GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste

 
WEITER LESEN
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
KIRCHE IM
LÄNDLICHEN
RAUM
2021 | 72. Jahrgang

    GE(H)-SEGNET
              Von der Strategie der Großzügigkeit
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
Jahresheft KilR 2021 mit Arbeitshilfe Erntedank

INHALT
VON DER STRATEGIE DER
GROSSZÜGIGKEIT – GRUNDSÄTZLICHES         36    Stefan Berk
                                               Solidarität in der
                                                                                   ARBEITSHILFE ZU ERNTEDANK

5      Marco Hofheinz
       Ge(h)-segnet oder:
                                               Landwirtschaft
                                               Ein kritisches Gespräch
                                                                                   22       Daniel Seyfried
                                                                                            Jugendgottesdienstentwurf
                                                                                            aus dem Evangelischen Kirchen-
       Ein Leben im Überfluss
       Gabetheologische Erwägungen       38    Rolf Brauch
                                               Faire Preise – eine
                                                                                            kreis Wittgenstein

       anhand von 2. Kor 9,6-15                verständliche, aber
                                               unerfüllbare Forderung
                                                                                   25       Peter Schock
                                                                                            Ge(h)-segnet! Von der

8      Gerd Müller
       Entwicklungs-
                                               Ein Einspruch zur Ent-Täuschung
                                                                                            Strategie der Großzügigkeit
                                                                                            Vorschläge für einen
       zusammenarbeit
       Weil Wohlstand verpflichtet und   40    Jan Menkhaus
                                               Solidarität in der Kirche
                                                                                            Erntedankgottesdienst 2021

       uns allen zugutekommt                   (Verpachtung)
                                                                                   27       Peter Schock
                                                                                            Früchte Eurer Gerechtigkeit

10     Ricarda Rabe
       Braucht es noch den Segen?
       Ein Streitgespräch zwischen
                                         41    Henning Gronau
                                               Gemeinschaftlich wohnen
                                               und leben
                                                                                            Gedanken zum Predigttext
                                                                                            2. Kor 9,6-15

       Maren Heincke und Nick Lin-Hi
                                         42    Anne Berk                           30       Peter Schock
                                                                                            Predigt über 2. Kor 9,6-15

12     Mario Ludwig
       Vampirfledermäuse
       Blutsauger mit sozialer Ader
                                               Leben in Gemeinschaft
                                               Bericht über den Weiselhof
                                                                                   32       Fritz Baltruweit
                                                                                            Den Segen Gottes sehn

14     Hans Diefenbacher
       Solidarität in der Ökonomie
                                         43    Anne Berk
                                               Bewusstseinserweiternde
                                               Möhren
                                               Solidarität auf dem Acker
16     Claudia Neu
       Soziale Orte
       Überlebensnotwendig für           44    Nathanael Ohrndorf
                                               Shift GmbH
                                                                                   RUBRIKEN
                                                                                   3        Editorial
       soziales Miteinander                                                        51       Aus dem EDL
                                         45    Viva con Agua de Sankt Pauli e.V.
                                               Wasser ist Leben                    52       Impressum

BEISPIELE AUS DER FÜLLE

19     Miriam A. Markowski
       Solidarische Ökonomien und
                                         DEN BLICK WEITEN

       Resilienz als Chance
                                         47    Bücher- und Film-
                                               Empfehlungen aus dem

33     Michaela Hausdorf, Timo Wans
       Das Myzelium
                                               Redaktionsteam

                                                                                        �
       Kooperieren, vernetzen, bilden
       und forschen

34     Roman Glaser
       Gedanken zur Renaissance
       der genossenschaftlichen
                                                                                        IHR PASSWORT
                                                                                        ZUM ABOBEREICH AUF
       Idee                                                                             WWW.KILR.DE:
                                                                                        KILR2021-GE(H)-SEGNET
2
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

    geben ist seliger denn nehmen. So haben wir es gelernt, und das versuchen wir
auch unseren Kindern beizubringen: Nicht alles für sich behalten, sondern teilen.
    Aber warum soll das besser sein? Wenn jeder für sich sorgt, ist für alle gesorgt,
könnte man dagegen halten. Nur: Was ist mit denen, die das nicht können, aus
welchen Gründen auch immer? Solidarität stärkt das Miteinander, und ist nicht
auf uns Menschen beschränkt. Auch Tiere praktizieren das.
    Wir schlagen einen weiten Bogen in diesem Heft: Von Paulus, der die Christin-
nen und Christen in Korinth zu überzeugen versuchte, für die Glaubensgeschwister
in Jerusalem zu spenden, ohne dabei zu überlegen, ob und was für sie selbst dabei
herausspringt, bis zu Firmen wie Viva con Agua, die die Solidarität zu ihrer Unter-
nehmensphilosophie gemacht haben. Den Segen Gottes spüren, der ein unverdien-
tes Geschenk ist. Damit weiter gehen. Ge(h)-segnet sein und diesen Segen weiter-
geben. Anderen gegenüber großzügig sein und das als Lebensstrategie begreifen.
Wie wäre das?
    Das Erntedankfest ist der Tag im Jahr, an dem der Segen der Ernte, ob nun
reichlich oder eher karg, gefeiert wird. Und die Menschen, die mit ihrer Arbeit da-
für sorgen, dass wir alle teilhaben können am Segen der Natur. Wie immer finden
Sie zwei Gottesdienstentwürfe, die einladen, diese Freude an der Ernte zu teilen.

   An dieser Stelle möchten wir Danke sagen den Menschen, die in den letzten
Jahren viel ihrer Zeit großzügig der Redaktionsarbeit für die Zeitschrift „Kirche im
ländlichen Raum“ zur Verfügung gestellt, mitgedacht und geschrieben haben:
Anke Kreutz, Peter Riede, Ulrich Ketelhod und Stefan Berg. Und wir begrüßen
neu im Team der Redaktion Henrike Lederer und Monika Nack.

Nun wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen!

Ricarda Rabe, Vorsitzende des EDL

                                                                                        3
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
»Die Welt hat genug
                                  für jedermanns
                                  Bedürfnisse,
                                  aber nicht für
                                  jedermanns Gier.«

                                  —Mahatma Gandhi

    GRUNDSÄTZLICHES
       Von der Strategie der Großzügigkeit

4
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
GE(H)-SEGNET
  ODER: EIN LEBEN IM
  ÜBERFLUSS.
  GABETHEOLOGISCHE ERWÄGUNGEN
  ANHAND VON 2. KOR 9,6-15.

  Marco Hofheinz
  Für Pfr. Dieter Kuhli zum 65. Geburtstag und zum Eintritt in den Ruhestand

„Sich selber gewissermaßen                                                       unbeschreibliche Gabe“ (2. Kor
                                                                                 9,15). Der Skopus des Textes ist
überflüssig geworden,                                                            ein gabetheologischer. Deshalb
                                                                                 gilt es, die Logik der von Paulus
vermag (das Leben des Christenmenschen)                                          erbetenen Kollekte gabetheolo-
                                                                                 gisch zu entschlüsseln.
reiner Überfluss für die Menschen um
                                                                                 2. DIE LOGIK DES TAUSCHES
ihn zu werden.“1                                                                 UND DIE LOGIK DER GABE
                                                                                    Idealtypisch kann die Gabe
HANS-GEORG GEYER                                                                 in der Tat vom Tausch3 unter-
                                                                                 schieden werden. Wie verhee-
                                                                                 rend die Tauschlogik des „do ut
                                                                                 des“ wirken kann, zeigt sich da-
  1. DIE „STRATEGIE“ DER GROSSZÜGIGKEIT                    ran, dass die Erwartung der Gegengabe bzw. das Ge-
     Von der Großzügigkeit (lat. beneficentia) spricht     fühl, die Gabe erwidern zu müssen, in psychosozialer
  Paulus, wenn er die Kollekte für die Jerusalemer Ge-     Hinsicht beziehungszerstörend statt beziehungsstif-
  meinde („die Heiligen“) sammeln geht. Er legt sie        tend wirkt. Moralischer Druck und Schuldgefühle,
  etwa der heidenchristlichen Gemeinde in Korinth in       die das Ergebnis von Gegengaben insinuierenden Ga-
  2. Kor 8f. ans Herz.2 Um die Gaben in Korinth in         ben sind, die oftmals projiziert werden, gehen vielfach
  Empfang zu nehmen, hat Paulus bereits Titus mit          bei Empfangenden wie Spendenden Hand in Hand.
  zwei Begleitern losgeschickt. In den betreffenden Ka-    Anders als die Tauschlogik besagt, dient die Gabe
  piteln versucht Paulus nun den Korinthern klarzuma-      nicht primär wirtschaftlichen Interessen. Sie hat zwar
  chen, dass auf großzügigem Geben Segen liegt: „Wer       auch ökonomische Funktion oder zumindest Implika-
  mit Segen(shänden), d.h. großzügig (ep‘eulogias) gibt,   tionen, keineswegs jedoch im Sinne eines Selbst-
  der wird mit Segen(shänden), d.h. großzügig ern-         zwecks. Den Korinthern stellt Paulus in Aussicht:
  ten“ (2. Kor 9,6). Dieser Zusammenhang ist weis-         „Ihr werdet in allem reich gemacht zu aller Großzü-
  heitlicher Natur und als Tun- und Ergehenszusam-         gigkeit“ (2. Kor 9,11a). Das entsprechende Partizip
  menhang bekannt: Man erhält/bekommt, was man             (ploutizomenoi) ist passiv. Die Großzügigkeit ver-
  gegeben hat. Man gibt, um zu erhalten. Diese             dankt sich mit anderen Worten nicht dem eigenen
  Tauschlogik des „do ut des“ bildet die Grundlage der     menschlichen Vermögen, sondern Gott. Seine Gabe
  Ökonomie. Es geht um eine Strategie, „reich“ zu wer-     löst Großzügigkeit aus und diese bewirkt wiederum
  den. Doch Paulus stellt sofort zugunsten einer Gabe-     indirekt Danksagung bei Gott. Paulus spricht be-
  logik klar, dass er dieser Tauschlogik nicht einfach     zeichnenderweise von „Großzügigkeit, die durch uns
  folgt: „Jeder möge geben, wie er es sich in seinem       Danksagung bei Gott schafft“ (2. Kor 9,11b). Hier
  Herzen vorgenommen hat, nicht widerwillig und            wird eine zirkuläre Struktur erkennbar. Es geht also
  nicht gezwungenermaßen. Denn einen fröhlichen            um die Gabe zugunsten der Bedürftigen, wodurch
  Geber hat Gott lieb“ (2. Kor 9,7). Am Ende seiner        Gott zugleich für seine Gabe Dank gesagt wird.4 So
  Kollektenausführungen dankt Paulus Gott: „für seine      kehrt die Gabe gleichsam zu Gott als dem Geber zu-
                                                                                                                5
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
rück. Der Segen Gottes, der sich gleichsam auf Rei-        weist sich als überfließend durch viele Danksagung an
    sen begab, findet den Weg zurück zu seinem initialen       Gott“. Dieses Motiv des Überfließens9 zieht sich quer
    Ausgangspunkt, freilich nicht ohne die Bedürftigen         durch den gesamten 2. Korintherbrief,10 taucht aber
    beschenkt und bereichert zu haben. Gottes Segen            verdichtet als bestimmendes Motiv in den Kollekten-
    ging auf die Reise. Der Mensch wird geh-segnet.            kapiteln auf.11 Victor P. Furnish hat anschaulich vom
        „Gabe“ ist, wie in den Kollektenkapiteln des 2. Ko-    „spillover“-Effekt12 gesprochen. Demnach ist die Gna-
    rintherbriefes deutlich wird, nicht nur ein urmenschli-    de (charis) – und als Gnadengabe versteht Paulus die
    ches Geschehen, das Marcel Mauss in archaischen            Kollekte – als eine von Gott ausgehende Bewegung zu
    Gesellschaften als ein „System der totalen Leistungen“5    begreifen, die den Menschen erfasst, verwandelt, ihn
    vorgefunden und ethnologisch bzw. soziologisch um-         zu einem neuen Verhalten seinem Mitmenschen
    schrieben hat, sondern auch ein „Urwort der Theolo-        gegenüber treibt und schließlich als Dank wieder zu
    gie“6. Es gehört zur story Gottes und ist dort fest ein-   Gott zurückkehrt (2. Kor 9,15).13 Die Korinther sind
    gebettet. Gerade als von Gott gegebene Gabe entzieht       demnach ebenso wenig wie die Jerusalemer die End-
    sie sich der Tauschlogik. Eine theologische Ethik der      verbraucher der Gnade Gottes.14 Treffend umschreibt
    Gabe, die schöpfungstheologisch7 den Ausgang bei der       Magdalene L. Frettlöh die sich manifestierende Zirkel-
    hochsuggestiven Frage des Paulus nimmt: „Was hast          struktur: „[D]ie Kollekte der korinthischen Gemeinde
    du, das du nicht empfangen hättest“ (1. Kor 4,7), ist im   für die Heiligen in Jerusalem gründet in der göttlichen
    Licht der beiden Kollektenkapitel des 2. Korinther-        Vorgabe, in seiner überströmenden charis, die als
    briefes betrachtet eine Fülle-Ethik.8                      Ergebnis des zwischengemeindlichen Gebens und
                                                               Nehmens in Gestalt der eucharistia zu ihm zurück-
    3. EIN LEBEN IM ÜBERFLUSS                                  kommt. Gott empfängt in der eu-charistia seine eigene
       Die Gabe-Ethik als Fülle-Ethik entspringt gerade-       Gabe anmutig wieder. Wie die Korinther*innen mit
    zu dem Motiv des Überfließens (perisseuein), zumal         ihren Spenden geben, was nicht ihnen, sondern Gott
    das Überfließen aus der empfangenen Fülle resultiert.      gehört, so kann auch die Jerusalemer Gemeinde mit
    Der Begriff wird im Sinne eines Signalwortes dreimal       ihren Dankgebeten Gott nichts geben, was er nicht be-
    in unserem Text gebraucht; zweimal in 2. Kor 9,8:          reits hat.“15
    „Gott aber hat die Kraft, euch jede Gnade überfließend
    zu geben, damit ihr in jeder Hinsicht allezeit ein gutes   4. DIE GNADEN-GABE UND GOTTES GEBENDES
    Auskommen habt und überfließend seid zu jedem gu-          NEHMEN
    ten Werk“ und einmal in 2. Kor 9,12: „Die Durchfüh-           Was die Rollenkonstellation des Miteinanders (der
    rung dieses (vor Gott verrichteten) Dienstes […] er-       cooperatio) von göttlichem und menschlichem Geben

6
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
betrifft, lässt sich festhalten: „Die unterschiedliche
Rolle Gottes und der Menschen im wechselseitigen
Gebeereignis […] besteht nicht darin, dass dem ge-                         1. Zit. nach Hartmut Ruddies, Hans-Georg-Geyer: Leben und Werk. Ein Portrait in Pers-
benden Gott (der in seiner Selbstgenügsamkeit eines                           pektive, in: Katharina von Bremen (Hg.), Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße
Nehmens gar nicht bedürfe) die empfangenden Men-                              Hans-Georg Geyers, Schwerte-Villigst 2008, (9–24) 23.
                                                                           2. Zu Anlass, Kontext und Durchführung der Kollektenvereinbarung vgl. Dieter Sänger,
schen gegenüberstehen; vielmehr gibt es auf beiden                            „Jetzt aber führt auch das Tun zu Ende“ (2. Kor 8,11). Die korinthische Gemeinde und
Seiten Geben und Nehmen – aber in genau umge-                                 die Kollekte für Jerusalem, in: ders. (Hg.), Der zweite Korintherbrief. Literarische Ge-
                                                                              stalt – historische Situation – theologische Argumentation. FS Dietrich-Alex Koch
kehrter Reihenfolge: Gott gibt und nimmt; sein Neh-                           (FRLANT 250), Göttingen 2012, 257–282.
men ist immer zugleich ein gebendes Nehmen. Die                            3. Die Tauschlogik hat der französische Ethnologe und Soziologe Marcel Mauss (Die
                                                                              Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften [stw 743],
Menschen nehmen und geben; ihr Geben ist nicht                                Frankfurt a.M. 31996) dargelegt.
anders denn als nehmendes Geben möglich. So ist                            4. Dieter Kuhli verdanke ich den Hinweis auf Rudolf Bohrens (Predigtlehre, München
wohl auch jene schroff wirkende Liedzeile von Cor-                            31974, 76; vgl. ders., Daß Gott schön werde. Praktische Theologie als Ästhetik, Mün-
                                                                              chen 1975, 67ff.) Rede von der „theonomen Reziprozität“, der „gottgesetzten Wechsel-
nelius Fr. A. Krummacher: ‚... nichts hab ich zu brin-                        seitigkeit und Gegenseitigkeit“, die näher auf strukturelle Entsprechung zum paulini-
gen, alles, Herr, bist du!‘ (EG 407,3) nicht so zu ver-                       schen Zirkularverständnis zu untersuchen wäre.
                                                                           5. Mauss, Gabe, 22 u.ö.
stehen, dass Menschen Gott gar nichts geben können,                        6. Oswald Bayer, Art. Gabe II. Systematisch-theologisch, in: RGG 3, Tübingen 42000,
sondern dass sie ihm nur das bringen können, was sie                          (445f.) 445.
                                                                           7. Dies betont vor allem Oswald Bayer, Ethik der Gabe, in: Veronika Hoffmann (Hg.), Die
zuvor von ihm entgegengenommen haben, dass das,                               Gabe. Ein „Urwort“ der Theologie?, Frankfurt a.M. 2009, 99–123; Bayer, Freiheit als
was sie ihm geben, seine Gaben sind und bleiben.“16                           Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, bes. 13–19.
   Die „Gnade Gottes“ bildet als textstrukturelle In-                      8. Vgl. Bernd Wannenwetsch, Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenbürger,
                                                                              Stuttgart u.a. 1997, 320.
klusion um die Kollektenkapitel (2. Kor 8,1; 9,14)                         9. Statt vom „Durchbruch der Gnade“ wäre im Blick auf die Erweckungsbewegung pauli-
diese zirkuläre Struktur gleichsam ab. Paulus sieht in                        nisch sachgemäßer vom „Überfließen der Gnade“ zu reden. Vgl. Jakob Schmitt, Die
                                                                              Gnade bricht durch. Aus der Geschichte der Erweckungsbewegung im Siegerland, Witt-
der Gabe der Korinther die Gnade Gottes, die er                               genstein und den angrenzenden Gebieten, Gießen 1984 (Nachdruck der 3. Aufl. von
ebenfalls als Gabe versteht, zu ihrem Ziel kommen:                            1958).
                                                                          10. Vgl. Ulrich Schmidt, „Nicht vergeblich empfangen“! Eine Untersuchung zum 2. Korin-
„[D]ie Kollekte ist als eine Konkretion der göttlichen                        therbrief als Beitrag zur Frage nach der paulinischen Einschätzung des Handelns
charis zu verstehen. Die empfangene Gnade drängt                              (BWANT 162), Stuttgart 2004, 38; 46.
über die Empfänger hinaus in Richtung Dritter.“17                         11. Dies hat Schmidt, a.a.O., 142–145, gezeigt.
                                                                          12. Vgl. Victor P. Furnish, II Corinthians, Anchor Bible 32A, New York u.a. 1984, 118.
Negativ gewendet, bedeutet dies hinsichtlich eines                        13. Vgl. Schmidt, a.a.O., 140. Siehe auch a.a.O., 141, die Grafik zu dieser kreisförmigen Fi-
Ausbleibens des entsprechenden Verhaltens: „Im Aus-                           gur als Grundstruktur der charis.
                                                                          14. Zur ökumenischen Bedeutung der Gabetheologie siehe Martin Hailer, Gift Exchange.
bleiben einer Öffnung für andere bzw. einer Zuwen-                            Issues in Ecumenical Theology, Beihefte zur ÖR 124, Leipzig 2019.
dung zu anderen Menschen, wie es bei den Korin-                           15. Magdalene L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe. Beobachtungen zur Gaben-
                                                                              theologie der paulinischen Kollekte für Jerusalem, in: Jabboq 1 (2001), (105–161) 142.
thern diagnostiziert wird, sieht Paulus ein Anzeichen                     16. A.a.O., 141. Auch Oswald Bayer (Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007, 189) betont
dafür, dass die Gnade sich nicht durchgesetzt hat. Sie                        hinsichtlich der für eine Ethik der Gabe konstitutive Reihenfolge, dass es dabei bleibt,
kam nicht zum Durchbruch, sondern zum Erliegen! –                             „daß Gott gibt und nimmt, währen die Geschöpfe nehmen und geben.“
                                                                          17. Schmidt, a.a.O., 139.
Pointiert gesagt: Handeln hat wohl keine rechtferti-                      18. A.a.O., 249. Vgl. a.a.O., 124f.
gende Wirkung, aber Nichthandeln eine nichtende,                          19. Erich Gräßer, Der zweite Brief an die Korinther: Kapitel 8,1–13,13 (ÖTK 8/2), Güters-
                                                                              loh 2005, 30.
denn wo sich kein verändertes Verhalten zeigt, da ist                     20. Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther (NTD 7), Göttingen / Zürich 1986, 318.
die Gnade nicht übergeflossen, sondern versandet –                            Hervorhebung: M.H.
                                                                          21. Ebd.
da ist die Gnade eis kenon [vergeblich; 2. Kor 6,1]                       22. Gräßer, ÖTK 8/2, 30.
empfangen worden!“18                                                      23. Lang, NTD 7, 319. Vgl. auch a.a.O., 320.

5. „EINEN FRÖHLICHEN GEBER HAT GOTT LIEB“
   Bei aller theologischen Emphase, die Paulus an           empfiehlt: „Jeder möge geben, wie er es sich in seinem
den Tag legt und die durchaus auch zum Mittel der           Herzen vorgenommen hat, nicht widerwillig und
„verdeckte[n] Aufforderung zur Spende“19 greift,            nicht gezwungenermaßen. Denn einen fröhlichen
bleibt es freilich bei der Freiwilligkeit. So kann Paulus   Geber hat Gott lieb“ (2. Kor 9,7). Dem entspricht,
bezeugen, „daß die mazedonischen Gemeinden nach             dass Paulus entgegen möglicher freiheitsnichtender
Kräften, ja sogar über ihre Kräfte freiwillig gespendet     Überreglementierung die Höhe der von einzelnen
haben.“20 Zudem befiehlt Paulus nicht: „Ich sage das        Christ*innen aus Korinth entrichteten Kollekte nicht
nicht als Befehl, sondern um durch die Spendenfreu-         festlegt (2. Kor 9,7).                               «
digkeit anderer die Echtheit auch eurer Liebe zu prü-
fen“ (2. Kor 8,8. Da Paulus die Kollekte als „Auswir-
kung der Gnade Gottes“21 versteht, wäre es – im
Vertrauen auf deren Wirkkraft – kontraindiziert, zum
Befehlston zu greifen und den Korinthern die Kollek-
te als ihre Pflicht oder als ein Gebot aufzuerlegen:
„Paulus ist es wichtig, dass er nicht ‚gemäß einem Ge-
bot‘ (die Wendung auch 1. Kor 7,6), also nicht als                                               DER AUTOR
Befehlsgeber redet, weil eine befohlene Kollekte de-
ren Charakter als charis, als Gnadenwerk, aufheben                                               Prof. Dr. Marco Hofheinz stammt aus
würde.“22 Die Gabe soll freiwillige Gabe sein, ansons-                                           Südwestfalen. Der 48jährige lehrt seit 2012
ten kontaminiert sie: „Die Gabe soll nicht erzwungen                                             Systematische Theologie mit dem Schwer-
sein, sondern freiwillig und von Herzen kommen; nur                                              punkt Ethik an der Leibniz Universität
so ist sie Wirkung der Gnade.“23 Mit der von Paulus                                              Hannover. Er ist verheiratet und Vater von
akzentuierten Freiwilligkeit koinzidiert die Fröhlich-                                           vier Kindern.
bzw. Heiterkeit, die Paulus mit Spr 22,8a Septuaginta
                                                                                                                                                                     7
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
ENTWICKLUNGS -
    ZUSAMMENARBEIT
    WEIL WOHLSTAND VERPFLICHTET UND
    UNS ALLEN ZUGUTEKOMMT

    Gerd Müller

    V
             or Corona waren täglich sieben Millio-
            nen Menschen mit dem Flugzeug unter-
           wegs. Menschen, Güter, Dienstleistungen,
         Kapital und Wissen reisten in immer größe-
        rer Menge und Geschwindigkeit um die Welt.
8
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
Während der Corona-Krise haben wir manche Fehlentwicklungen                Corona ist ein Weckruf. Eine globale Gesundheitskrise wuchs
der letzten Jahrzehnte erkannt: Die Produktion ist immer weiter         sich aus zur Mehrfachkrise: Sie gefährdet weltweit Gesundheit und
verästelt – auf der Suche nach dem billigsten Anbieter und unter        wirft wirtschaftliche Entwicklung, Privat- und Staatshaushalte um
Umgehung aller Sozialstandards und Umweltauflagen. Zurzeit ar-          Jahre zurück. Sie verstärkt Ungleichheit in ärmeren Ländern und
beiten nach Auskunft der Internationalen Arbeitsorganisation ILO        macht viele Entwicklungsfortschritte zunichte.
weltweit 80 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen:            Beim Wiederaufbau muss Nachhaltigkeit unser Leitbild in der
in Steinbrüchen, in Coltan-, Kobalt- oder Kupferminen, in Textilfa-     Globalisierung sein – ein Weiter-so ist selbstzerstörerisch: Durch
briken oder auf Kakao- und Kaffeeplantagen – für unsere Grabstei-       unseren aktuellen Konsum- und Lebensstil verbrauchen wir allein
ne, für unsere Mobiltelefone, für unsere Jeans, für unsere Schokola-    drei Erden – mehr Ressourcen, als die Erde je wieder aufbauen
de. Das ist ein unglaublicher Skandal!                                  kann. Wir befeuern den Klimawandel, zerstören die Artenvielfalt
    In diese „Normalität“ der Globalisierung dürfen wir nach Corona     und erhöhen das Risiko für künftige Pandemien.
nicht zurückfallen. Was in Deutschland und in Europa verkauft              Beginnen wir am besten gleich bei uns: Brauchen wir tatsächlich
wird, muss Mindeststandards genügen: auch wenn die Ware in so           jedes Jahr ein neues Mobiltelefon? Wollen wir tatsächlich Fastfa-
genannten Billiglohnländern und in Entwicklungsländern herge-           shion verantworten, die Millionen Frauen und Mädchen unter noch
stellt worden ist!                                                      immer untragbaren Bedingungen für einen Hungerlohn nähen?
    Die Evangelische Kirche ist hier einer meiner wichtigsten Ver-      Müssen wir täglich billige Nahrungsmittel verzehren, für deren Pro-
bündeten im Ringen um das deutsche Lieferkettengesetz. Sie hat          duktion alle zwei Sekunden die Fläche eines Fußballfeldes abge-
sich sehr eingesetzt für dieses Gesetz, das menschenrechtliche, sozi-   holzt, Gewässer und Böden mit Düngemitteln verseucht oder Tiere
ale und ökologische Sorgfaltspflichten klar benennt: Das ist gelebte    auf engstem Raum gehalten werden? Müssen wir alles in Plastik ver-
christliche Verantwortung und Merkmal moderner Entwicklungszu-          packen, bis dieser Müll im Meer versenkt wird und dort das Leben
sammenarbeit.                                                           von Pflanzen und Tieren bedroht?
    Ohnehin hat Entwicklungszusammenarbeit die klassische Ent-             Die Vereinten Nationen haben sich in ihrer Agenda 2030 auf 17
wicklungshilfe längst abgelöst: Partnerschaft statt Patenschaft. Wir    Nachhaltigkeitsziele und den Pariser Weltklimavertrag verpflichtet.
organisieren Partnerschaften auf Augenhöhe, weil wir mit Fürsorge       Heißt: Alle Menschen haben das Recht auf ein Leben in Würde
allein nicht Entwicklung fördern können.                                und Selbstbestimmung auf einem gesunden Planeten. Heißt auch:
    Beispiel Afrika: Ich habe den Marshallplan mit Afrika ins Leben     Wissen und Knowhow solidarisch zu teilen, um gezielt in Klima-
gerufen, weil unser Nachbarkontinent der Chancenkontinent der           schutz zu investieren.
Zukunft ist. 2050 werden dort 2,5 Milliarden Menschen leben, dort          Schon Paulus wusste, dass Solidarität nicht nur ein Gebot der
wächst die größte Jugendgeneration der Welt heran. Junge Men-           Humanität ist: „Der aber Samen gibt dem Sämann und Brot zur
schen, die Jobs brauchen und Entwicklungschancen – allein dort          Speise, der wird [auch euch] euren Samen geben und ihn mehren
braucht es 20 Millionen Jobs pro Jahr! Das geht nur, wenn auch die      und wachsen lassen die Früchte eurer Gerechtigkeit.“ (2. Kor 9, 10).
Privatwirtschaft das Potenzial erkennt und auf ihre Art in Entwick-     Solidarität also ist eine Frage von wohlverstandenem Eigennutz in
lung investiert – dazu bieten wir passgenau Unterstützung und Bera-     Einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt und es auf jeden
tung.                                                                   Einzelnen ankommt. Jetzt. Heute.                                  «
    Wenn wir Industrieländer heute darin investieren, Afrika zum
Grünen Kontinent der Erneuerbaren Energien zu machen, können
wir zudem die Energie- und die Klimakrise zu unser aller Nutzen
lösen! Mit Wind, Solar und Wasserstoff kann dort ein wichtiger
Energiemarkt entstehen. Und wir schaffen dort Ausbildungs- und
Arbeitsplätze – das beste Signal an die junge afrikanische Generati-
on, Zukunft und Perspektiven in ihrer Heimat finden zu können.
    Weltweit werden 2050 rund 10 Milliarden Menschen leben: Wie
versorgen wir sie mit Energie, mit Nahrung? Auch in der Landwirt-
schaft setzen wir auf Partnerschaften, auf Zusammenarbeit mit dem
Ziel, eine grüne Agrarrevolution zu starten. Denn wir wissen: Eine
Welt ohne Hunger ist möglich! Die Staatengemeinschaft kostet das
auf einer Strecke von 10 Jahren 30 Milliarden Euro p. a. – jüngste
Studien haben das wieder bestätigt. Mutter Erde ist in der Lage, alle
Menschen satt zu machen: Wenn wir in Agrar-Innovationen inves-
tieren und die Produktivität ressourcenschonend erhöhen, können
wir den Hunger in der Welt binnen 10 Jahren besiegen.
    Seit fast 60 Jahren kooperiert die Evangelische Kirche in
Deutschland mit unserem Ministerium für eine gerechtere, friedli-
chere und nachhaltige Welt. Gemeinsam haben wir erreicht, dass                       DER AUTOR
die Lebenserwartung der Menschen weltweit stieg, die Mütter- und
Kindersterblichkeit zurückging sowie mehr Kinder und Jugendliche                     Dr. Gerd Müller ist seit 1994 Mitglied des Bun-
eine Schule besuchen konnten.                                                        destages und war bis 2005 außen- und europa-
    Aktuell trifft Corona die Ärmsten und Schwächsten am härtes-                     politischer Sprecher der CSU-Landesgruppe. Von
ten. Werte wie Verantwortung, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Soli-                   2005 bis 2013 war er Parlamentarischer Staatsse-
darität und Frieden sind für Christen wegweisend: Die Starken hel-                   kretär bei der Bundesministerin für Ernährung,
fen den Schwachen. Denn meist sind die Starken nur stark, weil sie                   Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Seit De-
Chancen hatten, die andere nicht haben: Bildung, ein Leben in                        zember 2013 ist Dr. Gerd Müller Bundesminister
Sicherheit, mit Rechten und Möglichkeiten, sich Wohlstand zu er-                     für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
arbeiten.                                                                            lung (BMZ).
                                                                                                                                          9
GE(H)-SEGNET - KIRCHE IM LÄNDLICHEN RAUM 2021 | 72. Jahrgang - Haus kirchlicher Dienste
BRAUCHT ES NOCH DEN SEGEN?
EIN STREITGESPRÄCH ZWISCHEN
MAREN HEINCKE UND NICK LIN-HI

Moderiert von Ricarda Rabe

                                                                                                steigenden Wohlstandsniveau heißt das, dass
                                                                                                die Nachfrage nach Fleisch deutlich zuneh-
                                                                                                men wird. Von heute bis 2050 müssen wir
                                                                                                mindestens mit einer 60 % höheren Fleisch-
                                                                                                nachfrage rechnen, vermutlich eher in Rich-
                                                                                                tung 100 % gehend. Mit dem heutigen Er-
                                                                                                nährungssystem ist aber das Ziel, bis 2050
                                                                                                Klimaneutralität zu erreichen, nicht möglich.
                                                                                                Der Markt macht es auf der einen Seite
                                                                                                schwierig, Umweltziele zu erreichen, auf der
                                                                                                anderen Seite brauchen wir aber auch Markt-
                                                                                                mechanismen in der Landwirtschaft, um im-
                                                                                                mer mehr Menschen versorgen zu können.
                                                                                                Wir brauchen jetzt disruptive Innovationen,
                                                                                                technische Lösungen für ein nachhaltiges Er-
                                                                                                nährungssystem.

                                                                                                Heincke: An dem Punkt Marktversagen
                                                                                                sind wir sehr nah beieinander. Die Land-
                                                                                                wirtschaft spielt in der Frage des Erhalts der
                                                                                                Menschheit eine herausragende Rolle.
                                                                                                Landwirtschaft ist ein hochkomplexes Sys-
                                                                                                tem, sehr stark von Naturphänomenen ab-
                                                                                                hängig. Dazu kommt die ganze Frage der
                                                                                                Globalisierung der Agrarmärkte. Durch die
                                                                                                Rahmenbedingungen, die die Europäische
                                                                                                Agrarpolitik seit über 50 Jahren gesetzt hat,
                                                                                                ist die Frage Freier Markt in diesem Bereich
                                                                                                überhaupt nicht gegeben.
Rabe: Mahatma Gandhi sagt: „Die                   teresse nicht denkbar. Und Märkte wiederum    Wir haben eine extrem heterogene Situation
Welt hat genug für jedermanns                     können gezielt in den Dienst der Gesell-      und ganz viele Landwirtschaftssysteme
Bedürfnisse, aber nicht für jeder-                schaft gestellt werden. Aber: Es gibt auch    nebeneinander. Und wir haben diese essen-
manns Gier.“ Und der Apostel Paulus               Bereiche, da funktioniert dies nicht und      tielle Frage: Wie bekommen wir alle Men-
sagt: „Wer da sät im Segen, der wird              Märkte drohen zu versagen, etwa in Berei-     schen in einer guten Qualität satt, damit sie
auch ernten im Segen.“ Aber braucht               chen der Daseinsvorsorge oder auch bei der    ihre Kräfte entfalten können, damit sie
es eigentlich in unserer technisierten            Renten- und Krankenversicherung.              nicht immer nur darum kämpfen müssen,
Welt noch so was wie den Segen?                   Auch im Agrarsektor stößt der Markt an        zu überleben, damit sie ihren Geist entfalten
                                                  Grenzen. Die Erzeugung von Nahrungsmit-       können, damit ihre Kinder keine Mangeler-
Lin-Hi: Was ich nicht teile: Da ist Gott, da      teln im heutigen System geht mit massiven     nährung haben, damit Menschen in Würde
ist die Moral, da ist das Gute – und da ist die   negativen externen Effekten einher. Unge-     leben können. Ich glaube, dass da die neuen
Wirtschaft, da ist die Gier. Der Begriff Gier     fähr ein Drittel sämtlicher menschgemachter   technologischen Lösungen nur ein Baustein
ist ja negativ besetzt und eigentlich führt er    Klimaemissionen sind auf unser Ernährungs-    sind, dass wir tatsächlich eine Vielzahl von
hier in eine falsche Richtung. Gier ist eine,     system zurückzuführen. Davon wiederum         Lösungsansätzen brauchen.
wenn auch keine sympathische Form des             entfällt die Hälfte auf die Nutzierhaltung.
Eigeninteresses und es ist nicht sinnvoll, die-   Und das Problem wird sich weiter verschär-    Lin-Hi: Ich bin in der Problemanalyse kom-
ses gegen gesellschaftliche Interessen in Stel-   fen: 2050 werden knapp 10 Mrd. Menschen       plett bei Ihnen. So wie jetzt, so geht es nicht
lung zu bringen. Märkte sind ohne Eigenin-        auf dieser Erde leben. Zusammen mit einem     weiter und wir müssen dringend das Ruder
10
herumreißen. Aber angesichts von drohen-         Naturräume nicht übernutzen, die aber           Gerade in der Landwirtschaft: Wir können
den Kipppunkten ist das Zeitfenster hierfür      trotzdem der menschlichen Ernährung die-        vieles tun und ausprobieren. Das entspricht
nicht mehr allzu lange offen. Natürlich          nen. In Teilen kann die Tierhaltung sogar       der aktiven Haltung, die ein Landwirt hat.
könnte jetzt der Mensch sagen, er übt sich       positiv für die Renaturierung der naturna-      Wir wissen aber trotzdem, das eigentliche
in Verzicht und lebt innerhalb der planeta-      hen Ökosysteme sowie für die Biodiversi-        Leben, das eigentliche Wachsen hängt noch
ren Grenzen. Die Erfahrung zeigt aber, dass      tätsförderung sein. In den westlichen Indus-    von etwas Anderem ab.
er das eben nicht tun wird. Aus diesem           trieländern werden wir eine deutliche
Grund sehe ich technologische Lösungen           Reduktion des Fleischkonsums erleben, eine      Lin-Hi: Hier zeigen sich verschiedene Hin-
als die Option mit den größten Erfolgs-          Rückkehr zum Sonntagsbraten. Das ist auch       tergrundkonzepte über das Sein. Ich sehe vor
chancen. Ohne Innovationen werden wir es         ein Gewinn für die Gesundheit, für die          allem die gesellschaftliche Relevanz und das
nicht schaffen, die Erde als Lebensgrundla-      Wertschätzung des Fleisches. Und es be-         Potenzial von neuen Technologien. Wenn
ge zu erhalten.                                  wirkt eine höhere Sensibilität für das Tier-    man so will, betrachte ich die Zukunft durch
                                                 wohl. In anderen Weltregionen wird im           eine rationale, wissenschaftliche Brille. Und
Rabe: Herr Lin-Hi, wenn ich Sie rich-            Sinne einer nachhaltigen Landwirtschaft die     ich glaube, als Gesellschaft tun wir gut daran,
tig verstanden habe, haben Sie eine              Tierhaltung weiterhin gebraucht werden.         der Wissenschaft mehr zu vertrauen. Wir
große Faszination für die In-Vitro-                                                              müssen das bereits deswegen tun, weil die
Fleischproduktion, die nicht mehr da-            Rabe: Und das Ganze braucht die De-             Zukunft nicht aufzuhalten ist. Aber wenn
von abhängig ist, dass ich ein Tier              mut des Menschen, und es braucht                wir sie verstehen, dann können wir sie positiv
schlachte. Was ich dann nicht mehr               auch den Segen von Gott.                        gestalten. Als Gesellschaft müssen wir uns
habe, ist die ethische Herausforde-              Heincke: Vielleicht liegt auf verschiedenen     mit dem Neuen auseinandersetzen und wir
rung, es zu verantworten, dass ich ei-           Konzepten ein Segen. Auch Technologie und       müssen Wege finden, die Menschen mitzu-
nem Lebewesen das Leben nehme.                   Wissenschaft und der menschliche Geist          nehmen, die weniger Vertrauen in Technolo-
                                                 sind ein Segen. Und auch diese Suchbewe-        gie haben. Hier brauchen wir Narrative, die
Lin-Hi: Richtig, das Fleisch der Zukunft         gungen. Der Homo sapiens ist eben beides:       eine gemeinsame Basis schaffen und neuen
wird im Labor erzeugt und damit entfällt die     Er ist der sapiens, also derjenige, der etwas   Technologien einen tieferen Sinn geben. «
Problematik der heutigen Fleischproduktion.      kann, etwas will und sich weiterentwickelt.
Das Faszinierende bei dem neuen Fleisch ist,     Der Technologie, Technik und Naturwissen-       Pastorin Ricarda Rabe arbeitet als Re-
dass es das gleiche Produkt ist, was wir heute   schaften nutzt. Der Mensch ist aber auch        ferentin für Kirche und Landwirtschaft in
kennen. Nur der Produktionsweg ist ein an-       einfach ein Teil der Natur. Der Mensch          der Evangelisch-Lutherischen Kirche
derer. Die Erzeugung von Fleisch außerhalb       überschätzt sich. Das zeigt die Menschheits-    Hannovers. Sie ist Vorsitzende des EDL
vom Tier ist ein riesiger Schritt auf dem Weg    geschichte. Hier ist mehr Demut angebracht.     in der EKD.
zu einem nachhaltigen Ernährungssystem.
Wir reden hier davon, dass sich Klimaemis-
sionen, Wasserbedarf und Landverbrauch im
Optimalfall in Größenordnung von 90 % re-
duzieren lassen. Zudem ist die Erzeugung
von kultiviertem Fleisch unabhängig von ex-
ternen Faktoren wie Wetter und Klimabe-
dingungen. Damit leistet es einen Beitrag zur
Nahrungssicherheit in Zeiten des Klimawan-
dels. Kultiviertes Fleisch ist ein Meilenstein
in der Menschheitsgeschichte.

Heincke: Klar, durch die Entkoppelung
von den Außenphänomenen in geschlosse-
nen Systemen würde man sich frei machen
von den starken Außenfaktoren. Aus mei-
ner Sicht ist das jedoch bloß eine Insellö-         DR. MAREN HEINCKE (DIPL.-ING. AGR.)           PROF. DR. NICK LIN-HI
sung, weil sie sehr kapital- und hochtechno-        ist seit 2003 Referentin für den ländli-      ist Inhaber der Professur für Wirtschaft
logieintensiv ist. Bis jetzt ist das wirklich       chen Raum im Zentrum Gesellschaftli-          und Ethik an der Universität Vechta. Er
nur Etwas für den Luxuskonsumenten. Was             che Verantwortung bei der Evangeli-           promovierte an der HHL Leipzig Gra-
ich für zukunftsfähig halte, ist eine regional      schen Kirche in Hessen und Nassau             duate School of Management und war
oder national angepasste Nutztierhaltung.           und Mitglied der Kammer für nachhalti-        von 2009 bis 2015 Juniorprofessor für
Ungefähr 2/3 der Weltagrarflächen sind              ge Entwicklung in der EKD.                    Corporate Social Responsibility (CSR)
Grasland, permanentes Grünland, das nicht           Die Kammer für nachhaltige Entwick-           an der Universität Mannheim. Mit sei-
geeignet ist, zu Äckern umgebrochen zu              lung der EKD ist interdisziplinär zu-         ner Arbeit adressiert der Unterneh-
werden, z.B. natürliche Savannenstandorte.          sammengesetzt und befasst sich vor            mensethiker und Strategieforscher die
Die Menschen dort haben derzeit das Prob-           allem mit entwicklungspolitischen und         Schnittstellen zwischen Verhaltenspsy-
lem der Übernutzung dieser Grünlandflä-             umweltpolitischen Themen. Agrar-              chologie, disruptiven Innovationen und
chen, zu hohe Viehbesatzdichten, keine              und Ernährungsfragen werden regel-            Nachhaltigkeit.
ordentliche Wasserversorgung und Tierseu-           mäßig in der Kammer behandelt.
chen. Aber schon mit dem heutigen Wissen
besteht die Möglichkeit, resilientere Tier-
haltungssysteme aufzubauen, die diese
                                                                                                                                             11
VAMPIRFLEDERMÄUSE
     BLUTSAUGER MIT SOZIALER ADER

     Mario Ludwig

12
DER AUTOR

                                                                                    Dr. Mario Ludwig ist Diplombiologe und
                                                                                    Experte für Verblüffendes aus der Tierwelt.
                                                                                    Er ist Sachbuchautor zahlreicher Bücher.
                                                                                    Weitere Infos unter: https://mario-ludwig.de

                                                                                   IM BREMEN-ZWEI-WISSENS-PODCAST
                                                                                   „WIE DIE TIERE“

                                                                                   suchen Dr. Mario Ludwig und der Journalist
                                                                                   Daniel Kähler das Tierreich nach Menschli-
                                                                                   chem ab und finden dabei Naturwunder, kuri-
                                                                                   ose Tierarten und Herzerwärmendes. Zu fin-
                                                                                   den ist der Podcast u.a. in der ARD
                                                                                   Audiothek:
                                                                                   https://www.ardaudiothek.de/
                                                                                   wie-die-tiere/76488266

G
                  elebte Solidarität gibt es auch im Tierreich. Und   zwei aufeinanderfolgende Nächte ohne Blutmahlzeit bleiben muss.
                  zwar ausgerechnet bei Tieren, bei denen es nun      Will heißen, ohne ein gegenseitiges „Blutspenden“ würde ein hoher
                  wirklich niemand erwarten würde: Vampirfleder-      Prozentsatz der erwachsenen Vampirfledermäuse zu Grunde gehen.
                  mäusen, kleinen blutsaugenden Fledermäusen, die     Erschwerend kommt hinzu, dass die Fortpflanzungsrate bei Vampir-
                  in Südamerika zuhause sind. Neueren wissen-         fledermäusen äußerst gering ist, da die Weibchen nur alle 9-10 Mo-
schaftlichen Erkenntnissen zufolge, haben Vampirfledermäuse trotz     nate ein einzelnes Junges gebären.
ihres schlechten Rufs, erstaunlicherweise auch eine ausgesprochen         Nach Beobachtungen von Wissenschaftlern ist diese soziale Füt-
soziale Ader. Diejenigen Exemplare der blutsaugenden Flattertiere,    terung jedoch ein Geschäft auf Gegenseitigkeit und enthält sogar
die bei der Jagd erfolgreich gewesen waren, füttern nämlich aus ih-   eine Sicherung gegen faule Betrüger: Geholfen wird nämlich nur
rem Blutvorrat im Magen stets auch hungernde Artgenossen der ei-      Artgenossen, von denen der Spender später – wenn er selbst einmal
genen Fledermauskolonie, die beim nächtlichen Beuteflug leer aus-     nicht zu einer Blutmahlzeit gekommen ist – seinerseits Hilfe erwar-
gegangen sind. Dieses hochentwickelte und bei Säugetieren äußerst     ten kann. Will heißen: Auch bei Vampirfledermäusen erfreut sich
seltene Sozialverhalten ist für das Überleben der Kolonie extrem      Schnorren nicht gerade einer übermäßigen Beliebtheit.             «
wichtig, da eine Vampirfledermaus stirbt, wenn sie über mehr als

                                                                                                                                      13
SOLIDARITÄT IN DER
     ÖKONOMIE
     Hans Diefenbacher

     D
                    ie hier gewählte Überschrift mutet anachronistisch an. „Konkurrenz“ und
                      „Wettbewerb“ sind die dominanten und von der ganz überwiegenden
                      Zahl von Menschen positiv besetzten Leitbegriffe der Marktwirtschaft.
                      Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob man es gerade mit einer
                     neoliberalen Spielart oder mit einer Variante der sozialen Marktwirtschaft
     zu tun hat. Die Verheißung des Wohlergehens für alle geht dabei häufig auch noch mit
     dem Ziel des Wirtschaftswachstums einher. So hatten im März 2000 die Staats- und Re-
     gierungschefs der EU im so genannten Lissabonner Vertrag weitgehend unwidersprochen
     beschlossen, die Europäische Union bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und
     dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen, in dem ein „dau-
     erhaftes Wirtschaftswachstum“ erzielt wird.1
14
Seit der Grundlegung der Marktwirtschaft durch       „strategische Handlungsweisen“ an, über die Unter-
die politische Ökonomie von Adam Smith haben sich        nehmen einer solidarischen und gemeinwesenorien-
durchaus positive Funktionen des Wettbewerbs er-         tierten Ökonomie definiert werden können:6                1. Europäischer Rat (Hrsg.)
wiesen. Er ermöglicht den Wirtschaftssubjekten weit-     » Eigentum soll es nur geben, wenn das Produktions-          (2000): Schlussfolgerungen
gehende Handlungsfreiheit. Wettbewerb trägt zur             mittel selbst genutzt wird; Eigentum an Grund und         des Vorsitzes, Lissabon,
                                                                                                                      23./24.3.2000, URL: ww-
Leistungsgerechtigkeit bei und führt in Verbindung          Boden soll nur die Form von Nutzungsrechten an-           w.europaparl.europa.eu/sum-
mit dem Markt zum angemessenen Einsatz knapper              nehmen;                                                   mits/lis1_de.htm
                                                                                                                   2. Vgl. z.B. Herdzina, Klaus
Ressourcen, denn was nicht verkauft werden kann,         » das Handeln soll sich am Bedarf orientieren und            (1999): Wettbewerbspolitik,
wird langfristig auch nicht produziert. Schließlich         nicht primär an Profiten;                                 5. Aufl. Stuttgart: Lucius &
                                                                                                                      Lucius, S. 32.
kann Wettbewerb zu einer Beschleunigung des tech-        » die Verwendung von Gewinnen soll ausschließlich         3. Hayek, Friedrich A. v.
nischen Fortschritts führen.2 Karl Friedrich von            dem Gemeinwesen zukommen;                                 (1968): Der Wettbewerb als
Hayek hat in dieser Hinsicht dem Wettbewerb die          » in einer demokratischen Unternehmenskultur mit             Entdeckungsverfahren. Kiel:
                                                                                                                      Institut für Weltwirtschaft.
Funktion eines „Entdeckungsverfahrens“ zugespro-            Stimmrecht soll ausschließlich das Prinzip gelten:     4. Landauer, Gustav
chen.3                                                      one person, one vote;                                     (1913/2010): „Die drei Flug-
                                                                                                                      blätter des sozialistischen
    Aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass es       » Genossenschaften oder Kooperativen sollen in das           Bundes“, in: Ausgewählte
bei „Konkurrenz“ und „Wettbewerb“ nicht nur ein             Gemeinwesen sozial eingebunden sein.                      Schriften, Bd. 3.1: Antipoli-
                                                                                                                      tik. Lich: Edition AV, S.
Zuwenig, sondern auch ein Zuviel geben kann. Da                                                                       130 – 145. Vgl. auch Diefen-
gibt es zunächst einmal die juristisch sanktionierte         Eine solidarische Ökonomie weckt viele Erwar-            bacher, Hans/Rodenhäuser
Form des „unlauteren“ Wettbewerbs: Das ist ein wirt-     tungen, die sich zum Teil, aber nicht nur, auf die Re-       Dorothee: „Konkurrenz: Wie-
                                                                                                                      viel darf ’s denn sein?“ in:
schaftlicher Wettbewerb, der gegen das Recht oder        paratur der Defekte unserer Wirtschaft richten, die          Kirchhoff, Thomas (Hrsg.)
die guten Sitten verstößt und für den ein eigenes Ge-    der Kapitalismus verursacht hat. Dazu gehört die             (2015): Konkurrenz: histori-
                                                                                                                      sche, strukturelle und norma-
setz geschaffen wurde, das Übertretungen mit Unter-      Hoffung, dass im Rahmen einer solidarischen Öko-             tive Perspektiven, Bielefeld:
lassungs- und Schadensersatzansprüchen sanktioniert.     nomie die Integration sozial ausgegrenzter Menschen          Transcript, S. 80.
                                                                                                                   5. Vgl. dazu ausführlich Douth-
Das Vortäuschen von Produkteigenschaften zur Er-         sehr viel besser gelingen kann, da auch Arbeitsplätze        waite, Richrd/Diefenbacher,
zielung höherer Preise würde in diese Kategorie fal-     geschaffen werden, die die Produktion und Kapitaler-         Hans (1998): Jenseits der
len. Eine weitere, schlecht beleumundete Spielart ist    träge nicht unbedingt erhöhen, aber dazu beitragen,          Globalisierung – Handbuch
                                                                                                                      für eine lokale Ökonomie.
der „ruinöse“ Wettbewerb. Im Rahmen einer bewuss-        ein gelingendes Arbeitsleben zu ermöglichen. Noch            Mainz: Matthias Grünewald
ten Strategie verlangen bestimmte Anbieter*innen auf     sind Betriebe und Unternehmen der solidarischen              Verlang, S, 53 ff.
                                                                                                                   6. Elsen, Susanne (2007): „Die
einem Markt zu niedrige Preise, zu denen sie selbst      Ökonomie häufig in Nischen angesiedelt: etwa                 soziale Ökonomie des
nicht produzieren können, um andere Wettbewer-           Tauschbörsen, Reparaturcafés, Umsonst- und Unver-            Gemeinwesens – eine sozial-
                                                                                                                      politische Entwicklungsaufga-
ber*innen zu verdrängen. Nach einer solchen Ver-         packtläden, landwirtschaftliche Erzeuger-Verbrau-            be“, in: Hochschule München
drängungsphase steigen dann natürlich die Preise der     cher-Gemeinschaften unterschiedlichster Form. Ein            (Hrsg.): Gemeinwesenent-
dann herrschenden Anbieter*innen. Aus diesem             Teil dieser Bewegung hat sich dem Stichwort der              wicklung und lokalen Ökono-
                                                                                                                      mie. Neu-Ulm: AG SPAK
Grund ist in allen Marktgesellschaften eine Mono-        „Transition Towns“ verschrieben, die sich die Aufga-
polgesetzgebung entstanden, die eine zu große Kon-       be, einen Beitrag zur Transformation der Ökonomie
zentration auf den Märkten verhindern soll. Mit an-      als Teil einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu leisten,
deren Worten: Wer das „Spiel“ auf den Märkten            direkt zum Ziel gesetzt hat. Die Ökonomie hat nach
perfektioniert und im Wettbewerb besonders erfolg-       ihrer Auffassung eben nicht nur die Maximierung der
reich ist, wird am Ende für den Wettbewerb selbst zur    Profite der Anteilseigner*innen zum Ziel, sondern die
Gefahr.                                                  Schaffung einer breiten Palette von Leistungen all der
    Aber gibt es überhaupt Alternativen? Gustav Lan-     Personen, die an ihr teilhaben oder von ihr betroffen
dauer hat schon vor über 100 Jahren das Modell einer     sind. In dieser Perspektive kann die betriebswirt-
Ökonomie der Solidarität in der Praxis beschrieben,      schaftliche Rolle eines Unternehmens nicht von sei-
die die Ökonomie der Konkurrenz ablösen soll: Nicht      ner volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rolle
mehr als Lohnarbeiter für den Warenmarkt produzie-       getrennt werden.                                     «
ren, den Konsum selbst in kleinen selbständigen
Gemeinschaften und Genossenschaften organisieren,
als weiteren Schritt den Aufbau eines eigenen Bank-
und Kreditwesens, schließlich die Übernahme von
Grund und Boden durch die Gemeinden.4 Das Leit-
bild der gegenseitigen Hilfe soll im Rahmen einer                                                                  DER AUTOR
friedlichen Revolution „ökonomiefähig“ gemacht
werden. Deutlich wird schon in der Vision von Land-                                                              Hans Diefenbacher,
auer, dass solidarische Ökonomie lokal gestaltet wer-                                                            geb. 1954 in Mann-
den müsste und ihren wichtigen Bezugspunkt in ihrer                                                              heim, Studium der
Orientierung auf das jeweilige Gemeinwesen hat.                                                                  Volkswirtschaftslehre
    Unter einer solidarischen, am Gemeinwesen orien-                                                             in Heidelberg und Frei-
tierten Ökonomie soll eine Wirtschaftsweise verstan-                                   burg, Promotion und Habilitation in Kassel, apl.
den werden, in der die meisten Menschen ihre Pro-                                      Prof. am Alfred-Weber-Institut der Uni Heidel-
duktionsmittel entweder selbst oder Anteile davon                                      berg, bis Ende 2019 stellv. Leiter der For-
über Genossenschaften oder Kooperativen besitzen,                                      schungsstätte der Evangelischen Studienge-
die sie benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu ver-                                    meinschaft in Heidelberg, Beauftragter für
dienen.5 Das kann eine Werkstatt sein oder ein Ein-                                    Umweltfragen des Rates der EKD.
zelhandelsgeschäft, eine Praxis, ein Bauernhof oder
ein Fischerboot. Susanne Elsen gibt fünf Kriterien als
                                                                                                                                                15
SOZIALE ORTE:
                                   ÜBERLEBENSNOTWENDIG FÜR
                                   SOZIALES MITEINANDER!

                                   Claudia Neu

B
             erthold Brecht wusste: „Vertrauen wird dadurch erschöpft,                      schlagen. Seither sinkt die positive Einschätzung des
             dass es in Anspruch genommen wird“. So ist es wohl auch                        gesellschaftlichen Zusammenhalts wieder leicht.1 Aber
             mit der Solidarität. War die erste Corona-Welle getragen                       auch hier gilt, dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die
              von Solidarität mit den Älteren, Ärzt*innen und Pflege-                       durchgängig den Zusammenhalt weniger gut einschät-
              kräften, so ist davon nach langen Monaten des Lockdowns                       zen als der Durchschnitt der Befragten. Dies sind vor
nahezu nichts mehr zu spüren. Die mahnenden Worte der Intensivpfle-                         allem Menschen mit niedriger Bildung und geringem
ger*innen und -mediziner*innen, dass akute Überlastung der Kranken-                         Einkommen, Migrantinnen und Migranten, Alleiner-
häuser in der dritten Welle drohe, verhallen nahezu ungehört. Erschöpf-                     ziehende und Alleinlebende. So zeigt sich, dass diejeni-
te Eltern von Kindern im KiTa- oder Grundschulalter vermissen die                           gen, die auch vor der Coronakrise enge soziale Bindun-
Solidarität der Gesellschaft, nachdem sie sich monatelang klaglos zwi-                      gen hatten und einen guten Zusammenhalt erlebten,
schen Küchentisch und kleinem Einmaleins aufgerieben haben. Und die                         die Krise besser meistern und sich weniger einsam füh-
bereits Geimpften werden unruhig und verlangen nach mehr Freiheiten                         len, als die Menschen, die große Zukunftssorgen pla-
im Alltagsleben. Mal ganz abgesehen von Corona-Leugner*innen, de-                           gen. Zudem verschärfen die coronabedingten Belas-
nen ohnehin nur ihr eigenes Wohl am Herzen liegt.                                           tungen wie Unterricht zu Hause, fehlende
                                                                                            institutionelle Unterstützung und auch Arbeitslosigkeit
                                                                                            die Gefahr der sozialen Exklusion. Dies sahen auch die
                                   STABILER ZUSAMMENHALT –                                  im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung Befragten im
                                   TROTZDEM GEFAHR DER EXKLUSION                            Frühsommer 2020 selbst so: Knapp die Hälfte (48 Pro-
                                       Umfragewerte aus verschiedenen Corona-Wellen         zent) glaubten, dass sich die sozialen Unterschiede
                                   belegen, dass eine große Mehrheit der Deutschen viel     durch Corona vergrößert hätten, zwölf Prozent fürch-
                                   Nachbarschaftshilfe und gegenseitige Unterstützung,      teten sogar, dass sie sich stark vergrößert hätten. Nur
                                   insbesondere in der ersten Pandemie-Welle, erfahren      ein Fünftel sah hier eine soziale Annäherung und Ab-
                                   hat. Von dieser Art der unmittelbaren Solidarität im     schwächung sozialer Unterschiede. Nach der Einschät-
                                   Nahraum berichten aber vor allem diejenigen Men-         zung gefragt, wie sich die Pandemie auf den Zusam-
                                   schen, die auch vor Corona sozial gut eingebunden wa-    menhalt vor Ort auswirkt, waren die Interviewten im
                                   ren. Das Zusammenhaltsgefühl der Deutschen bleibt        Sommer 2020 weniger pessimistisch. Doch auch hier
                                   trotz der großen Herausforderungen relativ stabil, hat   sah ein Viertel (26 Prozent) eine leichte, fünf Prozent
                                   sogar in den Sommermonaten nach der ersten Welle         sogar eine starke Verschlechterung des lokalen Zusam-
                                   leicht zugenommen, das Gefühl, das Schlimmste ge-        menhalts. Ein Zusammenrücken verspürten nur gut 10
                                   meinsam gemeistert zu haben, dürfte sich hier nieder-    Prozent (Abb. 1).
                                                                                                                               Immer       deutlicher
                                                                           5                                               wird, dass die Corona-
                                                                                                                           Krise alle Menschen be-
ABBILDUNG 1:                                  12                                                                           trifft, die meisten wohl
                                                                          26
                                                                                                                           auch belastet – aber eben
Entwicklung gesell-                                                                             stark vergrößert           nicht alle gleich stark.
schaftlichen Zusam-                           36                                                etwas vergrößert           Soziale Spannungen und
menhalts durch Co-                                                                              in etwa gleich geblieben   Ungleichheiten, die viel-
rona-Pandemie                                                             55                    etwas verringert           fach bereits vor der Pan-
Angaben in Prozent,                                                                             stark verringert           demie virulent waren,
an 100%                                       30                                                                           treten immer deutlicher
Fehlende: weiß nicht/                                                                                                      zu Tage. So trifft Ein-
keine Angabe                                  13                           7                                               samkeit2 in diesen Tagen
Quelle: Brand et al. 2020: S. 71                                                                                           nicht etwa vorrangig die
                                              8                            3
                                                                                                                           Älteren, sondern Kinder
                                   Entwicklung sozialer           Entwicklung des                                          und Jugendliche, die in
                                    Unterschiede durch          Zusammenhalts vor                                          ihren      Entwicklungen
                                   die Corona-Pandemie          Ort durch die Corona-                                      blockiert und stillgestellt
                                                                     Pandemie                                              werden. Armut, chroni-
16
und bedarfsgerechte Ideen für ihren Stadtteil, ihr Dorf
                                                         oder ihren Verein. Diese Ansätze zeigen sich als neue
                                                         hybride Institutionen, in denen Akteure aus lokaler        1. Brand, Torsten, Follmer Ro,
                                                         Zivilgesellschaft, kommunaler Verwaltung und regio-          Unzicker, Kai: Gesellschaftli-
                                                         naler Wirtschaft zusammenfinden. So entstehen multi-         cher Zusammenhalt in
                                                                                                                      Deutschland 2020, hrsg. von
                                                         funktionale Lösungen und Soziale Orte5 der Begeg-            der Bertelsmann Stiftung,
                                                         nung. Soziale Orte schaffen mithin demokratische             Gütersloh 2020; dies.: Zu-
                                                                                                                      sammenhalt in Zeiten von
                                                         Öffentlichkeit und Zusammenhalt, bleiben aber zu-            Corona: Die stabile Basis
                                                         gleich auf das Vorhandensein infrastruktureller Güter        droht zu bröckeln, hrsg. von
                                                                                                                      der Bertelsmann Stiftung,
                                                         und Dienstleistungen angewiesen (Vereinsheime,               Gütersloh 2021. Auch: Ad-
                                                         Sportstätten und Konzertsäle). Soziale Orte entwickeln       riaans, Jule/Bohmann, Sand-
                                                         sich nicht gegen oder ganz ohne öffentliche Strukturen,      ra/Liebig, Stefan/Priem/
                                                                                                                      Richter, David: Soziale Fol-
                                                         sondern mit ihnen. Für die Initiierung und Stabilisie-       gen der Covid-19-Pandemie.
                                                         rung Sozialer Orte sind freilich überdurchschnittlich        Berlin 2020, S. 77ff.
                                                                                                                    2. Neu, Claudia/Müller, Fabian:
                                                         engagierte und innovationsfähige Akteure aus Zivilge-        Einsamkeit. Gutachten für
                                                         sellschaft, Verwaltung oder Unternehmen erforderlich.        den SoVD. Berlin 2020.
                                                                                                                    3. Neu, Claudia/Nikolic, Ljubi-
                                                         Soziale Orte sind inklusiv, schließen sich nicht gegen       ca: Versorgung im ländlichen
                                                         andere ab und haben offene Ränder. Diesen Akteurs-           Raum der Zukunft: Chancen
sche Krankheiten und das Leben in weniger günsti-        netzwerken gelingt es daher oftmals Menschen anzu-           und Herausforderungen, in:
                                                                                                                      Fachinger, Uwe und Harald
gen Wohnlagen, die kaum Zugang zu unterstützen-          sprechen, die für die klassischen Formen des Ehren-          Künemund (Hrsg.): Geronto-
den institutionellen Strukturen, wohnortnaher            amts nicht (mehr) zu gewinnen sind. Ein fester Kreis         logie und ländlicher Raum, S.
                                                                                                                      185-206, Neu; Claudia: Infra-
Grundversorgung oder einladenden Begegnungsorten         von Aktiven engagiert sich nachhaltig für das Entste-        strukturatlas, hrsg. von der
bieten, verschärfen Marginalisierung und soziale Aus-    hen, Gelingen und „Am-Laufen-Halten“ ihres Sozia-            Heinrich Böll Stiftung. Berlin
                                                                                                                      2020, S. 30ff.
grenzung – unter pandemischen Bedingungen ganz           len Ortes. Dann gibt es aber auch diejenigen, die nur      4. https://www.dorfkinoein-
besonders. Einsamkeit und Isolation verstärken sich,     ab und zu Zeit haben einen Kuchen zu backen, mal             fach.de/
wenn es keinerlei Möglichkeit zum beiläufigen Kon-       Hand anzulegen und die Grillwurst zu wenden. Mit           5. Arndt, Moritz et al: Soziale
                                                                                                                      Orte. Hrsg. von der Fried-
takt in der Öffentlichkeit gibt – etwa beim Bäcker       anderen Worten: Nicht jede oder jeder muss beim Feu-         rich-Ebert-Stiftung. Berlin
oder am Postschalter. Was aber, wenn diese Orte der      erwehrfest oder der Stadtbegrünung mitmachen, kann           2020, library.fes.de/pdf-files/
                                                                                                                      wiso/16772.pdf; Neu, Claudia
Begegnung immer seltener werden, wenn sie unter          aber. Und wenn man nur am Zaun steht oder eine               (Hrsg.): Das Soziale-Orte-
den Bedingungen von demographischem Wandel, In-          Bratwurst isst, ist das auch in Ordnung. Trotzdem ist        Konzept, Göttingen 2020,
                                                                                                                      www.uni-goettingen.de/de/
frastrukturrückbau und nach einer Pandemie einfach       man dabei.                                                   das+soziale-orte-konzept/
verschwinden?                                                                                                         633428.html
                                                         NACH CORONA?
SOZIALE ORTE – WO GESELLSCHAFT                              Was wird nach Corona aus den vielen Sozialen
ZUSAMMENKOMMT                                            Orten im ganzen Land? Viele werden den monate-
   Die Sorge um Begegnungs- und Mitwirkungsräu-          langen Lockdown nicht überstehen, andere werden
me ist weder unbegründet, noch neu. Seit vielen Jahren   sich als resilient erweisen und wieder andere neu ent-
entstehen in Stadtteilen und Landgemeinden multi-        stehen. So stellt Corona die Frage nach Begegnung,
funktionale Dorfläden, die den Lebensmitteleinkauf       Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt
mit weiteren Angeboten wie Verwaltungssprechstun-        neu. Für die nachpandemischen Zeiten wird es darauf
den oder Caféecke verbinden. Hier werden Nahversor-      ankommen, dass Politik und Gesellschaft anerkennen,
gung, Kommunikation und Begegnung neu gedacht            dass es starke demokratische Institutionen und Infra-
und das Angebot an die Bedarfe vor Ort angepasst.        strukturen braucht, die flächendeckend den Bürgerin-
Dabei ist es unerheblich, wer diesen modernen Tante-     nen und Bürgern Teilhabe, Begegnung und Mitwir-
Emma-Laden betreibt: es können Bürgergenossen-           kung ermöglichen und Raum geben, eigene Ideen vor
schaften, Gemeinden selbst oder klassische Einzel-       Ort zu entwickeln.                                   «
händler sein.3 Das Projekt “Dorfkino einfach machbar”
aus Mecklenburg-Vorpommern bringt Qualitätskino in
den ländlichen Raum: (Potentielle) Gründer*innen ei-
nes Filmstandortes erhalten Hilfe beim Aufbau und
Betrieb, um ein Dorfkino zu betreiben.4 Anderenorts                                                                DIE AUTORIN
werden Dorfkneipen als Genossenschaft gegründet
(etwa in Dahlwigksthal in Hessen oder Geschwend im                                                               Prof. Dr. Claudia Neu
Schwarzwald). Städter begrünen ihre Stadtviertel, ge-                                                            ist seit 2016 Inhaberin
meinsam säen und ernten sie in urbanen Gärten. Auch                                                              des Lehrstuhls für länd-
wenn ein Vergleich zwischen den vielen hundert ver-                                                              liche Soziologie an den
schiedenen Aktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern                                                               Universitäten Göttin-
für ihr Gemeinwesen nur unzureichend sein kann, so                                                               gen und Kassel, zuvor
deuten sich dennoch einige Gemeinsamkeiten an: Das                                    war sie von 2009 bis 2016 Professorin für Allge-
Engagement von Bürgerinnen und Bürgern trägt ent-                                     meine Soziologie und empirische Sozialfor-
scheidend zum Erhalt und zur Wiederbelebung des öf-                                   schung an der Hochschule Niederrhein in Mön-
fentlich-kulturellen Lebens sowohl in der Stadt als                                   chengladbach. Sie ist stellvertretende
auch auf dem Land bei. Gleichwohl gibt es nicht die                                   Vorsitzende des Sachverständigen Beirats für
eine Lösungsstrategie für alle Herausforderungen.                                     ländliche Entwicklung beim BMEL.
Vielmehr suchen unterschiedliche Akteure passgenaue
                                                                                                                                                  17
Sie können auch lesen