Slow creativity Eine Reminiszenz an die schöpferische Kraft - Hochschule Pforzheim
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Slow creativity Eine Reminiszenz an die schöpferische Kraft. Thesis zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts. Studiengang Creative Direction, Hochschule Pforzheim, Fakultät für Gestaltung. Eingereicht im SS, am 27. Juli 2020. Prof. Matthias Kohlmann & Annika Theobald ©2020 Lisa M. Sontheimer Matrikelnr.: 319579
inhaltsverzeichnis 5.0 (RE)create I. MOTIVATION 8 5.1 Entschleunigung 91 II. PROLOG 14 5.2 Resonanz 94 1.0 Weltkarussell 5.3 Resonanztheorie nach Hartmut Rosa 95 5.4 Zwischenfazit 100 1.1 Beschleunigung 20 1.2 Vuca-Welt 24 6.0 Slow Creativity 1.3 Wicked Problems 26 6.1 Dialektik Kreativität 107 1.4 Generation Erschöpft 32 6.2 Resonanzmodell Kreativität 110 1.5 Question Zero 38 6.3 Zwischenfazit 116 2.0 mensch sein 7.0 Heureka?! 2.1 Humanitas 43 7.1 Handlungsempfehlung 121 2.2 Homo Creator 48 7.2 Handlungsspielraum 132 2.3 Hypothese 1 52 7.3 Zukunftsperspektive 134 3.0 kreativ sein 7.4 Fazit 136 7.5 Ausblick 142 3.1 Kreativität 57 3.2 Formen von Kreativität 63 III. EPILOG 146 3.3 Neurobiologische Betrachtung 65 8.0 Appendix 4.0 schöpfung vs. zerstörung 8.1 Literaturverzeichnis 154 4.1 Opfer oder Gestalter? 73 8.2 Abbildungsverzeichnis 165 4.2 Diskrepanzen 78 8.3 Eidesstattliche Erklärung 166 4.3 Kreativitätskränkung 82 8.4 Danksagung 168 4.4 Hypothese 2 86 8.5 Impressum 169
I. Motivation Motivation Durch die vorliegende Masterarbeit erhoffe ich mir das Er- langen meines Studienabschlusses, sowie den vorläufigen Höhepunkt meiner bisherigen akademischen Laufbahn. Die Arbeit dient allerdings nicht nur zu diesem Zweck, sondern bietet mir zudem die Gelegenheit zur Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit dem eigens gewählten Themen- komplex. Somit kann die psychologische und wissenschaft- liche Erprobung auch als Vorbereitung für den beruflichen Werdegang und der Selbstpositionierung im Arbeitsleben genutzt werden. In diesem Zusammenhang ist eine Reflexion über die erlernten Fähigkeiten und das entwickelte Design- verständnis unabdingbar. Durch die Betitelung des Master of Arts werden zwangsläufig, aufgrund meiner fünfjährigen Ausbildung, ein umfangreiches Fachwissen und ein hoher Kenntnisstand mir gegenüber in Erwartungshaltung ge- stellt. Sicherlich wird deshalb in der Kreativwirtschaft von mir, als ausgebildete Designerin, ein ausgeprägtes Know- How in den Bereichen Design, Management und Leader- ship begrüßt, um optimale Ergebnisse in interdisziplinären Teams als »Creative Director« zu erzielen. Vor allem, weil in meiner zukünftigen Berufsbezeichnung bereits ein »creati- ve« steckt, wird von mir vermutlich ein Höchstmaß an Krea- tivität vorausgesetzt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stelle ich mir die ausschlaggebende Frage: Bin ich denn überhaupt äußerst kreativ? Ist dieses herausstechende Alleinstellungs- merkmal das, was ich im Studium tatsächlich auch ausge- prägt habe? 8 9
I. Motivation I. Motivation Rückblickend wurden zwar meine gestalterischen Fähigkeiten aus dividuelle DNA beinhalten. Doch wird dabei hinterfragt, was in der dem Bachelorstudium in der Kommunikationsgestaltung und meine Zeit von dem leeren Blatt Papier, bis zum Ergebnis hin überhaupt pas- Berufserfahrung in der Kreativstrategie durch kritisches Denkvermö- siert? Oft verbirgt sich gerade dort eine immense Herausforderung, gen und analysierender Beobachtungsgabe durch das Masterstudium die sich unter der saloppen Bezeichnung »eben mal kreativ sein« ergänzt, jedoch bleibt die Frage nach dem Eigenmaß an Kreativität versteckt. Eine Herausforderung, welche wir Designer nicht selten ausstehend. In dem Masterprogramm wird die »Entwicklung der ohne mit der Wimper zu zucken meistern, weil wir in Übung sind oder kreativen Kompetenz und Führungspersönlichkeit« groß ge- es nicht anders kennen. Spätestens bis zu dem Zeitpunkt, an welchem schrieben. Allerdings handelt es sich hierbei meines Erachtens viel- sich eine Kreativblockade einschleicht, ausgelöst durch äußere Um- mehr um einen unterstützenden Ausbau, indem das kreative Selbst- stände oder einer persönlichen Krise. Hierbei muss man sich eingeste- vertrauen bestärkt wird. Denn kreativ sollte man bestenfalls schon hen, dass man sich über das »Kreativsein« eigentlich noch nie wirk- sein, bevor man das Studium überhaupt erst antritt. Nicht selten wird lich Gedanken gemacht hat, geschweige denn darüber Wertschätzung deshalb ein Portfolio, mit einer Auswahl an kreativen Arbeiten, zur empfunden hat. Wie auch? – Es hat ja immer funktioniert und war Bewerbung für künstlerisch geprägte Studiengänge gefordert. Eine abrufbar, wenn man es benötigte. In jüngster Vergangenheit durfte Art Schaufenster, welches die bereits erworbenen Kompetenzen, das ich dies verblüffend feststellen, weshalb ich hierbei aus persönlicher gestalterische Handwerk und vor allem die kreative Begabung zum Erfahrung spreche. Zudem musste ich mir eingestehen, dass ich trotz Ausdruck bringen sollen. Doch woran wird zu diesem Zeitpunkt die Studium über die unerlässliche und mich auszeichnende Fähigkeit zu persönliche Kreativität gemessen? Lässt sich Kreativität überhaupt viele Wissenslücken aufweise. Selbst wenn ich letztlich aus dem Stu- messen und mit anderen individuellen kreativen Leistungen verglei- dium als »Creative Director« mit kreativem Selbstvertrauen chen? Oder ist es ausschlaggebend allein zu sehen, dass man in der in die Welt hinaus schreite, um als Gestalter der Zukunft zu fungie- Lage ist sich mit einer Sache kreativ auseinandersetzen zu können? ren, kann ich niemandem erklären was es bedeutet kreativ zu sein und unter welchen Umständen dies nicht möglich erscheint. Ich fühle mich Kreativität bedeutete bis dato für mich gute Ideen zu generieren und nicht dazu in der Lage meine »Geheimwaffe« zu verteidigen, ge- schnell mögliche Lösungen zu finden, die bestenfalls auch noch durch schweige denn deren Funktionsweise zu durchblicken. Dennoch wird »Andersartigkeit« punkten. Auch die Gabe komplexe Inhalte an- von mir erwartet, damit umgehen zu können. Ich stelle mir insofern schaulich und vereinfacht zu visualisieren zähle ich zu einer kreativen die bedrängende Frage: Wie kann / soll ich eine Welt gestalten und in Leistung. Doch bricht man das Ganze versuchsweise auf die Essenz he- sie kreative Prognosen oder Konzepte pflanzen, wenn ich weder die runter, so ist es im Grunde genommen immer dasselbe: Man sitzt vor notwendige kreative Kraft - mein Werkzeug – verstehe, noch die Welt einem leeren Blatt Papier und möchte daraus ein prachtvolles Werk gänzlich in ihren Facetten und der vorherrschenden Komplexität be- erschaffen. Aus dem Nichts soll etwas nie »Dagewesenes« kre- greifen vermag? iert werden. Die Anforderungen der Außenwelt sind dabei oftmals nicht zu unterschätzen: außergewöhnlich, neuartig oder sogar inno- vativ sollte es sein – möglichst jeden ansprechen, allerdings auch in- 10 11
I. Motivation I. Motivation Aus diesem Anlass setzte ich mir zum Ziel meine Abschlussarbeit als erst ändern zu können für eine Neukonstruktion der Realität, die bes- Chance zur Klärung dieser Fragen zu nutzen und meinen Wissens- tenfalls mehr als die Summe ihrer Teile darstellt. stand bezüglich Kreativität auszubauen, sowie die Welt zu erforschen, in welcher ich mich bewege. Denn meine wohl größte Motivation besteht darin, die Dinge auch tatsächlich zu verstehen, sodass ich sie Abb. 2 kreativ bearbeiten und gestalten kann. Hierbei korreliert sich zwar mein Wollen mit dem was offenbar erforderlich scheint, aber genau in dieser Schnittmenge sehe ich auch eine Entfaltungsmöglichkeit der vorliegenden Arbeit und somit wiederum des Kreativen. Gegebenenfalls generiert sich so aus meiner Motivation heraus auch ein Mehrwert , der in die Gesellschaft adaptiert werden kann. Sodass sich meine individuell empfundene Relevanz spiegelbildlich als gesell- schaftlich relevante Fragestellung entpuppt und auch anderen hilft das Gewohnte infrage zu stellen und eigenständig eine neue Sichtwei- se diesbezüglich zu entwickeln. Abb. 1 Deshalb möchte ich gemäß der Maxime des »MACD« das mir Ge- gebene (meine Fähigkeit kreativ zu sein) analysieren, das Beste- hende (die Welt und Gesellschaft) infrage stellen und mir neue Abb. 3 Möglichkeiten (Handlungsspielräume für Kreativität) zu eröff- nen. Hierfür strebe ich folgende Herangehensweise an: Zuerst soll das Intention Ganze »auseinandergenommen werden«, um so die eigenen Vorurtei- Ich möchte Sie als Leser somit dazu einladen, durch die vor- le und Grenzen zu durchbrechen. Dies ermöglicht eine Betrachtung liegende Arbeit, die Potenziale und die Kraft der Kreativität aus unterschiedlichen Blickwinkeln, denn hier hängt es grundlegend zu entdecken und diese Bewusstseinsschärfung und Remi- davon ab, aus welcher Sichtweise interpretiert wird. Anschließend niszenz zu einer neuen, bzw. alten, Perspektive ermöglichen. werden die Inhalte dann in andere Sinnzusammenhänge zusammen- Dabei möchte ich keinesfalls die Kreativwelt neu konstitu- gesetzt, sodass neue Wechselwirkungen und Erkenntnisse entstehen ieren, sondern ihr vielmehr eine gesteigerte Beachtung und können. Das Rekonstruieren und Brechen der gegenwärtigen eigenen Wertschätzung einräumen und eine in uns allen innewoh- Realität halte ich deshalb für notwendig, um die eigene Perspektive nende Fähigkeit beeinflussen. 12 13
II. Prolog prolog Im Kontext der vorliegenden Arbeit wurden so diverse Prob- lemstellungen in der Gesellschaft hinsichtlich der Thematik Kreativität herausgearbeitet. Diesbezüglich herrscht zum Einen ein unklares, verschwommenes Wissen vor, sodass keine einheitliche Auffassung vertreten wird. Dies beweist zudem der wissenschaftliche Stand, da keine einheitliche definitorische Erklärung vorhanden ist und zu viele unter- schiedliche Ansätze zur Verfügung stehen (~vgl. 3.1). Zum Anderen führt der gegenwärtige Kapitalismus zu einer Öko- nomisierung der Kreativität, sodass das Kreativsein fast ausschließlich nur mit der Auffassung kreativ = neu = inno- vativ gleichgesetzt wird (~vgl. 4.2). Aus diesem Grund erhöht sich die Hemmschwelle der alltäglichen Kreativität, sodass der Mythos »nicht jeder sei kreativ« Anklang findet. Nicht »Slow Creativity« stellt die Thematik der Kreativität offen- selten wird Kreativität deshalb im künstlerisch-musischen sichtlich ins Zentrum und bedient sich einer interdiszipli- Bereich verortet oder technischen Erfindungen und wissen- nären Verknüpfung mit Bereichen der Psychologie, Soziolo- schaftlichen Errungenschaften zugeschrieben. Des Weiteren gie, sowie Ethik und Philosophie, die sich in diesen Kontext muss erwähnt werden, dass aufgrund der vorherrschenden einordnen lassen. Wie bereits einleitend dargestellt wurde, Rahmenbedingungen und den permanenten Umwälzungen entspringt das Bearbeiten dieser Thematik einem persön- lichen Anliegen. Dennoch wird die subjektive Haltung in der in der Gesellschaft die Entfaltung von kreativem Potenzial Gesellschaft verortet. erschwert oder sogar gehemmt wird (~vgl. 4.3). 14 15
II. Prolog II. Prolog Die vorliegende Arbeit gliedert sich inhaltlich in insgesamt sieben des Soziologen Hartmut Rosa beruht und umgangssprachlich als »Re- Kapitel, um diese Problemstellungen aufzudecken und deren Aus- sonanztheorie« bezeichnet wird. Um das Verständnis der Dimensi- wirkungen zu ergründen. Der strategische Aufbau orientiert sich onen und Ebenen des Kreativsein auszuweiten dient das Kapitel 6.1, deshalb an der zugrundeliegenden Theorie und Gedankenstruktur sodass im Anschluss ein Resonanzmodell für die Kreativität darauf der Verfasserin der Arbeit, sodass am Ende die Argumentationsket- aufbauend erstellt werden kann. Zu guter Letzt wird diese Adapta- te in einen möglichen Lösungsansatz mündet. Als Untersuchungs- tion als mögliche Rückbesinnung und Resultat im letzten Kapitel gegenstand dient die Welt, als großes ganzes System; der konkretisiert und in Ausblick gestellt. Eine mögliche konkrete Hand- Mensch, in seinem Sein; sowie die Kreativität, als Fähigkeit lungsempfehlung, sowie ein dazu passendes Szenario für zukünftige und Schlüsselkompetenz zur Verknüpfung dieser beiden Be- Perspektiven stehen zur Verfügung. reiche. Die ersten beiden Kapitel funktionieren als Einleitung und umreißen die grundlegenden‚ Rahmenbedingungen, sowie die Auffas- sung des Menschen, auf welcher die Gesamttheorie von »Slow Crea- tivity« aufbaut und diesen Kenntnisstand gewissermaßen zum Ver- ständnis voraussetzt. Anschließend befasst sich das dritte Kapitel mit der zu untersuchenden Fähigkeit der Kreativität und führt nicht nur in deren Etymologie ein, sondern befasst sich zudem mit einer neurobiologischen Interpretation. Nach Klärung dieser Grundsätze wirft das darauffolgende Kapitel »Schöpfung vs. Zerstörung« einen detaillierteren Blick auf mögliche Diskrepanzen und Kränkun- gen hinsichtlich des Umgangs in der Gesellschaft mit der Thematik. Das Kapitel 4.3 bezieht sich so vorrangig auf die erschöpfte Ge- sellschaft (~ vgl. 1.4) und deckt deren Kränkungen gegenüber dem Kreativsein auf. Im Gegensatz zu der Beschleunigung der Welt (~vgl. 1.1) geht Kapitel 5.1 deshalb auf eine gegensätzliche Bewegung und Auffassung ein – nämlich die der Entschleunigung. Diese konträre Gegenüberstellung ist für die Richtung des Gesamtvorhabens der Re- miniszenz von Kreativität ausschlaggebend. So behandelt das fünfte Kapitel eine soziologische Option, welche auf dem Forschungsstand 16 17
0 .1 - l t s- » Mal läuft es langsam, e ru meist aber schnell die Räder der Zeit, das Weltkarussell. Immer schneller W a l wird es sich drehen; das Getriebe, das Schnelle – das Weltgeschehen. « Unbekannt k el
1.1 Beschleunigung 1.1 Beschleunigung Traum der Moderne Der ursprüngliche Traum der Moderne sah vor, dass genau dies in Erfüllung geht und der Mensch die Welt unter seine Kontrolle bringen kann. Lange Zeit schien das auch zu gelingen, bis der Traum zu kip- 1.1 Beschleunigung pen schien. Es erwächst zunehmend der Eindruck, die Dingen würden mindestens genauso den Menschen beherrschen, wie er sie kontrol- liert.4 Zudem kommt ein Machbarkeitswahn der Menschen hinzu, _4 vgl. Kucklick, durch welchen sie Fortschritt im ekstatischen Zustand vollbrin- 2016, S.203f. Wir leben in einer Welt, die sich ständig verändert, weiter- gen wollen. Sogar in allen Bereichen des Lebens: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft – sowie im Privatem. Die »Steige- _5 entwickelt und nie still steht. Ob wir es wollen oder nicht: Es vgl. Schulze, ist als ob wir alle in einem Karussell sitzen, das sich nicht rungslogik« der Moderne wurde somit geboren.5 Am Anfang wurde 2003 aufhört zu drehen! Wir können es weder anhalten, noch zu- diese Logik auch als ein Aufbruch nach vorne wahrgenommen. Fort- _6 rückdrehen und schon gar nicht erst verlassen. Fremdbe- schritt wirtschaftlicher, politische, technischer und kultureller Art vgl. Beck & stimmt und rastlos fahren wir durch den Alltag und drehen wurde mit ihr in Verbindung gebracht. Durch diese erbrachte Inno- Rosa, 2014, uns dabei ständig, kommen jedoch trotzdem nicht vom Fleck. vierung verbesserten sich so die Lebensumstände und die Autono- S.473 Solange, bis uns davon schlecht wird. Doch springen wir ab, miespielräume jedes einzelnen wurden erweitert. Nichtsdestotrotz _7 sind wir nicht nur im übertragenden Sinne »raus«, sondern nahm durch den Antriebsfaktor auch die allgemeine Wachstumsge- Rosa, erleiden auch noch eine schmerzhafte Erfahrung. Wir tra- schwindigkeit rasant und unbändig zu.6 Eine zeitliche und räumli- 2019, S.44 gen nicht nur äußerliche und dadurch sichtbare Wunden che, sowie technische und ökonomische Eskalationstendenz wurde _8 davon, sondern auch eine tiefe innere Erschütterung. Doch hervorgerufen. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Transforma- Pfeffer, tionsenergie stets hoch bleibt und die Menschheit dessen Stand halten 2014, S.104 durch welche Kraft wird dieses Karussell angetrieben? muss. So wandeln sich nicht nur Institutionen und Organisationen, _9 sondern auch die Positionen der Menschen verschieben sich ständig vgl. Beck & Zeitalter Anthropozän in der Welt.7 FLORIAN PFEFFER versucht diesen Wandel in folgenden Rosa, 2014, S.473 _1 Bereits seit mehreren Jahrzehnten lebt die Menschheit in dem soge- Worten einzufangen: »Wir sehen uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts vgl. Unmüßig, nannten Zeitalter »Anthropozän«. Einem Zeitalter, in welchem der mit einer Lawine umwälzender Entwicklungen konfrontiert, die 2018, [online] Mensch der maßgeblichste Einflussfaktor bildet und durch sein Ein- in atemberaubender Geschwindigkeit neue Realitäten entstehen _2 1 wirken und Gestalten die Erde beeinflusst / verändert. Nicht mehr die lassen und der Welt ein neues Gesicht geben.«8 Ein neues Gesicht, an vgl. Kucklick, Natur formt die Umwelt 2, sondern der Mensch nimmt die Schöp- welches sich der Mensch erst einmal gewöhnen muss. Doch bis dahin 2016, S.191 ferrolle ein. Deshalb ist auch sein Denken und Handeln, sowie seine entspricht es schon einem Neuen. Dadurch kommt es vor, dass sich der _3 Mensch unter Druck gesetzt fühlt und das Mithalten als Zwang und Verantwortung gefordert. Auf dem Spiel stehen mittlerweile die zent- vgl. Lucht, 2016, [online] ralen Grundideen der Moderne. 3 Gefährdung der Aufrechterhaltung seines Status Quo erfährt.9 Das 1 20 Weltkarussell 21
1.1 Beschleunigung 1.1 Beschleunigung _10 Lebensgefühl der Generation entspricht deshalb einer Krisenper- Um die Auswirkungen und Folgen des Systems der »Beschleuni- vgl. Pfeffer, 10 manenz. Die Krise wurde zum Normalzustand. »Globalisierung, gung« zu ergründen werden in den anschließenden Kapiteln die Rah- 2014, S.79 digitale Vernetzung, ökologische Umformung und das Ringen um so- menbedingungen (~vgl. 1.2), sowie die dadurch entstehenden Pro- _11 ziale Balance […].«11 Egal welcher Bereich, jeder wird scheinbar von bleme (~vgl. 1.3) und die Auswirkungen auf die Gesellschaft (~vgl. ebd., S.156 Krisen geprägt, da sich die rasanten Veränderungen schließlich auf 1.4) beleuchtet. _12 alles beziehen. vgl. Rosa, 2019, S.13 Beschleunigung _13 Doch woher kommt die Rasanz? Der Soziologe HARTMUT ROSA sieht vgl. Rosa, diese systematischen Veränderungen geprägt von Zeitstrukturen, 2016, S.26 die sich dem Sammelbegriff der Beschleunigung zuordnen lassen.12 Er _14 teilt dabei »Beschleunigung« grundsätzlich in drei Kategorien: die ebd., S.20 technische Beschleunigung, die des sozialen Wandels und _15 die des Lebenstempos.13 Als technologische Beschleunigung wird vgl. ebd., S.22 die »[…] Steigerung der Geschwindigkeit zielgerichteter Transport-, Kommunikations- und Produktionsprozesse«14 mittels effizienter Op- _16 ebd., S.26f. timierung verstanden. Im sozialen Wandel hingegen machen sich die stetig verkürzten Zeitabstände der Veränderungen bemerkbar, wo- _17 vgl. ebd., S.27 durch sich eine Instabilität des Gewohnten einschleicht.15 Diese Art der Beschleunigung lässt sich somit als »[…] Steigerung der Verfallsraten der Verlässlichkeit von Erfahrungen und Erwartungen […]«16 be- schreiben. Durch die zusätzliche Beschleunigung des Lebenstempos erscheint der Gesellschaft die Zeitressource als besonders knapp, da eine Steigerung der Handlungen in kürzerer Zeit vorausgesetzt wird.17 Letztlich kommt die Verfasserin der vorliegenden Arbeit so zu der Erkenntnis, dass scheinbar alle Kategorien in einer gegenseitigen Abhängigkeit zueinander stünden und ein System bilden, welches sich nicht nur selbst antreibt, sondern auch kontinuierlich Druck auf die betroffenen Akteure ausübt. 1 22 Weltkarussell 23
1.2 Vuca-Welt 1.2 Vuca-Welt da zahlreiche Optionen zur Verfügung stehen. Diese Ambiguität stellt das vorherrschende Wertesystem grundlegend auf den Kopf, sodass neue Möglichkeiten und Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Selbst wenn hierfür umfassend viele neue Informationen zur Verfügung stehen, kann sich die Evaluation und Kombination als zu vieldeutig erweisen. »VUCA« dient somit als Beschreibung der ver- Abb. 4 änderten Rahmenbedingungen, unter welchen heutzutage Entschei- dungen getroffen werden sollen.3 Zusammenfassend lässt sich erör- _3 1.2 Vuca-Welt tern, dass die heutige Welt den darin agierenden Akteuren erschwerte vgl. Gläser, 2020, [online] Rahmenbedingungen bereit stellt. Durch die Erweiterung an neuen Möglichkeiten (~vgl. 1.1) wuchsen zwar die Handlungsspielräume, _4 vgl. Pfeffer, Das Akronym »VUCA« steht hierbei für die vier englischen Be- dementsprechend jedoch auch die Komplexität der einzelnen Systeme. 2014, S.75 grifflichkeiten »Volatility«, »Uncertainty«, »Complexity« und Infolgedessen befindet sich hinter allem, was uns umgibt und beein- _5 »Ambiguity«. Die Begriffsentstehung entspringt dem militärischen flusst, ein komplexes System mit unsichtbaren Zusammenhängen und ebd., S.74 Bereich und sollte ursprünglich als Beschreibung eines neuen multi- Wechselwirkungen, welche stärker sind, als das Bewusstsein erschlie- lateralen globalen Umfelds dienen, nach der Beendigung des Kalten ßen mag.4 Dies führt letztlich soweit, dass wir »[…] nicht mehr verste- _6 vgl. Vogel, _1 Krieges.1 In der heutigen Zeit hingegen fungiert das Akronym als Be- hen, wie Dinge entstehen und funktionieren, müssen sie aber gestal- 2017, [online] vgl. Mack et. al., schreibung der vorherrschenden Situation – der modernen Welt – ten, kaufen und benutzen«5 und uns in der Welt zurechtfinden. Anhand 2016, S.5 und beinhaltet deren Merkmale.2 Im Folgenden werden die einzelnen dieser Faktoren erscheint es als einleuchtend, wie sehr es doch darauf _2 Begriffe aus dem Englischen übersetzt und deren Aussage näher be- ankommt, wie gerade die Akteure mit der vorherrschenden Situation vgl. Bendel, leuchtet. Volatilität steht zum Ersten für die Welt, welche sich ständig umgehen zu vermögen. Die Autorin schlussfolgert deshalb, es sei aus- 2020, [online] verändert und durch Instabilität gekennzeichnet ist. Neue Situationen schlaggebend inwieweit die Menschheit flexibel und schnell bezüglich ergeben sich plötzlich und völlig unerwartet in unbeständiger Ver- den Herausforderungen, die sie umgeben, im Sinne von Anpassung änderungsgeschwindigkeit, wodurch das Verständnis von Wirkung und »Mitgestaltung« reagieren. Denn auf Stabilität oder Sicherheit und Ursache unmöglich erscheint. Die Veränderungen sind deshalb sei scheinbar kein Verlass mehr. Dinge und Systeme, die bisher ver- zunehmend unvorhersehbar und erzeugen Ungewissheit. Diese Un- meintlich als stabil erschienen, könnten sich unabsehbar ändern und gewissheit erschwert zusätzlich die Möglichkeit Prognosen bezüglich bieten keinerlei Orientierung oder Greifbarkeit. So schafft »VUCA« der Zukunft aufzustellen, wodurch Orientierung nur gering gewähr- permanent eine veränderte Welt und löst reihenweise Dilemmata aus. leistet werden kann. Aufgrund der Komplexität und Vernetzung er- Da diese von Komplexität geprägt sind, wirken sie sich übergreifend zeugen sich vielschichtige Systemebenen, deren Zusammenhänge und auf alle Bereiche, Disziplinen und Branchen aus. Dies bedarf einer Wechselwirkungen ein unsteuerbares Geflecht bilden. Infolgedessen umfassenden Betrachtung und Lösungsfindung.6 Um sich zukünftig lassen sich nur erschwert Entscheidungen und Strategien entwickeln, dieser gesellschaftlichen Herausforderung stellen zu können, so wird 1 24 Weltkarussell 25
1.3 Wicked Problems 1.3 Wicked Problems von der Verfasserin der vorliegenden Arbeit angenommen, dass jedes 1. Komplexität der Problemsituation Individuum eine entscheidende Reaktion in Form einer gewissenhaf- Diese wird durch die Anzahl der beteiligten Variablen fest gemacht ten und tiefgehenden Problembetrachtung, vornehmen sollte. Hierfür und bestimmt. sollte vorab eine Art Bewusstseinsschärfung über das Ausmaß der Di- >> einfache vs. komplexe Probleme lemmata und die Komplexität der zu behandelnden Probleme vorge- nommen werden. 2. Grad der Vernetzung Nicht nur die Anzahl der beteiligten Variablen an der Problemsitu- ation sind ausschlaggebend, sondern der Grad deren Vernetzungen untereinander, durch welche wechselseitige Abhängigkeiten ausgelöst werden. >> gering vs. hoch vernetzte Probleme 3. Eigendynamik der Problemsituation Die Berücksichtigung der Wechselwirkungen ist entscheidend, da un- 1.3 wicked problems vorhersehbare Auswirkungen entstehen können und sich die Problem- situation ggf. über einen gewissen Zeitraum durch begünstigende Ein- flüsse hinweg selbst verändern kann. >> statische vs. dynamische Problemsituation Es erschließt sich, dass durch die Steigerungslogik (~vgl. 1.1) und den nun bekannten erschwerten Rahmenbedingungen (~vgl. 1.2) 4. Intransparenz ein Problemaufkommen unvermeidbar ist. Vielmehr entstehen so- Oftmals lässt sich die Problemsituation nicht vollständig erschließen, gar auf allen Ebenen schneller Probleme, als dass sie bewältigt da Informationen oder Erkenntnisstände fehlen. _1 werden können1. Um diese Probleme zu eruieren, bedarf es vorab vgl. Reheis, >> Transparenz vs. Intransparenz einer Begriffsklärung. Laut Duden wird ein Problem im allgemei- o.D., [online] nen Sinne als »eine schwierige [ungelöste] Aufgabe, schwer zu be- 5. Polytelie _2 antwortende Frage, komplizierte Fragestellung«2 mit Schwierigkeit Duden, Eine solche Intransparenz ist auch in Bezug auf die zu erreichenden definiert. Sind Probleme unter anderem besonders stark durch Kom- 2020, [online] Zielzustände möglich, wenn beispielsweise mehrere Ziele simultan be- plexität gekennzeichnet, so werden sie in der Allgemeinen Psycho- achtet werden sollten. Dies verlangt ein Abwägen zur Verhinderung logie auch als »komplexe Probleme« bezeichnet. Der Psycholo- einer Kontradiktion.3 _3 ge JOACHIM FUNKE entwickelte diesbezüglich fünf Merkmale, durch >> wenige vs. mehrere Lösungsziele vgl. Funke, welche sie sich gegenüber einfachen Problemen differenzieren lassen. 2004, [online] 1 26 Weltkarussell 27
1.3 Wicked Problems 1.3 Wicked Problems In diesem Kontext stößt man zwangsläufig auch auf die weitverbrei- zur Verfügung, da »jede Lösung nach ihrer Anwendung Wellen von tete englische Bezeichnung dafür: »Wicked Problems«. Dieser Ter- Konsequenzen während eines ausgedehnten – vermutlich unbegrenz- minus geht ursprünglich auf den Designwissenschaftler HORST W.J. ten – Zeitraums bewirken. Darüberhinaus werden die Konsequenzen RITTEL zurück und bezeichnet die komplexen Probleme oder Heraus- der Lösung vielleicht völlig unerwünschte Rückwirkungen hervorru- forderungen, bei welchen sich erschwert eine Lösung finden lässt, als fen, die gegenüber den beabsichtigten oder bis dahin erreichten Vor- bösartig (engl.: wicked). 1973 erarbeitete RITTEL gemeinsam mit sei- teilen überwiegen.«7 5. Jene Lösung für ein »Wicked Problem« _7 + _8 ebd., S.25 nem Kollegen MELVIN M. WEBBER zehn Charakteristika eines »Wi- stellt eine einmalige Chance dar – eine Testmöglichkeit vorab cked Problems«. 1. Eine eindeutige Formulierung für ein steht nicht zur Verfügung. Es handelt sich um einen einmaligen Vor- _9 »Wicked Problem« ist nicht möglich. Denn »um ein bösartiges gang mit lediglich einer einzigen Chance. »[…] Da es keine Gelegen- ebd., S.26 Problem ausreichend detailliert beschreiben zu können, muss man heit gibt, durch Versuch und Irrtum zu lernen, zählt jeder Versuch si- _10 bereits im voraus eine möglichst vollständige Liste aller denkbaren gnifikant.«8 6. Die Menge der potenziellen Lösungen für ein ebd., S.27 Lösungen aufstellen. Der Grund dafür liegt darin, dass jede Frage »Wicked Problem« gehen in das Unzählbare. »Es gibt keine _11 nach zusätzlicher Information vom Verständnis des Problems – und Kriterien, die den Nachweis ermöglichen, dass alle Lösungen für ein ebd., S.28 _4 seiner Lösung – zum aktuellen Zeitpunkt abhängt.«4 Das Verständnis bösartiges Problem identifiziert und bedacht wurden.«9 7. Jedes Webber, _12 des Problems hängt somit unmittelbar mit der Lösung des Problems »Wicked Problem« weist eine Einzigartigkeit auf. »Mit Sicher- 1992, S. 22 ebd., S.30f. zusammen. Noch vielmehr erscheint das Auffinden des Problems das- heit kann für zwei beliebige Probleme wenigstens eine Eigenschaft ge- _5 selbe zu sein, wie die Lösungsfindung selbst. 2. Es besteht zudem zu funden werden, und er sie sich unterscheiden (genauso wie man eine ebd., S. 24 keinem Zeitpunkt die gewisse Garantie, ob der jeweilige eingeschla- Anzahl von Eigenschaften finden kann, die sie gemeinsam haben), und _6 gene Lösungsweg auch die tatsächlich erhoffte Lösung hervorbringen deshalb ist jedes von ihnen in einem ganz banalen Sinn einzigartig.«10 ebd., S. 24f. wird oder nicht. Aus diesem Grund können »Wicked Problems« 8. Ein bestimmtes »Wicked Problem« kann wiederum auch keine sogenannte »Stopp-Regel« aufweisen. Denn »[…] der als Symptom eines anderen Problems verstanden werden. Prozess der Problemlösung mit dem Prozess des Verständnisses der Grundlegend können Probleme als Diskrepanz zwischen dem Ist-Zu- Natur des Problems identisch ist, da es keine Kriterien für ein ausrei- stand und dem Soll-Zustand gesehen werden, denn »der Prozess der chendes Verständnis gibt und da es für die Kausalketten […] kein Ende Problemlösung beginnt mit der Suche nach einer kausalen Erklärung 5 gibt, kann [man] es immer versuchen, es noch besser zu machen.« der Diskrepanz. Die Beseitigung dieser Ursache bringt ein anderes 3. Lösungen für »Wicked Problems« können nicht als rich- Problem zum Vorschein, dessen Symptom das ursprüngliche Problem tig oder falsch bewertet werden. Denn die scheinbare subjektive ist.«119. Die Interpretationsmöglichkeiten bei der Problem- Wahrnehmung kann wohl kaum objektiv überprüft werden, ohne dass beschreibung eines »Wicked Problems« sind enorm. So stellt ein einzelnes Individuum die Macht zugeschrieben bekommt »formale die Auswahl der Beschreibung bereits einen geringen Teil der Lösung 6 Entscheidungsregeln festzusetzen, um die Richtigkeit zu bestimmen.« selbst dar. »Die Weltsicht des Analytikers ist der stärkste determinie- 4. Es besteht keine Möglichkeit den Erfolg der gewählten Lö- rende Faktor bei der Erklärung einer Diskrepanz und daher auch bei sung zu messen. Auch hierfür stehe keine Überprüfungsmöglichkeit der Lösung eines bösartigen Problems.«12 10. Der Problembear- 1 28 Weltkarussell 29
1.3 Wicked Problems 1.3 Wicked Problems beiter hat kein Recht, zu irren. »Hier ist das Ziel nicht, die Wahr- lösen einer Wechselwirkung, bzw. Symptomatik, eines anderen Pro- heit zu finden, sondern einige Merkmale der Welt, in der die Leute le- blems. Um dieser Korrelation gerecht zu werden behauptet FUNKE, _13 ben, zu verbessern.«13Aus diesem Grund scheint es lediglich darum zu dass ein komplexes Problemlösen in Form von einer effizienten Inter- ebd., S.31 gehen Verantwortung zu übernehmen für die Konsequenzen, welche aktion zwischen der problemlösenden Person und der situativen Ge- _14 verursacht wurden. gebenheit erforderlich ist. Hierzu sei der Einsatz von kognitiven, emo- vgl. Pfeffer, tionalen und sozialen Ressourcen, sowie die Wissensbeschaffung über 2014, S.79 Auch 47 Jahre später erweist sich diese Art von Problemen empfunde- die Problemsituation unabdingbar.15 Problemlösendes Denken stellt _15 vgl. Frensch & ner Maßen als aktuell. In der heutigen Zeit entpuppen sich »Wicked sich somit als eine hohe Form geistiger Aktivität heraus, die bis heute Funke, 1995, Problems«, nach wie vor, als große gestalterische und planerische bei keinem anderen Lebewesen, als dem Menschen, in vergleichba- S. 18 Herausforderungen für die Menschheit. Es lässt sich erahnen, dass rer Weise festgestellt wurde. Die Spezies Mensch formt und gestaltet _16 sich einfache Probleme womöglich durch bekanntes Herumprobieren durch planvolles Handeln und problemlösendes Denken so das Leben vgl. Betsch, bekämpfen lassen, worin »komplexe« oder »bösartige Probleme« und die Umwelt.16 In Hinblick auf diese herausragende menschliche Funke & Pless- hingegen selbst nach mehreren Lösungsversuchen noch als nicht lös- Fähigkeit, sollte nicht der wachsenden Liste an »Wicked Problems« ner, 2011, S. 137 bar erscheinen. Als simples Beispiel fungiert ein Puzzle, bei welchem primär Beachtung geschenkt werden, sondern vielmehr dem Erhalt man so lange sucht und erprobt, bis das passende Gegenstück zur Lü- der Qualifikation. Aus diesem Anlass soll im Kontext dieser Arbeit der _17 + _18 Spiekermann, cke gefunden wird. Je komplexer das Puzzle und je höher die Anzahl Mensch, als problemlösendes Individuum, in das Zentrum aller Be- 2019, S.79 der Puzzleteile, desto mehr Lösungsversuche sind dementsprechend trachtungen gerückt werden. Anstatt vorrangig mit dem großen Ziel auch notwendig. Ist das Endbild des Puzzles allerdings einmal voll- die Welt zu gestalten und Optimierungen im Sinne der Steigerungslo- bracht, so verändert sich dies selbst nach tagelanger Unberührtheit gik (~vgl. 1.1) hervorzubringen, soll der Mensch zum Gestalter seines nicht. In diesem Punkt unterscheiden sich »komplexe« von einfachen eigenen Lebens befähigt werden. »Wir müssen uns auch mit uns selbst Problemen – sie sind zudem dynamisch und können sich durch Wech- Auseinander setzen, mit den Eigenschaften unserer Persönlichkeit und selwirkungen verschärfen. Aus diesem Umstand abgeleitet schwindet mit unseren Werten.«17, um so »[…] menschengerechten, wertvollen aus Sicht der Verfasserin dieser Arbeit immer mehr der Glaube an das Fortschritt […]«18 vollziehen zu können, um den Anschluss zur Welt, Problemlösen in dieser Zeit. Denn wenn alles miteinander zusammen bzw. zum technischen Fortschritt, nicht zu verlieren. hängt, scheint es, als seien die Vernetzungen und Systeme so gestal- tet, dass kaum Puffer, Ausweichmöglichkeiten oder Perspektiven der Optimierung zur Verfügung stehen.14 Zusammenfassend lässt sich demnach feststellen: Wenn jedes »Wicked Problem« in seiner Art und Ausprägung als einzigartig und intransparent gilt und verstan- den wird, so stellt das Auffinden des Problems dieselbe Herausforde- rung, wie die Lösungsfindung selbst, dar. Selbst wenn ein Problem möglicherweise beseitigt wird, besteht keine Garantie für das Aus- 1 30 Weltkarussell 31
1.4 Generation Erschöpft 1.4 Generation Erschöpft 1.4 generation In den Untersuchungen von STEPHAN GRÜNEWALD bezüglich der Stimmung innerhalb der Gesellschaft haben die Menschen ver- erschöpft mehrt das Gefühl geäußert, dass sie durch das permanente »Höher! Schneller! Weiter!« am Ende seien. Das größte Problem sieht GRÜ- NEWALD vor allem darin, dass dabei so gut wie niemand eine Vor- stellung davon hat, wann sich dies ändern würde oder was danach kommen könnte. Es konstatiert sich so von Zeit zu Zeit eine ungewisse Aus der zunehmenden Dynamik (~vgl. 1.1) und Komplexität (~vgl. Zukunftshaltung, die den Menschen Angst macht. Angst, da sie nicht 1.2) des heutigen Lebens resultiert eine »immer höher, immer wissen, wie damit umzugehen ist und lieber auf »Autopilot« um- schneller, immer weiter« Haltung. In dem vorliegenden Kapi- schalten, um die Sorgen vergessen zu können. Sie wollen schlichtweg tel wird die Auswirkung dieser Haltung im gesellschaftlichen Kontext nur funktionieren, um so durch die wiederkehrenden Krisen und den untersucht. Es soll nachgewiesen werden, inwiefern dies zu einer Ge- aussichtslosen Alltag zu schlittern. Diese Tendenz, als scheinbare Lö- fährdung der Gesundheit führt und Druck in jedem einzelnen Indivi- sung, lässt sich allerdings nicht nur im Arbeitsleben auffinden, son- _1 duum aufbaut.1 Es ist klar, dass die vorherrschende Weltlage einzig- vgl. Borschel, dern auch in der Freizeit der Gesellschaft. Auch in diesem Bereich soll- artig in der Geschichte des Planeten ist. Aus diesem Grund werden 2018, S.11 te bestenfalls alles immer durchgeplant und darauf ausgerichtet sein auch die unterschiedlichsten Reaktionen in der Gesellschaft geweckt: stets das Maximum aus dem Tag herauszuholen, sodass man abends _2 von Ratlosigkeit und Ohnmacht, bis hin zu dem Wunsch nach radi- vgl. Pfeffer, völlig erschöpft in’s Bett fällt. Sind somit notorische Unruhe und Rast- kalem Wandel oder Ablehnung und Negierung der Probleme.2 Auf- 2014, S.30 losigkeit die Merkmale einer Gesellschaft, die von der Steigerungs- grund der individuellen Reaktionen lässt sich schließen, dass die Welt _3 logik und dem Effizienzwahn (~vgl. 1.1) gekennzeichnet ist? 4 Nicht _4 sicherlich auch für jeden Einzelnen anders aussieht. Trotz aller indi- vgl. Grünewald, vgl. Grünewald, selten wird auch von einer »Psychokrise« der Gesellschaft, als 2013a, S.10 vidueller Unterschiede lassen sich jedoch auch gemeinsame Grundzü- 2013b, [online] Ergebnis der Beschleunigung, gesprochen. Eine »Psychokrise, die ge festhalten – ein ähnliches Empfinden über die Geschehnisse. Um sich in Angst-, Stress-, Burnout- und Depressionserkrankungen ma- _5 diese übergreifenden Stimmungen und Verhältnisse, die den Zeitgeist Beck & Rosa, nifestiert, welche als Reaktion auf eine Überforderung der Eigenzei- prägen und das Gesellschaftserleben ausmachen, besser beschreiben 2014, S.473 ten der menschlichen Psyche verstanden werden können.«5 Aufgrund zu können, wird in diesem Kapitel lediglich von der Gesellschaft im dieser Belege lässt sich die Annahme entwickeln, dass aufgrund der Allgemeinen gesprochen. Individuelle Eindrücke und Sichtweisen, die vorherrschenden Zeit sich nicht nur »Wicked Problems« (~vgl. davon abweichen sind deshalb möglich und auch erwünscht, da die 1.3) ergeben, sondern dass auch die Gesellschaft als »Wicked Hu- Verfasserin der vorliegenden Arbeit nicht gewillt ist die Menschheit mans« bezeichnet werden kann. Da die deutsche Übersetzung hier- über einen Kamm zu scheren.3 von nicht ganz dem Sinn und der gewollten Bedeutung entspricht, soll im Kontext dieser Arbeit die Bezeichnung durch die »Generation Er- schöpft« ersetzt werden. 1 32 Weltkarussell 33
1.4 Generation Erschöpft 1.4 Generation Erschöpft Die »Generation Erschöpft« kennzeichnet sich dadurch, wie die chische Erkrankungen zählen in Deutschland nach Herz-Kreislauf- _16 Plass et.al., Bezeichnung bereits vermuten lässt, dass Erschöpfung und psychi- Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und muskuloskelettalen 2014, S.629-638 sche Reproduktion als Störungssymptome hervorgehen. Dies resul- Erkrankungen zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust ge- tiert daraus je nachdem, wie die Umgebung dem Individuum seine sunder Lebensjahre.«16 So verringert sich die Lebenserwartung von _17 6 vgl. Walker et.al., _6 Bedürfniserfüllung verweigert. Gerade die Angst ist dabei Ausdruck Personen mit psychischen Erkrankungen im Vergleich zur Allgemein- 2015, S.334-341 vgl. Reheis, 7 einer rastlosen und suchenden Haltung nach Sicherheit. Wird dieses bevölkerung um etwa zehn Jahre.17 Der Grund hierfür liegt in der 1996, S.145 Sicherheitsbedürfnis nicht erfüllt, führt der Angstzustand häufig zu Charakteristika dieser Belastungen, die zu Teufelskreisen führen, wel- _18 18 vgl. Reheis, _7 Resignation. Egal ob im beruflichen oder privaten Kontext: »Die Leu- che drastisch die inneren Ressourcen schwächen. 1996, S.89 vgl. Grünewald, 2013a, S.72 te ergeben sich in ein Leben ohne Sicherheit und in die Abhängigkeit von anderen. Gleichzeitig streben sie nach möglichst großer Unabhän- _8 gigkeit.«8, so COVEY. Unter der hektischen Betriebsamkeit verstecken vgl. Covey, 2018, S.10 sich nicht nur Ängste und Sorgen, sondern auch die Erschöpfung. Lei- der führt dieser Weg auch nicht aus der Schnelllebigkeit heraus. Im _9 Gegenteil: »Zwar sind wir rund um die Uhr emsig, rackern uns nach Grünewald, 2013a, S.15 Kräften ab, wissen aber oft gar nicht, was wir da eigentlich machen – und vor allem warum. Dies […] verstärkt diese innere Unruhe zu- _10 sätzlich und damit auch den Fluchtreflex in die Überbetriebsamkeit.«9 vgl. Scheidt, 1988 Die aktive Verdrängung verschmutzt dann irgendwann die Innenwelt des Menschen, bis er in einen Ohnmachtszustand endet.10 Ein Zustand _11 vgl. Kühn, des Kontrollverlustes und Gefühl der Hilflosigkeit. Der Psychologe 2018, [online] KONRAD GROSSMANN spricht von der Schwierigkeit das eigene Le- ben beeinflussen zu können.11 Diese Schwierigkeit erfordert schluss- _12 vgl. Grünewald, endlich einen hohen seelischen Preis, wenn man vorrangig darauf 2013a, S.23 setzt sich persönlich blind durch Leistungssteigerung und Effizienz an der enormen Rhythmuserhöhung des Lebenstempos zu orientie- _13 ebd., S.24 ren.12 »Der Preis für die hochtourige und komprimierte Lebensfüh- rung ist die völlige Selbstauflösung.«13 Diese Selbstauflösung äußert _14 sich durch seelische Erkrankungen, von welchen in Deutschland allein vgl. Jacobi et.al., 2016, S.88 jedes Jahr etwa 27,8% der erwachsenen Bevölkerung betroffen sind. Dies entspricht rund 17,8 Millionen Menschen der Gesellschaft.14 Am _15 vgl. DGPPN, häufigsten sind es Angststörungen, gefolgt von affektiven Störungen, 2019, [online] wie Depressionen oder Alkohol- und Medikamentenkonsum.15 »Psy- Abb. 5 1 34 Weltkarussell 35
1.4 Generation Erschöpft 1.4 Generation Erschöpft Es wird erkenntlich, was der Erschöpfungsgrad für bedenkliche Di- Schlussendlich lässt sich anmerken: «Die Hochgeschwindigkeitsge- mensionen auslösen kann. Das Paradoxe daran: die Gesellschaft fühlt sellschaft ist nicht nur moralisch bedenklich, sondern auch wenig zu- sich durch äußere Gegebenheiten gestresst, ist jedoch stolz auf den kunftsfähig. Eine Logik nämlich, die auf maximale Produktion zielt, Grad der Erschöpfung, welcher hart erkämpft wurde. Nicht mehr vernachlässigt notwendigerweise die Reproduktion dessen, was in die Qualität der geleisteten Arbeit steht scheinbar im Fokus, sondern der Produktion verbraucht worden ist. Die Symptome zeigen sich auf das Ausmaß des Gestresstseins. »Wir wissen zwar oft nicht mehr ge- allen Ebenen: Wir sehen uns nicht nur durch das Tempo der Verände- nau, was wir gemacht und mit welchem Sinn wir es betrieben haben. rungen überfordert, sondern leiden auch darunter, dass unser Körper Aber an der bleiernen Müdigkeit spüren wir, dass wir uns doch recht- immer schneller mit Stoffen und unsere Psyche mit Reizen bombar- 19 _19 schaffen abgearbeitet haben.« , so GRÜNEWALD. Die ursprüngliche diert werden, sodass die physische und psychische Immunabwehr sich Grünewald, _22 Erschöpfungsgrenze wird dadurch verzerrt und verschiebt sich kon- darauf nicht mehr ausreichend einstellen kann.«22 Hierbei stellt sich 2013a, S.20 Reheis, tinuierlich, sodass die Warnsignale des Körpers überhört werden. zwanghaft die Frage: Was passiert, wenn es so weiter geht? Abschlie- o.A., [online] _20 Die Ironie daran: »[…] der moderne Held der Arbeit [ist], der sich in ßend soll in Bezug dessen nochmals GRÜNEWALD zitiert werden: ebd., S.21 _23 manischer Selbstverleugnung aufopfert. Ihm gebührt Lohn, Lob, An- «Dann bewegen wir uns zu einer Gesellschaft der Workaholics und Grünewald, _21 erkennung und Sozialprestige. […] Durch die Zurschaustellung seiner Bürokraten. Die Erschöpfung nimmt zu und wir verlieren unsere […] 2013b, [online] vgl. ebd., S.8 völligen Erschöpfung versucht man paradoxerweise sich und den an- Kreativität, die uns immer stark gemacht [hat].«23 deren seine Allmacht zu beweisen.«20 Mit der fehlenden Möglichkeit zur Ruhe zu kommen fehlt so die Reflexion der persönlichen Bedürf-  nisse und Lebenswünsche, sodass der Blick auf den inneren Kompass  gänzlich verloren geht. Auch diese wird verdrängt durch Betriebsam- keit und Fremdbestimmung.21 1 36 Weltkarussell 37
1.5 Question Zero 1.5 Question Zero 1.5 question zero An dieser Stelle soll zusammenfassend angemerkt werden, dass die schengerechtem Fortschritt«, was nichts anderes heißt als »[…] aktuelle Generation von ständigem Wandel und Schnelllebigkeit ge- die ökonomisch rationalen Schlechtigkeiten unserer Zeit wegzulassen, prägt wird (~vgl. 1.1). Auch wenn der Mensch bereits davon er- während gleichzeitig Tugenden und positive Werte in der Gesellschaft schöpft ist und gegebenenfalls mit psychischen Schäden zu kämpfen gefördert werden.«4 In diesem Kontext kann ein neues Mindset ver- _4 Spiekermann, hat (~vgl. 1.4), macht der permanente Wandel dennoch keinen Halt standen werden, durch welches jeder Mensch im Laufe seines Lebens 2019, S.25 vor ihm. Es handelt sich womöglich um Gegebenheiten, die nicht ver- dadurch auf individuelle Weise, in seinem Tempo, fortschreitet und ändert werden können. Da bringt der Menschheit leider nur bis zu sich selbst als Persönlichkeit entwickelt.5 Doch um wieder hand- _5 vgl. ebd., S.135 einem gewissen Grad ihr Durchhaltevermögen oder Frustrationsto- lungsfähig werden zu können, meint die Autorin der vorliegenden leranz etwas. Nach eigener Ansicht sollte die Gesellschaft vielmehr Arbeit, müsse man sich zuerst selbst finden und auf kreative Art _6 lernen, damit im Persönlichen umgehen zu können. Denn weder der und Weise neue Wege für sich entdecken. Denn gerade mit dem vgl. Kelley & Kelley, Wandel, noch die Welt kann man verändern. »Sie ist einfach zu groß. Vertrauen in die eigenen kreativen Fähigkeiten fühlt der Mensch sich 2014, S.177 […] Jeder Versuch, die Welt zu verändern, erzeugt das Gegenteil: in der Lage zu handeln und im eigenen Umfeld etwas zu verändern, da Stillstand. Die eingesetzte Energie verpufft angesichts der Größe der es von innen heraus passiert.6 Im Zentrum der Arbeit steht aus diesem _1 Aufgabe im Nichts und alles ist hinterher genauso wie vorher.«1, so Grund folgende Fragestellung, die es zu Bearbeiten gilt: Pfeffer, FLORIAN PFEFFER. Die investierte Energie kann man sich demnach 2014, S.123 sparen. Gerade eine Veränderung in der eigenen Welt sieht die Ver- Wie kann Kreativität in einer Zeit von rasanten und wie- _2 fasserin der Arbeit jedoch als machbarer an. Dabei macht die Wahl derkehrenden Umwälzungen entfaltet werden, um mehr vgl. ebd. einer anderen Dimension bereits einen wesentlichen Unterschied. Die Flexibilität und Resilienz zu gewährleisten? _3 wohl größte Aufgabe liegt vermutlich darin, aus der Überforderung Huber, heraus neue positive Möglichkeiten zu schaffen oder den Zynismus in Denn es soll sich nicht nur um die Rückgewinnung der eigenen 2014, S.5 Weltfrieden zu verwandeln, um zu pragmatischeren und handhabba- Handlungsfähigkeit handeln, sondern dem Menschen dauerhaft ren Lösungen zu kommen.2 Die eigene Energie sollte demnach in per- zu neuen Fähigkeiten (Flexibilität & Resilienz) verhelfen. Die Ziel- sönlichen Fortschritt umgewandelt werden. So auch der Chefredak- setzung besteht darin eine griffige Handlungsempfehlung teur des Zukunftsinstituts THOMAS HUBER: »Wer sich nicht ständig zu erarbeiten, welche ein umfassendes Umdenken gewähr- erneuert, wird vom Sturm des Wandels weggeblasen.«3 Nur wie soll leistet und zudem die Fähigkeit der Kreativität in ein neues diese Erneuerung aussehen? Um welche Art von Fortschritt handelt Licht rückt und dieses als Leitbild in der Gesellschaft ver- es sich hierbei? Einen möglichen Ansatz stellt SARAH SPIEKERMANN ankert. in ihrem Buch »Digitale Ethik« zur Verfügung. Sie spricht von »men- 1 38 Weltkarussell 39
. 0 h 2 sc » Man kann einem menschen nichts bei- bringen, man kann ihm n nur helfen, es in sich selbst zu entdecken. e n « Galileo Galilei m ei s
2.1 Humanitas 2.1 humanitas Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie der Mensch zu sich zurück- finden kann. Zu all den Ursprüngen des Menschsein. Im Jahr 1968 hat ERICH FROMM diesbezüglich eine Sammlung von Texten im Eng- lischen über die Natur des Menschen veröffentlicht. Demnach sei der Mensch nach seinem Wesen ein sogenanntes »Widerspruchswe- sen«. Dies ergebe sich aus der Vernunftbegabung, dem Bewusstsein seiner selbst, sowie dem Vorstellungsvermögen. Dadurch überwinde er, im Gegensatz zum Tier, die Instinktgebundenheit, welche jedoch wiederum auch Ängste oder Konflikte hervorrufe und ein inneres Un- gleichgewicht herbeiführen könne. Mit all dem habe der Mensch fertig zu werden. Dies würde sich allerdings so verhalten, dass selbst beim Erreichen des Gleichgewichtes erneute Widersprüche auftauchen, so- dass stets nach einem neuen Ausgleich gestrebt werden müsse.1 Auch _1 vgl. Fromm, der Psychologe und Marktforscher STEPHAN GRÜNEWALD spricht 1968, S.379 2013 von einer notwendigen Rückkehr zu den persönlichen Ur- Einleitung 2.0 sprüngen, welche letztlich jegliche innere Unruhe aufheben würde _2 vgl. Grünewald, und für ein Erleben der Welt im Einklang mit sich selbst sorgen wür- 2013, S.62 Das vorliegende Kapitel befasst sich mit dem Dasein des de.2 Es lassen sich anderweitig diverse Theorien aufspüren über mög- Menschen und erschließt die Thematik Kreativität aus an- liche Wege aus einer »kranken« und erschöpften Gesellschaft (~vgl. _3 thropologischer Sicht. In diesem Zuge wird der Mensch als vgl. Fromm, 1.4). Eines haben viele Theorien jedoch gemeinsam: die Feststellung, kulturschöpfend und somit als kreativ gesehen. Unter Kultur 2020a dass die individuellen psychischen Bedürfnisse, wie nach Wirklich- versteht sich hierbei die gesamte menschliche Praxis und de- ren Verhaltensweisen und Grundbedürfnisse. Grundsätzlich keitsbezug, Identitätserleben oder Weltanschauung, stets zur Befrie- kann jegliche Art menschlichen Handelns als kreativ betrach- digung wachsen und sich entfalten müssen.3 In diesem Kontext wird tet werden. (vgl. Kronfeldner, 2005) auch von einer Anpassung gesprochen. Anpassung im Sinne eines 42 43
2.1 Humanitas 2.1 Humanitas schrittweisen Prozesses zu mehr Autonomie. Dabei wird keineswegs Rechte und moralische Ansprüche? 8 Einer dieser Gedanken wird im ein Zustand erzielt, in welchem das Individuum keinerlei Wider- Kontext der vorliegenden Arbeit im Folgenden näher beleuchtet, um _4 ständen ausgesetzt ist, sondern diese im Gegenteil als überwindbar ein tiefergehendes Verständnis zu entwickeln. Hierfür möchte sich vgl. Reheis, 4 erfährt. Autonomie stellt ein Zustand der Selbstbestimmung und die Verfasserin der Arbeit auf SARAH SPIEKERMANN berufen, einer 1996, S.55 Handlungsfreiheit dar, weshalb sie die Philosophie zu einer grund- Wirtschaftsinformatikerin, mit der Aussage: »Jeder Mensch braucht 5 _5 legenden Wesensfreiheit zählt. So wird der Sache zunehmend näher einen Raum, in dem er sich entfalten kann. […] Wir sprechen von Frei- vgl. Wikipedia, auf den Grund gegangen, raum für uns selbst. Wir bauen uns Räume, in die wir uns zurückzie- 2020, [online] sodass sich die wesentliche Frage stellt: hen dürfen und in denen wir uns ausbreiten und fließen können, um _9 9 Spiekermann, _6 so zu sein und zu arbeiten, wie wir es wollen.« Frei sein und über sich vgl. ebd. 2019, S.107 selbst bestimmend kann der Mensch allerdings nur sein, wenn er sei- _7 Was braucht der Mensch um Mensch sein zu können? ne Ressourcen und Bedürfnisse optimal entfalten kann und somit eine _10 vgl. Golz, vgl. Reheis, Vorab muss erwähnt werden, dass der antike lateinische Begriff »Hu- bestmögliche Anpassung zu den Umweltanforderungen gewährleistet 2017, [online] 1996, S.59 manitas« sich genau mit dieser Fragestellung einst beschäftigte. Das wird. Unfreiheit hingegen wäre die Konsequenz der Überforderung, _8 Menschsein, sowie die Normen und Verhaltensweisen, die den Men- ausgelöst durch die Umwelt des Individuums. Es kann somit fest- _11 vgl. Thadden, 6 vgl. Thadden, schen ausmachen, wurden hier erforscht. Rein wissenschaftlich wäre gestellt werden, dass über die Passung oder Nichtpassung zwischen 2007, [online] 2007, [online] das Menschsein womöglich bereits durch die Zusammenkunft von Ei- dem Menschen und seiner Umwelt letztlich Freiheit und Unfreiheit _12 zelle, Samen und DNA begründet. Doch was verstehen Wissenschaftler definiert wird.10 MARTIN SEEL erweitert diese philosophische Stan- vgl. Reheis, schon von Gefühlen und Empathie, welche unabdingbar zum Mensch- dardantwort des guten Lebens durch den autonomen Menschen da- 1996, S.144 f. sein dazugehören? Denn gerade Ängste vor dem Unbestimmten und durch, dass er plädiert: »Was immer im Guten und Schlechten auch Fremden verleiten den Menschen zu Emotionen, welche das Handeln geschehen mag, gut zu leben bedeutet, neugierig zu bleiben auf das, maßgeblich beeinflussen. Gerade dieser Punkt erweist sich als äußerst was kommen mag, selbst wenn es einmal zum Ende kommt.«11 Aber menschlich. Doch der Mensch würde sich am Liebsten genau dagegen weil die Neugier erst bedenkenswert ist, wenn einem Menschen das sträuben, das zu sein, was er eigentlich ist. Dies stellte bereits der Notwendigste zur Verfügung steht, so stellt sich weiterhin die Frage 7 Schriftsteller ALBERT CAMUS in den frühen neunziger Jahren fest. nach den Grundbedürfnissen. Nun, was braucht der Mensch zum Überleben? Die wohl gängigs- Für jeden Menschen gilt gewiss gleichermaßen, dass er aufgrund sei- te Antwort, die in den Sinn kommt, wäre wohl: Wasser, Nahrung, ner individuellen Eigenschaften und als biologisches Wesen eine Reihe Medizin, Kleidung, Schlaf und ein Dach über dem Kopf. Zusätzlich von Grundbedürfnissen befriedigen muss, um am Leben teilneh- je nachdem noch etwas Liebe, Anerkennung, Freiheit und Sicherheit. men zu können.12 FROMM unterscheidet dabei zwischen körperlichen Weitaus schwieriger wird es zu klären, was der Mensch zum Glück- und psychologischen Bedürfnissen. Körperliche Bedürfnisse seien in lichsein benötigt. Zwischenmenschliche Beziehungen, materielle Lu- etwa Essen, Trinken, Schlafen oder auch Sexualität. Hinzu kommen xusgüter oder ein funktionierender Staat? Oder doch lieber soziale die individuellen psychologischen Eigenschaften, welchen gerecht 2 44 Mensch sein 45
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