Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele

Die Seite wird erstellt Henrik Reiter
 
WEITER LESEN
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
11. 5. 2018

        Spezial                          Salzburger
                                         Festspiele

                  Begehren
                  überall
                  Salzburger Festspiele vom 20. Juli
                  bis zum 30. August mit Werken der
                  Passion, Leidenschaft und Ekstase.
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
Spezial
Salzburger
Festspiele

                                                                                                                                                               Cover. Sonya Yoncheva,
                                                                                                                                                               Foto: Sony Classical/
                                                                                                                                                               Kristian Schuller

    Vorwort

                       F
                                 estspiele sind wohl auch dazu da, dass                                 ben, die interessantesten dieser Festspiel-Novi-
                                 wir den Überblick nicht verlieren. Das                                 täten-Jahre, Jahrzehnte nach ihren Uraufführun-
                                 immens reiche Erbe unserer Kultur, das                                 gen wieder hervorzuholen und nachzuschauen,
                                 uns die Salzburger Gründerväter um                                     wie viel uns, was in den Fünfziger- oder Sechzi-
                         Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal zu                                     gerjahren brandaktuell war, heute noch zu
                         pflegen aufgegeben haben, scheint sich gerade                                  sagen hat. In diesem Sinne stehen im Salzburger
                         durch die konsequente Beschäftigung auf wun-                                   Sommer seit Jahr und Tag Mozart neben Richard
                         dersame Weise vermehrt zu haben. Wer im Zuge                                   Strauss, Klassiker der griechischen Antike neben
                         der kulturellen Bestandsaufnahme auch darauf                                   zeitgenössischen Dramen. In diesem Sinne stößt
                         sieht, was es an Seitenpfaden und Nebenschie-                                  2018 ein einstmals viel diskutierter Autor wie
                         nen zu beachten gilt, bereichert den Repertoire-                               Knut Hamsun auf Kleist oder Aischylos, konfron-
                         kanon.                                                                         tiert man die „Zauberflöte“ und „Salome“ mit
                         Und wer zurückblickt auf die diesbezüglichen                                   russischer Hochromantik von Tschaikowski und
                         Leistungen früherer Generationen, findet in den                                Salzburger Uraufführungsstücken der Jahre
                         Programmen der Salzburger Festspiele von                                       1953 – von Gottfried von Einem – und 1966 – von
                         anno dazumal manche Titel, die es wert sind,                                   Hans Werner Henze. In diesem Sinne haben die
                         noch einmal zur Diskussion gestellt zu werden.                                 traditionellen großen symphonischen Konzerte
                         2020 wird man 100 Jahre Salzburger Festspiele                                  und kammermusikalischen Gipfeltreffen aller-
                         feiern. Intendant Markus Hinterhäuser hat im                                   erster Interpreten ihre Seitenstücke in Schwer-
                         Sinne einer gründlichen Vorbereitung auf dieses                                punkt-Reihen für Galina Ustwolskaja und Beat
                         Jubiläum bereits im Vorjahr damit begonnen,                                    Furrer. Die Palette war vielleicht nie so reichhal-
                         die Festspielvergangenheit zu hinterfragen.                                    tig, die Herausforderung an Künstler und Publi-
                         Immerhin haben bedeutende Dichter und Kom-                                     kum nie größer – Salzburger Festspiele.
                         ponisten eigens für Salzburg geschrieben und
                         komponiert. Es gehört zu den nobelsten Aufga-                                                                              Wilhelm Sinkovicz

Impressum
Medieninhaber, Redaktion und Verleger: „Die Presse“ Verlags-Ges.m.b.H. & Co KG, 1030 Wien, Hainburger Straße 33, Tel.: 01/514 14-Serie. Herausgeber und Chefredakteur: Rainer Nowak.
Geschäftsführung: Mag. Herwig Langanger, Rainer Nowak, Dr. Rudolf Schwarz. Mitarbeiter dieser Ausgabe: Barbara Petsch, Dr. Wilhelm Sinkovicz, Mag. Walter Weidringer, Mag. Daniela Tomasovsky,
Mag. Norbert Mayer, Mag. Ann-Catherine Simon, Dr. Walter Dobner, Mag. Günther Haller Art Direction: Matthias Eberhart. Produktion/Layout: Patricia Varga, Christian Stutzig, Alexander Schindler.
Koordination: Mag. Astrid Müllner. Anzeigen: „Die Presse“ Verlags-Ges.m.b.H. & Co KG, Anzeigenleitung Tel.: 01/514 14-535, anzeigenleitung@diepresse.com. Hersteller: Druck Styria GmbH & Co KG,
Styriastraße 20, 8042 Graz. Eine Sonderbeilage der „Presse“ Verlags GmbH & Co KG in Kooperation mit den Salzburger Festspielen und mit finanzieller Unterstützung von Rolex S. A.

4   Kultur spezial
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
Inhalt

                                                                                                                                                                                                                                       8

                                                                                                                                                                                               6
                                                                                                                                                                                              Markus Hinterhäuser. Der Intendant     Literaturopern. Wenn Oscar Wilde,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                      12
                                                                                                                                                                                                                                                                              Helga Rabl-Stadler. Die Festspielprä-
                                                                                                                                                                                              der Salzburger Festspiele über         Puschkin oder Franz Kafka ungefragt      sidentin spricht über Vergangenheit,
                                                                                                                                                                                              Passion, Leidenschaft, Obsession.      zu Librettisten werden.                  Gegenwart, Zukunft.

                                                                                                                                                                                                   14 20                                                   22                                                              24

                                                                                                                                                                           Opernregisseure. Vier formidable      Cecilia Bartoli. Die Mezzosopranistin    Pique Dame. Mit Regie-Star Hans         Bettina Hering. Die Schauspielchefin
Fotos: Getty Images; Rolex/Hugo Glendinning, Benoit Peverelli; Salzburger Festspiele/Leo Neumayr, Lydia Gorges, Sandra Then, Monika Rittershaus, Wildbild, Julia Wesely,

                                                                                                                                                                           Theatermacher geben bei den           singt erstmals die Partie der Isabella   Neuenfels spricht Theater-Kritikerin    setzt auf außergewöhnliche Theater-
                                                                                                                                                                           Festspielen ihre Operndebüts.         in Rossinis „L’italiana in Algeri“.      Barbara Petsch über die Liebe.          Paarungen.

                                                                                                                                                                                               28                                      30                                       32
Marco Borggreve, Marco Borelli; William Minke, Picturedesk.com/David Heerde/Action Press; David Furrer;

                                                                                                                                                                                              Alte Stoffe. Bacchantinnen, Poppea,    Hunger. Knut Hamsuns Entwick-            Literatur. Von Euripides bis
                                                                                                                                                                                              Salome – die Antike als Anregung für   lungsroman eines Künstlers wird          Grossman: die Werke hinter den
                                                                                                                                                                                              das Musiktheater.                      von Frank Castorf inszeniert.            aktuellen Stücken.

                                                                                                                                                                             36                                    38                                      42                                      44

                                                                                                                                                                           Klingendes Herzblut. Die „Ouverture   Beat Furrer. Dramen des Hörens und       Florian Wiegand. Der Konzertchef        Liederabende. Jonas Kaufmann,
                                                                                                                                                                           spirituelle“ steht heuer im Zeichen   damit des Lebens fesseln in „Zeit mit    holt die bedeutendsten Orchester        Plácido Domingo und Rolando
                                                                                                                                                                           der Passion.                          Furrer“.                                 und Dirigenten nach Salzburg.           Villazón widmen sich dem Lied.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Kultur spezial   5
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
„Eine ‚Salome‘ ohne einen
Tropfen Blut – das ist großartig!“
                                                                     Foto: Salzburger Festspiele/Leo Neumayr

Festspiel-Intendant Markus Hinterhäuser über Macht ohne System und
Kunst als Geografie unserer Existenz.
Interview: Anne-Catherine Simon

6   Kultur spezial
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
Markus Hinterhäuser:„Wir müssen die
                                                Werke immer wieder neu befragen.“

   Das Programm der Festspiele wird von einem thematischen               Dennoch hat Mozarts Utopie rein gar nichts mit Verharmlosung
   Faden zusammengehalten. Wie findet man diesen?                        zu tun. Sie hat sehr viel mit dem, was man im Englischen so schön
Die Festspiele haben in Dichte und Heterogenität ihrer Veranstal-        „Age of Enlightenment“ nennt, der Aufklärung zu tun, also mit
tungen eine ziemlich einzigartige Dimension, mit verschiedensten         einer Thematik, mit der sich der Schriftsteller und Historiker
Erwartungshaltungen und Bedürfnissen. Man muss dieses riesige            Philipp Blom in seiner Eröffnungsrede der diesjährigen Festspiele
System auch kommunikativ bewältigen – da sollte man sich schon           befassen wird.
sehr präzise Gedanken machen. Was heißt das, wenn wir sechs                 Wie viel hat die Wirksamkeit von Kunst für Sie mit direkter
Opern produzieren, wenn wir 90 Konzerte machen, wenn wir fünf               Aktualisierung zu tun?
Schauspielpremieren haben, außerdem Zusatzveranstaltungen                Ich halte nichts von einfältigen Aktualisierungen. Welches Bild fin-
jeder Art und ein Dutzend Spielstätten? Wie bringt man das alles         det ein Regisseur für den Moment, in dem in der „Salome“ der
zusammen? Ich sehe diese Aufgabe auch als eine künstlerische,            Kopf des Jochanaan gebracht wird? Ein bis heute und vielleicht
und Kunst ist für mich ohne Form nicht möglich. Andere können            gerade heute vergleichslos schockierender Moment. Wenn jetzt
das vielleicht dem Zufall überlassen, ich kann es nicht. Ich muss        der Regisseur der „Salome“, Romeo Castellucci, sagt: Ich würde
auch wissen, warum ich etwas tue. Wenn ich das Warum für mich            gern eine ‚Salome‘ ohne einen Tropfen Blut machen – dann finde
nicht geklärt habe, finde ich auch keine Antwort auf das Wie. Die        ich das absolut großartig, dann meidet er alles Plakative. Die gro-
wesentlichen, dauerhaftesten künstlerischen Äußerungen sind              ßen Gedanken in der Kunst eignen sich nicht für stupide Gegen-
die Geografie unserer Existenz und immer in einem größeren               wartsbezüge; einer ausschließlich rückwärtsgewandten Reanimie-
Kontext zu sehen. Nichts entsteht aus dem Nichts.                        rung kann ich allerdings auch nichts abgewinnen. Das wäre mir als
   Strategien der Macht war 2017 das Thema, in dieser Saison sind        Unternehmung dann doch zu bescheiden. Ich glaube fest daran,
   es Passion, Leidenschaft. Das ist gar nicht so weit entfernt von      dass wir große Werke immer wieder neu befragen müssen, sie
   2017, wo es, etwa in Schostakowitschs „Lady Macbeth von               untersuchen müssen auf das, was für uns heute wesentlich ist. Der
   Mzensk“ und Wedekinds „Lulu“ auch viel um Macht in Bezie-             Atem und die Vitalität der großen Kunst kommt aus dieser ständig
   hungen, um den „Geschlechterkampf“ ging . . .                         neuen Überprüfung. In letzter Konsequenz geht es wohl auch um
2017 ging es um Strategien der Macht, Mechanismen der Macht,             etwas, das Flaubert als „Éducation sentimentale“, die Erziehung
Zumutungen der Macht. Beschäftigt man sich                                                  des Herzens, bezeichnet hat.
mit diesen Phänomenen, muss man sich auch                 „In letzter                       Die griechische Tragödie ist im Opern- und im
mit der Systematik der Macht beschäftigen. Es                                               Schauspielprogramm sehr präsent, direkt, etwa
gibt aber auch Formen der Macht, die nicht           Konsequenz geht es                     mit den „Persern“, und auch durch Künstler wie
einem System unterliegen, die sehr viel schwie-                                             Kleist oder Henze, die sich von den antiken Dra-
riger zu bändigen, zu zähmen sind, die mit Emo-
                                                        wohl um die                         matikern inspirieren ließen. Kam Ihr Interesse
tion, Leidenschaft und Obsession zu tun haben,         Erziehung des                        daran auf dem Umweg über die Musik?
also mit etwas Unkontrollierbarem. Richard                                                  Nein, das ist etwas, was mich schon lange
Strauss’ „Salome“ ist die Geschichte einer Obses-        Herzens.“                          beschäftigt. Vielleicht hat es auch damit zu tun,
sion, die bis an die Grenzen der Zumutbarkeit                                               dass ich immer stärker angezogen werde von
geht. Tschaikowskis „Pique Dame“ ist in letzter Konsequenz auch          der Kunst als Kontinuum. Natürlich gibt es Brüche, Krisen, aber
die Geschichte einer zerstörerischen Unterwerfung, und Hans              dennoch – man kann Werke von Euripides bis Heiner Müller in
Werner Henzes „The Bassarids“ erzählen von nichts weniger als            eine gedankliche Choreografie bringen.
dem Sieg des Irrationalen über die Ratio, man könnte auch sagen             Die Salzburger Festspiele setzen viele Schwerpunkte für ein jün-
von der vollkommenen Machtergreifung des Hedonismus. Auch                   geres Publikum, trotzdem ist klar, dass dieses eine Minderheit in
Monteverdis „Poppea“ ist, wie schon Harnoncourt gesagt hat, eine            Salzburg ist. Beschäftigt Sie diese Frage, die ja auch viel mit der
zutiefst amoralische Geschichte.                                            Zukunftsfähigkeit der Festspiele als Institution zu tun hat?
   Mozart hat 2017 das helle Gegenstück zu all den Zumutungen            Was wir tun müssen, um Salzburg auch für ein neues Publikum zu
   der Macht geliefert: „La clemenza di Tito“ feiert das Vergeben.       öffnen, das tun wir in Form von intensiven Jugendprojekten. Ich
   Kann man auch hier eine programmatische Analogie sehen,               glaube aber, dass keine Institution, auch die Salzburger Festspiele
   wenn heuer am Anfang des Sommers die „Zauberflöte“ steht?             nicht, à la longue im Stande sein wird, gesellschaftliche Mängel
Für mich richtet die „Zauberflöte“ ein Mikroskop auf alle Fragen,        und bildungspolitische Konzeptlosigkeiten zu kompensieren.
um die es im Weiteren gehen wird. Das Wunder, das Mozart voll-           Hier geht es um Fragen der Bildungssysteme, um eine Grundein-
bringt, besteht darin, ein utopisches Gleichgewicht zwischen allen       stellung zur Kultur, also um zutiefst gesellschaftspolitische
Antagonismen, allen höchstgradigen Spannungen zu schaffen.               Phänomene. e

                                                                                                                                 Kultur spezial   7
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
Oscar Wilde ging mit der Décadence der                      ugo von Hofmannsthal nannte sich
                                                            H
„Salome“ in die Operngeschichte ein.                        „Librettist“ nur mit Augenzwinkern.

                                                                                                  Fotos: Gettyimages (4 – Roger Viollet Collection, Imagno/Austrian Archives)

„Mich dünkt, sollt’
passen Ton und Wort“
Weltliteratur auf der Opernbühne: Wenn Oscar Wilde, Puschkin oder Franz Kafka
ungefragt zu Librettisten werden – und Dichter ihre Komponisten zum Nachsitzen in
die Oper schicken. Text: Walter Weidringer
8   Kultur spezial
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
K
       eine altväterische Ouvertüre. Ja nicht einmal ein kurzes Vor-   deutschen Oper des 19. Jahrhunderts mit der auf dem Stabreim
       spiel, wie das seit Wagner gerne genannt wurde. Bloß ein        basierenden Sprache, die Richard Wagner als sein prinzipiell eige-
       geschmeidiger Zweiunddreißigstel-Lauf der Klarinette            ner Librettist für den „Ring des Nibelungen“ entwickelt hat – und
       eröffnet 1905 Richard Straussens „Salome“ – ein Auftakt im      die ihrerseits Anlass für viel Spott bot. Die alten Binnenformen der
musikalischen Wortsinne, eine knappe Geste nur, als würde der          Oper waren da schon weitgehend aufgelöst und in einen durchge-
Vorhang hochgezogen. Und schon sind wir mittendrin im Musik-           henden Fluss aus Rede und Wechselrede verwandelt.
drama modernen Zuschnitts. Die Tonleiter mündet in ein expressiv
sich windendes Motiv, das von cis-Moll mit neuerlichem Auf-            Poetische Bühnenprosa. Am Beginn des 20. Jahrhunderts lautete
schwung nach Cis-Dur führt: „Wie schön ist die Prinzessin Salome       die Frage deshalb auch: Welche Art von Sprache war opernwürdig,
heute Nacht!“, schwärmt der Soldat Narraboth. Im ständig wech-         opernfähig? 1896 war in Paris Oscar Wildes auf Französisch ver-
selnden harmonischen Licht steigt noch dazu eine flirrende, dort       fasster, skandalöser Einakter „Salomé“ uraufgeführt worden – noch
und da sanft dissonierende, chromatische Linie der zweiten Gei-        während jener Zuchthausstrafe mit schwerer Zwangsarbeit, die
gen an: In wenigen Sekunden hat Strauss Schimmer und Schatten          Wilde wegen homosexueller „Unzucht“ verbüßen musste und die
einer schwülen Mondnacht eingefangen – und zugleich ein ganz           seinen tragisch frühen Tod 1900 mitverursachen sollte. In diesem
neues Kapitel in der Geschichte der deutschsprachigen Oper auf-        Jahr erschien auch Hedwig Lachmanns deutsche Übersetzung des
geschlagen. Damit ist nicht etwa gemeint, dass eine Femme fatale       Dramas; der Lyriker Anton Lindner wies Richard Strauss auf das
und pathologisierte weibliche Sexualität ins Zentrum rücken, wie       Sujet hin und machte sich nach altem Muster zugleich als Librettist
es gang und gäbe war im Fin de siècle, Skandal- und Sensationslust     erbötig. Strauss war zwar sofort hellhörig geworden, wollte jedoch
hin, moralinsaure Empörung her: später etwa auch in Arnold             auf den von Lindner gelieferten Versuch in Versen nicht recht
Schönbergs „Erwartung“ und Alban Bergs „Lulu“. Nein, es ist die        anbeißen. Als Strauss das Stück dann 1902 in Berlin in einer Insze-
deutsche Literaturoper, die der ikonische Klarinettenanstieg           nierung Max Reinhardts gesehen hatte (aus Zensurgründen nur
zugleich inauguriert.                                                  vor geladenen Gästen), kam ihm die zündende Idee, alle Umstands-
                                                                       reimerei in den Wind zu schreiben, sich gleich den Dramentext
Hilfsbegriff Literaturoper. Natürlich handelt es sich dabei um eine    selbst vorzunehmen und ihn, stark und klug gekürzt, direkt zu
sprachliche Krücke der Musikgeschichtsschreibung. Keinesfalls ist      komponieren. Gerade der an keinerlei metrische Zwänge mehr
damit gemeint, die Komponisten hätten sich bis dato nicht auch         gebundene, freie Fluss der Sprache und Wildes mit blühenden
der besten Stoffe und Dichter der Weltliteratur bedient. Das haben     Metaphern geschwängerter, leicht schwülstiger Stil beschrieb ideal
sie nämlich – wenn schon nicht durchwegs, wie man zugeben muss,        die überfeinerte Endzeitstimmung einer Hochkultur in ihren deka-
so doch immer wieder. Die antiken Mythen, veredelt in Ovids            denten letzten Zügen – und entzündete Strauss’ illustrative Fanta-
„Metamorphosen“, aus dem 16. Jahrhundert                                                   sie zugleich von Wort zu Wort wie im großen
dann weitschweifige Epen wie Ludovico Ariosts                                              Ganzen. Mit „Salome“ konnte er nun seinen
„Rasender Roland“ und Torquato Tassos
                                                         Schließlich kam                   eigenen Opernstil finden – und in der hoch dif-
„Befreites Jerusalem“, sie boten vor allem dem         Richard Strauss die                 ferenzierten Partitur jene „Nervenkontrapunk-
Barock ein enormes Reservoir an Geschichten.                                               tik“ entfalten, die in der Frühzeit der Psycho-
Freilich mussten diese erzählenden Texte in           zündende Idee, den                   analyse ideal zum Geschehen rund um die rät-
theatergerechte Dialoge und Monologe umge-                                                 selhaft schillernde Titelfigur passte, die zwi-
wandelt werden – denn die Oper verlangte
                                                         Dramentext der                    schen jungfräulicher Keuschheit, erotischer
damals einerseits zielstrebige Rezitative, in           „Salome“ direkt zu                 Anziehungskraft und tödlichem Verlangen
denen sich die Personen austauschten und das                                               oszilliert. Die einaktige Struktur mit der wie in
Geschehen vorangetrieben wurde, andererseits               komponieren.                    Echtzeit geschilderten Handlung erzielt eine
breit reflektierende Arien für die Solisten mit                                            gleichsam filmische, unausweichliche Schlag-
reglementierten Affekten, später auch vermehrt Duette und              kraft, zu der die symphonischen Zwischenspiele und der Tanz das
Ensembles. Das besorgten zunächst adelige Liebhaber, dann              Ihre beitragen.
zunehmend dichtende Experten. Pietro Metastasio war im 18. Jahr-
hundert ihr unangefochtener König. Zugleich wurde die Vorherr-       Vorläufer und Nachfolger. Das schuf den Typus der deutschspra-
schaft von Wort oder Ton diskutiert und sogar satirisch auf die      chigen Literaturoper: Ein Musiktheaterwerk, dessen Text als eigen-
Bühne gebracht, 1786 von Antonio Salieri etwa. Doch in der Oper,     ständiges Drama von hohem Rang schon vorher existiert hatte. Die
so hatte Mozart fünf Jahre zuvor festgestellt, zur Zeit seiner „Ent- geniale Fortsetzung dieses Prinzips fand Strauss dann in der „Elek-
führung“, müsse „schlechterdings die Poesie der Musick gehor-        tra“ Hugo von Hofmannsthals: Die damit beginnende Zusammen-
same Tochter“ sein: „weil da ganz die Musick herscht – und man       arbeit der beiden war eine der faszinierendsten und ertragreichs-
darüber alles vergisst“.                                             ten in der Operngeschichte überhaupt – wobei sich Hofmannsthal
                                                                     nur scherzhaft-ironischerweise als „Librettist“ betitelt wissen
Gestelzte Verse. Noch bei Giuseppe Verdi freilich, der auf der       wollte. Immer wieder haben sich seither Komponisten große Thea-
Suche nach „neuen, grandiosen, schönen, abwechslungsreichen,         terstücke aus Vergangenheit und Gegenwart vorgenommen – und
gewagten Stoffen“ nicht zuletzt bei Victor Hugo, Lord Byron, Vol-    beileibe nicht alle waren damit auf Anhieb so erfolgreich wie etwa
taire, Schiller und Shakespeare fündig geworden ist, hatten die Lib- Gottfried von Einem mit seiner auf Georg Büchner basierenden
rettisten neben den formalen Erfordernissen der Oper auch beset-     Oper „Dantons Tod“ 1947 bei den Salzburger Festspielen. Im Fran-
zungstechnische Konventionen und überdies die Auflagen der Zen-      zösischen war Claude Debussy Strauss noch einige Jahre zuvorge-
sur zu erfüllen. Dafür drechselten gerade die italienischen Dichter  kommen: 1902 mit „Pelléas et Mélisande“, entstanden nach dem
kunstvolle Verse mit immer hochgestocheneren Vokabeln in küh-        symbolistischen Drama des späteren Nobelpreisträgers Maurice
nen grammatikalischen Formen und Wortstellungen: ein poeti-          Maeterlinck. Im Russischen finden sich die ersten Beispiele sogar
sches, aber fiktives Idiom. Diese Realitätsferne trifft sich in der  schon in den 1860er-Jahren: Alexander Dargomyschskis unvoll-

                                                                                                                              Kultur spezial   9
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
bestehen, wenn sie lange bereits das Maul nicht mehr werden auf-
                                                                       thun können“, schrieb er. Das lässt sich nun in Salzburg konzertant
                                                                       neu überprüfen.
                                                                       Mehr als nur eine Wiederbegegnung ermöglicht hingegen die Neu-
                                                                       produktion von Hans Werner Henzes „Bassariden“, die 1966 bei
                                                                       den Festspielen aus der Taufe gehoben wurden und nun im engli-
                                                                       schen Original als „The Bassarids“ dorthin zurückkehren. Das Dich-
                                                                       terpaar W. H. Auden und Chester Kallman bildete eine Lebens- und
                                                                       Künstlergemeinschaft, der Henze bereits das Libretto zur „Elegie
                                                                       für junge Liebende“ verdankte. Nun, 1962, wollten sie Henze auf
                                                                       den Mythos einschwören und schlugen „Die Bakchen“ des Euripi-
                                                                       des als Sujet vor. Dazu schickte Auden den Komponisten allerdings
                                                                       zum Nachsitzen in die Wiener Staatsoper: Dort sollte er sich erst-
                                                                       mals Wagners „Götterdämmerung“ anhören, die Henze bisher trot-
 uf Werken Alexander Puschkins
A                                  Franz KafkasRomanfragment „Der     zig gemieden hatte – „aus Scheu“, wie er zunächst anmerkte, in
basiert über ein Dutzend           Prozess“ war Ausgangspunkt für      Wahrheit aber wegen eines durch den Nationalsozialismus gestör-
russische Opern.                   Gottfried von Einems Komposition.   ten Verhältnisses zu Wagner. „Auden gab mir Kallman als Aufpas-
                                                                       ser mit, damit ich auch wirklich bis zum Schluss dabliebe“, erin-
                                                                       nerte sich Henze später an diese „herbe Bedingung“. Aber er
endet hinterlassener „Steinerner Gast“, dem Alexander Puschkins        musste zugeben: „Wie Auden, der alte, erfahrene Pädagoge, schon
gleichnamige Don-Giovanni-Bearbeitung zugrunde liegt, und              Strawinsky mit dem Text zu ‚The Rake’s Progress‘ auf den Gipfel-
Modest Mussorgskis Fragment gebliebene „Heirat“ nach der Komö-         punkt des Klassizismus geführt hatte, so wollte er nun Dinge aus
die Nikolai Gogols.                                                    mir herauszwingen, die er im Ansatz bereits in anderen Stücken
                                                                       von mir, meiner ‚Fünften Sinfonie‘ z. B., gespürt hatte: das Sich-Ver-
Dramatisierungen. In einem erweiterten Sinne lassen sich neben         gessen der Musik in gewissen Augenblicken, das Abstreifen aller
der „Salome“ sogar noch zwei Werke im diesjährigen Festspielpro-       stilistischen Bemäntelung, die krude Schamlosigkeit der musikali-
gramm diesem Genre zuordnen, obwohl ihre literarischen Vorbil-         schen Aussage.“ Der Dichter als Mäeutiker, als Geburtshelfer, der
der der Prosa angehören: Im Fall von Pjotr Iljitsch Tschaikowskis      dem Komponisten gezielte Kniffe und Stöße verabreicht . . .
„Pique Dame“ hatte dessen Bruder Modest die Erzählung Pusch-
kins im alten Sinne zu einem Libretto umgewandelt; für Gottfried   Oper und Symphonie zugleich. Ende August 1963 schon war das
von Einems „Prozess“, der 1953 in Salzburg herauskam, waren es     Libretto der beiden Autoren fertig: „The Bassarids“, eine Dichtung
Einems früherer Lehrer, der Komponist Boris Blacher, und der       mit hohem Anspruch, die darauf wartete, in Musik gesetzt zu wer-
Schriftsteller und Regisseur Heinz von Cramer, die sich an die Auf-den. Doch Henze schreckte vor der Aufgabe zunächst zurück und
gabe gewagt hatten, Franz Kafkas Romanfragment in neun Bilder      wollte sich für einen kompositorischen Marathon im Lichte des
umzugießen. In beiden Fällen steht ein Einzelgänger im Mittel-     Mythos erst fit machen: zum Beispiel dadurch, dass er die großen
punkt, den die Umstände in einen realen und/oder psychischen       symphonischen Werke des 19. Jahrhunderts dirigierte, Partituren
Ausnahmezustand bringen – und dort wie da kommt die Musik der      von Schubert, Brahms, Mahler. Wieder ermöglichte also erst die
Vergangenheit ins Spiel. Bei Tschaikowski ist es                                       Anverwandlung der älteren Literatur das Schaf-
der Offizier Hermann, der über dem Wahn,                                               fen der neuen. In „The Bassarids“, einem Einak-
einer geheimnisvollen alten Gräfin das Wissen
                                                     Mit „The Bassarids“               ter wie „Salome“, aber auf zweieinhalb Stunden
um die beim Glücksspiel siegreichen Karten zu                schreitet                 Spieldauer gesteigert, gießt Henze die Komple-
entlocken, deren Tod und auch jenen seiner                                             xität des Mythos und des beziehungsreichen
Geliebten Lisa herbeiführt, bevor er sich selbst    Hans Werner Henze Librettos in die Form einer Symphonie, bringt
richtet. Bei Einem ist es der Bankbeamte Josef                                         also dramatische und absolute Musik auf einen
K., der eines Tages in die Fänge einer surrealen
                                                          den Weg der                  Nenner. Ein Sonatensatz bildet die Eröffnung;
Justiz gerät und ihr nicht mehr lebend entkom-      modernen Tradition an zweiter Stelle kommt ein Scherzo, laut Henze
men kann. Dass Modest die Handlung aus dem                                             „eine Folge bacchantischer Tänze, mit einem
19. ins 18. Jahrhundert zurückverlegen musste,             weiter aus.                 ruhigen Vokalensemble als Trio“; der dritte Satz
spielte der Vorliebe seines Bruders für Mozart                                         ist ein Adagio mit Fuge, unterbrochen von
und eine Art von Rokoko-Historismus sogar in die kompositori-      einem Intermezzo, das als eine Oper in der Oper das eigentliche
schen Hände: So konnte dieser verschiedene Genrestücke ein-        Satyrspiel darstellt; das Finale schließlich, geprägt von Aschermitt-
bauen, die wesentlich zum Erfolg des Werkes beitrugen. Dass        wochsstimmung, ist eine Passacaglia. „Henze hat die Kraft, auch
Einem, wie es in einer Uraufführungskritik hieß, nicht nur „mit    das schon Vorhandene seiner schöpferischen Phantasie einzu-
dem Musikwortschatz der Gegenwart souverän“ operiere, sondern      schmelzen. Keiner neben ihm schreibt heute Opernmusik von so
mehrfach auch „eine Strauss-Phrase, einen Pfitzner-Ton, sogar Puc- starker Atmosphäre und heißem, dramatischem Atem“, schrieb
cini-Wendungen“ einbaue, wurde ihm von einem Teil von Publi-       Wolfram Schwinger, Kritiker der Uraufführung und später Opern-
kum und Presse angekreidet.                                        direktor in Stuttgart. „Ich bin der Ansicht, daß der Weg von Wag-
                                                                   ners ‚Tristan‘ zu Mahler und Schönberg noch lange nicht ausge-
Im doppelten Sinne. Das macht, wenn man so will, den „Prozess“     schritten ist, und mit den ‚Bassariden‘ habe ich versucht, ihn wei-
zu einer Literaturoper im doppelten Sinne, indem der Komponist     terzugehen“, resümierte Henze. „Ich will nicht verzichten auf das,
in seiner Partitur nämlich die musikalische Ahnengalerie abschrei- was uns die Jahrhunderte zuspielen. Im Gegenteil: ‚Zu erben muß
tet und mehrfach bewusste Anleihen nimmt. Einem selbst schie-      man auch verstehen; erben, das ist am Ende Kultur.‘ Das war die
nen die Beckmesser freilich wenig zu stören: „Das Stück wird noch  Meinung Thomas Manns, und ich unterschreibe sie willig.“ e

10   Kultur spezial
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
Beständigkeit
                      der Qualität als
                      absolutes
                      Richtmaß
                      Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler
                      im Gespräch über Vergangenheit,
                      Gegenwart, Zukunft.
                      Text: Wilhelm Sinkovicz

                                                                                            Foto: Salzburger Festspiele/Lydia Gorges

                                                Die Präsidentin weiß:Die Festspiele sind
                                                künstlerischer und ökonomischer Faktor.

12   Kultur spezial
Begehren überall - Spezial - Salzburger Festspiele
Ö
           sterreich gedenkt heuer des 100. Geburtstages von Gott-      Programm zu setzen, ganz und gar nicht inspirierend. Das Publi-
           fried von Einem. Die Salzburger Festspiele leisten ihren     kum und letztlich auch die Kritik haben dann ganz anders geurteilt.
           Beitrag, denn „dieser Komponist gehört zur Festspiel-        Im Rückblick war dieses Mozart-Jubiläum ein rauschender Erfolg.
           Geschichte“, meint Festspielpräsidentin Helga Rabl-          Ruzicka hat den Salzburger Festspielen die Mozartkompetenz
Stadler, „die Uraufführung von ‚Dantons Tod‘ im Jahre 1947 hat der      zurückgegeben.“
Regisseur Oscar Fritz Schuh als die Wiedergeburt der Salzburger
Festspiele durch das moderne Musiktheater bezeichnet“.                  Verantwortung im Land Mozarts. 2020 liegen die Herausforderun-
Gottfried von Einem hat sich in der Folge als Mitglied der künstleri-   gen anderswo: „Und wir werden uns ganz sicher nicht bequem auf
schen Entscheidungsgremien der Festspiele um die konsequente            die Salzburger Hausgötter Mozart und Richard Strauss zurückzie-
Einbindung zeitgenössischer Musiktheaterformen in den sommer-           hen. Das würde nämlich, so logisch es auf den ersten Blick viel-
lichen Spielplan bemüht. Sein eigenes Schaffen stand dabei keines-      leicht wirken möge, der viel breiteren Gründungsidee der Fest-
wegs im Mittelpunkt, wenn auch seine zweite Oper, die Kafka-Ver-        spiele zuwiderlaufen. Die lautete nämlich: Oper und Theater – von
tonung „Der Prozess“, 1953 ebenfalls in Salzburg das Licht der Büh-     beidem das Höchste. Die künstlerische Qualität war die eigentliche
nenwelt erblickte. Dieses Werk werden die Festspiele heuer in kon-      Festspielidee der Gründer. Sie gab und gibt uns späteren Festspiel-
zertanter Form wieder zur Diskussion stellen. Das ist Teil einer        verantwortlichen jene programmatische Freiheit, die frau sich in
künstlerischen Strategie.                                               Bayreuth sicher manchmal herbeisehnt. Aber an dieser Freiheit
Die Präsidentin verweist auf einen Ausspruch des Intendanten            prallt der Vorwurf der Beliebigkeit nur dann ab, wenn sie höchs-
Markus Hinterhäuser: „Er ist der Meinung, dass man die großen           tem Qualitätsanspruch standhält. Glucks ,Orfeo ed Euridice‘, Verdis
Werke der Vergangenheit hervorholen soll, um zu überprüfen, was         ‚Aida‘ und Monteverdis ,L’incoronazione di Poppea‘, diese Werke
sie uns heute zu sagen haben. Wenn ich an das Kafka-Sujet denke,        gehören alle auf den Salzburger Spielplan. Ob diese Meisterwerke
das Einem gewählt hat: Dass ein Mensch aufwacht und nicht weiß,         der Gründungsidee Genüge tun, entscheidet hingegen die Qualität
was die Staatsmächte mit ihm getan haben, ist ja leider in vielen       der Interpretation.“
Ländern böse Realität.“                                                 Nicht nur in Jubiläumsjahren denken die Salzburger Festspiel-
Zu Hinterhäusers kritischer Bestandsaufnahme im Vorfeld des             macher auch an einen zweiten Aspekt, den die einstigen Gründer-
100-Jahr-Jubiläums der Festspiele 2020 gehört auch die szenische        väter ins Spiel gebracht haben und der allzeit die Besinnung auf die
Neuproduktion von Hans Werner Henzes 1966 in Salzburg uraufge-          Aufgaben der Kunst wachhalten kann. „Neben der Qualität ging es
führten „Bassariden“: „Hier“, sagt die Präsidentin, „muss man mit-      Reinhardt, Hofmannsthal und Strauss auch um die Etablierung des
denken, dass Henze damals zu einer Art neuem Richard Strauss sti-       ,ersten Friedensprojekts‘ in Europa nach dem Ersten Weltkrieg –
lisiert worden war, was er im Übrigen ganz und gar nicht sein           und das zu einem Zeitpunkt, an dem noch gar nicht abzusehen
wollte. Der fortschrittlichen ,Partei‘ war seine Musik zu rückwärts-    war, wann dieser Krieg zu Ende sein und wie er ausgehen würde.
gewandt. Es wird spannend, zu hören, wie diese ,Bassariden‘ in der      Die erste Eingabe um die Genehmigung der Abhaltung von Fest-
heutigen Zeit wirken. Immerhin stammt das Libretto ja von Wystan        spielen formulierte Reinhardt bereits 1917“, betont Rabl-Stadler.
Hugh Auden, der dann 1968 die Eröffnungsrede der Festspiele             Dergleichen sei auch für die Bewusstseinsbildung der nächsten
gehalten hat.“                                                          Generation wichtig: „Wir freuen uns über unsere Jugendprojekte,
                                                                                            die Förderungen junger Sänger und junger Diri-
Historie im Spannungsfeld. Das Werk steht dies-                                             genten – und wir wollen diese bis 2020 noch aus-
mal im Spannungsfeld des stilistisch zwischen
                                                      100-Jahr-Jubiläum:                    bauen“, verspricht die Präsidentin, „um im Sinne
Barock und Moderne aufgespannten Opernpro-            Die Festspiele defi-                  eines Ganzjahresprojektes gemeinsam mit den
gramms und der unter Hinterhäuser stark ausge-                                              Schulen und den Lehrern zu zeigen, dass das
bauten zeitgenössischen Programmschiene. „Ich         nieren sich aus der                   Land Mozarts sich seiner Verantwortung
freue mich“, meint Helga Rabl-Stadler, „dass Mar-                                           bewusst ist.“
kus Hinterhäuser offenkundig das richtige Händ-
                                                      eigenen Geschichte                    Im Zuge dessen sei es gut, Erinnerungen wach-
chen bei der Auswahl der Komponisten hat: Wir          immer wieder neu.                    zuhalten, etwa die an die erste, so folgenreiche
konnten ja nicht wissen, dass Beat Furrer heuer                                             Aufführung des „ Jedermann“ auf dem Dom-
den Siemens-Preis verliehen bekommt. Nun ist                                                platz: „Die erste Tribüne im Jahr 1920 hat man
er einer der Zeitgenossen, deren Schaffen im Fokus der Festspiele       aus den Brettern eines Kriegsgefangenenlagers gezimmert, in dem
2018 steht.“ Im Übrigen hält die Präsidentin es für wichtig, nicht      während des Krieges 40.000 Insassen leben mussten – die Stadt
nur an Uraufführungs-Aufträge zu denken: „Ich halte es für genauso      Salzburg hatte damals 37.000 Einwohner . . .“
wichtig, Werke aus der jüngeren Vergangenheit neu zu befragen. In       Die Einkünfte aus den Aufführungen verwendete man damals für
der Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr 2020 geht es auch darum,         Kriegsopfer, „keiner der Mitwirkenden hat eine Gage verlangt“,
die eigene Geschichte widerzuspiegeln.“                                 sagt Helga Rabl-Stadler, „ganz im Sinne von Reinhardts Idee von
Das Jahrhundertfestival wird dann, davon ist die Präsidentin über-      Friedensfestspielen. Dass Festspiele einmal auch ein handfester
zeugt, „schwieriger werden als das Festival, das wir 2006 zum           wirtschaftlicher Faktor werden könnten, daran hat damals kein
250. Geburtstag Mozarts ausgerichtet haben. Damals ging es uns          Mensch gedacht. Nur Reinhardt, der kluge Taktiker, hat bereits mit
etwa so wie den Bayreuther Festspielen, die ja mit dem Schaffen         positiven ökonomischen Folgen argumentiert.“
Richard Wagners einen klar eingegrenzten Auftrag haben.“                Wobei es die Präsidentin heutzutage „immer wieder etwas
Was man von den Salzburger Festspielen so nicht behaupten kann.         komisch berührt, wenn ich mich geradezu dafür verteidigen muss,
„Im Gegenteil“, sagt Helga Rabl-Stadler und erinnert sich, dass         dass wir nicht nur künstlerisch, sondern auch ökonomisch Motor
selbst Anno 2006 das Konzept des damaligen Festspiel-Intendan-          einer ganzen Region sind. Natürlich weiß ich, dass Kunst ihre
ten Peter Ruzicka höchst umstritten war: „Zumindest als das Pro-        Rechtfertigung nicht in ihrer Rentabilität findet. Aber wenn Carl
gramm bekannt gegeben wurde. Da fand nämlich so mancher                 Zuckmayer so schön gemeint hat, dass in Salzburg die Kultur auch
Fachmann den Gedanken, sämtliche 22 Bühnenwerke Mozarts zu              noch ihren Mann nährt, darf man doch darüber glücklich
spielen und sonst ausschließlich Musik des 21. Jahrhunderts aufs        sein!“ e

                                                                                                                             Kultur spezial   13
Mythen, Märchen,
Menschentriebe
Vier herausragende Theatermacher geben ihre Festspiel-Operndebüts und deuten mit
starken musikalischen Partnern Werke aus den letzten vier Jahrhunderten.
Text: Walter Weidringer

G
           erade die uralten Geschichten sind es, von denen wir        det in modisch ägyptisches Kolorit und angereichert mit mehr
           nicht genug bekommen können. Manche von ihnen               oder minder deutlichen Anspielungen aufs Freimaurertum. Dabei
           erzählen sich die Menschen seit einer halben Ewigkeit, in   zerbrechen sich kluge Köpfe verschiedener Disziplinen schon
           immer neuen, der jeweiligen Zeit angepassten Varianten.     lange darüber den Kopf, ob Schikaneder wirklich auf halbem Wege
Vor mehr als 2400 Jahren zum Beispiel hat der griechische Dichter      sein Konzept ändern musste, weil im Leopoldstädter Theater, einer
Euripides in einer damals preisgekrönten Tragödie das Publikum         anderen Vorstadtbühne, sein Konkurrent Karl Marinelli im Juni
mit der Kunde einer blutigen Rache gefesselt: Dionysos, der Gott       1791 die Singspiel-Kasperliade „Kaspar der Fagottist oder: Die Zau-
des Rausches, bestraft darin auf furchtbare Weise jene Ungläubi-       berzither“ herausgebracht hatte, komponiert vom dortigen Haus-
gen, die seinen urwüchsig-orgiastischen Kult nicht ehren wollten.      kapellmeister Wenzel Müller: Denn der Librettist, der Schauspieler
Eine Geschichte, die uns in die Zeit der Morgendämmerung unse-         Joachim Perinet, bediente sich der gleichen Quellen wie Schikane-
rer Zivilisation zurückführt, wo der Kampf zwischen Zügellosigkeit     der und erzählt von einer guten Fee, deren Tochter von einem
und Ordnung noch nicht restlos ausgetragen war. Rund 470 Jahre         bösen Zauberer entführt worden ist. Ein Jüngling wird dazu aus-
später kam es am Herrscherhof der damals am höchsten entwi-            erkoren, sie zu retten und bekommt dazu Hilfe von einer Zauber-
ckelten europäischen Kultur, nämlich des römischen Weltreiches,        zither sowie seinem Begleiter, dem lustigen Kaspar und seinem
zu einem Skandal: Kaiser Nero dichtete seiner im Volk beliebten        Fagott. Man stelle sich Schikaneders Schock vor! Um nicht eines
Frau Octavia eine Affäre mit einem Sklaven an, um sich von ihr         Plagiats bezichtigt zu werden, habe er sich daraufhin gezwungen
scheiden lassen und Poppaea heiraten zu können, die als die            gesehen, sein Libretto gleichsam umzupolen: Deshalb sei aus dem
schönste Frau überhaupt galt – eine Geschichte, die direkt der Yel-    bösen der uns vertraute gute, weise Sarastro geworden und aus der
low Press unserer Tage entstiegen sein könnte. Fast zur gleichen       liebenden, leidenden Mutter Paminas, der Königin der Nacht, jene
Zeit taucht in den Evangelien eine Tochter der Herodias auf, die       herrschsüchtige Frau, deren Treiben Einhalt geboten werden
dem römischen Historiographen Flavius zufolge den Namen                muss.
Salome trug. Der frühchristlichen Überlieferung nach ist sie für die
Enthauptung von Johannes dem Täufer verantwortlich. Mit ihrem           rauenversteher Mozart.So sagen es jene Kritiker, die das Text-
                                                                       F
Tanz habe sie nämlich ihren Stiefvater Herodes so in Begeisterung      buch der „Zauberflöte“ als Machwerk betrachten, gespickt mit
versetzt, dass er versprach, ihr jeden Wunsch zu gewähren. Salome      Ungereimtheiten: Warum wechseln die drei Knaben die Fronten?
hörte auf die Einflüsterung ihrer Mutter und forderte den Kopf des     Weshalb ist der Weg zum Reich der Eingeweihten für Tamino ver-
Propheten. Erst Oscar Wilde machte sie in seiner Dramenversion         sperrt, für Papageno und sogar die Königin der Nacht aber offen?
zur eigenständigen Femme fatale . . .                                  Dagegen wenden die Lobredner des Werks ein, die sich auf Goethe,      Fotos: Salzburger Festspiele/Sandra Then, Franziska Schroedinger, Gisela Schenker

                                                                       Hegel und Wagner als prominenteste Vertreter der Vergangenheit
 acht, Sex und Gewalt.In allen diesen Fällen tönt uns jener Drei-
M                                                                      berufen dürfen, Mozarts Musik habe alles veredelt und etwaige
klang aus Macht, Sex und Gewalt in den Ohren, der den Mythos so        Widersprüche auf höherer, nur zu erfühlender, nicht zu durchden-
faszinierend macht. Und selbst eine nur 227 Jahre alte, also ver-      kender Ebene aufgehoben: „Welcher göttliche Zauber weht vom
gleichsweise junge, für uns kindgerecht wirkende                                         populären Liede bis zum erhabensten Hymnus
Geschichte wie die von Emanuel Schikaneder                                               in diesem Werke!“, schwärmte etwa der
ausgeheckte Handlung der „Zauberflöte“ spielt
                                                        Es gehört zum                    erwähnte Richard Wagner. Erst in jüngerer Zeit
mit mythischen Urgründen: Der gewiefte Thea-         Wesen der Klassiker,                wurde zu durchleuchten versucht, ob Mozart
terpraktiker schöpft dabei aus zeitgenössischen                                          die genannte Umpolung überhaupt mitvollzo-
wie aus (zumindest vorgeblich) alten Quellen,       dass wir sie nie ganz                gen habe oder nicht bei seinen eigenen kompo-
um eine neue und zugleich wie ewig schon vor-                                            sitorischen Absichten geblieben sei: Immerhin
handen wirkende Variante der Erzählung vom
                                                    ausschöpfen können,                  steht nicht nur Paminas viel zitierte Arie „Ach,
Kampf des Lichtes gegen die Finsternis auf die      es aber immer wieder                 ich fühl’s“ in der tieftraurigen Todestonart
Bühne zu bringen – mit einer Mischung aus volks-                                         g-Moll, sondern im ersten Akt schon die mit
tümlichen und esoterischen Elementen, geklei-        versuchen müssen.                   denselben absteigenden Tönen beginnende »

14   Kultur spezial
Lydia Steier lässt uns die „Zauber-
flöte“ aus der Perspektive der
„drei Knaben“ erleben.

Mauro Peterstellt sich als Tamino
den Prüfungen der Eingeweihten.
Er und . . .

. . . Christiane Karg (Pamina) zäh-
len zu den besten jungen Mozart-
sängern.

                   Kultur spezial   15
Der vielseitige TenorJohn Daszak
                                     gibt den neurotisch-lüsternen
                                     König Herodes.

Romeo Castellucci,Visionär und       ls Salome, Prinzessin von Judäa,
                                     A
Meister des kühnen Kontrapunkts      ist Asmik Grigorian das Objekt sei-
setzt „Salome“ in Szene.             ner Begierde.

Kate Lindseyvereint in der Hosen-
rolle des Nerone Despotismus und
Wohllaut.

Theatermacher Jan Lauwersbe-
tont die zeitlose Aktualität von

                                                                                                               Fotos: Salzburger Festspiele/Anne Zeuner, Robert Workman, PGasiunas; Maarten Van den Abeele, Rosetta Greek, Rolex/Hugo Glendinning
Monteverdis Oper.

                                                                           Sonya Yonchevaverwandelt sich
                                                                           in die ebenso schöne wie skrupel-
                                                                           lose Poppea.

16   Kultur spezial
Klage der Königin der Nacht – und kein musikalisches Argument              beiden Pole zusammen: das Kindlich-Märchenhafte und das sehr
hielte stand, diesen Mutterschmerz zu diskreditieren. Zugleich             Erwachsene, das über das Märchenhafte hinausweist?“ Steiers Ant-
fehle etwa Sarastros berühmter, einfacher Strophenarie „In diesen          wort: Sie schlüsselt die „Zauberflöte“ aus kindlicher Perspektive
heil’gen Hallen“, so führt etwa Ulrich Schreiber aus, jene Differen-       auf – und nimmt dazu die drei Knaben als Ausgangspunkt. Ihre
zierung, die Mozart etwa dem Osmin in der „Entführung“ habe                Erzählung verankert sie in der Zeit knapp vor der Festspielgrün-
angedeihen lassen: Die „musikalische Statur dieses Humanitätsbe-           dung: Nach dem Abendessen einer Wiener Bürgerfamilie, die wir
kenners“, so Schreiber, sei „verdächtig simpel“. Zusammen mit dem          in der Ouvertüre kennenlernen, liest der Großvater den Kindern
Duett „Bewahret euch vor Weibertücken“, in dem Mozart nicht                noch eine Gutenachtgeschichte vor. Kein Geringerer als Bruno
etwa weihevoll den Zeigefinger erhebt, sondern einen augenzwin-            Ganz übernimmt diese Rolle des erwachsenen Vermittlers, des
kernd-buffonesken, vielleicht sogar bewusst banalen Ton                    „raunenden Beschwörers des Imperfekts“, wie Thomas Mann den
anschlägt, ergibt sich ein viel differenzierteres Bild aus der Partitur.   Erzähler einmal genannt hat. Matthias Goerne, der 1997 unter
Da liegt der Gedanke einer Art von Scheidungskrieg zwischen                Christoph von Dohnányi als Papageno sein Festspieloperndebüt
Sarastro und Königin nicht fern, der eben keine einseitigen Schuld-        gegeben hat, ist zum Sarastro herangereift und steht nun der usbe-
zuweisungen zulässt. Dass Pamina die Prüfungen mit besteht und             kischen Koloratursopranistin Albina Shagimuratova als Königin
am Ende an Taminos Seite in die Gemeinschaft aufgenommen                   der Nacht gegenüber. Christiane Karg, Mauro Peter und Adam
wird, mag selbst für die aufgeklärtesten unter den Logenbrüdern            ­Plachetka, drei in Salzburg schon gefeierte Vertreter der jungen
des Komponisten eine Provokation gewesen sein. Mozart war eben             Generation des Mozartfaches, sind als Pamina, Tamino und Papa-
ein „Frauenversteher“ – wie dort, so hier.                                 geno zu erleben. Ans Dirigentenpult tritt dabei, zwei Jahre nach
                                                                           Harnoncourts Tod, gewissermaßen einer von dessen jüngsten
90 Jahre „Zauberflöte“.Vorstadtkomödie und Weltanschauungs-              Erben: Dem 1974 geborenen Griechen Constantinos Carydis eilt der
drama, Maschinentheater und Märchenspiel: Wie die Ebenen und               Ruf eines scharfsinnigen und fanatischen Detailarbeiters mit enor-
Elemente der „Zauberflöte“ einander überlagern oder durchdrin-             mer Klangfantasie und überschäumendem Elan voraus – Eigen-
gen, kann an sich schon als mythisch gelten. Es ist vielleicht die         schaften, die ihm 2011 den erstmals vergebenen Carlos-Kleiber-
wesentliche Eigenschaft der so genannten Klassiker, dass wir nie-          Preis der Bayerischen Staatsoper eingetragen haben. Wie Carydis
mals mit ihnen fertig werden, sie nie ganz aus-                                               und die Wiener Philharmoniker die altbekannte
schöpfen können, es aber immer wieder versu-                                                  Partitur zu neuem Leben erwecken werden,
chen müssen – auch und ganz besonders bei den
                                                         Salome ist zugleich                  zählt zu den spannendsten Fragen dieses Fest-
Salzburger Festspielen, die ja längst von ihrem          Objekt und Subjekt                   spielsommers.
eigenen Mythos umweht werden, der bei den
Gründungsvätern Max Reinhardt, Richard                   der Begierden: Eros                       „ Salome“ ohne Blut.Neben Mozart gehört
Strauss und Hugo von Hofmannsthal seinen                                                           bekanntlich auch Richard Strauss zu den philhar-
Anfang nahm. 2020 wird das erste Jahrhundert
                                                         und Thanatos um-
                                                                                                   monischen – und zugleich Salzburger – Hausgöt-
voll, schon heute aber erstreckt sich die „Zauber-       schlingen einander                        tern. Im Gegensatz zur „Zauberflöte“ jedoch,
flöte“ über 90 Jahre Festspielgeschichte: Am                                                       deren bevorstehende Premiere bereits die
18. August 1928 ging sie unter Franz Schalk hier           in ihrem Tanz.                          222. Festspielaufführung des Werks bedeutet
erstmals über die Bühne. Arturo Toscanini und                                                      (Kinderversionen nicht mitgerechnet!), ist die
Wilhelm Furtwängler haben sie später dirigiert, die großen Pult-              neue „Salome“ erst die dritte Produktion in der Geschichte – nach
antipoden der ersten Jahrhunderthälfte – wobei bei Toscanini 1937             jeweils acht Abenden unter Karajan 1977/78 mit der jungen
ein junger Ungar namens Georg Solti am Glockenspiel saß: 1955              ­Hildegard Behrens im Großen und unter Dohnányi 1992/93 im Klei-
sowie in den Mozartjahren 1956 und 1991 sollte er dann selbst am              nen Festspielhaus, mit dem Duo Catherine Malfitano und Bryn
Pult stehen . . . Viele klingende Namen auf der Bühne wie im Graben         ­Terfel in der Inszenierung von Luc Bondy. (Die Herodias war damals
folgten, bis hin zum unermüdlichen Sucher Nikolaus Harnoncourt                übrigens Hanna Schwarz – jene Sängerin, die nun als geheimnis-
2012, der mit seinem Concentus Musicus damals noch einmal                     volle alte Gräfin in Tschaikowskis „Pique Dame“ wiederkehrt.)
einen ganz neuen Blick auf die Partitur wagte.                                Eines scheint sicher: Beim visionären Theatermacher Romeo
                                                                             ­Castellucci, diesem Meister des kühnen, aber ebenso intelligenten
Kinder als Ausgangspunkt.Blättern wir in der Festspielchronik,              wie berührenden szenischen Kontrapunkts, wird die Sache in der
 hören und lesen wir die Erinnerungen von jenen, die seinerzeit               Felsenreitschule anders aussehen als gewohnt. Unvergessen ist
 dabei waren, ziehen wir Mitschnitte zurate, dann lauschen wir                zum Beispiel seine Deutung von Glucks „Orfeo ed Euridice“ bei den
 erneut einer großen Erzählung – und wir hängen an den Lippen                 Wiener Festwochen 2014, wo die Wachkomapatientin Karin Anna
 der Zeitzeugen genau wie damals, als willige Erwachsene uns Kin-             Giselbrecht via Livevideo aus dem Krankenhaus dem Schatten-
 dern aus dicken Büchern vorgelesen haben, oft immer dieselben                reich beklemmende Deutlichkeit verlieh. Castellucci schwebt eine
 Geschichten . . . Von dieser glückhaften Erinnerung lässt sich nun           reduzierte, minimale „Salome“ vor, die mehr durch Weglassen als
 die aus den USA stammende Regisseurin Lydia Steier inspirieren,              durch Zurschaustellung wirken soll: Auch Blut ist da kein unerläss-
 die auch Gesang studiert hat und ihr Metier somit zugleich von der           liches Symbol mehr. „Theater ist für mich ein Ort der Reflexion, des
 anderen Seite her kennt. 2002 kam sie als Fulbright-Stipendiatin             Nachdenkens“, sagte er einmal in einem Interview. „Ich glaube
 nach Berlin, schaffte 2009 in Weimar den Durchbruch mit Busonis              nicht an ein pädagogisches Theater, das die Menschen erzieht.
 „Turandot“, kombiniert mit Leoncavallos „Pagliacci“; 2016 wurde              Jeder Besucher ist mündig genug, um selbst über das Gesehene
 ihre Inszenierung von Stockhausens „Donnerstag aus LICHT“ von                und Gehörte nachzudenken. Er muss nicht belehrt werden. Thea-
 der Zeitschrift „Opernwelt“ zur Produktion des Jahres gewählt. Bei           ter sollte auch keine Antworten geben. Es muss vielmehr Fragen
 der „Zauberflöte“ lautete ihre zentrale Frage: „Wie bringt man die           stellen. Der Idealzustand ist erreicht, wenn man als Zuseher sowie

                                                                                                                                   Kultur spezial   17
als Ausführender ganz auf sich selbst zurückgeworfen wird. Denn        weitere Teile des Werks) wahrscheinlich von einem oder mehreren
die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich und damit mit Leben         anderen Komponisten stammen, von Cavalli und Sacrati, das alles
und Tod – vor der haben wir doch alle Angst.“                          verflüchtigt sich vor diesen seligen Klängen. Der Zauber der 375
                                                                       Jahre alten Musik überwindet alles. Jan Lauwers wird freilich mit
Elementare Bildgewalt.Reduktion wird hier also statt Opulenz         großer Wahrscheinlichkeit den ganzen Abend über dafür sorgen,
verheißen – und das von einem Künstler, der sich einen Ruf als Pro-    dass wir nicht vergessen, wie toll es die alten Römer trieben. Er ist
vokateur erworben hat und in seinen Inszenierungen teilweise           der einzige im Quartett der neuen Salzburger Opernregisseure, der
ähnliche Mittel anwendet wie Hermann Nitsch in den Aktionen sei-       schon in der Sparte Schauspiel bei den Festspielen zu Gast war,
nes „Orgien-Mysterien-Theaters“. Zu Strawinskys „Le sacre du prin-     2008 mit der Trilogie „Sad Face / Happy Face“. „Machtgier, Intrige,
temps“ beispielsweise ließ Castellucci 30 Tonnen Knochenstaub          Grausamkeit, Brutalität und Manipulation“, so fasst Lauwers’ Dra-
toter Tiere von der Decke rieseln, für Arnold Schönbergs „Moses        maturgin Elke Janssens die „Poppea“ zusammen, „triumphieren
und Aron“ stellte er einen anderthalb Tonnen schweren, entspre-        vor dem Hintergrund barocker Schönheit“. Diese Schönheit war
chend imposanten Stier der französischen Rinderrasse Charolais         bei den Festspielen erstmals 1993 unter Harnoncourt szenisch und
auf die Bühne und übergoss ihn und die Darsteller mit einer tinten-    im letzten Sommer halbszenisch unter Sir John Eliot Gardiner zu
ähnlich öligen, schwarzen Flüssigkeit. Und in seinem Stück „Sul        erleben; nun bürgen für diese erneut eine exquisite Besetzung
concetto di volto nel figlio di Dio“, das auch am Wiener Burgtheater   sowie diesmal William Christie und sein Originalklangensemble
zu erleben war, holte Castellucci die unweigerliche Kreatürlichkeit    Les Arts Florissants. „Meine Arbeit ist sehr politisch und eng ver-
eines demenzkranken, inkontinenten und von seinem Sohn                 bunden mit der Gesellschaft“, sagte Jan Lauwers in einem Gespräch
gepflegten Menschen durch Fäkalgeruch und täuschend echt nach-         mit der „Presse“: „Leben ist politisch. Aber das Theater soll nicht so
gemachte Exkremente in aller Drastik auf die Bühne. Im einen Fall      direkt politisch sein. Das ist langweilig.“ 1986 hat er zusammen mit
rief er Tierschützer auf den Plan, im anderen störten katholische      Grace Ellen Barkey die Needcompany gegründet. Seither verbindet
Fundamentalisten die Aufführungen, weil in einer Szene Kinder          der Maler, Fotograf, Autor, Zeichner, bildende Künstler, Filme-
Handgranaten auf das stets präsente Jesus-Porträt „Salvator            macher und Regisseur mit diesem Tanz- und Theaterensemble auf
mundi“ des Renaissancekünstlers Antonello da Messina werfen.           ganz eigentümliche Weise sämtliche Sparten zu einer Art von
Doch das sind nur die berüchtigten, schlagzei-                                            Gesamtkunstwerk – in eigenen Stücken, die sich
lenträchtigen Bausteine in einem stets viel kom-    Die Liebe von Nerone                  narrativen Strukturen oft verweigert haben,
plexeren theatralischen Puzzle. Wer Castellucci                                           oder nun mit Oper. „Mir kommt immer klarer zu
seine bilderstürmerische Gewalt als Gewalttat
                                                      und Poppea geht                     Bewusstsein, dass die Menschen in diesem Zeit-
ankreiden will, der sei auf die frühe Rezeptions-     über Leichen und                    alter der Globalisierung wieder Geschichten
geschichte der „Salome“ verwiesen: Religiös                                               brauchen“, begründete Lauwers diesen Schritt
oder allgemein moralisch motivierte Proteste        darf am Ende doch in                  zurück zum Erzählen – womit wir wieder beim
und Verbote durch die Zensurbehörden erschei-                                             Mythos angelangt wären, auch wenn „L’incoro-
nen uns heute längst unverständlich oder gar
                                                    überirdischer Schön-                  nazione di Poppea“ zu den ersten Opern gehört,
lächerlich. Für die philharmonische Tradition         heit triumphieren.                  die einen Stoff der realen Vergangenheit aufge-
steht am Pult jedenfalls Franz Welser-Möst ein;                                           griffen haben: Schließlich ist es die Historie, die
auf der Bühne ist eine junge Besetzung zu erle-                                           Mythen gebiert. „In Zeiten, in denen wir Demo-
ben: Asmik Grigorian, im letzten Sommer die Marie in Alban Bergs       kratie oder Sexualität in Frage stellen, in denen wir in Europa Angst
gefeiertem „Wozzeck“ in der Regie von William Kentridge, stellt        vor dem Islam, keine Klarheit über unsere eigene Religion oder
sich der anspruchsvollen Titelpartie, die praktisch alles verlangt:    Identität haben, begegnen wir dieser unmoralischen Oper“, erklärt
einen in allen Lagen expansionsfähigen und doch stets jugendlich       Lauwers: „Sie ist deswegen so wichtig, weil wir durch sie erkennen,
glitzernden Sopran, strahlende Gesangsbögen und zugleich hohe          dass wir im 16. oder 17. Jahrhundert die gleiche Art von Diskussio-
Wortdeutlichkeit, gepaart mit Ausstrahlung und Bühnenpräsenz.          nen hatten. Wir lernen also nichts aus Geschichte, wir machen
John Daszak, Tambourmajor dieses „Wozzeck“, kehrt als Herodes          immer dieselben Fehler.“
zurück, der ungarische Bass Gábor Bretz steuert die heiligen Invek-
tiven und Sentenzen des Propheten bei.                                  estern, heute, morgen.1966: Im selben Jahr, in dem sich die
                                                                       G
                                                                       Besatzung des Raumschiffs Enterprise in der Serie „Star Trek“ auf
                                                                                                                                                Fotos: Salzburger Festspiele/Bartek Warzecha, Johannes Ifkovits, Kristina Scherk

Schönheit im Sündenpfuhl.„Pur ti miro,/ Pur ti godo,/ Pur ti         den TV-Schirmen den Herausforderungen der Zukunft zu stellen
 stringo,/ Pur t’annodo – Ich betrachte dich, ich besitze dich, ich    beginnt, leisten sich die Salzburger Festspiele eine Uraufführung,
 ergreife dich, ich umschlinge dich“. Das überirdisch schöne           die sich mit einem Blick in ferne Vergangenheit zu begnügen
 Schlussduett von Claudio Monteverdis „L’incoronazione di Pop-         scheint, dabei aber ewige Menschheitsthemen behandelt. „Die
 pea“, in Salzburg angestimmt von Sonya Yoncheva in der Partie der     Bassariden“ kommen auf die Bühne des Großen Festspielhauses,
 skrupellosen Aufsteigerin und Kate Lindsey in der Hosenrolle des      mit der Musik von Hans Werner Henze, einem der prominentesten
 despotischen Imperators, bringt ein vollendetes Glück zum Klin-       und zugleich keineswegs unumstrittenen Komponisten der Gegen-
 gen, erzählt vom Gleichklang zweier Herzen, die zu einem ver-         wart, geschrieben auf ein englisches Libretto der Dichter W. H.
 schmolzen sind und nichts mehr zu fürchten haben: „Nie mehr           Auden und Chester Kallman, das ins Deutsche übertragen wird; am
 Schmerz, nie mehr Tod, o mein Leben, mein Schatz.“ Dass Nerone        Pult steht Christoph von Dohnányi. Hinter dem Titel (übersetzt
 und Poppea buchstäblich über Leichen gegangen sind, um sich das       „Die Fuchsfellträgerinnen“) verbergen sich keine anderen als die
 Jawort geben zu können, dass der historische Kaiser Nero seine        „Bakchen“ des Euripides, die hier ihre dritte Wiedergeburt als Oper
 ihm bald lästige zweite Gattin angeblich während ihrer Schwanger-     feiern – nach Werken von Egon Wellesz („Die Bakchantinnen“ von
 schaft mit einem Fußtritt getötet hat, ja, dass dieser Schluss (und   1931, in Salzburg 2003 konzertant zu erleben) und Federico

18   Kultur spezial
Sie können auch lesen