GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
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Jahresheft KilR 2021 mit Arbeitshilfe Erntedank INHALT VON DER STRATEGIE DER GROSSZÜGIGKEIT – GRUNDSÄTZLICHES 36 Stefan Berk Solidarität in der ARBEITSHILFE ZU ERNTEDANK 5 Marco Hofheinz Ge(h)-segnet oder: Landwirtschaft Ein kritisches Gespräch 22 Daniel Seyfried Jugendgottesdienstentwurf aus dem Evangelischen Kirchen- Ein Leben im Überfluss Gabetheologische Erwägungen 38 Rolf Brauch Faire Preise – eine kreis Wittgenstein anhand von 2. Kor 9,6-15 verständliche, aber unerfüllbare Forderung 25 Peter Schock Ge(h)-segnet! Von der 8 Gerd Müller Entwicklungs- Ein Einspruch zur Ent-Täuschung Strategie der Großzügigkeit Vorschläge für einen zusammenarbeit Weil Wohlstand verpflichtet und 40 Jan Menkhaus Solidarität in der Kirche Erntedankgottesdienst 2021 uns allen zugutekommt (Verpachtung) 27 Peter Schock Früchte Eurer Gerechtigkeit 10 Ricarda Rabe Braucht es noch den Segen? Ein Streitgespräch zwischen 41 Henning Gronau Gemeinschaftlich wohnen und leben Gedanken zum Predigttext 2. Kor 9,6-15 Maren Heincke und Nick Lin-Hi 42 Anne Berk 30 Peter Schock Predigt über 2. Kor 9,6-15 12 Mario Ludwig Vampirfledermäuse Blutsauger mit sozialer Ader Leben in Gemeinschaft Bericht über den Weiselhof 32 Fritz Baltruweit Den Segen Gottes sehn 14 Hans Diefenbacher Solidarität in der Ökonomie 43 Anne Berk Bewusstseinserweiternde Möhren Solidarität auf dem Acker 16 Claudia Neu Soziale Orte Überlebensnotwendig für 44 Nathanael Ohrndorf Shift GmbH RUBRIKEN 3 Editorial soziales Miteinander 51 Aus dem EDL 45 Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. Wasser ist Leben 52 Impressum BEISPIELE AUS DER FÜLLE 19 Miriam A. Markowski Solidarische Ökonomien und DEN BLICK WEITEN Resilienz als Chance 47 Bücher- und Film- Empfehlungen aus dem 33 Michaela Hausdorf, Timo Wans Das Myzelium Redaktionsteam � Kooperieren, vernetzen, bilden und forschen 34 Roman Glaser Gedanken zur Renaissance der genossenschaftlichen IHR PASSWORT ZUM ABOBEREICH AUF Idee WWW.KILR.DE: KILR2021-GE(H)-SEGNET 2
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, geben ist seliger denn nehmen. So haben wir es gelernt, und das versuchen wir auch unseren Kindern beizubringen: Nicht alles für sich behalten, sondern teilen. Aber warum soll das besser sein? Wenn jeder für sich sorgt, ist für alle gesorgt, könnte man dagegen halten. Nur: Was ist mit denen, die das nicht können, aus welchen Gründen auch immer? Solidarität stärkt das Miteinander, und ist nicht auf uns Menschen beschränkt. Auch Tiere praktizieren das. Wir schlagen einen weiten Bogen in diesem Heft: Von Paulus, der die Christin- nen und Christen in Korinth zu überzeugen versuchte, für die Glaubensgeschwister in Jerusalem zu spenden, ohne dabei zu überlegen, ob und was für sie selbst dabei herausspringt, bis zu Firmen wie Viva con Agua, die die Solidarität zu ihrer Unter- nehmensphilosophie gemacht haben. Den Segen Gottes spüren, der ein unverdien- tes Geschenk ist. Damit weiter gehen. Ge(h)-segnet sein und diesen Segen weiter- geben. Anderen gegenüber großzügig sein und das als Lebensstrategie begreifen. Wie wäre das? Das Erntedankfest ist der Tag im Jahr, an dem der Segen der Ernte, ob nun reichlich oder eher karg, gefeiert wird. Und die Menschen, die mit ihrer Arbeit da- für sorgen, dass wir alle teilhaben können am Segen der Natur. Wie immer finden Sie zwei Gottesdienstentwürfe, die einladen, diese Freude an der Ernte zu teilen. An dieser Stelle möchten wir Danke sagen den Menschen, die in den letzten Jahren viel ihrer Zeit großzügig der Redaktionsarbeit für die Zeitschrift „Kirche im ländlichen Raum“ zur Verfügung gestellt, mitgedacht und geschrieben haben: Anke Kreutz, Peter Riede, Ulrich Ketelhod und Stefan Berg. Und wir begrüßen neu im Team der Redaktion Henrike Lederer und Monika Nack. Nun wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen! Ricarda Rabe, Vorsitzende des EDL 3
»Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.« —Mahatma Gandhi GRUNDSÄTZLICHES Von der Strategie der Großzügigkeit 4
GE(H)-SEGNET ODER: EIN LEBEN IM ÜBERFLUSS. GABETHEOLOGISCHE ERWÄGUNGEN ANHAND VON 2. KOR 9,6-15. Marco Hofheinz Für Pfr. Dieter Kuhli zum 65. Geburtstag und zum Eintritt in den Ruhestand „Sich selber gewissermaßen unbeschreibliche Gabe“ (2. Kor 9,15). Der Skopus des Textes ist überflüssig geworden, ein gabetheologischer. Deshalb gilt es, die Logik der von Paulus vermag (das Leben des Christenmenschen) erbetenen Kollekte gabetheolo- gisch zu entschlüsseln. reiner Überfluss für die Menschen um 2. DIE LOGIK DES TAUSCHES ihn zu werden.“1 UND DIE LOGIK DER GABE Idealtypisch kann die Gabe HANS-GEORG GEYER in der Tat vom Tausch3 unter- schieden werden. Wie verhee- rend die Tauschlogik des „do ut des“ wirken kann, zeigt sich da- 1. DIE „STRATEGIE“ DER GROSSZÜGIGKEIT ran, dass die Erwartung der Gegengabe bzw. das Ge- Von der Großzügigkeit (lat. beneficentia) spricht fühl, die Gabe erwidern zu müssen, in psychosozialer Paulus, wenn er die Kollekte für die Jerusalemer Ge- Hinsicht beziehungszerstörend statt beziehungsstif- meinde („die Heiligen“) sammeln geht. Er legt sie tend wirkt. Moralischer Druck und Schuldgefühle, etwa der heidenchristlichen Gemeinde in Korinth in die das Ergebnis von Gegengaben insinuierenden Ga- 2. Kor 8f. ans Herz.2 Um die Gaben in Korinth in ben sind, die oftmals projiziert werden, gehen vielfach Empfang zu nehmen, hat Paulus bereits Titus mit bei Empfangenden wie Spendenden Hand in Hand. zwei Begleitern losgeschickt. In den betreffenden Ka- Anders als die Tauschlogik besagt, dient die Gabe piteln versucht Paulus nun den Korinthern klarzuma- nicht primär wirtschaftlichen Interessen. Sie hat zwar chen, dass auf großzügigem Geben Segen liegt: „Wer auch ökonomische Funktion oder zumindest Implika- mit Segen(shänden), d.h. großzügig (ep‘eulogias) gibt, tionen, keineswegs jedoch im Sinne eines Selbst- der wird mit Segen(shänden), d.h. großzügig ern- zwecks. Den Korinthern stellt Paulus in Aussicht: ten“ (2. Kor 9,6). Dieser Zusammenhang ist weis- „Ihr werdet in allem reich gemacht zu aller Großzü- heitlicher Natur und als Tun- und Ergehenszusam- gigkeit“ (2. Kor 9,11a). Das entsprechende Partizip menhang bekannt: Man erhält/bekommt, was man (ploutizomenoi) ist passiv. Die Großzügigkeit ver- gegeben hat. Man gibt, um zu erhalten. Diese dankt sich mit anderen Worten nicht dem eigenen Tauschlogik des „do ut des“ bildet die Grundlage der menschlichen Vermögen, sondern Gott. Seine Gabe Ökonomie. Es geht um eine Strategie, „reich“ zu wer- löst Großzügigkeit aus und diese bewirkt wiederum den. Doch Paulus stellt sofort zugunsten einer Gabe- indirekt Danksagung bei Gott. Paulus spricht be- logik klar, dass er dieser Tauschlogik nicht einfach zeichnenderweise von „Großzügigkeit, die durch uns folgt: „Jeder möge geben, wie er es sich in seinem Danksagung bei Gott schafft“ (2. Kor 9,11b). Hier Herzen vorgenommen hat, nicht widerwillig und wird eine zirkuläre Struktur erkennbar. Es geht also nicht gezwungenermaßen. Denn einen fröhlichen um die Gabe zugunsten der Bedürftigen, wodurch Geber hat Gott lieb“ (2. Kor 9,7). Am Ende seiner Gott zugleich für seine Gabe Dank gesagt wird.4 So Kollektenausführungen dankt Paulus Gott: „für seine kehrt die Gabe gleichsam zu Gott als dem Geber zu- 5
rück. Der Segen Gottes, der sich gleichsam auf Rei- weist sich als überfließend durch viele Danksagung an sen begab, findet den Weg zurück zu seinem initialen Gott“. Dieses Motiv des Überfließens9 zieht sich quer Ausgangspunkt, freilich nicht ohne die Bedürftigen durch den gesamten 2. Korintherbrief,10 taucht aber beschenkt und bereichert zu haben. Gottes Segen verdichtet als bestimmendes Motiv in den Kollekten- ging auf die Reise. Der Mensch wird geh-segnet. kapiteln auf.11 Victor P. Furnish hat anschaulich vom „Gabe“ ist, wie in den Kollektenkapiteln des 2. Ko- „spillover“-Effekt12 gesprochen. Demnach ist die Gna- rintherbriefes deutlich wird, nicht nur ein urmenschli- de (charis) – und als Gnadengabe versteht Paulus die ches Geschehen, das Marcel Mauss in archaischen Kollekte – als eine von Gott ausgehende Bewegung zu Gesellschaften als ein „System der totalen Leistungen“5 begreifen, die den Menschen erfasst, verwandelt, ihn vorgefunden und ethnologisch bzw. soziologisch um- zu einem neuen Verhalten seinem Mitmenschen schrieben hat, sondern auch ein „Urwort der Theolo- gegenüber treibt und schließlich als Dank wieder zu gie“6. Es gehört zur story Gottes und ist dort fest ein- Gott zurückkehrt (2. Kor 9,15).13 Die Korinther sind gebettet. Gerade als von Gott gegebene Gabe entzieht demnach ebenso wenig wie die Jerusalemer die End- sie sich der Tauschlogik. Eine theologische Ethik der verbraucher der Gnade Gottes.14 Treffend umschreibt Gabe, die schöpfungstheologisch7 den Ausgang bei der Magdalene L. Frettlöh die sich manifestierende Zirkel- hochsuggestiven Frage des Paulus nimmt: „Was hast struktur: „[D]ie Kollekte der korinthischen Gemeinde du, das du nicht empfangen hättest“ (1. Kor 4,7), ist im für die Heiligen in Jerusalem gründet in der göttlichen Licht der beiden Kollektenkapitel des 2. Korinther- Vorgabe, in seiner überströmenden charis, die als briefes betrachtet eine Fülle-Ethik.8 Ergebnis des zwischengemeindlichen Gebens und Nehmens in Gestalt der eucharistia zu ihm zurück- 3. EIN LEBEN IM ÜBERFLUSS kommt. Gott empfängt in der eu-charistia seine eigene Die Gabe-Ethik als Fülle-Ethik entspringt gerade- Gabe anmutig wieder. Wie die Korinther*innen mit zu dem Motiv des Überfließens (perisseuein), zumal ihren Spenden geben, was nicht ihnen, sondern Gott das Überfließen aus der empfangenen Fülle resultiert. gehört, so kann auch die Jerusalemer Gemeinde mit Der Begriff wird im Sinne eines Signalwortes dreimal ihren Dankgebeten Gott nichts geben, was er nicht be- in unserem Text gebraucht; zweimal in 2. Kor 9,8: reits hat.“15 „Gott aber hat die Kraft, euch jede Gnade überfließend zu geben, damit ihr in jeder Hinsicht allezeit ein gutes 4. DIE GNADEN-GABE UND GOTTES GEBENDES Auskommen habt und überfließend seid zu jedem gu- NEHMEN ten Werk“ und einmal in 2. Kor 9,12: „Die Durchfüh- Was die Rollenkonstellation des Miteinanders (der rung dieses (vor Gott verrichteten) Dienstes […] er- cooperatio) von göttlichem und menschlichem Geben 6
betrifft, lässt sich festhalten: „Die unterschiedliche Rolle Gottes und der Menschen im wechselseitigen Gebeereignis […] besteht nicht darin, dass dem ge- 1. Zit. nach Hartmut Ruddies, Hans-Georg-Geyer: Leben und Werk. Ein Portrait in Pers- benden Gott (der in seiner Selbstgenügsamkeit eines pektive, in: Katharina von Bremen (Hg.), Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße Nehmens gar nicht bedürfe) die empfangenden Men- Hans-Georg Geyers, Schwerte-Villigst 2008, (9–24) 23. 2. Zu Anlass, Kontext und Durchführung der Kollektenvereinbarung vgl. Dieter Sänger, schen gegenüberstehen; vielmehr gibt es auf beiden „Jetzt aber führt auch das Tun zu Ende“ (2. Kor 8,11). Die korinthische Gemeinde und Seiten Geben und Nehmen – aber in genau umge- die Kollekte für Jerusalem, in: ders. (Hg.), Der zweite Korintherbrief. Literarische Ge- stalt – historische Situation – theologische Argumentation. FS Dietrich-Alex Koch kehrter Reihenfolge: Gott gibt und nimmt; sein Neh- (FRLANT 250), Göttingen 2012, 257–282. men ist immer zugleich ein gebendes Nehmen. Die 3. Die Tauschlogik hat der französische Ethnologe und Soziologe Marcel Mauss (Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften [stw 743], Menschen nehmen und geben; ihr Geben ist nicht Frankfurt a.M. 31996) dargelegt. anders denn als nehmendes Geben möglich. So ist 4. Dieter Kuhli verdanke ich den Hinweis auf Rudolf Bohrens (Predigtlehre, München wohl auch jene schroff wirkende Liedzeile von Cor- 31974, 76; vgl. ders., Daß Gott schön werde. Praktische Theologie als Ästhetik, Mün- chen 1975, 67ff.) Rede von der „theonomen Reziprozität“, der „gottgesetzten Wechsel- nelius Fr. A. Krummacher: ‚... nichts hab ich zu brin- seitigkeit und Gegenseitigkeit“, die näher auf strukturelle Entsprechung zum paulini- gen, alles, Herr, bist du!‘ (EG 407,3) nicht so zu ver- schen Zirkularverständnis zu untersuchen wäre. 5. Mauss, Gabe, 22 u.ö. stehen, dass Menschen Gott gar nichts geben können, 6. Oswald Bayer, Art. Gabe II. Systematisch-theologisch, in: RGG 3, Tübingen 42000, sondern dass sie ihm nur das bringen können, was sie (445f.) 445. 7. Dies betont vor allem Oswald Bayer, Ethik der Gabe, in: Veronika Hoffmann (Hg.), Die zuvor von ihm entgegengenommen haben, dass das, Gabe. Ein „Urwort“ der Theologie?, Frankfurt a.M. 2009, 99–123; Bayer, Freiheit als was sie ihm geben, seine Gaben sind und bleiben.“16 Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, bes. 13–19. Die „Gnade Gottes“ bildet als textstrukturelle In- 8. Vgl. Bernd Wannenwetsch, Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenbürger, Stuttgart u.a. 1997, 320. klusion um die Kollektenkapitel (2. Kor 8,1; 9,14) 9. Statt vom „Durchbruch der Gnade“ wäre im Blick auf die Erweckungsbewegung pauli- diese zirkuläre Struktur gleichsam ab. Paulus sieht in nisch sachgemäßer vom „Überfließen der Gnade“ zu reden. Vgl. Jakob Schmitt, Die Gnade bricht durch. Aus der Geschichte der Erweckungsbewegung im Siegerland, Witt- der Gabe der Korinther die Gnade Gottes, die er genstein und den angrenzenden Gebieten, Gießen 1984 (Nachdruck der 3. Aufl. von ebenfalls als Gabe versteht, zu ihrem Ziel kommen: 1958). 10. Vgl. Ulrich Schmidt, „Nicht vergeblich empfangen“! Eine Untersuchung zum 2. Korin- „[D]ie Kollekte ist als eine Konkretion der göttlichen therbrief als Beitrag zur Frage nach der paulinischen Einschätzung des Handelns charis zu verstehen. Die empfangene Gnade drängt (BWANT 162), Stuttgart 2004, 38; 46. über die Empfänger hinaus in Richtung Dritter.“17 11. Dies hat Schmidt, a.a.O., 142–145, gezeigt. 12. Vgl. Victor P. Furnish, II Corinthians, Anchor Bible 32A, New York u.a. 1984, 118. Negativ gewendet, bedeutet dies hinsichtlich eines 13. Vgl. Schmidt, a.a.O., 140. Siehe auch a.a.O., 141, die Grafik zu dieser kreisförmigen Fi- Ausbleibens des entsprechenden Verhaltens: „Im Aus- gur als Grundstruktur der charis. 14. Zur ökumenischen Bedeutung der Gabetheologie siehe Martin Hailer, Gift Exchange. bleiben einer Öffnung für andere bzw. einer Zuwen- Issues in Ecumenical Theology, Beihefte zur ÖR 124, Leipzig 2019. dung zu anderen Menschen, wie es bei den Korin- 15. Magdalene L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe. Beobachtungen zur Gaben- theologie der paulinischen Kollekte für Jerusalem, in: Jabboq 1 (2001), (105–161) 142. thern diagnostiziert wird, sieht Paulus ein Anzeichen 16. A.a.O., 141. Auch Oswald Bayer (Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007, 189) betont dafür, dass die Gnade sich nicht durchgesetzt hat. Sie hinsichtlich der für eine Ethik der Gabe konstitutive Reihenfolge, dass es dabei bleibt, kam nicht zum Durchbruch, sondern zum Erliegen! – „daß Gott gibt und nimmt, währen die Geschöpfe nehmen und geben.“ 17. Schmidt, a.a.O., 139. Pointiert gesagt: Handeln hat wohl keine rechtferti- 18. A.a.O., 249. Vgl. a.a.O., 124f. gende Wirkung, aber Nichthandeln eine nichtende, 19. Erich Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther: Kapitel 8,1–13,13 (ÖTK 8/2), Güters- loh 2005, 30. denn wo sich kein verändertes Verhalten zeigt, da ist 20. Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen / Zürich 1986, 318. die Gnade nicht übergeflossen, sondern versandet – Hervorhebung: M.H. 21. Ebd. da ist die Gnade eis kenon [vergeblich; 2. Kor 6,1] 22. Gräßer, ÖTK 8/2, 30. empfangen worden!“18 23. Lang, NTD 7, 319. Vgl. auch a.a.O., 320. 5. „EINEN FRÖHLICHEN GEBER HAT GOTT LIEB“ Bei aller theologischen Emphase, die Paulus an empfiehlt: „Jeder möge geben, wie er es sich in seinem den Tag legt und die durchaus auch zum Mittel der Herzen vorgenommen hat, nicht widerwillig und „verdeckte[n] Aufforderung zur Spende“19 greift, nicht gezwungenermaßen. Denn einen fröhlichen bleibt es freilich bei der Freiwilligkeit. So kann Paulus Geber hat Gott lieb“ (2. Kor 9,7). Dem entspricht, bezeugen, „daß die mazedonischen Gemeinden nach dass Paulus entgegen möglicher freiheitsnichtender Kräften, ja sogar über ihre Kräfte freiwillig gespendet Überreglementierung die Höhe der von einzelnen haben.“20 Zudem befiehlt Paulus nicht: „Ich sage das Christ*innen aus Korinth entrichteten Kollekte nicht nicht als Befehl, sondern um durch die Spendenfreu- festlegt (2. Kor 9,7). « digkeit anderer die Echtheit auch eurer Liebe zu prü- fen“ (2. Kor 8,8. Da Paulus die Kollekte als „Auswir- kung der Gnade Gottes“21 versteht, wäre es – im Vertrauen auf deren Wirkkraft – kontraindiziert, zum Befehlston zu greifen und den Korinthern die Kollek- te als ihre Pflicht oder als ein Gebot aufzuerlegen: „Paulus ist es wichtig, dass er nicht ‚gemäß einem Ge- bot‘ (die Wendung auch 1. Kor 7,6), also nicht als DER AUTOR Befehlsgeber redet, weil eine befohlene Kollekte de- ren Charakter als charis, als Gnadenwerk, aufheben Prof. Dr. Marco Hofheinz stammt aus würde.“22 Die Gabe soll freiwillige Gabe sein, ansons- Südwestfalen. Der 48jährige lehrt seit 2012 ten kontaminiert sie: „Die Gabe soll nicht erzwungen Systematische Theologie mit dem Schwer- sein, sondern freiwillig und von Herzen kommen; nur punkt Ethik an der Leibniz Universität so ist sie Wirkung der Gnade.“23 Mit der von Paulus Hannover. Er ist verheiratet und Vater von akzentuierten Freiwilligkeit koinzidiert die Fröhlich- vier Kindern. bzw. Heiterkeit, die Paulus mit Spr 22,8a Septuaginta 7
ENTWICKLUNGS - ZUSAMMENARBEIT WEIL WOHLSTAND VERPFLICHTET UND UNS ALLEN ZUGUTEKOMMT Gerd Müller V or Corona waren täglich sieben Millio- nen Menschen mit dem Flugzeug unter- wegs. Menschen, Güter, Dienstleistungen, Kapital und Wissen reisten in immer größe- rer Menge und Geschwindigkeit um die Welt. 8
Während der Corona-Krise haben wir manche Fehlentwicklungen Corona ist ein Weckruf. Eine globale Gesundheitskrise wuchs der letzten Jahrzehnte erkannt: Die Produktion ist immer weiter sich aus zur Mehrfachkrise: Sie gefährdet weltweit Gesundheit und verästelt – auf der Suche nach dem billigsten Anbieter und unter wirft wirtschaftliche Entwicklung, Privat- und Staatshaushalte um Umgehung aller Sozialstandards und Umweltauflagen. Zurzeit ar- Jahre zurück. Sie verstärkt Ungleichheit in ärmeren Ländern und beiten nach Auskunft der Internationalen Arbeitsorganisation ILO macht viele Entwicklungsfortschritte zunichte. weltweit 80 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen: Beim Wiederaufbau muss Nachhaltigkeit unser Leitbild in der in Steinbrüchen, in Coltan-, Kobalt- oder Kupferminen, in Textilfa- Globalisierung sein – ein Weiter-so ist selbstzerstörerisch: Durch briken oder auf Kakao- und Kaffeeplantagen – für unsere Grabstei- unseren aktuellen Konsum- und Lebensstil verbrauchen wir allein ne, für unsere Mobiltelefone, für unsere Jeans, für unsere Schokola- drei Erden – mehr Ressourcen, als die Erde je wieder aufbauen de. Das ist ein unglaublicher Skandal! kann. Wir befeuern den Klimawandel, zerstören die Artenvielfalt In diese „Normalität“ der Globalisierung dürfen wir nach Corona und erhöhen das Risiko für künftige Pandemien. nicht zurückfallen. Was in Deutschland und in Europa verkauft Beginnen wir am besten gleich bei uns: Brauchen wir tatsächlich wird, muss Mindeststandards genügen: auch wenn die Ware in so jedes Jahr ein neues Mobiltelefon? Wollen wir tatsächlich Fastfa- genannten Billiglohnländern und in Entwicklungsländern herge- shion verantworten, die Millionen Frauen und Mädchen unter noch stellt worden ist! immer untragbaren Bedingungen für einen Hungerlohn nähen? Die Evangelische Kirche ist hier einer meiner wichtigsten Ver- Müssen wir täglich billige Nahrungsmittel verzehren, für deren Pro- bündeten im Ringen um das deutsche Lieferkettengesetz. Sie hat duktion alle zwei Sekunden die Fläche eines Fußballfeldes abge- sich sehr eingesetzt für dieses Gesetz, das menschenrechtliche, sozi- holzt, Gewässer und Böden mit Düngemitteln verseucht oder Tiere ale und ökologische Sorgfaltspflichten klar benennt: Das ist gelebte auf engstem Raum gehalten werden? Müssen wir alles in Plastik ver- christliche Verantwortung und Merkmal moderner Entwicklungszu- packen, bis dieser Müll im Meer versenkt wird und dort das Leben sammenarbeit. von Pflanzen und Tieren bedroht? Ohnehin hat Entwicklungszusammenarbeit die klassische Ent- Die Vereinten Nationen haben sich in ihrer Agenda 2030 auf 17 wicklungshilfe längst abgelöst: Partnerschaft statt Patenschaft. Wir Nachhaltigkeitsziele und den Pariser Weltklimavertrag verpflichtet. organisieren Partnerschaften auf Augenhöhe, weil wir mit Fürsorge Heißt: Alle Menschen haben das Recht auf ein Leben in Würde allein nicht Entwicklung fördern können. und Selbstbestimmung auf einem gesunden Planeten. Heißt auch: Beispiel Afrika: Ich habe den Marshallplan mit Afrika ins Leben Wissen und Knowhow solidarisch zu teilen, um gezielt in Klima- gerufen, weil unser Nachbarkontinent der Chancenkontinent der schutz zu investieren. Zukunft ist. 2050 werden dort 2,5 Milliarden Menschen leben, dort Schon Paulus wusste, dass Solidarität nicht nur ein Gebot der wächst die größte Jugendgeneration der Welt heran. Junge Men- Humanität ist: „Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur schen, die Jobs brauchen und Entwicklungschancen – allein dort Speise, der wird [auch euch] euren Samen geben und ihn mehren braucht es 20 Millionen Jobs pro Jahr! Das geht nur, wenn auch die und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit.“ (2. Kor 9, 10). Privatwirtschaft das Potenzial erkennt und auf ihre Art in Entwick- Solidarität also ist eine Frage von wohlverstandenem Eigennutz in lung investiert – dazu bieten wir passgenau Unterstützung und Bera- Einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt und es auf jeden tung. Einzelnen ankommt. Jetzt. Heute. « Wenn wir Industrieländer heute darin investieren, Afrika zum Grünen Kontinent der Erneuerbaren Energien zu machen, können wir zudem die Energie- und die Klimakrise zu unser aller Nutzen lösen! Mit Wind, Solar und Wasserstoff kann dort ein wichtiger Energiemarkt entstehen. Und wir schaffen dort Ausbildungs- und Arbeitsplätze – das beste Signal an die junge afrikanische Generati- on, Zukunft und Perspektiven in ihrer Heimat finden zu können. Weltweit werden 2050 rund 10 Milliarden Menschen leben: Wie versorgen wir sie mit Energie, mit Nahrung? Auch in der Landwirt- schaft setzen wir auf Partnerschaften, auf Zusammenarbeit mit dem Ziel, eine grüne Agrarrevolution zu starten. Denn wir wissen: Eine Welt ohne Hunger ist möglich! Die Staatengemeinschaft kostet das auf einer Strecke von 10 Jahren 30 Milliarden Euro p. a. – jüngste Studien haben das wieder bestätigt. Mutter Erde ist in der Lage, alle Menschen satt zu machen: Wenn wir in Agrar-Innovationen inves- tieren und die Produktivität ressourcenschonend erhöhen, können wir den Hunger in der Welt binnen 10 Jahren besiegen. Seit fast 60 Jahren kooperiert die Evangelische Kirche in Deutschland mit unserem Ministerium für eine gerechtere, friedli- chere und nachhaltige Welt. Gemeinsam haben wir erreicht, dass DER AUTOR die Lebenserwartung der Menschen weltweit stieg, die Mütter- und Kindersterblichkeit zurückging sowie mehr Kinder und Jugendliche Dr. Gerd Müller ist seit 1994 Mitglied des Bun- eine Schule besuchen konnten. destages und war bis 2005 außen- und europa- Aktuell trifft Corona die Ärmsten und Schwächsten am härtes- politischer Sprecher der CSU-Landesgruppe. Von ten. Werte wie Verantwortung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Soli- 2005 bis 2013 war er Parlamentarischer Staatsse- darität und Frieden sind für Christen wegweisend: Die Starken hel- kretär bei der Bundesministerin für Ernährung, fen den Schwachen. Denn meist sind die Starken nur stark, weil sie Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Seit De- Chancen hatten, die andere nicht haben: Bildung, ein Leben in zember 2013 ist Dr. Gerd Müller Bundesminister Sicherheit, mit Rechten und Möglichkeiten, sich Wohlstand zu er- für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- arbeiten. lung (BMZ). 9
BRAUCHT ES NOCH DEN SEGEN? EIN STREITGESPRÄCH ZWISCHEN MAREN HEINCKE UND NICK LIN-HI Moderiert von Ricarda Rabe steigenden Wohlstandsniveau heißt das, dass die Nachfrage nach Fleisch deutlich zuneh- men wird. Von heute bis 2050 müssen wir mindestens mit einer 60 % höheren Fleisch- nachfrage rechnen, vermutlich eher in Rich- tung 100 % gehend. Mit dem heutigen Er- nährungssystem ist aber das Ziel, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, nicht möglich. Der Markt macht es auf der einen Seite schwierig, Umweltziele zu erreichen, auf der anderen Seite brauchen wir aber auch Markt- mechanismen in der Landwirtschaft, um im- mer mehr Menschen versorgen zu können. Wir brauchen jetzt disruptive Innovationen, technische Lösungen für ein nachhaltiges Er- nährungssystem. Heincke: An dem Punkt Marktversagen sind wir sehr nah beieinander. Die Land- wirtschaft spielt in der Frage des Erhalts der Menschheit eine herausragende Rolle. Landwirtschaft ist ein hochkomplexes Sys- tem, sehr stark von Naturphänomenen ab- hängig. Dazu kommt die ganze Frage der Globalisierung der Agrarmärkte. Durch die Rahmenbedingungen, die die Europäische Agrarpolitik seit über 50 Jahren gesetzt hat, ist die Frage Freier Markt in diesem Bereich überhaupt nicht gegeben. Rabe: Mahatma Gandhi sagt: „Die teresse nicht denkbar. Und Märkte wiederum Wir haben eine extrem heterogene Situation Welt hat genug für jedermanns können gezielt in den Dienst der Gesell- und ganz viele Landwirtschaftssysteme Bedürfnisse, aber nicht für jeder- schaft gestellt werden. Aber: Es gibt auch nebeneinander. Und wir haben diese essen- manns Gier.“ Und der Apostel Paulus Bereiche, da funktioniert dies nicht und tielle Frage: Wie bekommen wir alle Men- sagt: „Wer da sät im Segen, der wird Märkte drohen zu versagen, etwa in Berei- schen in einer guten Qualität satt, damit sie auch ernten im Segen.“ Aber braucht chen der Daseinsvorsorge oder auch bei der ihre Kräfte entfalten können, damit sie es eigentlich in unserer technisierten Renten- und Krankenversicherung. nicht immer nur darum kämpfen müssen, Welt noch so was wie den Segen? Auch im Agrarsektor stößt der Markt an zu überleben, damit sie ihren Geist entfalten Grenzen. Die Erzeugung von Nahrungsmit- können, damit ihre Kinder keine Mangeler- Lin-Hi: Was ich nicht teile: Da ist Gott, da teln im heutigen System geht mit massiven nährung haben, damit Menschen in Würde ist die Moral, da ist das Gute – und da ist die negativen externen Effekten einher. Unge- leben können. Ich glaube, dass da die neuen Wirtschaft, da ist die Gier. Der Begriff Gier fähr ein Drittel sämtlicher menschgemachter technologischen Lösungen nur ein Baustein ist ja negativ besetzt und eigentlich führt er Klimaemissionen sind auf unser Ernährungs- sind, dass wir tatsächlich eine Vielzahl von hier in eine falsche Richtung. Gier ist eine, system zurückzuführen. Davon wiederum Lösungsansätzen brauchen. wenn auch keine sympathische Form des entfällt die Hälfte auf die Nutzierhaltung. Eigeninteresses und es ist nicht sinnvoll, die- Und das Problem wird sich weiter verschär- Lin-Hi: Ich bin in der Problemanalyse kom- ses gegen gesellschaftliche Interessen in Stel- fen: 2050 werden knapp 10 Mrd. Menschen plett bei Ihnen. So wie jetzt, so geht es nicht lung zu bringen. Märkte sind ohne Eigenin- auf dieser Erde leben. Zusammen mit einem weiter und wir müssen dringend das Ruder 10
herumreißen. Aber angesichts von drohen- Naturräume nicht übernutzen, die aber Gerade in der Landwirtschaft: Wir können den Kipppunkten ist das Zeitfenster hierfür trotzdem der menschlichen Ernährung die- vieles tun und ausprobieren. Das entspricht nicht mehr allzu lange offen. Natürlich nen. In Teilen kann die Tierhaltung sogar der aktiven Haltung, die ein Landwirt hat. könnte jetzt der Mensch sagen, er übt sich positiv für die Renaturierung der naturna- Wir wissen aber trotzdem, das eigentliche in Verzicht und lebt innerhalb der planeta- hen Ökosysteme sowie für die Biodiversi- Leben, das eigentliche Wachsen hängt noch ren Grenzen. Die Erfahrung zeigt aber, dass tätsförderung sein. In den westlichen Indus- von etwas Anderem ab. er das eben nicht tun wird. Aus diesem trieländern werden wir eine deutliche Grund sehe ich technologische Lösungen Reduktion des Fleischkonsums erleben, eine Lin-Hi: Hier zeigen sich verschiedene Hin- als die Option mit den größten Erfolgs- Rückkehr zum Sonntagsbraten. Das ist auch tergrundkonzepte über das Sein. Ich sehe vor chancen. Ohne Innovationen werden wir es ein Gewinn für die Gesundheit, für die allem die gesellschaftliche Relevanz und das nicht schaffen, die Erde als Lebensgrundla- Wertschätzung des Fleisches. Und es be- Potenzial von neuen Technologien. Wenn ge zu erhalten. wirkt eine höhere Sensibilität für das Tier- man so will, betrachte ich die Zukunft durch wohl. In anderen Weltregionen wird im eine rationale, wissenschaftliche Brille. Und Rabe: Herr Lin-Hi, wenn ich Sie rich- Sinne einer nachhaltigen Landwirtschaft die ich glaube, als Gesellschaft tun wir gut daran, tig verstanden habe, haben Sie eine Tierhaltung weiterhin gebraucht werden. der Wissenschaft mehr zu vertrauen. Wir große Faszination für die In-Vitro- müssen das bereits deswegen tun, weil die Fleischproduktion, die nicht mehr da- Rabe: Und das Ganze braucht die De- Zukunft nicht aufzuhalten ist. Aber wenn von abhängig ist, dass ich ein Tier mut des Menschen, und es braucht wir sie verstehen, dann können wir sie positiv schlachte. Was ich dann nicht mehr auch den Segen von Gott. gestalten. Als Gesellschaft müssen wir uns habe, ist die ethische Herausforde- Heincke: Vielleicht liegt auf verschiedenen mit dem Neuen auseinandersetzen und wir rung, es zu verantworten, dass ich ei- Konzepten ein Segen. Auch Technologie und müssen Wege finden, die Menschen mitzu- nem Lebewesen das Leben nehme. Wissenschaft und der menschliche Geist nehmen, die weniger Vertrauen in Technolo- sind ein Segen. Und auch diese Suchbewe- gie haben. Hier brauchen wir Narrative, die Lin-Hi: Richtig, das Fleisch der Zukunft gungen. Der Homo sapiens ist eben beides: eine gemeinsame Basis schaffen und neuen wird im Labor erzeugt und damit entfällt die Er ist der sapiens, also derjenige, der etwas Technologien einen tieferen Sinn geben. « Problematik der heutigen Fleischproduktion. kann, etwas will und sich weiterentwickelt. Das Faszinierende bei dem neuen Fleisch ist, Der Technologie, Technik und Naturwissen- Pastorin Ricarda Rabe arbeitet als Re- dass es das gleiche Produkt ist, was wir heute schaften nutzt. Der Mensch ist aber auch ferentin für Kirche und Landwirtschaft in kennen. Nur der Produktionsweg ist ein an- einfach ein Teil der Natur. Der Mensch der Evangelisch-Lutherischen Kirche derer. Die Erzeugung von Fleisch außerhalb überschätzt sich. Das zeigt die Menschheits- Hannovers. Sie ist Vorsitzende des EDL vom Tier ist ein riesiger Schritt auf dem Weg geschichte. Hier ist mehr Demut angebracht. in der EKD. zu einem nachhaltigen Ernährungssystem. Wir reden hier davon, dass sich Klimaemis- sionen, Wasserbedarf und Landverbrauch im Optimalfall in Größenordnung von 90 % re- duzieren lassen. Zudem ist die Erzeugung von kultiviertem Fleisch unabhängig von ex- ternen Faktoren wie Wetter und Klimabe- dingungen. Damit leistet es einen Beitrag zur Nahrungssicherheit in Zeiten des Klimawan- dels. Kultiviertes Fleisch ist ein Meilenstein in der Menschheitsgeschichte. Heincke: Klar, durch die Entkoppelung von den Außenphänomenen in geschlosse- nen Systemen würde man sich frei machen von den starken Außenfaktoren. Aus mei- ner Sicht ist das jedoch bloß eine Insellö- DR. MAREN HEINCKE (DIPL.-ING. AGR.) PROF. DR. NICK LIN-HI sung, weil sie sehr kapital- und hochtechno- ist seit 2003 Referentin für den ländli- ist Inhaber der Professur für Wirtschaft logieintensiv ist. Bis jetzt ist das wirklich chen Raum im Zentrum Gesellschaftli- und Ethik an der Universität Vechta. Er nur Etwas für den Luxuskonsumenten. Was che Verantwortung bei der Evangeli- promovierte an der HHL Leipzig Gra- ich für zukunftsfähig halte, ist eine regional schen Kirche in Hessen und Nassau duate School of Management und war oder national angepasste Nutztierhaltung. und Mitglied der Kammer für nachhalti- von 2009 bis 2015 Juniorprofessor für Ungefähr 2/3 der Weltagrarflächen sind ge Entwicklung in der EKD. Corporate Social Responsibility (CSR) Grasland, permanentes Grünland, das nicht Die Kammer für nachhaltige Entwick- an der Universität Mannheim. Mit sei- geeignet ist, zu Äckern umgebrochen zu lung der EKD ist interdisziplinär zu- ner Arbeit adressiert der Unterneh- werden, z.B. natürliche Savannenstandorte. sammengesetzt und befasst sich vor mensethiker und Strategieforscher die Die Menschen dort haben derzeit das Prob- allem mit entwicklungspolitischen und Schnittstellen zwischen Verhaltenspsy- lem der Übernutzung dieser Grünlandflä- umweltpolitischen Themen. Agrar- chologie, disruptiven Innovationen und chen, zu hohe Viehbesatzdichten, keine und Ernährungsfragen werden regel- Nachhaltigkeit. ordentliche Wasserversorgung und Tierseu- mäßig in der Kammer behandelt. chen. Aber schon mit dem heutigen Wissen besteht die Möglichkeit, resilientere Tier- haltungssysteme aufzubauen, die diese 11
VAMPIRFLEDERMÄUSE BLUTSAUGER MIT SOZIALER ADER Mario Ludwig 12
DER AUTOR Dr. Mario Ludwig ist Diplombiologe und Experte für Verblüffendes aus der Tierwelt. Er ist Sachbuchautor zahlreicher Bücher. Weitere Infos unter: https://mario-ludwig.de IM BREMEN-ZWEI-WISSENS-PODCAST „WIE DIE TIERE“ suchen Dr. Mario Ludwig und der Journalist Daniel Kähler das Tierreich nach Menschli- chem ab und finden dabei Naturwunder, kuri- ose Tierarten und Herzerwärmendes. Zu fin- den ist der Podcast u.a. in der ARD Audiothek: https://www.ardaudiothek.de/ wie-die-tiere/76488266 G elebte Solidarität gibt es auch im Tierreich. Und zwei aufeinanderfolgende Nächte ohne Blutmahlzeit bleiben muss. zwar ausgerechnet bei Tieren, bei denen es nun Will heißen, ohne ein gegenseitiges „Blutspenden“ würde ein hoher wirklich niemand erwarten würde: Vampirfleder- Prozentsatz der erwachsenen Vampirfledermäuse zu Grunde gehen. mäusen, kleinen blutsaugenden Fledermäusen, die Erschwerend kommt hinzu, dass die Fortpflanzungsrate bei Vampir- in Südamerika zuhause sind. Neueren wissen- fledermäusen äußerst gering ist, da die Weibchen nur alle 9-10 Mo- schaftlichen Erkenntnissen zufolge, haben Vampirfledermäuse trotz nate ein einzelnes Junges gebären. ihres schlechten Rufs, erstaunlicherweise auch eine ausgesprochen Nach Beobachtungen von Wissenschaftlern ist diese soziale Füt- soziale Ader. Diejenigen Exemplare der blutsaugenden Flattertiere, terung jedoch ein Geschäft auf Gegenseitigkeit und enthält sogar die bei der Jagd erfolgreich gewesen waren, füttern nämlich aus ih- eine Sicherung gegen faule Betrüger: Geholfen wird nämlich nur rem Blutvorrat im Magen stets auch hungernde Artgenossen der ei- Artgenossen, von denen der Spender später – wenn er selbst einmal genen Fledermauskolonie, die beim nächtlichen Beuteflug leer aus- nicht zu einer Blutmahlzeit gekommen ist – seinerseits Hilfe erwar- gegangen sind. Dieses hochentwickelte und bei Säugetieren äußerst ten kann. Will heißen: Auch bei Vampirfledermäusen erfreut sich seltene Sozialverhalten ist für das Überleben der Kolonie extrem Schnorren nicht gerade einer übermäßigen Beliebtheit. « wichtig, da eine Vampirfledermaus stirbt, wenn sie über mehr als 13
SOLIDARITÄT IN DER ÖKONOMIE Hans Diefenbacher D ie hier gewählte Überschrift mutet anachronistisch an. „Konkurrenz“ und „Wettbewerb“ sind die dominanten und von der ganz überwiegenden Zahl von Menschen positiv besetzten Leitbegriffe der Marktwirtschaft. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob man es gerade mit einer neoliberalen Spielart oder mit einer Variante der sozialen Marktwirtschaft zu tun hat. Die Verheißung des Wohlergehens für alle geht dabei häufig auch noch mit dem Ziel des Wirtschaftswachstums einher. So hatten im März 2000 die Staats- und Re- gierungschefs der EU im so genannten Lissabonner Vertrag weitgehend unwidersprochen beschlossen, die Europäische Union bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, in dem ein „dau- erhaftes Wirtschaftswachstum“ erzielt wird.1 14
Seit der Grundlegung der Marktwirtschaft durch „strategische Handlungsweisen“ an, über die Unter- die politische Ökonomie von Adam Smith haben sich nehmen einer solidarischen und gemeinwesenorien- durchaus positive Funktionen des Wettbewerbs er- tierten Ökonomie definiert werden können:6 1. Europäischer Rat (Hrsg.) wiesen. Er ermöglicht den Wirtschaftssubjekten weit- » Eigentum soll es nur geben, wenn das Produktions- (2000): Schlussfolgerungen gehende Handlungsfreiheit. Wettbewerb trägt zur mittel selbst genutzt wird; Eigentum an Grund und des Vorsitzes, Lissabon, 23./24.3.2000, URL: ww- Leistungsgerechtigkeit bei und führt in Verbindung Boden soll nur die Form von Nutzungsrechten an- w.europaparl.europa.eu/sum- mit dem Markt zum angemessenen Einsatz knapper nehmen; mits/lis1_de.htm 2. Vgl. z.B. Herdzina, Klaus Ressourcen, denn was nicht verkauft werden kann, » das Handeln soll sich am Bedarf orientieren und (1999): Wettbewerbspolitik, wird langfristig auch nicht produziert. Schließlich nicht primär an Profiten; 5. Aufl. Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 32. kann Wettbewerb zu einer Beschleunigung des tech- » die Verwendung von Gewinnen soll ausschließlich 3. Hayek, Friedrich A. v. nischen Fortschritts führen.2 Karl Friedrich von dem Gemeinwesen zukommen; (1968): Der Wettbewerb als Hayek hat in dieser Hinsicht dem Wettbewerb die » in einer demokratischen Unternehmenskultur mit Entdeckungsverfahren. Kiel: Institut für Weltwirtschaft. Funktion eines „Entdeckungsverfahrens“ zugespro- Stimmrecht soll ausschließlich das Prinzip gelten: 4. Landauer, Gustav chen.3 one person, one vote; (1913/2010): „Die drei Flug- blätter des sozialistischen Aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass es » Genossenschaften oder Kooperativen sollen in das Bundes“, in: Ausgewählte bei „Konkurrenz“ und „Wettbewerb“ nicht nur ein Gemeinwesen sozial eingebunden sein. Schriften, Bd. 3.1: Antipoli- tik. Lich: Edition AV, S. Zuwenig, sondern auch ein Zuviel geben kann. Da 130 – 145. Vgl. auch Diefen- gibt es zunächst einmal die juristisch sanktionierte Eine solidarische Ökonomie weckt viele Erwar- bacher, Hans/Rodenhäuser Form des „unlauteren“ Wettbewerbs: Das ist ein wirt- tungen, die sich zum Teil, aber nicht nur, auf die Re- Dorothee: „Konkurrenz: Wie- viel darf ’s denn sein?“ in: schaftlicher Wettbewerb, der gegen das Recht oder paratur der Defekte unserer Wirtschaft richten, die Kirchhoff, Thomas (Hrsg.) die guten Sitten verstößt und für den ein eigenes Ge- der Kapitalismus verursacht hat. Dazu gehört die (2015): Konkurrenz: histori- sche, strukturelle und norma- setz geschaffen wurde, das Übertretungen mit Unter- Hoffung, dass im Rahmen einer solidarischen Öko- tive Perspektiven, Bielefeld: lassungs- und Schadensersatzansprüchen sanktioniert. nomie die Integration sozial ausgegrenzter Menschen Transcript, S. 80. 5. Vgl. dazu ausführlich Douth- Das Vortäuschen von Produkteigenschaften zur Er- sehr viel besser gelingen kann, da auch Arbeitsplätze waite, Richrd/Diefenbacher, zielung höherer Preise würde in diese Kategorie fal- geschaffen werden, die die Produktion und Kapitaler- Hans (1998): Jenseits der len. Eine weitere, schlecht beleumundete Spielart ist träge nicht unbedingt erhöhen, aber dazu beitragen, Globalisierung – Handbuch für eine lokale Ökonomie. der „ruinöse“ Wettbewerb. Im Rahmen einer bewuss- ein gelingendes Arbeitsleben zu ermöglichen. Noch Mainz: Matthias Grünewald ten Strategie verlangen bestimmte Anbieter*innen auf sind Betriebe und Unternehmen der solidarischen Verlang, S, 53 ff. 6. Elsen, Susanne (2007): „Die einem Markt zu niedrige Preise, zu denen sie selbst Ökonomie häufig in Nischen angesiedelt: etwa soziale Ökonomie des nicht produzieren können, um andere Wettbewer- Tauschbörsen, Reparaturcafés, Umsonst- und Unver- Gemeinwesens – eine sozial- politische Entwicklungsaufga- ber*innen zu verdrängen. Nach einer solchen Ver- packtläden, landwirtschaftliche Erzeuger-Verbrau- be“, in: Hochschule München drängungsphase steigen dann natürlich die Preise der cher-Gemeinschaften unterschiedlichster Form. Ein (Hrsg.): Gemeinwesenent- dann herrschenden Anbieter*innen. Aus diesem Teil dieser Bewegung hat sich dem Stichwort der wicklung und lokalen Ökono- mie. Neu-Ulm: AG SPAK Grund ist in allen Marktgesellschaften eine Mono- „Transition Towns“ verschrieben, die sich die Aufga- polgesetzgebung entstanden, die eine zu große Kon- be, einen Beitrag zur Transformation der Ökonomie zentration auf den Märkten verhindern soll. Mit an- als Teil einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu leisten, deren Worten: Wer das „Spiel“ auf den Märkten direkt zum Ziel gesetzt hat. Die Ökonomie hat nach perfektioniert und im Wettbewerb besonders erfolg- ihrer Auffassung eben nicht nur die Maximierung der reich ist, wird am Ende für den Wettbewerb selbst zur Profite der Anteilseigner*innen zum Ziel, sondern die Gefahr. Schaffung einer breiten Palette von Leistungen all der Aber gibt es überhaupt Alternativen? Gustav Lan- Personen, die an ihr teilhaben oder von ihr betroffen dauer hat schon vor über 100 Jahren das Modell einer sind. In dieser Perspektive kann die betriebswirt- Ökonomie der Solidarität in der Praxis beschrieben, schaftliche Rolle eines Unternehmens nicht von sei- die die Ökonomie der Konkurrenz ablösen soll: Nicht ner volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rolle mehr als Lohnarbeiter für den Warenmarkt produzie- getrennt werden. « ren, den Konsum selbst in kleinen selbständigen Gemeinschaften und Genossenschaften organisieren, als weiteren Schritt den Aufbau eines eigenen Bank- und Kreditwesens, schließlich die Übernahme von Grund und Boden durch die Gemeinden.4 Das Leit- bild der gegenseitigen Hilfe soll im Rahmen einer DER AUTOR friedlichen Revolution „ökonomiefähig“ gemacht werden. Deutlich wird schon in der Vision von Land- Hans Diefenbacher, auer, dass solidarische Ökonomie lokal gestaltet wer- geb. 1954 in Mann- den müsste und ihren wichtigen Bezugspunkt in ihrer heim, Studium der Orientierung auf das jeweilige Gemeinwesen hat. Volkswirtschaftslehre Unter einer solidarischen, am Gemeinwesen orien- in Heidelberg und Frei- tierten Ökonomie soll eine Wirtschaftsweise verstan- burg, Promotion und Habilitation in Kassel, apl. den werden, in der die meisten Menschen ihre Pro- Prof. am Alfred-Weber-Institut der Uni Heidel- duktionsmittel entweder selbst oder Anteile davon berg, bis Ende 2019 stellv. Leiter der For- über Genossenschaften oder Kooperativen besitzen, schungsstätte der Evangelischen Studienge- die sie benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu ver- meinschaft in Heidelberg, Beauftragter für dienen.5 Das kann eine Werkstatt sein oder ein Ein- Umweltfragen des Rates der EKD. zelhandelsgeschäft, eine Praxis, ein Bauernhof oder ein Fischerboot. Susanne Elsen gibt fünf Kriterien als 15
SOZIALE ORTE: ÜBERLEBENSNOTWENDIG FÜR SOZIALES MITEINANDER! Claudia Neu B erthold Brecht wusste: „Vertrauen wird dadurch erschöpft, schlagen. Seither sinkt die positive Einschätzung des dass es in Anspruch genommen wird“. So ist es wohl auch gesellschaftlichen Zusammenhalts wieder leicht.1 Aber mit der Solidarität. War die erste Corona-Welle getragen auch hier gilt, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die von Solidarität mit den Älteren, Ärzt*innen und Pflege- durchgängig den Zusammenhalt weniger gut einschät- kräften, so ist davon nach langen Monaten des Lockdowns zen als der Durchschnitt der Befragten. Dies sind vor nahezu nichts mehr zu spüren. Die mahnenden Worte der Intensivpfle- allem Menschen mit niedriger Bildung und geringem ger*innen und -mediziner*innen, dass akute Überlastung der Kranken- Einkommen, Migrantinnen und Migranten, Alleiner- häuser in der dritten Welle drohe, verhallen nahezu ungehört. Erschöpf- ziehende und Alleinlebende. So zeigt sich, dass diejeni- te Eltern von Kindern im KiTa- oder Grundschulalter vermissen die gen, die auch vor der Coronakrise enge soziale Bindun- Solidarität der Gesellschaft, nachdem sie sich monatelang klaglos zwi- gen hatten und einen guten Zusammenhalt erlebten, schen Küchentisch und kleinem Einmaleins aufgerieben haben. Und die die Krise besser meistern und sich weniger einsam füh- bereits Geimpften werden unruhig und verlangen nach mehr Freiheiten len, als die Menschen, die große Zukunftssorgen pla- im Alltagsleben. Mal ganz abgesehen von Corona-Leugner*innen, de- gen. Zudem verschärfen die coronabedingten Belas- nen ohnehin nur ihr eigenes Wohl am Herzen liegt. tungen wie Unterricht zu Hause, fehlende institutionelle Unterstützung und auch Arbeitslosigkeit die Gefahr der sozialen Exklusion. Dies sahen auch die STABILER ZUSAMMENHALT – im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung Befragten im TROTZDEM GEFAHR DER EXKLUSION Frühsommer 2020 selbst so: Knapp die Hälfte (48 Pro- Umfragewerte aus verschiedenen Corona-Wellen zent) glaubten, dass sich die sozialen Unterschiede belegen, dass eine große Mehrheit der Deutschen viel durch Corona vergrößert hätten, zwölf Prozent fürch- Nachbarschaftshilfe und gegenseitige Unterstützung, teten sogar, dass sie sich stark vergrößert hätten. Nur insbesondere in der ersten Pandemie-Welle, erfahren ein Fünftel sah hier eine soziale Annäherung und Ab- hat. Von dieser Art der unmittelbaren Solidarität im schwächung sozialer Unterschiede. Nach der Einschät- Nahraum berichten aber vor allem diejenigen Men- zung gefragt, wie sich die Pandemie auf den Zusam- schen, die auch vor Corona sozial gut eingebunden wa- menhalt vor Ort auswirkt, waren die Interviewten im ren. Das Zusammenhaltsgefühl der Deutschen bleibt Sommer 2020 weniger pessimistisch. Doch auch hier trotz der großen Herausforderungen relativ stabil, hat sah ein Viertel (26 Prozent) eine leichte, fünf Prozent sogar in den Sommermonaten nach der ersten Welle sogar eine starke Verschlechterung des lokalen Zusam- leicht zugenommen, das Gefühl, das Schlimmste ge- menhalts. Ein Zusammenrücken verspürten nur gut 10 meinsam gemeistert zu haben, dürfte sich hier nieder- Prozent (Abb. 1). Immer deutlicher 5 wird, dass die Corona- Krise alle Menschen be- ABBILDUNG 1: 12 trifft, die meisten wohl 26 auch belastet – aber eben Entwicklung gesell- stark vergrößert nicht alle gleich stark. schaftlichen Zusam- 36 etwas vergrößert Soziale Spannungen und menhalts durch Co- in etwa gleich geblieben Ungleichheiten, die viel- rona-Pandemie 55 etwas verringert fach bereits vor der Pan- Angaben in Prozent, stark verringert demie virulent waren, an 100% 30 treten immer deutlicher Fehlende: weiß nicht/ zu Tage. So trifft Ein- keine Angabe 13 7 samkeit2 in diesen Tagen Quelle: Brand et al. 2020: S. 71 nicht etwa vorrangig die 8 3 Älteren, sondern Kinder Entwicklung sozialer Entwicklung des und Jugendliche, die in Unterschiede durch Zusammenhalts vor ihren Entwicklungen die Corona-Pandemie Ort durch die Corona- blockiert und stillgestellt Pandemie werden. Armut, chroni- 16
und bedarfsgerechte Ideen für ihren Stadtteil, ihr Dorf oder ihren Verein. Diese Ansätze zeigen sich als neue hybride Institutionen, in denen Akteure aus lokaler 1. Brand, Torsten, Follmer Ro, Zivilgesellschaft, kommunaler Verwaltung und regio- Unzicker, Kai: Gesellschaftli- naler Wirtschaft zusammenfinden. So entstehen multi- cher Zusammenhalt in Deutschland 2020, hrsg. von funktionale Lösungen und Soziale Orte5 der Begeg- der Bertelsmann Stiftung, nung. Soziale Orte schaffen mithin demokratische Gütersloh 2020; dies.: Zu- sammenhalt in Zeiten von Öffentlichkeit und Zusammenhalt, bleiben aber zu- Corona: Die stabile Basis gleich auf das Vorhandensein infrastruktureller Güter droht zu bröckeln, hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, und Dienstleistungen angewiesen (Vereinsheime, Gütersloh 2021. Auch: Ad- Sportstätten und Konzertsäle). Soziale Orte entwickeln riaans, Jule/Bohmann, Sand- sich nicht gegen oder ganz ohne öffentliche Strukturen, ra/Liebig, Stefan/Priem/ Richter, David: Soziale Fol- sondern mit ihnen. Für die Initiierung und Stabilisie- gen der Covid-19-Pandemie. rung Sozialer Orte sind freilich überdurchschnittlich Berlin 2020, S. 77ff. 2. Neu, Claudia/Müller, Fabian: engagierte und innovationsfähige Akteure aus Zivilge- Einsamkeit. Gutachten für sellschaft, Verwaltung oder Unternehmen erforderlich. den SoVD. Berlin 2020. 3. Neu, Claudia/Nikolic, Ljubi- Soziale Orte sind inklusiv, schließen sich nicht gegen ca: Versorgung im ländlichen andere ab und haben offene Ränder. Diesen Akteurs- Raum der Zukunft: Chancen sche Krankheiten und das Leben in weniger günsti- netzwerken gelingt es daher oftmals Menschen anzu- und Herausforderungen, in: Fachinger, Uwe und Harald gen Wohnlagen, die kaum Zugang zu unterstützen- sprechen, die für die klassischen Formen des Ehren- Künemund (Hrsg.): Geronto- den institutionellen Strukturen, wohnortnaher amts nicht (mehr) zu gewinnen sind. Ein fester Kreis logie und ländlicher Raum, S. 185-206, Neu; Claudia: Infra- Grundversorgung oder einladenden Begegnungsorten von Aktiven engagiert sich nachhaltig für das Entste- strukturatlas, hrsg. von der bieten, verschärfen Marginalisierung und soziale Aus- hen, Gelingen und „Am-Laufen-Halten“ ihres Sozia- Heinrich Böll Stiftung. Berlin 2020, S. 30ff. grenzung – unter pandemischen Bedingungen ganz len Ortes. Dann gibt es aber auch diejenigen, die nur 4. https://www.dorfkinoein- besonders. Einsamkeit und Isolation verstärken sich, ab und zu Zeit haben einen Kuchen zu backen, mal fach.de/ wenn es keinerlei Möglichkeit zum beiläufigen Kon- Hand anzulegen und die Grillwurst zu wenden. Mit 5. Arndt, Moritz et al: Soziale Orte. Hrsg. von der Fried- takt in der Öffentlichkeit gibt – etwa beim Bäcker anderen Worten: Nicht jede oder jeder muss beim Feu- rich-Ebert-Stiftung. Berlin oder am Postschalter. Was aber, wenn diese Orte der erwehrfest oder der Stadtbegrünung mitmachen, kann 2020, library.fes.de/pdf-files/ wiso/16772.pdf; Neu, Claudia Begegnung immer seltener werden, wenn sie unter aber. Und wenn man nur am Zaun steht oder eine (Hrsg.): Das Soziale-Orte- den Bedingungen von demographischem Wandel, In- Bratwurst isst, ist das auch in Ordnung. Trotzdem ist Konzept, Göttingen 2020, www.uni-goettingen.de/de/ frastrukturrückbau und nach einer Pandemie einfach man dabei. das+soziale-orte-konzept/ verschwinden? 633428.html NACH CORONA? SOZIALE ORTE – WO GESELLSCHAFT Was wird nach Corona aus den vielen Sozialen ZUSAMMENKOMMT Orten im ganzen Land? Viele werden den monate- Die Sorge um Begegnungs- und Mitwirkungsräu- langen Lockdown nicht überstehen, andere werden me ist weder unbegründet, noch neu. Seit vielen Jahren sich als resilient erweisen und wieder andere neu ent- entstehen in Stadtteilen und Landgemeinden multi- stehen. So stellt Corona die Frage nach Begegnung, funktionale Dorfläden, die den Lebensmitteleinkauf Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt mit weiteren Angeboten wie Verwaltungssprechstun- neu. Für die nachpandemischen Zeiten wird es darauf den oder Caféecke verbinden. Hier werden Nahversor- ankommen, dass Politik und Gesellschaft anerkennen, gung, Kommunikation und Begegnung neu gedacht dass es starke demokratische Institutionen und Infra- und das Angebot an die Bedarfe vor Ort angepasst. strukturen braucht, die flächendeckend den Bürgerin- Dabei ist es unerheblich, wer diesen modernen Tante- nen und Bürgern Teilhabe, Begegnung und Mitwir- Emma-Laden betreibt: es können Bürgergenossen- kung ermöglichen und Raum geben, eigene Ideen vor schaften, Gemeinden selbst oder klassische Einzel- Ort zu entwickeln. « händler sein.3 Das Projekt “Dorfkino einfach machbar” aus Mecklenburg-Vorpommern bringt Qualitätskino in den ländlichen Raum: (Potentielle) Gründer*innen ei- nes Filmstandortes erhalten Hilfe beim Aufbau und Betrieb, um ein Dorfkino zu betreiben.4 Anderenorts DIE AUTORIN werden Dorfkneipen als Genossenschaft gegründet (etwa in Dahlwigksthal in Hessen oder Geschwend im Prof. Dr. Claudia Neu Schwarzwald). Städter begrünen ihre Stadtviertel, ge- ist seit 2016 Inhaberin meinsam säen und ernten sie in urbanen Gärten. Auch des Lehrstuhls für länd- wenn ein Vergleich zwischen den vielen hundert ver- liche Soziologie an den schiedenen Aktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern Universitäten Göttin- für ihr Gemeinwesen nur unzureichend sein kann, so gen und Kassel, zuvor deuten sich dennoch einige Gemeinsamkeiten an: Das war sie von 2009 bis 2016 Professorin für Allge- Engagement von Bürgerinnen und Bürgern trägt ent- meine Soziologie und empirische Sozialfor- scheidend zum Erhalt und zur Wiederbelebung des öf- schung an der Hochschule Niederrhein in Mön- fentlich-kulturellen Lebens sowohl in der Stadt als chengladbach. Sie ist stellvertretende auch auf dem Land bei. Gleichwohl gibt es nicht die Vorsitzende des Sachverständigen Beirats für eine Lösungsstrategie für alle Herausforderungen. ländliche Entwicklung beim BMEL. Vielmehr suchen unterschiedliche Akteure passgenaue 17
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