Sonderausgabe Akademieheute

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Sonderausgabe Akademieheute
„Aber der Mensch entwirft, und Zeus
                                                                         vollendet es anders.“

          Akademie der Wissenschaften                                    Ilias, 18. Gesang, 328
                 zu Göttingen

       Sonderausgabe                                    Akademie heute
       Geistes- und
        Naturwissenschaften
         Kompetenz durch
          Kooperation

Sehr geehrte Damen und Herren,

 eines der bedeutenden Großunterneh-
 men der Klassischen Philologie ist im
 Oktober 2010 abgeschlossen worden:
 das „Lexikon des frühgriechischen
 Epos“. Die Fertigstellung grenzt an ein
 kleines wissenschaftliches Wunder, die
 Arbeit an dem Werk, das den Wort-
 schatz der ältesten literarischen Tex-
 te der Griechen erfasst, vor allem die
 Homerischen Epen Ilias und Odyssee,
 ferner die Gedichte von Hesiod und die
 sogenannten Homerischen Hymnen,
 hatte mitunter etwas Abenteuerliches.      Das Lexikon des frühgriechischen Epos,...
 55 Jahre brauchten Graezisten zweier        schrieb, weltweit bewundert wird         Starck weiter. „Um eine Vollendung
 Generationen, um das Lexikon fertigzu-      Die Akademie der Wissenschaften          des Lexikons innerhalb eines über-
 stellen. Während dieser Zeit wechselte      zu Göttingen hat das Projekt von         schaubaren Zeitraums möglich zu
 mehrfach die Trägerschaft, zwischen-        1980 an betreut.                         machen, wurde eine wesentliche
 durch drohte das Projekt zu scheitern.      Am 6. Oktober 2010 fand zum              Konzentration und Straffung des
 Nun aber gibt es ein Nachschlage-           Abschluss des Vorhabens ein              ursprünglichen Planes vereinbart“.
 werk, das sich Spezialisten der Altgrie-    Festkongress an der Universität          In dieser Sonderausgabe sollen
 chischen Sprache lange gewünscht            Hamburg statt. Wissenschaftler           die Mitarbeiter, die sich in den ver-
 haben und dessen Schaffung, wie Jo-         aus Deutschland, Österreich, der         gangenen Jahren jeden Tag auf
 achim Latacz, emeritierter Professor        Schweiz, Frankreich, Italien, den        das Unterfangen eingelassen ha-
 für Gräzistik an der Universität Basel,     Niederlanden, Griechenland und           ben, das letzte Wort haben. In ei-
 jüngst in einer überregionalen Zeitung      den USA versammelten sich zu             nem ausführlichen Interview erfah-
                                             dem dreitägigen Kolloquium „Ho-          ren wir etwas von ihren Einsichten
                                             mer, gedeutet durch ein großes Le-       und Erfahrungen. Da das Interview
                                             xikon“. Der Präsident der Göttinger      den Umfang eines gewöhnlichen
                                             Akademie, Prof. Christian Starck,        Beitrags unseres Rundbriefes
                                             erinnerte auf der Veranstaltung an       „Akademie heute“ sprengt, haben
                                             den Initiator des Projektes, Bruno       wir uns zu diesen Extraseiten ent-
                                             Snell, der die Auffassung vertreten      schlossen.
                                             habe, dass das, was sich nicht in        Neben dem Interview veröffentli-
                                             der Sprache artikuliere, auch nicht      chen wir auch einen Beitrag des
                                             im Bewusstsein existiere. „Zur Stüt-     zweiten Vizepräsidenten der Göt-
                                             zung seiner Sprachbeobachtungen          tinger Akademie, Prof. Werner
                                             gründetet er 1944 das Lexikon des        Lehfeldt, der zugleich Vorsitzen-
                                             frühgriechischen Epos“. Die Ar-          der der Philologisch-Historischen
                                             beitszeit für den ersten Buchsta-        Klasse ist.
...das so beginnt.                           ben habe 25 Jahre betragen, sagte                                          alo
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Akademie heute                                                       2

Akropolis von Troia mit Blick auf die Dardanellen.                                                          Foto: MMB

Rettung aus der Krise: Seit 1980 betreute die Göttinger Akademie das Homerlexikon

Mit einer Tagung von Homerfor-            Verständnis immer schwieriger           Rettung des Unternehmens eine
schern aus aller Welt wurde An-           wurde. Um ein solches authenti-         maßgebliche Rolle gespielt hat, so-
fang Oktober 2010 in Hamburg der          sches Verständnis zu ermöglichen,       wie seine Nachfolger Ernst Heitsch
erfolgreiche Abschluss eines der          muss zuallererst geklärt werden, in     und Arbogast Schmitt, unter deren
prestigeträchtigsten Langzeitvorha-       welchen Bedeutungen die Wörter          sachkundiger und engagierter Lei-
ben der Göttinger Akademie mar-           bei Homer gebraucht werden und          tung die Wörterbucharbeit gemäß
kiert, des „Lexikons des frühgriechi-     welchen Gegenständen und Vor-           der neuen Konzeption weitergeführt
schen Epos“. Dieses Werk umfasst          gängen sie zuzuordnen sind. Diese       und schließlich erfolgreich beendet
vier großformatige Bände mit zu-          Aufgabe wird in dem Lexikon durch       wurde. Als Redaktoren haben Eva
sammen 6575 Seiten.                       die Untersuchung der Etymologie,        Maria Voigt und Michael Meier-
Der Beginn der Arbeit an dem              der grammatischen Formen, der           Brügger über lange Jahre maßgeb-
Homerlexikon, wie das Wörterbuch          Verwendung im Versmaß und vor           lich am Homerlexikon mitgewirkt.
auch abkürzend genannt wird, fällt        allem der Bedeutung des gesamten        Besondere Erwähnung verdienen
in die unmittelbare Nachkriegszeit.       bei Homer zu findenden Wortschat-       die zahlreichen Mitarbeiter, die sich
Damals fasste der bedeutende              zes gelöst.                             auch nach ihrer Pensionierung un-
Klassische Philologe Bruno Snell          1980 wurde das Homerlexikon in          ermüdlich für das Gelingen und die
den Plan, die Grundlagen des euro-        das Akademienprogramm aufge-            Vollendung des großen Werkes ein-
päischen Denkens freizulegen. Die-        nommen, in die Obhut der Göttin-        gesetzt haben, indem sie weiterhin
sem übergeordneten Ziel sollte die        ger Akademie übernommen und             und unentgeltlich Wörterbucharti-
umfassende wissenschaftliche Ana-         so aus einer existenzbedrohenden        kel verfaßten. Finanziert wurde die
lyse der Sprache Homers dienen, in        Krise gerettet, die sich daraus er-     Arbeit am Homerlexikon seit 1980
der Snell den noch unentwickelten         geben hatte, dass sich der Bearbei-     vom Bund und vom Land Hamburg.
Anfang des europäischen Denkens           tungszeitraum so weit ausgedehnt        Nicht vergessen werden dürfen der
fassen zu können glaubte. Wenn-           hatte, dass ein Abschluss des Un-       Göttinger Verlag Vandenhoeck &
gleich diese Ansicht von Homers           ternehmens in überschaubarer Zeit       Ruprecht sowie die Druckerei Hu-
Epen sich inzwischen tiefgreifend         ausgeschlossen schien. Der erste,       ber & Co, die die Drucklegung des
gewandelt hat und die Forschung           zwischen 1955 und 1979 erarbeite-       Wörterbuchs von der ersten bis zur
in diesen Kunstwerken heute den           te Band deckte schließlich lediglich    letzten Lieferung betreut haben.
vollkommenen Abschluss einer lan-         den Buchstaben Alpha ab.                Die Göttinger Akademie freut sich
gen Tradition mündlicher Überlie-         Zu dem erfolgreichen Abschluss          über die Vollendung eines großen
ferung sieht, mindert dies nicht die      der Arbeit am Homerlexikon haben        Werkes, das der Klassischen Phi-
Bedeutsamkeit einer auf möglichste        zahlreiche Wissenschaftler und In-      lologie Deutschlands weltweit zur
Vollständigkeit abzielenden Analyse       stitutionen beigetragen. Stellvertre-   Zierde und Ehre gereicht und nicht
von Homers Sprache, da Homers             tend für sie alle seien hier genannt    zuletzt dazu beiträgt, dass die deut-
Werke von Beginn an immer wieder          und herzlich bedankt Günther Pat-       sche Sprache eine international un-
neu und unterschiedlich rezipiert         zig, der 1980 an die Spitze der Lei-    entbehrliche Wissenschaftssprache
wurden, so dass ihr authentisches         tungskommission trat und bei der        bleibt.        Prof. Werner Lehfeldt
Sonderausgabe Akademieheute
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Nach 55 Jahren endet eine Odyssee
Das Homerlexikon als Lebensarbeit / Ein Interview mit den Mitarbeitern des Projektes

Die Antwortenden:                      Ein Monumentalwerk wurde nun              gen, sondern auch Historiker und Ar-
                                       fertiggestellt, das „Lexikon des          chäologen, die sich im Lexikon über
                                       frühgriechischen Epos“. Wer hat           die literarischen Quellen informieren
HWN = Dr. Hans-Wilhelm Nordhei-        darauf am meisten gewartet?               können, die nötig sind, um ihre Reali-
der (wissenschaftlicher Mitarbeiter,                                             en zu interpretieren.
von 1967 bis 2008 hauptamtlich,        HWN: Natürlich hat ein solches Le-
seitdem ehrenamtlich tätig)            xikon, d.h. ein Wörterbuch über eine      WB: Als Ergänzung würde ich die Mit-
                                       historische, längst nicht mehr ge-        arbeiter am Basler Ilias-Kommentar
MMB = Prof. Dr. Michael Meier-         sprochene Literatursprache, keine         nennen. Diese kommentieren die ein-
Brügger (Redaktor seit 1984, bis       Breitenwirkung wie ein Bestseller-Ro-     zelnen Bücher fortlaufend und bezie-
1995 hauptamtlich, seit 1996 ehren-    man. Vielmehr wendet sich das Lexi-       hen sich wo immer möglich auf das
amtlich tätig; Professor an der FU     kon zunächst an Grundlagenforscher,       Lexikon.
Berlin)                                die mit altgriechischen Texten arbei-
                                       ten und dabei bis in die Gegenwart        Gibt es nicht auch Grund zum Wei-
VL = Prof. Dr. Volker Langholf         immer wieder erstaunliche Neuigkei-       nen: Nun kommt nach 55 Jahren
(wissenschaftlicher Mitarbeiter, von   ten entdecken. Diese betreffen die        endlich das bedeutendste griechi-
1996 bis 2005 vollamtlich, seitdem     Sprache, Machart und das historisch       sche Wörterbuch aller Zeiten her-
ehrenamtlich tätig)                    kulturelle Umfeld jener Texte. In der     aus und an den Schulen wird kaum
                                       Öffentlichkeit besteht ja ein lebhaftes   noch Griechisch unterrichtet?
WB = Dr. William Beck (wissen-         Interesse an solchen Erkenntnissen,
schaftlicher Mitarbeiter, hauptamt-    man denke an die aktuelle Troia-          WB: Sicher, aber das bloße Vorhan-
lich von 1974 bis 2009, koordiniert    Debatte um Schrott und Korfmann.          densein des Werkes unterstreicht die
seit 1996 die Arbeiten an der Ar-      Von altgriechischen Grundlagenfor-        Wichtigkeit des Themas und des Fa-
beitsstelle, 2010 mit einem Werkver-   schern gibt es immerhin in aller Welt,    ches, und kann neue Interessenten
trag)                                  nicht nur in Europa und Nord- und         gewinnen.
                                       Südamerika, sondern auch in Japan
Die Fragen stellte Adrienne Lochte     und neuerdings auch China, einige         HWN: Der Rückgang des Griechisch-
                                       Tausend. Das sind nicht nur Philolo-      unterrichts an den Schulen ist sehr

                                                                                                     Reise zum Ab-
                                                                                                     schluss im Oktober
                                                                                                     2009: Mitarbeiter
                                                                                                     der     Arbeitsstelle
                                                                                                     zusammen mit Fa-
                                                                                                     milienangehörigen
                                                                                                     im Odeion von
                                                                                                     Troia. Vorne (von
                                                                                                     links):    Dr.H.-W.
                                                                                                     Nordheider, Frau
                                                                                                     Dr. E. Meier-Brüg-
                                                                                                     ger, Dr. R. Führer,
                                                                                                     Dr. G. Markwald;
                                                                                                     Mitte (von links):
                                                                                                     Prof. Dr. M. Meier-
                                                                                                     Brügger, Frau S.
                                                                                                     Boehlich, Dr. W.
                                                                                                     Beck; Hinten (von
                                                                                                     links) Dr. Martin
                                                                                                     Schmidt, Frau Dr.
                                                                                                     A. Schmidt, Frau
                                                                                                     Dr. N. Tichà, Herr
                                                                                                     E. Sisic, Dozent
                                                                                                     Dr. Rüstem Aslan
                                                                                                     (Archäologe, Can-
                                                                                                     akkale/Troia)

                                                                                                             Foto: MMB
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bedauerlich. Aber man muss auch           Brauchen wir das Homer-Lexikon,           wir uns mit ihnen gemeinsame Ge-
berücksichtigen, dass früher zwar der     um europäisch zu denken?                  schichten erzählen können.
prozentuale Anteil der Schüler, die
Griechisch lernten, wesentlich größer     HWN: Als im 8./ 7. Jh. v.Chr. die Wer-    VL: Es wäre schlimm, wenn, um eu-
war als heute, dass damals jedoch in      ke Homers und Hesiods entstanden,         ropäisch zu denken, die Kenntnis des
absoluten Zahlen viel weniger Schü-       gab es den geographischen kultu-          Altgriechischen notwendig wäre. Das
ler Abitur machten. Außerdem muss         rellen Begriff „Europa“ noch nicht.       „Lexikon des frühgriechischen Epos“
man einsehen, dass die Menge des          Homers Ilias und Odyssee wurden           kann aber, wie allgemein die geistes-
Wissenswerten ständig wächst. Noch        aber für die Griechen, und dann auch      wissenschaftliche Forschung, durch
um 1900 hielt man z.B. die Chemie         für uns übrige Europäer, der älteste      differenzierende Fragestellungen und
für nahezu vollendet. Es können also      schriftlich erhaltene Text in einer der   Lösungen dazu beitragen, vereinfa-
die Alten Sprachen nicht das einzi-       nachmaligen europäischen Sprachen.        chendes, fundamentalistisches Den-
ge, schlechthin für alle verbindliche     Sie wurden die „Schule Griechen-          ken zu verhindern.
Curriculum sein. Die Alten Sprachen       lands“, aus der die Griechen in Pro
eignen sich aber hervorragend zum         und Contra ihre Vorstellungen von         Der Plan, ein griechisches Wörter-
methodisch und inhaltlich fächerüber-                                               buch zu schaffen, wurde von Wis-
greifenden Generalistenwissen. Auch                                                 senschaftlern als „abenteuerlich“
als Basis zum Erlernen von Fremd-                                                   bezeichnet, der Begründer Prof.
sprachen schlechthin und sogar zum                                                  Bruno Snell als „mutig“ gelobt. Ha-
Erlernen der eigenen deutschen                                                      ben Sie Ihre Arbeit als „Abenteuer“
Sprache, deren Grammatik sogar die                                                  erlebt?
deutschen Muttersprachler immer we-
niger beherrschen.                                                                  WB: Ja, mit Sicherheit in der Lernpha-
                                                                                    se am Anfang.
VL: Das „Lexikon des frühgriechischen
Epos“ ist zwar wichtig, aber nicht „das                                             HWN: „Abenteuerlich“ war zunächst
bedeutendste griechische Wörterbuch                                                 der Plan, einen griechischen „Thesau-
aller Zeiten“. Schon im Altertum haben                                              rus“, also ein Wörterbuch der gesam-
griechische Philologen Lexika ver-                                                  ten griechischen Literatur, zu erstellen,
fasst, die bis heute als Quellentexte                                               der dann ja wegen des Umfangs des
zur Sprach- und Rezeptionsgeschich-                                                 Materials fallengelassen wurde. Was
te unentbehrlich sind; Wörterbücher                                                 dann den „Mut“ beim Verfassen von
der Jetztzeit sind z.B. das von Liddell                                             Artikeln des Homerlexikons angeht:
/ Scott / Jones und die etymologischen                                              Da ist man als Autor oft geneigt, den
von Frisk oder Chantraine. In dieser                                                Weg des geringsten Widerstandes zu
prominenten Gesellschaft kann das                                                   gehen und sich bei Beurteilung eines
„Lexikon des frühgriechischen Epos“                                                 Sachverhalts einfach der in der Fach-
sich gut sehen lassen. Für Schüler war                                              literatur vorherrschenden Meinung an-
es nie bestimmt, denn es setzt zu viel                                              zuschließen, statt sich in das Material
Sprachkenntnis voraus.                    Gipsabguss des Homerbildnisses im
                                                                                    einzufühlen und sich daraus dann sei-
                                          Louvre                 Foto: MMB          ne Meinung zu bilden, auch wenn sie
Worin unterscheidet sich das Ho-                                                    vom mainstream abweicht, und auch
mer-Lexikon von anderen Wörter-                                                     wenn dabei die Gefahr besteht, einer
büchern?                                                                            der dominierenden Fachautoritäten
                                          Welt, Schicksal, Gut und Böse ablei-      auf die Füße zu treten. Man soll nicht
HWN: Während sich Wörterbücher            teten, und an denen sich dann auch,       verkennen, dass es, wie in der Theolo-
meist mit einem Überblick über die        angefangen bei den Römern, die üb-        gie, auch in der Philologie und auch in
Bedeutungen der betreffenden Wör-         rigen Europäer maßen. Insofern steht      den übrigen Wissenschaften Schulen
ter begnügen, führt das „Lexikon des      Homer am Anfang der Geschichten,          und Kirchen gibt, deren Dogmen man
frühgriechischen Epos“ bei fast jedem     die sich die Europäer seit mehr als       nicht ungestraft verletzt.
Wort, das in den Dichtungen Homers        zweitausend Jahren erzählen und
oder Hesiods vorkommt, sämtliche          aus deren Gesamttext sich trotz aller     VL: In wissenschaftlichem Sinne war
Belegstellen an und bemüht sich, in       politisch historischen Zerstückelung      sie oft ein Abenteuer. Es ging bei al-
der Anordnung dieser Belegstellen         doch so etwas wie eine gemeinsame         ler Routine und trotz gelegentlicher,
vor den Augen des Benutzers sozu-         europäische Kultur entwickelte. Eine      unvermeidlicher     lexikographischer
sagen das Bedeutungssystem darzu-         Hauptschwierigkeit bei der aktuellen      Eintönigkeit darum, Neuland zu er-
stellen, in dem das Wort vom Dichter      Assimilation von Immigranten scheint      forschen. Neuartige Lösungsansätze
verwendet wird. Es kann also auch         mir zu sein, ob sich mit ihnen ein sol-   waren immer willkommen, nach innen
als Kommentar zu einzelnen Stellen        cher gemeinsamer Erzählzusammen-          und außen diskutierte die Arbeitsgrup-
der Dichtung benutzt werden.              hang finden oder herstellen lässt, ob     pe gern.
Sonderausgabe Akademieheute
Akademie heute                                                        5

Es gab doch auch eine Situation,                                                   bereiche, nicht nur die Dichtung,
in der sie besonders gefordert                                                     sondern z.B. auch für die mas-
waren...                                                                           senmediale Rhetorik, und bot Dis-
                                                                                   kussionsstoff für ethische Fragen.
WB: Einmal ganz sicher, als sich                                                   Griechische Lyrik und Tragödie,
1976 die Einstellung der Finanzie-                                                 aber auch die römische Epik sind
rung des Lexikons durch die DFG                                                    unvorstellbar ohne Homer.
abzeichnete. Wir Mitarbeiter muss-
ten zu Maßnahmen greifen, die                                                      Kann man also sagen, wir seien
für uns ungewohnt waren, wissen-                                                   noch „homerbestimmt“?
schaftspolitisch die Mobilisation der
Fachwelt und juristisch der Kampf                                                  HWN: Wir sind immer noch „homer-
um die Kontinuität des Arbeitsplat-                                                bestimmt‘, lassen wir Ihr Wort mal
zes. Die kräftezehrenden Unsi-                                                     so stehen, insofern wir immer noch
cherheiten endeten erst 1980 mit                                                   an den von Homer behandelten
der Übernahme und gesicherten                                                      Fragen zu knabbern haben. Dies
Fortführung des Lexikons durch die                                                 sind „Der Mensch und sein Schick-
Göttinger Akademie. Mut brauchte                                                   sal“, „Die Götter“, „Der einzelne
es auch später, wenn Zweifler die                                                  und die Gemeinschaft“, „Liebe und
rechtzeitige Vollendung des Wer-                                                   Hass“, „Was sollen, bzw. können
kes in Frage stellten.                                                             wir tun“ usw. usw. Wir sind „homer-
                                                                                   bestimmt“ indem wir uns immer
MMB: Ich kenne und schätze das                                                     noch, und hoffentlich noch lange,
Homerlexikon seit meinem Stu-                                                      für andere Menschen interessie-
dium, bin aber erst seit 1984 eng                                                  ren, für ihre Freuden und Leiden,
damit betraut. Ich kann nur bei-         Zettelkästen in der Homerbibliothek       die uns unmittelbar berühren, auch
                                                                    Foto: MMB
pflichten, dass der Mut zum Durch-                                                 wenn sie vor mehr als zweitausend
halten gegenüber Zweifeln an der                                                   Jahren passiert sind. Und insofern
fristgerechten Zuendeführung des          schen und römischen Altertum der         wir mit den Worten Sultan Saladins
Lexikons nicht immer einfach auf-         wichtigste Schulautor. Er war „ka-       aus Lessings „Nathan“ immer noch
rechtzuhalten war. Der Glaube             nonisch“ zur Geschmacksbildung           gern „Geschichten hören, wenn sie
an die Sinnhaftigkeit der Aufgabe         und als Maßstab für viele Lebens-        gut erzählt“ sind.
hatte aber bei allen Anwürfen die
Oberhand. Die Mitarbeiter haben in
diesem Wissen ihre ganze wissen-
schaftliche Lebensarbeit dem Lexi-
kon gewidmet und es zu dem ge-
macht, was es heute ist, sie haben
durch ehrenamtliche Mitarbeit im
Ruhestand dem Unternehmen zum
erfolgreichen Abschluss verholfen.

Noch einmal zu Homer. Können
zwei Werke eines Autors so be-
deutend sein, dass man auf ih-
nen ein Monumentalwerk grün-
det?

WB: „Ilias“ und „Odyssee“ sind
die ersten maßgebenden Werke
des Abendlandes. Die folgende
altgriechische Literatur misst sich
immer wieder an ihnen. Homer war
Pflichtlektüre, er galt als „Erzieher
Griechenlands“.

VL: Und noch ein paar Stichwor-          „Philosophenturm“ im Von-Melle-Park der Universität Hamburg. Hier im 8. Stock
te: Homer war im ganzen griechi-         entstand das Lexikon.                                             Foto: MMB

Impressum: Prof. Dr. Werner Lehfeldt, Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (verantwortlich)
Redaktion: Adrienne Lochte, alochte1@gwdg.de, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Theaterstraße 7, 37073 Göttingen
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