-Rennens (Abbildung 7). Ein perfekter Gastgeber Druck auf 1 atm und die Löslichkeit beträgt nur noch 1,7 g (bei 10 °C), d.h. es macht es so: müssten knapp 8 g CO2 schlagartig freiwerden. Diese CO2-Menge entspricht einem Volumen von 4 L, immerhin das Fünffache des Flaschenvolumens. – Die gekühlte Flasche vorsichtig aus dem Eiskübel neh- men und mit einer Serviette abtrocknen und dem (in- T °C Henrys Konstante kH Druck in einer Sektflasche teressierten) Gast das Etikett zeigen. [kgm–3atm–1] P [bar] P [atm] – Die Flasche mit einer Hand etwa um 45° neigen und 0 2,98 4,0 4,1 dann mit der anderen Hand zunächst die Stanniolkap- 5 2,49 4,7 4,8 pe öffnen und die Schleife des Drahtkorbes aufdrehen. 10 2,07 5,6 5,7 Dabei den Korken nie in Richtung von Personen rich- 15 1,73 6,7 6,8 ten. 20 1,44 8,0 8,1 – Den Drahtkorb aufweiten und mitsamt der Stanniol- 25 1,21 9,5 9,6 kappe entfernen. Häufig löst sich schon jetzt der Kor- ken und muss beim Herauskommen mit dem Daumen fixiert werden. Meist aber muss der Korken durch Dre- hen gelöst werden, im Notfall hilft eine Korkenzange ABB. 9 T H E R M O DY N A M I K D E S oder ein Nussknacker. Ziel ist nur ein sanftes, kaum hör- bares Seufzen beim Öffnen der Flasche, niemals ein lau- tes „Plopp“, denn: Was das Ohr gewinnt, geht dem | ÖFFNENS EINER SEKTFLASCHE Gaumen verloren [12]. Beim Öffnen expandiert das gasförmige CO2 im Die thermodynamische Ausgangslage einer geschlossenen Flaschenhals schlagartig und der Druck sackt und gekühlten Sektflasche scheint übersichtlich: Durch den von 5 auf 1 atm ab. Dies führt zur Abkühlung des Innendruck von etwa 5,5 atm (bei 10 °C) ist der größte Teil ausströmenden CO2. Eine Kurzzeitaufnahme des bei der Zweitgärung entstandenen Kohlendioxids im zeigt eindrucksvoll, wie dadurch die in der Um- Sekt gelöst. Für die Verteilung des CO2 zwischen dem etwa gebungsluft enthaltene Feuchtigkeit zu einem weißen Rauch aus Eiskristallen gefriert. Wer hät- 15 mL großen Gasraum und der Flüssigkeit gilt das Henry- te gedacht, dass uns das Öffnen einer Sektflasche Daltonsche Gesetz (2). Danach ist die Löslichkeit eines Ga- solch tiefe Einblicke in die Thermodynamik er- ses in einer Flüssigkeit proportional zum äußeren Druck möglicht. [Foto: Hinnerk Rümenapf, Hamburg, des Gases: http://ruemenapf.de] csekt = kH · pext (2) In der gekühlten Sektflasche (V = 0,75 L) sind bei 10 °C und 5,6 atm etwa 9,5 g Kohlendioxid gelöst (Abbildung 8) [8,13]. Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 423
Nach Öffnen der Flasche müssten aus thermodynamischer E I N E F L A S C H E C H A M PAG N E R Sicht schlagartig 8 g CO2 entsprechend gut 4 L gasförmi- | ges Kohlendioxid aus der Flüssigkeit freigesetzt werden, immerhin das Fünfeinhalbfache des Flaschenvolumens. Die chemische Natur und relative Menge der Hauptbestand- Glücklicherweise passiert dies nicht, denn dabei würde der teile in einer Flasche Champagner sagen nur wenig über den gesamte Sekt herausschießen. zu erwartenden Hochgenuss. Den Unterschied zwischen ei- Gehen wir bei unserer Analyse schrittweise vor. Be- nem Billig- und einem Spitzensekt machen eben nur geringe Konzentrationsunterschiede von bestimmten erwünschten trachten wir zunächst nur die ca. 15 mL gasförmiges Koh- oder gerade nicht erwünschten Aromastoffen einerseits und lendioxid, die bei 10 °C unter einem Druck von 5,5 atm im einer gelungenen Balance zwischen Süße und Säurespiel an- Flaschenhals stehen. Ein thermodynamisch übersichtliches derseits aus. Um diese aus chemisch-analytischer Sicht nur Flaschenöffnen sähe so aus, dass der Korken entlang eines scheinbar geringen Nuancen mühen sich Winzer und Keller- sehr langen Flaschenhalses rutschen kann. Der Korken soll meister Monate und Jahre ab, beginnend mit der sorgfältigen Auswahl der Trauben, der Vergärung und Auswahl und Mi- sich dabei reibungslos solange nach oben bewegen, bis der schung der Grundweine und die anschließende Zweitgärung. Druck im Flascheninneren so groß ist wie der Außendruck Vor allem eine lange Standzeit auf der Hefe hat großen Ein- von 1 atm. In diesem Fall leistet das sich von 5,5 auf 1 atm fluss auf das Aroma, denn bei der langsamen Zersetzung der ausdehnende Kohlendioxid gegen den Außendruck P1 eine Hefe entstehen hochgeschätzte Aromakomponenten [38]. Volumenarbeit. Von w = P1(V2 – V1), wobei V2 das Volumen Welcher Sekt oder Champagner der Beste ist, darüber strei- ten sich die Fachleute seit Jahrhunderten. Für viele Kenner gel- nach der Expansion und V1 = 15 mL das Volumen vor der ten Champagner von Krug als das Beste vom Besten, vor al- Expansion bedeutet. Für eine dicke Sektflasche können wir lem die sorgfältig hergestellten und viele Jahre auf Hefe lie- mit ruhigem Gewissen annehmen, dass sie so gut isoliert, genden Jahrgangs-Champagner und die Krug-Collection. Der dass zwischen dem inneren Gas und der Außenwelt kein Beste unter den Besten ist der 1928er Krug Collection Cham- Wärmeaustausch stattfindet. Für diesen als adiabatische Ex- pagner. Nach Kennermeinung besticht er durch seine tiefgol- dene Farbe und sein andauerndes Perlenspiel. Sein komplexes pansion bezeichneten Vorgang gilt nach den Gesetzen der Aroma mit starken Karamel-, Biskuit- und Honignoten ist ein- Thermodynamik [14]: zigartig und mündet in einem mehrere Minuten andauernden Abgang. Kein Wunder, dass der teuerste auf Weinauktionen P1/P2 = (V2/V1)m (3) versteigerte Champagner ein 1928er Krug war. Am 28. März 2009 erzielte eine einzige(!) Flasche den Rekordpreis von 15.900 2. wobei m = Cp/Cv der Quotient aus den molaren Molwär- men bei konstantem Druck und konstantem Volumen (mCO2 = 1,30) ist. Bei einer Druckänderung von 5,5 auf 1 atm dehnt sich das CO2-Volumen nach Gleichung (3) von Verbindung Menge [g] je V1 = 15 mL auf V2 = 52 mL aus. Die dabei nach außen ge- 0,75 l Flasche [8] leistete Volumenarbeit geht dem System verloren und führt Ethanol 75 zu einer Abkühlung des CO2. Es gilt: CO2 7,5–9,0 Glycerin 3,8 T1/T2 = (P 1/P2)(m–1)/m Weinsäure 1,9–3,0 Milchsäure 3,0 In unserem Fall gilt (T1/T2) = (5,5)0,23 = 1,48. Somit würde Zucker 7,5–38 die CO2-Temperatur nach dem Expandieren theoretisch Proteine 0,004–0,008 auf T2 = 191 K absinken, was einer Temperaturerniedri- Polysaccharide 0,15 gung auf –82 °C entspricht. Dieses Ergebnis wurde unter Polyphenole 0,08 stark idealisierten Vereinfachungen abgeleitet, so dass die Aminosäuren 0,0006–0,0015 Abkühlung viel zu groß ausfällt [15]. Der deutlich erkenn- flüchtige organische Verbindungen 0,53 bare weiße Nebel bzw. Rauch zeigt aber, dass die Abküh- Lipide 0,08 lung ausreicht, das in der Umgebungsluft enthaltene Was- Kalium 0,15–0,3 ser zum Kondensieren bzw. Gefrieren zu bringen (Abbil- Calcium 0,05–0,1 dung 9). Magnesium 0,04–0,08 Sulfat 0,15 „Ich will Champagner Wein, Chlorid 0,008 Und recht moussierend soll er sein!“ [16] Nach dem Öffnen riecht der aufmerksame Gastgeber un- pH-Wert 3,5 auffällig an der Unterseite des Korkens, um sich zu verge- Viskosität [18] 1,5x10–3 [kg m–1s–1] wissern, dass ihm kein verdorbener Geruch anhaftet. Dann Oberflächenspannung 50 [mN m–1] wird der 6–8 °C kalte Sekt in zwei, drei Schritten in die Glä- ser eingegossen, die jedoch höchstens zu 2/3 gefüllt wer- den dürfen, damit noch genügend Raum zur Aromaentfal- 424 © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 |
SEKT K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H … | tung bleibt. Hierbei stellt sich die Frage, in welcher Glas- Die schwere Geburt einer Sektperle form der Sekt oder Champagner sein Aroma am besten ent- Nach dem Abklingen der Turbulenzen beim Eingießen steht falten kann (Abbildung 10). Ziel ist es einerseits, dass der nun das gut halbgefüllte Glas vor uns. Zwar verlässt von Sekt lange seine Frische im Glas behält, d.h. nicht schnell uns unbemerkt ein Teil des CO2 die übersättigte Lösung warm oder schal wird und andererseits wollen wir das Aro- durch den direkten Übergang über die Flüssigkeitsoberflä- ma so vollständig wie möglich mit unserem Geruchssinn er- che in die Gasphase, aber ein anderer Teil beschert uns fassen. Wägen wir die beiden gebräuchlichsten Glasformen, beim Phasenübergang ein von uns hochgeschätztes Schau- Tulpe und Glas, in Hinblick auf ihre Eignung gegeneinan- spiel. An einigen Stellen, sowohl an der Glaswand als auch der ab. Die Sektschale ist wegen ihrer Eleganz seit Jahr- mittendrin im Sekt, bilden sich scheinbar aus dem Nichts hunderten eng mit Champagner verbunden und die Form in regelmäßigen Abständen winzige Bläschen, die langsam soll angeblich den Brüsten von Marie-Antoinette nachge- bildet worden sein, der Frau von Louis XVI [17]. Die Sekt- schale hat eine Oberfläche von ungefähr 60 cm2 und die Füllhöhe im Glas liegt bei etwa 2,9 cm (Abbildung 10). Die Sekttulpe hat eine kleinere Flüssigkeitsoberfläche von nur 20 cm2 bei einer Füllhöhe von etwa 7,4 cm. Wie wirkt sich das aus? Zunächst fördert eine größere Oberfläche den für uns unsichtbaren direkten Übergang des CO2 in die Atmosphä- re. Für die Netto-Geschwindigkeit vT des CO2-Stofftrans- ports über die Grenzfläche gilt: vT = kT · O · (σ–1) (4) wobei O die Größe der Flüssigkeits-Gas-Grenzfläche und σ = (cübersätt/cgesätt) der Übersättigungsquotient und kT der cha- rakteristische Transportkoeffizient ist. Gleichung (4) offen- Abb. 10 Tulpe oder Schale, das ist beim Sekt die Frage! bart, dass der CO2-Verlust aus einer Sektschale etwa dreimal Einen großen Teil des CO2 verliert der Sekt im Glas durch so groß sein sollte wie der aus einer Sekttulpe. direkten Übergang aus der Flüssigkeit in die Gasphase. Dieser Auf der anderen Seite steigen die Bläschen in einer Sekt- Gasverlust nimmt mit der Größe der Oberfläche zu. Sekt- liebhaber bevorzugen daher die Sekttulpe, in der sich auch schale maximal 3,0 cm, in einer Tulpe aber 7,5 cm. Der hö- das Aroma besser entfalten kann. here Aufstieg der Bläschen führt zu einem linearen Zuwachs des Radius, so dass die in einer Sekttulpe länger nach oben steigenden Bläschen mehr CO2 in die Umgebung transpor- tieren als in der Sektschale. Messungen von Liger-Belair ha- ben gezeigt [18], dass der CO2-Verlust tatsächlich in der ABB. 11 | T H E R M O DY N A M I K U N D K I N E T I K DER BLASENBILDUNG Sektschale höher ist als in der Tulpe, allerdings nicht um GG den Faktor drei, sondern zwischen 1,6–2,5. Auch sensorische Überlegungen sprechen für den ∆G* Kelch. Durch die größere Oberfläche der Schale können übersättigte Lösung dort Aromastoffe unbemerkt, also an der Nase vorbei in die ∆G = RT lnσ Umgebungsluft gelangen. In der Tulpe sammeln sich die abdampfenden Bukettstoffe in dem Glas und erlauben es, den Sekt gleichzeitig(!) auf der Zunge und in der Nase sen- gesättigte Lösung sorisch zu erfassen. Mit anderen Worten: Sektschalen eig- nen sich hervorragend zum Anrichten von Krabbencocktails dkrit d oder Desserts, vielleicht auch für üppig dekorierte Cock- kritische Bläschengröße tails, aber nicht für Sekt oder Champagner. Das Schalwerden eines mit CO2 übersättigten Sekts gibt die Entgegen jeder Vernunft rühren manche Banausen mit Thermodynamik gnadenlos vor: Das CO2 muss praktisch voll- einem meist aus Silber gefertigten und entsprechend teuren, ständig in die Umgebungsluft übergehen. Glücklicherweise schneebesenähnlichen Sektquirl tatsächlich die Kohlen- wird Sekt nicht schlagartig schal, da die Blasenbildung durch säure heraus, die die Sektkellereien mit unendlich viel Auf- eine Aktivierungsenergie in ihrer Geschwindigkeit stark ge- bremst wird. Ein Bläschen kann nur wachsen und aufsteigen, wand und Liebe über Jahre hineingezaubert haben. Wie wenn es eine kritische Mindestgröße erreicht hat, die etwa beim Sektbad von Formel-1-Siegern (Abbildung 7) müsste bei etwa 1 μm liegt. Es ist die energieaufwendige Bildung die- solch grober Unfug mit Sekt- und Champagnerverbot nicht ser kritischen Blasengröße, die uns erlaubt, das Glas Sekt in unter fünf Jahren ohne Bewährung bestraft werden. Ruhe zu schlürfen. Hoch lebe die Aktivierungsenergie! Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 425
aufsteigen, dabei größer werden und die dann an der Ober- tigten Lösung [19]. Das System strebt grundsätzlich einem fläche schließlich zerplatzen. Ein immer wieder faszinie- Gleichgewichtszustand zu und gibt aus der übersättigten rendes Perlenspiel, dessen naturwissenschaftliche Basis wir Lösung solange CO2 ab, bis eine gesättigte Lösung vorliegt im Folgenden ergründen wollen. [20]. Es gilt: Die Triebkraft der Blasenbildung ist der Energieunter- schied ΔG zwischen einer mit CO2 über- und einer gesät- ΔG = Ggesätt – Gübersätt = – RT lnσ (5) wobei R die Gaskonstante, T die absolute Temperatur und ABB. 12 H E T E RO G E N E B L A S E N B I L D U N G I M S E K TG L A S σ = (cübersätt/cgesätt) der Übersättigungsfaktor ist. Der Über- | sättigungsfaktor einer üblichen Sektflasche beträgt direkt nach dem Öffnen etwa 5,5. Nehmen wir an, wir hätten schon eine kleine Mikro- blase des Volumens VMb = (4/3)πr3 vorzuliegen, dann hät- te sich die Übersättigung des Sekts verringert, d.h. die freie Enthalpie des Systems (Sekt + Mikrobläschen) nimmt ab; dabei ist Vmol das Molvolumen (22,4 L unter Normalbe- dingungen). ΔgMb = – (4πr3/3Vm) RT lnσ Auf der anderen Seite musste zur Erzeugung des Mikro- bläschens eine neue Oberfläche gebildet werden, ein ener- gieverbrauchender Vorgang, die freie Enthalpie des Sys- tems (Sekt + Mikrobläschen) nimmt zu. Die aufzubrin- gende Oberflächenenergie entspricht dem Produkt aus Oberfläche Ok = 4πr2 und Oberflächenspannung γ. Ins- gesamt ergibt sich bei der Bildung einer einzigen Mikro- blase: ΔgMb = – (VMb/Vmol) RT lnσ + Ok γ = – (4πr3/3Vmol) RT lnσ + 4πr2γ (6) Der erste, negative Term begünstigt, der zweite, positive be- hindert die Blasenbildung. Bei kleinem Blasenradius steigt ΔgMb zunächst an, da die Menge des gasförmigen CO2 rela- tiv klein, die Oberfläche aber relativ groß ist. Mit zuneh- Eine für uns sichtbare CO2-Blase kann in Glas. Diese Fasern sind zylindrische, etwa mender Blasengröße wächst der erste, negative r3-Term übersättigtem Sekt nur aus einer Mikrobla- 100 μm lange Röhrchen mit einem Durch- schneller, bis schließlich ΔgMB wieder abnimmt. Das Maxi- se mit einer kritischen Größe entstehen, messer von 10–20 μm. Chemisch bestehen mum wird bei der kritischen Blasengröße rk durchlaufen mit einem Radius von etwa 1 μm. Nur Bla- diese Röhrchen aus Cellulose, einer Polyglu- sen dieser Größe können durch Aufnahme cose. Der Sekt dringt infolge der Kapillar- [21] (Abbildung 11). von CO2 weiter wachsen. In Sekt können kräfte in die Röhrchen ein und benetzt die sich solche Mikroblasen nicht spontan, hydrophile Innenfläche. Da der Sekt von rk = 2 γ Vmol/(RT lnσ) (7) sondern nur mit Hilfe einer geeigneten beiden Seiten eindringt, werden kleine Luft- Oberfläche bilden. Im Sektglas geschieht bläschen eingeschlossen. In diese Luftbläs- Aus Gleichung (7) ergibt sich der kritische Radius für ein dies auf zweierlei Wegen. chen kann nun aus dem übersättigten Sekt oben: In kleinen Vertiefungen (Kratzern) CO2 eindiffundieren und es kommt zu einer Sektbläschen bei einem Überdruck von 5,5 atm und γsekt = in der Glasinnenwand sind kleine Luftbla- Volumenzunahme bis sich schließlich an ei- 0,05 N/m zu rk = 0,6 μm. Es konnte gezeigt werden, dass sen eingeklemmt, die durch die nur leichte nem Ende ein Bläschen abtrennt und auf- die spontane Bildung solcher kritischen CO2-Bläschen einen Krümmung an der Grenzfläche einen Radi- steigt. Der zeitliche Abstand zwischen den CO2-Druck von über 1000 atm voraussetzen würde [22]. Mit us oberhalb der kritischen Größe besitzen. Bildern beträgt 200 ms, zwischen Bild 5 anderen Worten: Es gibt keine spontane homogene Bla- Unter diesen Umständen kann CO2 in die und 6 liegt nur 1 ms. Der Balken markiert Blase eindiffundieren, diese wächst und eine Länge von 50 μm [44]. senbildung in Sekt oder Champagner. löst sich schließlich ab, wobei ein Gasrest unten rechts: Bei gegebenen Geometrien Eine Bläschenbildung kann nur an festen Oberflächen, in der Vertiefung verbleibt und das Schau- des Celluloseröhrchens und konstantem also heterogen stattfinden. Experimentell konnte gezeigt spiel erneut beginnen kann. Druck lösen sich Blasen uhrwerkähnlich, in werden, dass an glatten hydrophoben oder hydrophilen unten links: Durch Staub oder durch konstantem zeitlichen Abstand ab und es Oberflächen auch bei hohen Übersättigungen keine Bläs- kräftiges Abtrocknen mit einem Handtuch entstehen die geschätzten Perlenschnüre. gelangen kleine Baumwollfasern in das Der Balken markiert eine Länge von 50 μm. chenbildungen stattfinden [23]. Dies überrascht nicht, denn es ist lange bekannt, dass sich Blasen im Sekt bevorzugt an 426 © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 |
SEKT K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H … | Kratzern in der inneren Glasoberfläche von Trinkgläsern Sekt in das Bläschen eindiffundiert (Abbildung 13). Die zeit- bilden. Glashersteller nutzen dies gestalterisch und erzeu- liche Zunahme der CO2-Moleküle (dN/dt) im Bläschenin- gen durch Aufrauhung (Laser und Einritzen) der Glasober- neren hängt vom CO2-Sättigungsfaktor ab und ist propor- fläche so genannte Moussierpunkte, durch die sich ein äs- tional zum Diffusionskoeffizienten D und zur Blasenober- thetisch besonders ansprechendes Perlenspiel erzeugen fläche A [26], wobei w von einer Reihe von den Strö- lässt. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Blasenbil- mungsparametern abhängt [27]. dung nicht an Spitzen und Graten, sondern nur an Ein- schnitten und kleinen Vertiefungen in der festen Oberflä- dN/dt = w D (σ – 1) A (10) che beginnt (Abbildung 12). Besonders häufig beobachtet man aber in einem Sekt- Durch die Zunahme der Teilchenzahl N vergrößert sich das glas, dass irgendwo inmitten der Flüssigkeit Bläschen„quel- Volumen und aus dem allgemeinen Gasgesetz pV = N kT er- len“ zu existieren scheinen, aus denen uhrwerkgleich stän- gibt sich (k = Boltzmann Konstante): dig kleine Bläschen auftauchen, nach oben aufsteigen und dabei größer werden. Auch hier findet eine heterogene Bla- dN/dt = (P/kT) (dV/dt) = (P/kT) 4πr2 (dr/dt) (11) senbildung statt, jedoch sind dabei in Cellulosefasern ein- geschlossene Luftblasen Ausgangspunkte der Bläschenbil- Aus den Gleichungen (10) und (11) folgt für die zeitliche dung. Die Cellulosefasern können ein Staubbestandteil sein, Änderung des Radius des wachsenden Bläschens insgesamt: aber vor allem stammen sie aus Geschirrhandtüchern, mit denen die Gläser abgetrocknet werden [24]. (dr/dt) = w D (σ – 1) (kT/P) Der unaufhaltsame Aufstieg einer Sektperle In Wasser (Dichte: ρw =1,00 g/mL) wirkt auf ein Gasbläs- chen (Durchmesser d) die Auftriebskraft [25] ABB. 13 I M G L A S AU F S T E I G E N D E S E K T PE R L E N FA = m · g = (π/6) · ρw · g · d3 | wobei g = 9,81 m · s–2 die Erdbeschleunigung ist. Beim Auf- Im Sektglas steigen die Gasperlen aus einer für uns un- sichtbaren „Quelle“, meist einem kleinen Stück einer stieg wird das Gasbläschen vom umgebenden Wasser ge- Cellulosefaser, in konstanten Zeitabständen empor bremst, da die über dem Bläschen liegenden Wassermole- (oben). Auf dem Weg zur Oberfläche nimmt der Radius küle beim Aufstieg vom Bläschen auseinander gedrückt wer- der Sektperlen linear zu (unten links), da aus der über- den müssen. Das ist nichts anderes als Reibung, und die ent- sättigten Lösung CO2 in das Bläscheninnere übergeht. sprechende Reibungskraft FR ergibt sich aus dem Stoke-Ge- Dadurch nimmt die Aufstiegsgeschwindigkeit der Bläs- chen näherungsweise quadratisch mit dem Radius zu setz: und dementsprechend nimmt auch der Abstand zwi- schen zwei aufeinanderfolgenden Bläschen quadratisch FR = 3π · η · d · vA zu. Eine solche Abhängigkeit scheint eine innere Schön- heit auszustrahlen, denn das minutenlange Betrachten wobei η die Viskosität des Wassers und v die Aufstiegsge- der aufsteigenden Perlenkette ist Teil des Genusses. schwindigkeit des Gasbläschens ist. Nach kurzer Zeit stellt 300 Bläschenradius Aufstiegsgeschwindigkeit sich eine konstante Aufstiegsgeschwindigkeit vA ein, da r (μm) v (cm/s) dann die Auftriebskraft und die entgegengerichtete Rei- 10 250 bungskraft gleich groß sind. Dann gilt: 200 vA = g · ρw · d2/(18 ηw) (8) 150 1 Das Einsetzen der Zahlenwerte für g, ρw, ηw (ηw = 1,5 · 100 10–3 kgm–1s–1) in Gleichung (8) ergibt: 50 Bläschenradius va = 3630 · d2 cm/s (9) Zeit t (s) r (μm) 01 0,1 0 30 50 70 100 200 400 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 Für ein Gasbläschen mit dem Durchmesser von 0,1 mm er- gibt sich nach Gleichung (9) eine Aufstiegsgeschwindigkeit von vA = 3,6 mm/s. Trotz dieser beruhigenden Ästhetik muss nüchtern festgestellt werden, dass sowohl beim linearen Zusammenhang zwischen Radius und Zeit, als auch beim quadratischen Zusam- Bisher hatten wir nur ein Bläschen mit konstantem menhang zwischen Radius und Aufstiegsgeschwindigkeit deutliche Abweichungen zu be- Durchmesser betrachtet. Wenn sich im Sekt ein kritisches obachten sind [8]. Wir müssen wohl noch viel tiefer ins Sektglas gucken, um unseren Bläschen gebildet hat, steigt es auf und wird aber während Wissensdurst zu stillen. des Aufstiegs stetig größer, da CO2 aus dem übersättigten Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 427
Diese Differentialgleichung hat die Lösung xe Verhalten von aufsteigenden und wachsenden Gasbläs- chen nicht vollständig beschreiben. Die Strömungslehre r = r0 + w D (σ – 1) (kT/P) t (12) zeigt, dass der Reibungswiderstand von Blasen in einer Flüs- sigkeit stark von der Geschwindigkeit selbst abhängt [28]. Der Radius einer aufsteigenden Sektblase nimmt in einer Weiterhin sind Gasblasen keine starren Kugeln, sondern übersättigten Lösung linear mit der Zeit zu, mit typischen können beim Aufsteigen ihre Form verändern und tun dies Werten von 350–400 μm/s. auch teilweise oszillierend [29]. Schließlich ist Sekt kein Nach Gleichung (9) wird zwischen der Aufstiegsge- destilliertes Wasser (ein Glück!) und enthält erhebliche schwindigkeit und dem Radius (bzw. Durchmesser) des Menge von oberflächenaktiven Molekülen (meist Proteine). Bläschens ein quadratischer Zusammenhang erwartet. Da- Dies kann zu einer Verlangsamung der Aufstiegsgeschwin- raus folgt unmittelbar, dass der Abstand zwischen zwei auf- digkeit mit steigendem Radius (Höhe) führen (Marangoni- einander folgenden Bläschen in einer Perlenkette während Effekt) [30]. des Aufstiegs zunimmt. Schaut man dem Perlenspiel längere Zeit verträumt zu Abbildung 13 zeigt, dass bei Messungen von aufstei- und vergisst darüber das Trinken, erkennt man, dass mit der genden Bläschen deutliche Abweichungen vom linearen Zu- Zeit die Bläschendurchmesser insgesamt kleiner werden sammenhang zwischen Radius und Zeit und dem quadrati- und die Perlen langsamer aufsteigen. Genau dies beschreibt schen Zusammenhang zwischen Radius und Aufstiegsge- Gleichung (12), wonach mit abnehmender Übersättigung σ schwindigkeit zu beobachten sind. Ernüchternd müssen der Bläschenradius und damit dessen Volumen beim Auf- wir feststellen, dass unsere einfachen Ansätze das komple- stieg langsamer wächst. Die anderen mit CO2 übersättigten Getränke, wie Mineralwasser und Bier, unterscheiden sich in der mittleren Größe und den Aufstiegsgeschwindigkeiten der CO2-Bläschen in charakteristischer Weise (Abbildung ABB. 14 S E K T O D E R S E LT E R S – O D E R B I E R ? | 14). Warum schmecken uns Sekt und Champagner so gut? Bei allen tiefsinnigen physikalisch-chemischen Betrachtun- gen des perlenden Sekts oder Champagners wollen wir na- türlich nicht den sinnlichen Genuss vergessen, der von der Qualität der Ausgangsmaterialien und der guten Verarbei- tung bestimmt wird. Die verschiedenen Grundweine sind relativ leicht und werden von erfahrener Kennerhand zu- sammengestellt. Die Zweitgärung wird durch Zugabe der li- queur de tirage, einer kleinen Menge von Hefe, Zucker, Wein und Most, in Gang gesetzt und erzeugt nicht nur CO2 und erhöht den Alkoholgehalt um 1–1,5 %, sondern durch die zugesetzte Hefe (ein Lebewesen!) entstehen neue Aro- mastoffe, bzw. bereits vorhandene werden abgebaut [31]. Neben Intensitätsänderungen verschiedener Aromaattribu- te (Abbildung 15) führt die Zweitgärung z.B. zum signifi- Zwischen Selters (links), Sekt (rechts) und kanten Abbau des in vielen früh geernteten Grundweinen Bier (unten) kann leicht auf einen Blick unter- enthaltenen 2-Aminoacetophenons, das dem Sekt eine un- schieden werden. In reinem Mineralwasser steigen die CO2-Bläschen am schnellsten auf erwünschte „Möbelpolitur“-Note verleihen würde [32]. In und sind auch am größten. Sekt enthält na- diesem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, dass türliche Tenside, die sich an der Grenzfläche die an der Oberfläche zerplatzenden CO2-Blasen ein Aero- zwischen CO2 und Sekt akkumulieren und die sol in den Gasraum sprühen. Dadurch gelangen nicht nur Diffusion von CO2 in die aufsteigenden Bläs- unpolare Aromastoffe, sondern auch oberflächenaktive Ver- chen und damit deren Wachstum trotz des höheren Drucks verlangsamen. Sektblasen bindungen in die Nase der Genießer. In ersten Studien wur- wachsen etwa mit 350–400 μm/s bei 20 °C an. de eine große Zahl von Verbindungen nachgewiesen, von Bier enthält besonders viele oberflächenakti- denen allerdings erst ein kleiner Teil identifiziert werden ve Proteine und Hopfeninhaltsstoffe [45] und konnte [33]. der CO2-Druck ist geringer als im Sekt, so dass Das CO2 im Sekt erfreut nicht nur unseren Geschmacks- CO2-Blasen im Bier besonders klein sind und im Vergleich zum Sekt deutlich langsamer und Geruchssinn, sondern auch unseren Tastsinn, denn es (100–150 μm/s) aufsteigen [46]. erzeugt auch das kribbelnde bis leicht brennende Gefühl auf der Zunge. Es kann nicht allein eine mechanische Reizung der Zungenoberfläche durch die zerplatzenden Bläschen 428 © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 |
SEKT K U R I OS , S PA N N E N D, A L LT Ä G L I C H … | sein, denn man spürt das Kribbeln noch, selbst wenn gar keine Blasen mehr auf der Zunge sind. Dies bestätigen Stu- ABB. 15 Z W E I TG Ä R U N G U N D DA S A RO M A D E S S E K T S dien in Druckkammern, in denen sich wegen des erhöhten Drucks keine Bläschen bilden können; Trotzdem kribbelt es | auf der Zunge [34]. Es steckt also mehr dahinter: Das CO2 Farbe löst sich zunächst in der Schleimhaut und dringt in das Zun- bitter alkoholisch gengewebe ein. Dort wird das gelöste CO2 zu Kohlensäure 150% Eisbonbon hydratisiert, die ihrerseits die Neuronen aktiviert und das Mundgefühl 125% Kitzeln erzeugt [35]. Die Bildung von Kohlensäure aus CO2 scheint auf den ersten Blick ein einfacher chemischer Pro- 100% Apfel sauer zess zu sein (Abbildung 16). Es mag wundern, aber die in vielen chemischen Lehr- Pfirsich fruchtig büchern als Gleichgewicht formulierte Reaktion läuft in bei- den Richtungen nur langsam ab. Im menschlichen Körper wird diese Reaktion durch eines der leistungsfähigsten En- Honigmelone hefig zyme beschleunigt, der Carboanhydrase. Ein Molekül Car- boanhydrase wandelt in einer Minute rekordverdächtige 36 mostig Holunderblüte Millionen CO2-Moleküle in Kohlensäure um [36]. Im Zun- grüne Bohne grüne Banane gengewebe katalysiert die Carboanhydrase die Umwand- grünes Gras lung von CO2 in Kohlensäure, die dann dissoziiert und über Rezeptoren die Neuronen erregt, die im Gehirn den Sin- Farbe neseindruck eines Kitzelns oder leichten Brennens erzeu- bitter alkoholisch 150% gen. Zwei interessante Experimente beweisen die zentrale Eisbonbon Mundgefühl Rolle der Carboanhydrase beim Genuss von Champagner 100% oder Sekt. Einmal kann eine Hälfte der Zunge mit einem Car- Apfel sauer boanhydrase-Inhibitor behandelt werden. In diesem Fall wird auf dieser Zungenhälfte kein Kitzeln mehr empfun- den, während die unbehandelte Zungenhälfte es nach wie Pfirsich fruchtig vor spürt. Zum anderen ist bei hochalpinen Bergsteigern der so genannte Champagner-Blues bekannt, bei dem nach Honigmelone hefig einem Aufstieg alle Sprudelgetränke incl. Champagner schal und „Bier wie Abwaschwasser“ schmecken. Des Rätsels Lö- Holunderblüte sung ist einfach: Viele Bergsteiger nehmen vor dem Auf- mostig stieg einen Carboanhydrase-Inhibitor (Acetazolamid) gegen grüne Bohne grüne Banane die Höhenkrankheit ein, spüren dann aber nicht mehr den grünes Gras Zungenkitzel von Sprudelgetränken. Eine Studie von Frad Ridout an der Universität von Sur- Eine Zweitgärung in der Flasche oder im Drucktank bringt zwei chemische Hauptverän- rey in Gilford bestätigte jüngst, was wir alle wissen: Sekt derungen: die Erhöhung des Alkoholgehalts um etwa 1–1,5 % und die Bildung großer steigt uns schnell zu Kopf und auch hier stecken CO2-Bläs- Mengen von CO2, die bei einem Innendruck von 5 atm größtenteils gelöst sind. Die fol- chen dahinter. In dieser Studie mussten, oder besser durf- genden Ergebnisse stammen aus einer beeindruckenden Studie von Ganß et al. aus dem Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum (DLR) in Neustadt an der Weinstraße [31, 32]. ten, 12 Freiwillige zwei Gläser Champagner trinken [37]. oben: Um allein den Einfluss des erhöhten Alkoholgehalts und des CO2 auf das Aroma Die genaue Menge wurde so eingestellt, dass alle Testper- zu untersuchen, wurden dem Grundwein (Riesling) 1,5 % reiner Alkohol und CO2 unter sonen die gleiche Alkoholmenge pro kg Körpergewicht zu Druck zugesetzt. 18 trainierte Prüfer bewerteten zunächst die einzelnen Attribute des sich nahmen. Die eine Hälfte der Testpersonen bekam Ori- Grundweins (sensorische Intensität 100 %) und dann den frisch ausgeschenkten aufge- ginal-Champagner und die andere Hälfte bekam einen spriteten und carbonisierten „Sekt“. Deutlich erkennt man eine signifikante Intensivie- rung bei praktisch allen Aromanoten, die dadurch zustande kommen, dass die an der Champagner, der vorher mit einem Quirl kohlensäurefrei Oberfläche zerplatzenden CO2 -Bläschen die Aromastoffe in den Gasraum mitreißen und gemacht wurde. Nach fünf Minuten führte der sprudelnde in die Nase kommen. Die CO2-Perlen intensivieren also das Aroma in erheblichem Maße. Champagner zu 0,54 ‰ Blutalkohol und der schale nur zu unten: Im Vergleich zum Grundwein (sensorische Intensität 100 %) führt eine Versek- 0,39 ‰ , nach 40 Minuten zu 0,70 ‰ bzw. 0,59 ‰. Offen- tung des Grundweins mit Hefe zu weiteren Änderungen im Aromaprofil. Gegenüber dem sichtlich reizen die platzenden Kohlensäureperlen die Ma- Grundwein nehmen die grünen Noten (grüne Bohne, grünes Gras) ab, während sich die fruchtigen Noten (Honigmelone und Pfirsich) intensivieren. Diese Veränderungen konn- genwände, so dass deren stärkere Durchblutung zu einer ten auf eine starke Abnahme der Nonanal-Konzentration (grünes Gras) und eine Zunah- schnelleren Alkoholaufnahme ins Blut führt. Das Resultat me der für die Fruchtnoten verantwortlichen Ester (Propionsäure-ethylester, 3-Methyl- bestätigt unsere Erfahrungen: Sekt und Champagner steigen buttersäure-ethylester und Hexansäure-ethylester) zurückgeführt werden. schnell zu Kopf. Der französische Gourmet Jean Brillat-Sa- varin brachte es auf den Punkt: Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 418 – 432 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 429
Sie können auch lesen