Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
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11. 5. 2018 Spezial Salzburger Festspiele Begehren überall Salzburger Festspiele vom 20. Juli bis zum 30. August mit Werken der Passion, Leidenschaft und Ekstase.
Spezial Salzburger Festspiele Cover. Sonya Yoncheva, Foto: Sony Classical/ Kristian Schuller Vorwort F estspiele sind wohl auch dazu da, dass ben, die interessantesten dieser Festspiel-Novi- wir den Überblick nicht verlieren. Das täten-Jahre, Jahrzehnte nach ihren Uraufführun- immens reiche Erbe unserer Kultur, das gen wieder hervorzuholen und nachzuschauen, uns die Salzburger Gründerväter um wie viel uns, was in den Fünfziger- oder Sechzi- Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal zu gerjahren brandaktuell war, heute noch zu pflegen aufgegeben haben, scheint sich gerade sagen hat. In diesem Sinne stehen im Salzburger durch die konsequente Beschäftigung auf wun- Sommer seit Jahr und Tag Mozart neben Richard dersame Weise vermehrt zu haben. Wer im Zuge Strauss, Klassiker der griechischen Antike neben der kulturellen Bestandsaufnahme auch darauf zeitgenössischen Dramen. In diesem Sinne stößt sieht, was es an Seitenpfaden und Nebenschie- 2018 ein einstmals viel diskutierter Autor wie nen zu beachten gilt, bereichert den Repertoire- Knut Hamsun auf Kleist oder Aischylos, konfron- kanon. tiert man die „Zauberflöte“ und „Salome“ mit Und wer zurückblickt auf die diesbezüglichen russischer Hochromantik von Tschaikowski und Leistungen früherer Generationen, findet in den Salzburger Uraufführungsstücken der Jahre Programmen der Salzburger Festspiele von 1953 – von Gottfried von Einem – und 1966 – von anno dazumal manche Titel, die es wert sind, Hans Werner Henze. In diesem Sinne haben die noch einmal zur Diskussion gestellt zu werden. traditionellen großen symphonischen Konzerte 2020 wird man 100 Jahre Salzburger Festspiele und kammermusikalischen Gipfeltreffen aller- feiern. Intendant Markus Hinterhäuser hat im erster Interpreten ihre Seitenstücke in Schwer- Sinne einer gründlichen Vorbereitung auf dieses punkt-Reihen für Galina Ustwolskaja und Beat Jubiläum bereits im Vorjahr damit begonnen, Furrer. Die Palette war vielleicht nie so reichhal- die Festspielvergangenheit zu hinterfragen. tig, die Herausforderung an Künstler und Publi- Immerhin haben bedeutende Dichter und Kom- kum nie größer – Salzburger Festspiele. ponisten eigens für Salzburg geschrieben und komponiert. Es gehört zu den nobelsten Aufga- Wilhelm Sinkovicz Impressum Medieninhaber, Redaktion und Verleger: „Die Presse“ Verlags-Ges.m.b.H. & Co KG, 1030 Wien, Hainburger Straße 33, Tel.: 01/514 14-Serie. Herausgeber und Chefredakteur: Rainer Nowak. Geschäftsführung: Mag. Herwig Langanger, Rainer Nowak, Dr. Rudolf Schwarz. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Barbara Petsch, Dr. Wilhelm Sinkovicz, Mag. Walter Weidringer, Mag. Daniela Tomasovsky, Mag. Norbert Mayer, Mag. Ann-Catherine Simon, Dr. Walter Dobner, Mag. Günther Haller Art Direction: Matthias Eberhart. Produktion/Layout: Patricia Varga, Christian Stutzig, Alexander Schindler. Koordination: Mag. Astrid Müllner. Anzeigen: „Die Presse“ Verlags-Ges.m.b.H. & Co KG, Anzeigenleitung Tel.: 01/514 14-535, anzeigenleitung@diepresse.com. Hersteller: Druck Styria GmbH & Co KG, Styriastraße 20, 8042 Graz. Eine Sonderbeilage der „Presse“ Verlags GmbH & Co KG in Kooperation mit den Salzburger Festspielen und mit finanzieller Unterstützung von Rolex S. A. 4 Kultur spezial
Inhalt 8 6 Markus Hinterhäuser. Der Intendant Literaturopern. Wenn Oscar Wilde, 12 Helga Rabl-Stadler. Die Festspielprä- der Salzburger Festspiele über Puschkin oder Franz Kafka ungefragt sidentin spricht über Vergangenheit, Passion, Leidenschaft, Obsession. zu Librettisten werden. Gegenwart, Zukunft. 14 20 22 24 Opernregisseure. Vier formidable Cecilia Bartoli. Die Mezzosopranistin Pique Dame. Mit Regie-Star Hans Bettina Hering. Die Schauspielchefin Fotos: Getty Images; Rolex/Hugo Glendinning, Benoit Peverelli; Salzburger Festspiele/Leo Neumayr, Lydia Gorges, Sandra Then, Monika Rittershaus, Wildbild, Julia Wesely, Theatermacher geben bei den singt erstmals die Partie der Isabella Neuenfels spricht Theater-Kritikerin setzt auf außergewöhnliche Theater- Festspielen ihre Operndebüts. in Rossinis „L’italiana in Algeri“. Barbara Petsch über die Liebe. Paarungen. 28 30 32 Marco Borggreve, Marco Borelli; William Minke, Picturedesk.com/David Heerde/Action Press; David Furrer; Alte Stoffe. Bacchantinnen, Poppea, Hunger. Knut Hamsuns Entwick- Literatur. Von Euripides bis Salome – die Antike als Anregung für lungsroman eines Künstlers wird Grossman: die Werke hinter den das Musiktheater. von Frank Castorf inszeniert. aktuellen Stücken. 36 38 42 44 Klingendes Herzblut. Die „Ouverture Beat Furrer. Dramen des Hörens und Florian Wiegand. Der Konzertchef Liederabende. Jonas Kaufmann, spirituelle“ steht heuer im Zeichen damit des Lebens fesseln in „Zeit mit holt die bedeutendsten Orchester Plácido Domingo und Rolando der Passion. Furrer“. und Dirigenten nach Salzburg. Villazón widmen sich dem Lied. Kultur spezial 5
„Eine ‚Salome‘ ohne einen Tropfen Blut – das ist großartig!“ Foto: Salzburger Festspiele/Leo Neumayr Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser über Macht ohne System und Kunst als Geografie unserer Existenz. Interview: Anne-Catherine Simon 6 Kultur spezial
Markus Hinterhäuser:„Wir müssen die Werke immer wieder neu befragen.“ Das Programm der Festspiele wird von einem thematischen Dennoch hat Mozarts Utopie rein gar nichts mit Verharmlosung Faden zusammengehalten. Wie findet man diesen? zu tun. Sie hat sehr viel mit dem, was man im Englischen so schön Die Festspiele haben in Dichte und Heterogenität ihrer Veranstal- „Age of Enlightenment“ nennt, der Aufklärung zu tun, also mit tungen eine ziemlich einzigartige Dimension, mit verschiedensten einer Thematik, mit der sich der Schriftsteller und Historiker Erwartungshaltungen und Bedürfnissen. Man muss dieses riesige Philipp Blom in seiner Eröffnungsrede der diesjährigen Festspiele System auch kommunikativ bewältigen – da sollte man sich schon befassen wird. sehr präzise Gedanken machen. Was heißt das, wenn wir sechs Wie viel hat die Wirksamkeit von Kunst für Sie mit direkter Opern produzieren, wenn wir 90 Konzerte machen, wenn wir fünf Aktualisierung zu tun? Schauspielpremieren haben, außerdem Zusatzveranstaltungen Ich halte nichts von einfältigen Aktualisierungen. Welches Bild fin- jeder Art und ein Dutzend Spielstätten? Wie bringt man das alles det ein Regisseur für den Moment, in dem in der „Salome“ der zusammen? Ich sehe diese Aufgabe auch als eine künstlerische, Kopf des Jochanaan gebracht wird? Ein bis heute und vielleicht und Kunst ist für mich ohne Form nicht möglich. Andere können gerade heute vergleichslos schockierender Moment. Wenn jetzt das vielleicht dem Zufall überlassen, ich kann es nicht. Ich muss der Regisseur der „Salome“, Romeo Castellucci, sagt: Ich würde auch wissen, warum ich etwas tue. Wenn ich das Warum für mich gern eine ‚Salome‘ ohne einen Tropfen Blut machen – dann finde nicht geklärt habe, finde ich auch keine Antwort auf das Wie. Die ich das absolut großartig, dann meidet er alles Plakative. Die gro- wesentlichen, dauerhaftesten künstlerischen Äußerungen sind ßen Gedanken in der Kunst eignen sich nicht für stupide Gegen- die Geografie unserer Existenz und immer in einem größeren wartsbezüge; einer ausschließlich rückwärtsgewandten Reanimie- Kontext zu sehen. Nichts entsteht aus dem Nichts. rung kann ich allerdings auch nichts abgewinnen. Das wäre mir als Strategien der Macht war 2017 das Thema, in dieser Saison sind Unternehmung dann doch zu bescheiden. Ich glaube fest daran, es Passion, Leidenschaft. Das ist gar nicht so weit entfernt von dass wir große Werke immer wieder neu befragen müssen, sie 2017, wo es, etwa in Schostakowitschs „Lady Macbeth von untersuchen müssen auf das, was für uns heute wesentlich ist. Der Mzensk“ und Wedekinds „Lulu“ auch viel um Macht in Bezie- Atem und die Vitalität der großen Kunst kommt aus dieser ständig hungen, um den „Geschlechterkampf“ ging . . . neuen Überprüfung. In letzter Konsequenz geht es wohl auch um 2017 ging es um Strategien der Macht, Mechanismen der Macht, etwas, das Flaubert als „Éducation sentimentale“, die Erziehung Zumutungen der Macht. Beschäftigt man sich des Herzens, bezeichnet hat. mit diesen Phänomenen, muss man sich auch „In letzter Die griechische Tragödie ist im Opern- und im mit der Systematik der Macht beschäftigen. Es Schauspielprogramm sehr präsent, direkt, etwa gibt aber auch Formen der Macht, die nicht Konsequenz geht es mit den „Persern“, und auch durch Künstler wie einem System unterliegen, die sehr viel schwie- Kleist oder Henze, die sich von den antiken Dra- riger zu bändigen, zu zähmen sind, die mit Emo- wohl um die matikern inspirieren ließen. Kam Ihr Interesse tion, Leidenschaft und Obsession zu tun haben, Erziehung des daran auf dem Umweg über die Musik? also mit etwas Unkontrollierbarem. Richard Nein, das ist etwas, was mich schon lange Strauss’ „Salome“ ist die Geschichte einer Obses- Herzens.“ beschäftigt. Vielleicht hat es auch damit zu tun, sion, die bis an die Grenzen der Zumutbarkeit dass ich immer stärker angezogen werde von geht. Tschaikowskis „Pique Dame“ ist in letzter Konsequenz auch der Kunst als Kontinuum. Natürlich gibt es Brüche, Krisen, aber die Geschichte einer zerstörerischen Unterwerfung, und Hans dennoch – man kann Werke von Euripides bis Heiner Müller in Werner Henzes „The Bassarids“ erzählen von nichts weniger als eine gedankliche Choreografie bringen. dem Sieg des Irrationalen über die Ratio, man könnte auch sagen Die Salzburger Festspiele setzen viele Schwerpunkte für ein jün- von der vollkommenen Machtergreifung des Hedonismus. Auch geres Publikum, trotzdem ist klar, dass dieses eine Minderheit in Monteverdis „Poppea“ ist, wie schon Harnoncourt gesagt hat, eine Salzburg ist. Beschäftigt Sie diese Frage, die ja auch viel mit der zutiefst amoralische Geschichte. Zukunftsfähigkeit der Festspiele als Institution zu tun hat? Mozart hat 2017 das helle Gegenstück zu all den Zumutungen Was wir tun müssen, um Salzburg auch für ein neues Publikum zu der Macht geliefert: „La clemenza di Tito“ feiert das Vergeben. öffnen, das tun wir in Form von intensiven Jugendprojekten. Ich Kann man auch hier eine programmatische Analogie sehen, glaube aber, dass keine Institution, auch die Salzburger Festspiele wenn heuer am Anfang des Sommers die „Zauberflöte“ steht? nicht, à la longue im Stande sein wird, gesellschaftliche Mängel Für mich richtet die „Zauberflöte“ ein Mikroskop auf alle Fragen, und bildungspolitische Konzeptlosigkeiten zu kompensieren. um die es im Weiteren gehen wird. Das Wunder, das Mozart voll- Hier geht es um Fragen der Bildungssysteme, um eine Grundein- bringt, besteht darin, ein utopisches Gleichgewicht zwischen allen stellung zur Kultur, also um zutiefst gesellschaftspolitische Antagonismen, allen höchstgradigen Spannungen zu schaffen. Phänomene. e Kultur spezial 7
Oscar Wilde ging mit der Décadence der ugo von Hofmannsthal nannte sich H „Salome“ in die Operngeschichte ein. „Librettist“ nur mit Augenzwinkern. Fotos: Gettyimages (4 – Roger Viollet Collection, Imagno/Austrian Archives) „Mich dünkt, sollt’ passen Ton und Wort“ Weltliteratur auf der Opernbühne: Wenn Oscar Wilde, Puschkin oder Franz Kafka ungefragt zu Librettisten werden – und Dichter ihre Komponisten zum Nachsitzen in die Oper schicken. Text: Walter Weidringer 8 Kultur spezial
K eine altväterische Ouvertüre. Ja nicht einmal ein kurzes Vor- deutschen Oper des 19. Jahrhunderts mit der auf dem Stabreim spiel, wie das seit Wagner gerne genannt wurde. Bloß ein basierenden Sprache, die Richard Wagner als sein prinzipiell eige- geschmeidiger Zweiunddreißigstel-Lauf der Klarinette ner Librettist für den „Ring des Nibelungen“ entwickelt hat – und eröffnet 1905 Richard Straussens „Salome“ – ein Auftakt im die ihrerseits Anlass für viel Spott bot. Die alten Binnenformen der musikalischen Wortsinne, eine knappe Geste nur, als würde der Oper waren da schon weitgehend aufgelöst und in einen durchge- Vorhang hochgezogen. Und schon sind wir mittendrin im Musik- henden Fluss aus Rede und Wechselrede verwandelt. drama modernen Zuschnitts. Die Tonleiter mündet in ein expressiv sich windendes Motiv, das von cis-Moll mit neuerlichem Auf- Poetische Bühnenprosa. Am Beginn des 20. Jahrhunderts lautete schwung nach Cis-Dur führt: „Wie schön ist die Prinzessin Salome die Frage deshalb auch: Welche Art von Sprache war opernwürdig, heute Nacht!“, schwärmt der Soldat Narraboth. Im ständig wech- opernfähig? 1896 war in Paris Oscar Wildes auf Französisch ver- selnden harmonischen Licht steigt noch dazu eine flirrende, dort fasster, skandalöser Einakter „Salomé“ uraufgeführt worden – noch und da sanft dissonierende, chromatische Linie der zweiten Gei- während jener Zuchthausstrafe mit schwerer Zwangsarbeit, die gen an: In wenigen Sekunden hat Strauss Schimmer und Schatten Wilde wegen homosexueller „Unzucht“ verbüßen musste und die einer schwülen Mondnacht eingefangen – und zugleich ein ganz seinen tragisch frühen Tod 1900 mitverursachen sollte. In diesem neues Kapitel in der Geschichte der deutschsprachigen Oper auf- Jahr erschien auch Hedwig Lachmanns deutsche Übersetzung des geschlagen. Damit ist nicht etwa gemeint, dass eine Femme fatale Dramas; der Lyriker Anton Lindner wies Richard Strauss auf das und pathologisierte weibliche Sexualität ins Zentrum rücken, wie Sujet hin und machte sich nach altem Muster zugleich als Librettist es gang und gäbe war im Fin de siècle, Skandal- und Sensationslust erbötig. Strauss war zwar sofort hellhörig geworden, wollte jedoch hin, moralinsaure Empörung her: später etwa auch in Arnold auf den von Lindner gelieferten Versuch in Versen nicht recht Schönbergs „Erwartung“ und Alban Bergs „Lulu“. Nein, es ist die anbeißen. Als Strauss das Stück dann 1902 in Berlin in einer Insze- deutsche Literaturoper, die der ikonische Klarinettenanstieg nierung Max Reinhardts gesehen hatte (aus Zensurgründen nur zugleich inauguriert. vor geladenen Gästen), kam ihm die zündende Idee, alle Umstands- reimerei in den Wind zu schreiben, sich gleich den Dramentext Hilfsbegriff Literaturoper. Natürlich handelt es sich dabei um eine selbst vorzunehmen und ihn, stark und klug gekürzt, direkt zu sprachliche Krücke der Musikgeschichtsschreibung. Keinesfalls ist komponieren. Gerade der an keinerlei metrische Zwänge mehr damit gemeint, die Komponisten hätten sich bis dato nicht auch gebundene, freie Fluss der Sprache und Wildes mit blühenden der besten Stoffe und Dichter der Weltliteratur bedient. Das haben Metaphern geschwängerter, leicht schwülstiger Stil beschrieb ideal sie nämlich – wenn schon nicht durchwegs, wie man zugeben muss, die überfeinerte Endzeitstimmung einer Hochkultur in ihren deka- so doch immer wieder. Die antiken Mythen, veredelt in Ovids denten letzten Zügen – und entzündete Strauss’ illustrative Fanta- „Metamorphosen“, aus dem 16. Jahrhundert sie zugleich von Wort zu Wort wie im großen dann weitschweifige Epen wie Ludovico Ariosts Ganzen. Mit „Salome“ konnte er nun seinen „Rasender Roland“ und Torquato Tassos Schließlich kam eigenen Opernstil finden – und in der hoch dif- „Befreites Jerusalem“, sie boten vor allem dem Richard Strauss die ferenzierten Partitur jene „Nervenkontrapunk- Barock ein enormes Reservoir an Geschichten. tik“ entfalten, die in der Frühzeit der Psycho- Freilich mussten diese erzählenden Texte in zündende Idee, den analyse ideal zum Geschehen rund um die rät- theatergerechte Dialoge und Monologe umge- selhaft schillernde Titelfigur passte, die zwi- wandelt werden – denn die Oper verlangte Dramentext der schen jungfräulicher Keuschheit, erotischer damals einerseits zielstrebige Rezitative, in „Salome“ direkt zu Anziehungskraft und tödlichem Verlangen denen sich die Personen austauschten und das oszilliert. Die einaktige Struktur mit der wie in Geschehen vorangetrieben wurde, andererseits komponieren. Echtzeit geschilderten Handlung erzielt eine breit reflektierende Arien für die Solisten mit gleichsam filmische, unausweichliche Schlag- reglementierten Affekten, später auch vermehrt Duette und kraft, zu der die symphonischen Zwischenspiele und der Tanz das Ensembles. Das besorgten zunächst adelige Liebhaber, dann Ihre beitragen. zunehmend dichtende Experten. Pietro Metastasio war im 18. Jahr- hundert ihr unangefochtener König. Zugleich wurde die Vorherr- Vorläufer und Nachfolger. Das schuf den Typus der deutschspra- schaft von Wort oder Ton diskutiert und sogar satirisch auf die chigen Literaturoper: Ein Musiktheaterwerk, dessen Text als eigen- Bühne gebracht, 1786 von Antonio Salieri etwa. Doch in der Oper, ständiges Drama von hohem Rang schon vorher existiert hatte. Die so hatte Mozart fünf Jahre zuvor festgestellt, zur Zeit seiner „Ent- geniale Fortsetzung dieses Prinzips fand Strauss dann in der „Elek- führung“, müsse „schlechterdings die Poesie der Musick gehor- tra“ Hugo von Hofmannsthals: Die damit beginnende Zusammen- same Tochter“ sein: „weil da ganz die Musick herscht – und man arbeit der beiden war eine der faszinierendsten und ertragreichs- darüber alles vergisst“. ten in der Operngeschichte überhaupt – wobei sich Hofmannsthal nur scherzhaft-ironischerweise als „Librettist“ betitelt wissen Gestelzte Verse. Noch bei Giuseppe Verdi freilich, der auf der wollte. Immer wieder haben sich seither Komponisten große Thea- Suche nach „neuen, grandiosen, schönen, abwechslungsreichen, terstücke aus Vergangenheit und Gegenwart vorgenommen – und gewagten Stoffen“ nicht zuletzt bei Victor Hugo, Lord Byron, Vol- beileibe nicht alle waren damit auf Anhieb so erfolgreich wie etwa taire, Schiller und Shakespeare fündig geworden ist, hatten die Lib- Gottfried von Einem mit seiner auf Georg Büchner basierenden rettisten neben den formalen Erfordernissen der Oper auch beset- Oper „Dantons Tod“ 1947 bei den Salzburger Festspielen. Im Fran- zungstechnische Konventionen und überdies die Auflagen der Zen- zösischen war Claude Debussy Strauss noch einige Jahre zuvorge- sur zu erfüllen. Dafür drechselten gerade die italienischen Dichter kommen: 1902 mit „Pelléas et Mélisande“, entstanden nach dem kunstvolle Verse mit immer hochgestocheneren Vokabeln in küh- symbolistischen Drama des späteren Nobelpreisträgers Maurice nen grammatikalischen Formen und Wortstellungen: ein poeti- Maeterlinck. Im Russischen finden sich die ersten Beispiele sogar sches, aber fiktives Idiom. Diese Realitätsferne trifft sich in der schon in den 1860er-Jahren: Alexander Dargomyschskis unvoll- Kultur spezial 9
bestehen, wenn sie lange bereits das Maul nicht mehr werden auf- thun können“, schrieb er. Das lässt sich nun in Salzburg konzertant neu überprüfen. Mehr als nur eine Wiederbegegnung ermöglicht hingegen die Neu- produktion von Hans Werner Henzes „Bassariden“, die 1966 bei den Festspielen aus der Taufe gehoben wurden und nun im engli- schen Original als „The Bassarids“ dorthin zurückkehren. Das Dich- terpaar W. H. Auden und Chester Kallman bildete eine Lebens- und Künstlergemeinschaft, der Henze bereits das Libretto zur „Elegie für junge Liebende“ verdankte. Nun, 1962, wollten sie Henze auf den Mythos einschwören und schlugen „Die Bakchen“ des Euripi- des als Sujet vor. Dazu schickte Auden den Komponisten allerdings zum Nachsitzen in die Wiener Staatsoper: Dort sollte er sich erst- mals Wagners „Götterdämmerung“ anhören, die Henze bisher trot- uf Werken Alexander Puschkins A Franz KafkasRomanfragment „Der zig gemieden hatte – „aus Scheu“, wie er zunächst anmerkte, in basiert über ein Dutzend Prozess“ war Ausgangspunkt für Wahrheit aber wegen eines durch den Nationalsozialismus gestör- russische Opern. Gottfried von Einems Komposition. ten Verhältnisses zu Wagner. „Auden gab mir Kallman als Aufpas- ser mit, damit ich auch wirklich bis zum Schluss dabliebe“, erin- nerte sich Henze später an diese „herbe Bedingung“. Aber er endet hinterlassener „Steinerner Gast“, dem Alexander Puschkins musste zugeben: „Wie Auden, der alte, erfahrene Pädagoge, schon gleichnamige Don-Giovanni-Bearbeitung zugrunde liegt, und Strawinsky mit dem Text zu ‚The Rake’s Progress‘ auf den Gipfel- Modest Mussorgskis Fragment gebliebene „Heirat“ nach der Komö- punkt des Klassizismus geführt hatte, so wollte er nun Dinge aus die Nikolai Gogols. mir herauszwingen, die er im Ansatz bereits in anderen Stücken von mir, meiner ‚Fünften Sinfonie‘ z. B., gespürt hatte: das Sich-Ver- Dramatisierungen. In einem erweiterten Sinne lassen sich neben gessen der Musik in gewissen Augenblicken, das Abstreifen aller der „Salome“ sogar noch zwei Werke im diesjährigen Festspielpro- stilistischen Bemäntelung, die krude Schamlosigkeit der musikali- gramm diesem Genre zuordnen, obwohl ihre literarischen Vorbil- schen Aussage.“ Der Dichter als Mäeutiker, als Geburtshelfer, der der der Prosa angehören: Im Fall von Pjotr Iljitsch Tschaikowskis dem Komponisten gezielte Kniffe und Stöße verabreicht . . . „Pique Dame“ hatte dessen Bruder Modest die Erzählung Pusch- kins im alten Sinne zu einem Libretto umgewandelt; für Gottfried Oper und Symphonie zugleich. Ende August 1963 schon war das von Einems „Prozess“, der 1953 in Salzburg herauskam, waren es Libretto der beiden Autoren fertig: „The Bassarids“, eine Dichtung Einems früherer Lehrer, der Komponist Boris Blacher, und der mit hohem Anspruch, die darauf wartete, in Musik gesetzt zu wer- Schriftsteller und Regisseur Heinz von Cramer, die sich an die Auf-den. Doch Henze schreckte vor der Aufgabe zunächst zurück und gabe gewagt hatten, Franz Kafkas Romanfragment in neun Bilder wollte sich für einen kompositorischen Marathon im Lichte des umzugießen. In beiden Fällen steht ein Einzelgänger im Mittel- Mythos erst fit machen: zum Beispiel dadurch, dass er die großen punkt, den die Umstände in einen realen und/oder psychischen symphonischen Werke des 19. Jahrhunderts dirigierte, Partituren Ausnahmezustand bringen – und dort wie da kommt die Musik der von Schubert, Brahms, Mahler. Wieder ermöglichte also erst die Vergangenheit ins Spiel. Bei Tschaikowski ist es Anverwandlung der älteren Literatur das Schaf- der Offizier Hermann, der über dem Wahn, fen der neuen. In „The Bassarids“, einem Einak- einer geheimnisvollen alten Gräfin das Wissen Mit „The Bassarids“ ter wie „Salome“, aber auf zweieinhalb Stunden um die beim Glücksspiel siegreichen Karten zu schreitet Spieldauer gesteigert, gießt Henze die Komple- entlocken, deren Tod und auch jenen seiner xität des Mythos und des beziehungsreichen Geliebten Lisa herbeiführt, bevor er sich selbst Hans Werner Henze Librettos in die Form einer Symphonie, bringt richtet. Bei Einem ist es der Bankbeamte Josef also dramatische und absolute Musik auf einen K., der eines Tages in die Fänge einer surrealen den Weg der Nenner. Ein Sonatensatz bildet die Eröffnung; Justiz gerät und ihr nicht mehr lebend entkom- modernen Tradition an zweiter Stelle kommt ein Scherzo, laut Henze men kann. Dass Modest die Handlung aus dem „eine Folge bacchantischer Tänze, mit einem 19. ins 18. Jahrhundert zurückverlegen musste, weiter aus. ruhigen Vokalensemble als Trio“; der dritte Satz spielte der Vorliebe seines Bruders für Mozart ist ein Adagio mit Fuge, unterbrochen von und eine Art von Rokoko-Historismus sogar in die kompositori- einem Intermezzo, das als eine Oper in der Oper das eigentliche schen Hände: So konnte dieser verschiedene Genrestücke ein- Satyrspiel darstellt; das Finale schließlich, geprägt von Aschermitt- bauen, die wesentlich zum Erfolg des Werkes beitrugen. Dass wochsstimmung, ist eine Passacaglia. „Henze hat die Kraft, auch Einem, wie es in einer Uraufführungskritik hieß, nicht nur „mit das schon Vorhandene seiner schöpferischen Phantasie einzu- dem Musikwortschatz der Gegenwart souverän“ operiere, sondern schmelzen. Keiner neben ihm schreibt heute Opernmusik von so mehrfach auch „eine Strauss-Phrase, einen Pfitzner-Ton, sogar Puc- starker Atmosphäre und heißem, dramatischem Atem“, schrieb cini-Wendungen“ einbaue, wurde ihm von einem Teil von Publi- Wolfram Schwinger, Kritiker der Uraufführung und später Opern- kum und Presse angekreidet. direktor in Stuttgart. „Ich bin der Ansicht, daß der Weg von Wag- ners ‚Tristan‘ zu Mahler und Schönberg noch lange nicht ausge- Im doppelten Sinne. Das macht, wenn man so will, den „Prozess“ schritten ist, und mit den ‚Bassariden‘ habe ich versucht, ihn wei- zu einer Literaturoper im doppelten Sinne, indem der Komponist terzugehen“, resümierte Henze. „Ich will nicht verzichten auf das, in seiner Partitur nämlich die musikalische Ahnengalerie abschrei- was uns die Jahrhunderte zuspielen. Im Gegenteil: ‚Zu erben muß tet und mehrfach bewusste Anleihen nimmt. Einem selbst schie- man auch verstehen; erben, das ist am Ende Kultur.‘ Das war die nen die Beckmesser freilich wenig zu stören: „Das Stück wird noch Meinung Thomas Manns, und ich unterschreibe sie willig.“ e 10 Kultur spezial
Beständigkeit der Qualität als absolutes Richtmaß Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler im Gespräch über Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Text: Wilhelm Sinkovicz Foto: Salzburger Festspiele/Lydia Gorges Die Präsidentin weiß:Die Festspiele sind künstlerischer und ökonomischer Faktor. 12 Kultur spezial
Ö sterreich gedenkt heuer des 100. Geburtstages von Gott- Programm zu setzen, ganz und gar nicht inspirierend. Das Publi- fried von Einem. Die Salzburger Festspiele leisten ihren kum und letztlich auch die Kritik haben dann ganz anders geurteilt. Beitrag, denn „dieser Komponist gehört zur Festspiel- Im Rückblick war dieses Mozart-Jubiläum ein rauschender Erfolg. Geschichte“, meint Festspielpräsidentin Helga Rabl- Ruzicka hat den Salzburger Festspielen die Mozartkompetenz Stadler, „die Uraufführung von ‚Dantons Tod‘ im Jahre 1947 hat der zurückgegeben.“ Regisseur Oscar Fritz Schuh als die Wiedergeburt der Salzburger Festspiele durch das moderne Musiktheater bezeichnet“. Verantwortung im Land Mozarts. 2020 liegen die Herausforderun- Gottfried von Einem hat sich in der Folge als Mitglied der künstleri- gen anderswo: „Und wir werden uns ganz sicher nicht bequem auf schen Entscheidungsgremien der Festspiele um die konsequente die Salzburger Hausgötter Mozart und Richard Strauss zurückzie- Einbindung zeitgenössischer Musiktheaterformen in den sommer- hen. Das würde nämlich, so logisch es auf den ersten Blick viel- lichen Spielplan bemüht. Sein eigenes Schaffen stand dabei keines- leicht wirken möge, der viel breiteren Gründungsidee der Fest- wegs im Mittelpunkt, wenn auch seine zweite Oper, die Kafka-Ver- spiele zuwiderlaufen. Die lautete nämlich: Oper und Theater – von tonung „Der Prozess“, 1953 ebenfalls in Salzburg das Licht der Büh- beidem das Höchste. Die künstlerische Qualität war die eigentliche nenwelt erblickte. Dieses Werk werden die Festspiele heuer in kon- Festspielidee der Gründer. Sie gab und gibt uns späteren Festspiel- zertanter Form wieder zur Diskussion stellen. Das ist Teil einer verantwortlichen jene programmatische Freiheit, die frau sich in künstlerischen Strategie. Bayreuth sicher manchmal herbeisehnt. Aber an dieser Freiheit Die Präsidentin verweist auf einen Ausspruch des Intendanten prallt der Vorwurf der Beliebigkeit nur dann ab, wenn sie höchs- Markus Hinterhäuser: „Er ist der Meinung, dass man die großen tem Qualitätsanspruch standhält. Glucks ,Orfeo ed Euridice‘, Verdis Werke der Vergangenheit hervorholen soll, um zu überprüfen, was ‚Aida‘ und Monteverdis ,L’incoronazione di Poppea‘, diese Werke sie uns heute zu sagen haben. Wenn ich an das Kafka-Sujet denke, gehören alle auf den Salzburger Spielplan. Ob diese Meisterwerke das Einem gewählt hat: Dass ein Mensch aufwacht und nicht weiß, der Gründungsidee Genüge tun, entscheidet hingegen die Qualität was die Staatsmächte mit ihm getan haben, ist ja leider in vielen der Interpretation.“ Ländern böse Realität.“ Nicht nur in Jubiläumsjahren denken die Salzburger Festspiel- Zu Hinterhäusers kritischer Bestandsaufnahme im Vorfeld des macher auch an einen zweiten Aspekt, den die einstigen Gründer- 100-Jahr-Jubiläums der Festspiele 2020 gehört auch die szenische väter ins Spiel gebracht haben und der allzeit die Besinnung auf die Neuproduktion von Hans Werner Henzes 1966 in Salzburg uraufge- Aufgaben der Kunst wachhalten kann. „Neben der Qualität ging es führten „Bassariden“: „Hier“, sagt die Präsidentin, „muss man mit- Reinhardt, Hofmannsthal und Strauss auch um die Etablierung des denken, dass Henze damals zu einer Art neuem Richard Strauss sti- ,ersten Friedensprojekts‘ in Europa nach dem Ersten Weltkrieg – lisiert worden war, was er im Übrigen ganz und gar nicht sein und das zu einem Zeitpunkt, an dem noch gar nicht abzusehen wollte. Der fortschrittlichen ,Partei‘ war seine Musik zu rückwärts- war, wann dieser Krieg zu Ende sein und wie er ausgehen würde. gewandt. Es wird spannend, zu hören, wie diese ,Bassariden‘ in der Die erste Eingabe um die Genehmigung der Abhaltung von Fest- heutigen Zeit wirken. Immerhin stammt das Libretto ja von Wystan spielen formulierte Reinhardt bereits 1917“, betont Rabl-Stadler. Hugh Auden, der dann 1968 die Eröffnungsrede der Festspiele Dergleichen sei auch für die Bewusstseinsbildung der nächsten gehalten hat.“ Generation wichtig: „Wir freuen uns über unsere Jugendprojekte, die Förderungen junger Sänger und junger Diri- Historie im Spannungsfeld. Das Werk steht dies- genten – und wir wollen diese bis 2020 noch aus- mal im Spannungsfeld des stilistisch zwischen 100-Jahr-Jubiläum: bauen“, verspricht die Präsidentin, „um im Sinne Barock und Moderne aufgespannten Opernpro- Die Festspiele defi- eines Ganzjahresprojektes gemeinsam mit den gramms und der unter Hinterhäuser stark ausge- Schulen und den Lehrern zu zeigen, dass das bauten zeitgenössischen Programmschiene. „Ich nieren sich aus der Land Mozarts sich seiner Verantwortung freue mich“, meint Helga Rabl-Stadler, „dass Mar- bewusst ist.“ kus Hinterhäuser offenkundig das richtige Händ- eigenen Geschichte Im Zuge dessen sei es gut, Erinnerungen wach- chen bei der Auswahl der Komponisten hat: Wir immer wieder neu. zuhalten, etwa die an die erste, so folgenreiche konnten ja nicht wissen, dass Beat Furrer heuer Aufführung des „ Jedermann“ auf dem Dom- den Siemens-Preis verliehen bekommt. Nun ist platz: „Die erste Tribüne im Jahr 1920 hat man er einer der Zeitgenossen, deren Schaffen im Fokus der Festspiele aus den Brettern eines Kriegsgefangenenlagers gezimmert, in dem 2018 steht.“ Im Übrigen hält die Präsidentin es für wichtig, nicht während des Krieges 40.000 Insassen leben mussten – die Stadt nur an Uraufführungs-Aufträge zu denken: „Ich halte es für genauso Salzburg hatte damals 37.000 Einwohner . . .“ wichtig, Werke aus der jüngeren Vergangenheit neu zu befragen. In Die Einkünfte aus den Aufführungen verwendete man damals für der Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr 2020 geht es auch darum, Kriegsopfer, „keiner der Mitwirkenden hat eine Gage verlangt“, die eigene Geschichte widerzuspiegeln.“ sagt Helga Rabl-Stadler, „ganz im Sinne von Reinhardts Idee von Das Jahrhundertfestival wird dann, davon ist die Präsidentin über- Friedensfestspielen. Dass Festspiele einmal auch ein handfester zeugt, „schwieriger werden als das Festival, das wir 2006 zum wirtschaftlicher Faktor werden könnten, daran hat damals kein 250. Geburtstag Mozarts ausgerichtet haben. Damals ging es uns Mensch gedacht. Nur Reinhardt, der kluge Taktiker, hat bereits mit etwa so wie den Bayreuther Festspielen, die ja mit dem Schaffen positiven ökonomischen Folgen argumentiert.“ Richard Wagners einen klar eingegrenzten Auftrag haben.“ Wobei es die Präsidentin heutzutage „immer wieder etwas Was man von den Salzburger Festspielen so nicht behaupten kann. komisch berührt, wenn ich mich geradezu dafür verteidigen muss, „Im Gegenteil“, sagt Helga Rabl-Stadler und erinnert sich, dass dass wir nicht nur künstlerisch, sondern auch ökonomisch Motor selbst Anno 2006 das Konzept des damaligen Festspiel-Intendan- einer ganzen Region sind. Natürlich weiß ich, dass Kunst ihre ten Peter Ruzicka höchst umstritten war: „Zumindest als das Pro- Rechtfertigung nicht in ihrer Rentabilität findet. Aber wenn Carl gramm bekannt gegeben wurde. Da fand nämlich so mancher Zuckmayer so schön gemeint hat, dass in Salzburg die Kultur auch Fachmann den Gedanken, sämtliche 22 Bühnenwerke Mozarts zu noch ihren Mann nährt, darf man doch darüber glücklich spielen und sonst ausschließlich Musik des 21. Jahrhunderts aufs sein!“ e Kultur spezial 13
Mythen, Märchen, Menschentriebe Vier herausragende Theatermacher geben ihre Festspiel-Operndebüts und deuten mit starken musikalischen Partnern Werke aus den letzten vier Jahrhunderten. Text: Walter Weidringer G erade die uralten Geschichten sind es, von denen wir det in modisch ägyptisches Kolorit und angereichert mit mehr nicht genug bekommen können. Manche von ihnen oder minder deutlichen Anspielungen aufs Freimaurertum. Dabei erzählen sich die Menschen seit einer halben Ewigkeit, in zerbrechen sich kluge Köpfe verschiedener Disziplinen schon immer neuen, der jeweiligen Zeit angepassten Varianten. lange darüber den Kopf, ob Schikaneder wirklich auf halbem Wege Vor mehr als 2400 Jahren zum Beispiel hat der griechische Dichter sein Konzept ändern musste, weil im Leopoldstädter Theater, einer Euripides in einer damals preisgekrönten Tragödie das Publikum anderen Vorstadtbühne, sein Konkurrent Karl Marinelli im Juni mit der Kunde einer blutigen Rache gefesselt: Dionysos, der Gott 1791 die Singspiel-Kasperliade „Kaspar der Fagottist oder: Die Zau- des Rausches, bestraft darin auf furchtbare Weise jene Ungläubi- berzither“ herausgebracht hatte, komponiert vom dortigen Haus- gen, die seinen urwüchsig-orgiastischen Kult nicht ehren wollten. kapellmeister Wenzel Müller: Denn der Librettist, der Schauspieler Eine Geschichte, die uns in die Zeit der Morgendämmerung unse- Joachim Perinet, bediente sich der gleichen Quellen wie Schikane- rer Zivilisation zurückführt, wo der Kampf zwischen Zügellosigkeit der und erzählt von einer guten Fee, deren Tochter von einem und Ordnung noch nicht restlos ausgetragen war. Rund 470 Jahre bösen Zauberer entführt worden ist. Ein Jüngling wird dazu aus- später kam es am Herrscherhof der damals am höchsten entwi- erkoren, sie zu retten und bekommt dazu Hilfe von einer Zauber- ckelten europäischen Kultur, nämlich des römischen Weltreiches, zither sowie seinem Begleiter, dem lustigen Kaspar und seinem zu einem Skandal: Kaiser Nero dichtete seiner im Volk beliebten Fagott. Man stelle sich Schikaneders Schock vor! Um nicht eines Frau Octavia eine Affäre mit einem Sklaven an, um sich von ihr Plagiats bezichtigt zu werden, habe er sich daraufhin gezwungen scheiden lassen und Poppaea heiraten zu können, die als die gesehen, sein Libretto gleichsam umzupolen: Deshalb sei aus dem schönste Frau überhaupt galt – eine Geschichte, die direkt der Yel- bösen der uns vertraute gute, weise Sarastro geworden und aus der low Press unserer Tage entstiegen sein könnte. Fast zur gleichen liebenden, leidenden Mutter Paminas, der Königin der Nacht, jene Zeit taucht in den Evangelien eine Tochter der Herodias auf, die herrschsüchtige Frau, deren Treiben Einhalt geboten werden dem römischen Historiographen Flavius zufolge den Namen muss. Salome trug. Der frühchristlichen Überlieferung nach ist sie für die Enthauptung von Johannes dem Täufer verantwortlich. Mit ihrem rauenversteher Mozart.So sagen es jene Kritiker, die das Text- F Tanz habe sie nämlich ihren Stiefvater Herodes so in Begeisterung buch der „Zauberflöte“ als Machwerk betrachten, gespickt mit versetzt, dass er versprach, ihr jeden Wunsch zu gewähren. Salome Ungereimtheiten: Warum wechseln die drei Knaben die Fronten? hörte auf die Einflüsterung ihrer Mutter und forderte den Kopf des Weshalb ist der Weg zum Reich der Eingeweihten für Tamino ver- Propheten. Erst Oscar Wilde machte sie in seiner Dramenversion sperrt, für Papageno und sogar die Königin der Nacht aber offen? zur eigenständigen Femme fatale . . . Dagegen wenden die Lobredner des Werks ein, die sich auf Goethe, Fotos: Salzburger Festspiele/Sandra Then, Franziska Schroedinger, Gisela Schenker Hegel und Wagner als prominenteste Vertreter der Vergangenheit acht, Sex und Gewalt.In allen diesen Fällen tönt uns jener Drei- M berufen dürfen, Mozarts Musik habe alles veredelt und etwaige klang aus Macht, Sex und Gewalt in den Ohren, der den Mythos so Widersprüche auf höherer, nur zu erfühlender, nicht zu durchden- faszinierend macht. Und selbst eine nur 227 Jahre alte, also ver- kender Ebene aufgehoben: „Welcher göttliche Zauber weht vom gleichsweise junge, für uns kindgerecht wirkende populären Liede bis zum erhabensten Hymnus Geschichte wie die von Emanuel Schikaneder in diesem Werke!“, schwärmte etwa der ausgeheckte Handlung der „Zauberflöte“ spielt Es gehört zum erwähnte Richard Wagner. Erst in jüngerer Zeit mit mythischen Urgründen: Der gewiefte Thea- Wesen der Klassiker, wurde zu durchleuchten versucht, ob Mozart terpraktiker schöpft dabei aus zeitgenössischen die genannte Umpolung überhaupt mitvollzo- wie aus (zumindest vorgeblich) alten Quellen, dass wir sie nie ganz gen habe oder nicht bei seinen eigenen kompo- um eine neue und zugleich wie ewig schon vor- sitorischen Absichten geblieben sei: Immerhin handen wirkende Variante der Erzählung vom ausschöpfen können, steht nicht nur Paminas viel zitierte Arie „Ach, Kampf des Lichtes gegen die Finsternis auf die es aber immer wieder ich fühl’s“ in der tieftraurigen Todestonart Bühne zu bringen – mit einer Mischung aus volks- g-Moll, sondern im ersten Akt schon die mit tümlichen und esoterischen Elementen, geklei- versuchen müssen. denselben absteigenden Tönen beginnende » 14 Kultur spezial
Lydia Steier lässt uns die „Zauber- flöte“ aus der Perspektive der „drei Knaben“ erleben. Mauro Peterstellt sich als Tamino den Prüfungen der Eingeweihten. Er und . . . . . . Christiane Karg (Pamina) zäh- len zu den besten jungen Mozart- sängern. Kultur spezial 15
Der vielseitige TenorJohn Daszak gibt den neurotisch-lüsternen König Herodes. Romeo Castellucci,Visionär und ls Salome, Prinzessin von Judäa, A Meister des kühnen Kontrapunkts ist Asmik Grigorian das Objekt sei- setzt „Salome“ in Szene. ner Begierde. Kate Lindseyvereint in der Hosen- rolle des Nerone Despotismus und Wohllaut. Theatermacher Jan Lauwersbe- tont die zeitlose Aktualität von Fotos: Salzburger Festspiele/Anne Zeuner, Robert Workman, PGasiunas; Maarten Van den Abeele, Rosetta Greek, Rolex/Hugo Glendinning Monteverdis Oper. Sonya Yonchevaverwandelt sich in die ebenso schöne wie skrupel- lose Poppea. 16 Kultur spezial
Klage der Königin der Nacht – und kein musikalisches Argument beiden Pole zusammen: das Kindlich-Märchenhafte und das sehr hielte stand, diesen Mutterschmerz zu diskreditieren. Zugleich Erwachsene, das über das Märchenhafte hinausweist?“ Steiers Ant- fehle etwa Sarastros berühmter, einfacher Strophenarie „In diesen wort: Sie schlüsselt die „Zauberflöte“ aus kindlicher Perspektive heil’gen Hallen“, so führt etwa Ulrich Schreiber aus, jene Differen- auf – und nimmt dazu die drei Knaben als Ausgangspunkt. Ihre zierung, die Mozart etwa dem Osmin in der „Entführung“ habe Erzählung verankert sie in der Zeit knapp vor der Festspielgrün- angedeihen lassen: Die „musikalische Statur dieses Humanitätsbe- dung: Nach dem Abendessen einer Wiener Bürgerfamilie, die wir kenners“, so Schreiber, sei „verdächtig simpel“. Zusammen mit dem in der Ouvertüre kennenlernen, liest der Großvater den Kindern Duett „Bewahret euch vor Weibertücken“, in dem Mozart nicht noch eine Gutenachtgeschichte vor. Kein Geringerer als Bruno etwa weihevoll den Zeigefinger erhebt, sondern einen augenzwin- Ganz übernimmt diese Rolle des erwachsenen Vermittlers, des kernd-buffonesken, vielleicht sogar bewusst banalen Ton „raunenden Beschwörers des Imperfekts“, wie Thomas Mann den anschlägt, ergibt sich ein viel differenzierteres Bild aus der Partitur. Erzähler einmal genannt hat. Matthias Goerne, der 1997 unter Da liegt der Gedanke einer Art von Scheidungskrieg zwischen Christoph von Dohnányi als Papageno sein Festspieloperndebüt Sarastro und Königin nicht fern, der eben keine einseitigen Schuld- gegeben hat, ist zum Sarastro herangereift und steht nun der usbe- zuweisungen zulässt. Dass Pamina die Prüfungen mit besteht und kischen Koloratursopranistin Albina Shagimuratova als Königin am Ende an Taminos Seite in die Gemeinschaft aufgenommen der Nacht gegenüber. Christiane Karg, Mauro Peter und Adam wird, mag selbst für die aufgeklärtesten unter den Logenbrüdern Plachetka, drei in Salzburg schon gefeierte Vertreter der jungen des Komponisten eine Provokation gewesen sein. Mozart war eben Generation des Mozartfaches, sind als Pamina, Tamino und Papa- ein „Frauenversteher“ – wie dort, so hier. geno zu erleben. Ans Dirigentenpult tritt dabei, zwei Jahre nach Harnoncourts Tod, gewissermaßen einer von dessen jüngsten 90 Jahre „Zauberflöte“.Vorstadtkomödie und Weltanschauungs- Erben: Dem 1974 geborenen Griechen Constantinos Carydis eilt der drama, Maschinentheater und Märchenspiel: Wie die Ebenen und Ruf eines scharfsinnigen und fanatischen Detailarbeiters mit enor- Elemente der „Zauberflöte“ einander überlagern oder durchdrin- mer Klangfantasie und überschäumendem Elan voraus – Eigen- gen, kann an sich schon als mythisch gelten. Es ist vielleicht die schaften, die ihm 2011 den erstmals vergebenen Carlos-Kleiber- wesentliche Eigenschaft der so genannten Klassiker, dass wir nie- Preis der Bayerischen Staatsoper eingetragen haben. Wie Carydis mals mit ihnen fertig werden, sie nie ganz aus- und die Wiener Philharmoniker die altbekannte schöpfen können, es aber immer wieder versu- Partitur zu neuem Leben erwecken werden, chen müssen – auch und ganz besonders bei den Salome ist zugleich zählt zu den spannendsten Fragen dieses Fest- Salzburger Festspielen, die ja längst von ihrem Objekt und Subjekt spielsommers. eigenen Mythos umweht werden, der bei den Gründungsvätern Max Reinhardt, Richard der Begierden: Eros „ Salome“ ohne Blut.Neben Mozart gehört Strauss und Hugo von Hofmannsthal seinen bekanntlich auch Richard Strauss zu den philhar- Anfang nahm. 2020 wird das erste Jahrhundert und Thanatos um- monischen – und zugleich Salzburger – Hausgöt- voll, schon heute aber erstreckt sich die „Zauber- schlingen einander tern. Im Gegensatz zur „Zauberflöte“ jedoch, flöte“ über 90 Jahre Festspielgeschichte: Am deren bevorstehende Premiere bereits die 18. August 1928 ging sie unter Franz Schalk hier in ihrem Tanz. 222. Festspielaufführung des Werks bedeutet erstmals über die Bühne. Arturo Toscanini und (Kinderversionen nicht mitgerechnet!), ist die Wilhelm Furtwängler haben sie später dirigiert, die großen Pult- neue „Salome“ erst die dritte Produktion in der Geschichte – nach antipoden der ersten Jahrhunderthälfte – wobei bei Toscanini 1937 jeweils acht Abenden unter Karajan 1977/78 mit der jungen ein junger Ungar namens Georg Solti am Glockenspiel saß: 1955 Hildegard Behrens im Großen und unter Dohnányi 1992/93 im Klei- sowie in den Mozartjahren 1956 und 1991 sollte er dann selbst am nen Festspielhaus, mit dem Duo Catherine Malfitano und Bryn Pult stehen . . . Viele klingende Namen auf der Bühne wie im Graben Terfel in der Inszenierung von Luc Bondy. (Die Herodias war damals folgten, bis hin zum unermüdlichen Sucher Nikolaus Harnoncourt übrigens Hanna Schwarz – jene Sängerin, die nun als geheimnis- 2012, der mit seinem Concentus Musicus damals noch einmal volle alte Gräfin in Tschaikowskis „Pique Dame“ wiederkehrt.) einen ganz neuen Blick auf die Partitur wagte. Eines scheint sicher: Beim visionären Theatermacher Romeo Castellucci, diesem Meister des kühnen, aber ebenso intelligenten Kinder als Ausgangspunkt.Blättern wir in der Festspielchronik, wie berührenden szenischen Kontrapunkts, wird die Sache in der hören und lesen wir die Erinnerungen von jenen, die seinerzeit Felsenreitschule anders aussehen als gewohnt. Unvergessen ist dabei waren, ziehen wir Mitschnitte zurate, dann lauschen wir zum Beispiel seine Deutung von Glucks „Orfeo ed Euridice“ bei den erneut einer großen Erzählung – und wir hängen an den Lippen Wiener Festwochen 2014, wo die Wachkomapatientin Karin Anna der Zeitzeugen genau wie damals, als willige Erwachsene uns Kin- Giselbrecht via Livevideo aus dem Krankenhaus dem Schatten- dern aus dicken Büchern vorgelesen haben, oft immer dieselben reich beklemmende Deutlichkeit verlieh. Castellucci schwebt eine Geschichten . . . Von dieser glückhaften Erinnerung lässt sich nun reduzierte, minimale „Salome“ vor, die mehr durch Weglassen als die aus den USA stammende Regisseurin Lydia Steier inspirieren, durch Zurschaustellung wirken soll: Auch Blut ist da kein unerläss- die auch Gesang studiert hat und ihr Metier somit zugleich von der liches Symbol mehr. „Theater ist für mich ein Ort der Reflexion, des anderen Seite her kennt. 2002 kam sie als Fulbright-Stipendiatin Nachdenkens“, sagte er einmal in einem Interview. „Ich glaube nach Berlin, schaffte 2009 in Weimar den Durchbruch mit Busonis nicht an ein pädagogisches Theater, das die Menschen erzieht. „Turandot“, kombiniert mit Leoncavallos „Pagliacci“; 2016 wurde Jeder Besucher ist mündig genug, um selbst über das Gesehene ihre Inszenierung von Stockhausens „Donnerstag aus LICHT“ von und Gehörte nachzudenken. Er muss nicht belehrt werden. Thea- der Zeitschrift „Opernwelt“ zur Produktion des Jahres gewählt. Bei ter sollte auch keine Antworten geben. Es muss vielmehr Fragen der „Zauberflöte“ lautete ihre zentrale Frage: „Wie bringt man die stellen. Der Idealzustand ist erreicht, wenn man als Zuseher sowie Kultur spezial 17
als Ausführender ganz auf sich selbst zurückgeworfen wird. Denn weitere Teile des Werks) wahrscheinlich von einem oder mehreren die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich und damit mit Leben anderen Komponisten stammen, von Cavalli und Sacrati, das alles und Tod – vor der haben wir doch alle Angst.“ verflüchtigt sich vor diesen seligen Klängen. Der Zauber der 375 Jahre alten Musik überwindet alles. Jan Lauwers wird freilich mit Elementare Bildgewalt.Reduktion wird hier also statt Opulenz großer Wahrscheinlichkeit den ganzen Abend über dafür sorgen, verheißen – und das von einem Künstler, der sich einen Ruf als Pro- dass wir nicht vergessen, wie toll es die alten Römer trieben. Er ist vokateur erworben hat und in seinen Inszenierungen teilweise der einzige im Quartett der neuen Salzburger Opernregisseure, der ähnliche Mittel anwendet wie Hermann Nitsch in den Aktionen sei- schon in der Sparte Schauspiel bei den Festspielen zu Gast war, nes „Orgien-Mysterien-Theaters“. Zu Strawinskys „Le sacre du prin- 2008 mit der Trilogie „Sad Face / Happy Face“. „Machtgier, Intrige, temps“ beispielsweise ließ Castellucci 30 Tonnen Knochenstaub Grausamkeit, Brutalität und Manipulation“, so fasst Lauwers’ Dra- toter Tiere von der Decke rieseln, für Arnold Schönbergs „Moses maturgin Elke Janssens die „Poppea“ zusammen, „triumphieren und Aron“ stellte er einen anderthalb Tonnen schweren, entspre- vor dem Hintergrund barocker Schönheit“. Diese Schönheit war chend imposanten Stier der französischen Rinderrasse Charolais bei den Festspielen erstmals 1993 unter Harnoncourt szenisch und auf die Bühne und übergoss ihn und die Darsteller mit einer tinten- im letzten Sommer halbszenisch unter Sir John Eliot Gardiner zu ähnlich öligen, schwarzen Flüssigkeit. Und in seinem Stück „Sul erleben; nun bürgen für diese erneut eine exquisite Besetzung concetto di volto nel figlio di Dio“, das auch am Wiener Burgtheater sowie diesmal William Christie und sein Originalklangensemble zu erleben war, holte Castellucci die unweigerliche Kreatürlichkeit Les Arts Florissants. „Meine Arbeit ist sehr politisch und eng ver- eines demenzkranken, inkontinenten und von seinem Sohn bunden mit der Gesellschaft“, sagte Jan Lauwers in einem Gespräch gepflegten Menschen durch Fäkalgeruch und täuschend echt nach- mit der „Presse“: „Leben ist politisch. Aber das Theater soll nicht so gemachte Exkremente in aller Drastik auf die Bühne. Im einen Fall direkt politisch sein. Das ist langweilig.“ 1986 hat er zusammen mit rief er Tierschützer auf den Plan, im anderen störten katholische Grace Ellen Barkey die Needcompany gegründet. Seither verbindet Fundamentalisten die Aufführungen, weil in einer Szene Kinder der Maler, Fotograf, Autor, Zeichner, bildende Künstler, Filme- Handgranaten auf das stets präsente Jesus-Porträt „Salvator macher und Regisseur mit diesem Tanz- und Theaterensemble auf mundi“ des Renaissancekünstlers Antonello da Messina werfen. ganz eigentümliche Weise sämtliche Sparten zu einer Art von Doch das sind nur die berüchtigten, schlagzei- Gesamtkunstwerk – in eigenen Stücken, die sich lenträchtigen Bausteine in einem stets viel kom- Die Liebe von Nerone narrativen Strukturen oft verweigert haben, plexeren theatralischen Puzzle. Wer Castellucci oder nun mit Oper. „Mir kommt immer klarer zu seine bilderstürmerische Gewalt als Gewalttat und Poppea geht Bewusstsein, dass die Menschen in diesem Zeit- ankreiden will, der sei auf die frühe Rezeptions- über Leichen und alter der Globalisierung wieder Geschichten geschichte der „Salome“ verwiesen: Religiös brauchen“, begründete Lauwers diesen Schritt oder allgemein moralisch motivierte Proteste darf am Ende doch in zurück zum Erzählen – womit wir wieder beim und Verbote durch die Zensurbehörden erschei- Mythos angelangt wären, auch wenn „L’incoro- nen uns heute längst unverständlich oder gar überirdischer Schön- nazione di Poppea“ zu den ersten Opern gehört, lächerlich. Für die philharmonische Tradition heit triumphieren. die einen Stoff der realen Vergangenheit aufge- steht am Pult jedenfalls Franz Welser-Möst ein; griffen haben: Schließlich ist es die Historie, die auf der Bühne ist eine junge Besetzung zu erle- Mythen gebiert. „In Zeiten, in denen wir Demo- ben: Asmik Grigorian, im letzten Sommer die Marie in Alban Bergs kratie oder Sexualität in Frage stellen, in denen wir in Europa Angst gefeiertem „Wozzeck“ in der Regie von William Kentridge, stellt vor dem Islam, keine Klarheit über unsere eigene Religion oder sich der anspruchsvollen Titelpartie, die praktisch alles verlangt: Identität haben, begegnen wir dieser unmoralischen Oper“, erklärt einen in allen Lagen expansionsfähigen und doch stets jugendlich Lauwers: „Sie ist deswegen so wichtig, weil wir durch sie erkennen, glitzernden Sopran, strahlende Gesangsbögen und zugleich hohe dass wir im 16. oder 17. Jahrhundert die gleiche Art von Diskussio- Wortdeutlichkeit, gepaart mit Ausstrahlung und Bühnenpräsenz. nen hatten. Wir lernen also nichts aus Geschichte, wir machen John Daszak, Tambourmajor dieses „Wozzeck“, kehrt als Herodes immer dieselben Fehler.“ zurück, der ungarische Bass Gábor Bretz steuert die heiligen Invek- tiven und Sentenzen des Propheten bei. estern, heute, morgen.1966: Im selben Jahr, in dem sich die G Besatzung des Raumschiffs Enterprise in der Serie „Star Trek“ auf Fotos: Salzburger Festspiele/Bartek Warzecha, Johannes Ifkovits, Kristina Scherk Schönheit im Sündenpfuhl.„Pur ti miro,/ Pur ti godo,/ Pur ti den TV-Schirmen den Herausforderungen der Zukunft zu stellen stringo,/ Pur t’annodo – Ich betrachte dich, ich besitze dich, ich beginnt, leisten sich die Salzburger Festspiele eine Uraufführung, ergreife dich, ich umschlinge dich“. Das überirdisch schöne die sich mit einem Blick in ferne Vergangenheit zu begnügen Schlussduett von Claudio Monteverdis „L’incoronazione di Pop- scheint, dabei aber ewige Menschheitsthemen behandelt. „Die pea“, in Salzburg angestimmt von Sonya Yoncheva in der Partie der Bassariden“ kommen auf die Bühne des Großen Festspielhauses, skrupellosen Aufsteigerin und Kate Lindsey in der Hosenrolle des mit der Musik von Hans Werner Henze, einem der prominentesten despotischen Imperators, bringt ein vollendetes Glück zum Klin- und zugleich keineswegs unumstrittenen Komponisten der Gegen- gen, erzählt vom Gleichklang zweier Herzen, die zu einem ver- wart, geschrieben auf ein englisches Libretto der Dichter W. H. schmolzen sind und nichts mehr zu fürchten haben: „Nie mehr Auden und Chester Kallman, das ins Deutsche übertragen wird; am Schmerz, nie mehr Tod, o mein Leben, mein Schatz.“ Dass Nerone Pult steht Christoph von Dohnányi. Hinter dem Titel (übersetzt und Poppea buchstäblich über Leichen gegangen sind, um sich das „Die Fuchsfellträgerinnen“) verbergen sich keine anderen als die Jawort geben zu können, dass der historische Kaiser Nero seine „Bakchen“ des Euripides, die hier ihre dritte Wiedergeburt als Oper ihm bald lästige zweite Gattin angeblich während ihrer Schwanger- feiern – nach Werken von Egon Wellesz („Die Bakchantinnen“ von schaft mit einem Fußtritt getötet hat, ja, dass dieser Schluss (und 1931, in Salzburg 2003 konzertant zu erleben) und Federico 18 Kultur spezial
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