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Spurensicherung: Egon Kuhn und die Geschichte(n) einer Identität

»Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.«

(Bertolt Brecht, Das Lied von der Moldau)

Einleitung
Am 12. März 2021 soll das "Zeitzentrum Zivilcourage" (ZZZ) in Hannover eine virtuelle
Eröffnung erleben. Im Programm sind der Oberbürgermeister Belit Onay, Ministerpräsident
Stephan Weil, Dr. Elke Gryglewski von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und als
Sprecher des wissenschaftlichen Beirats Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann vorgesehen.
Den Eröffnungsvortrag wird Prof. Dr. Micha Brumlik von der Frankfurter Goethe-Universität
halten.

Zivilcourage soll, so Dr. Karljosef Kreter, der Leiter des Fachbereichs Erinnerungskultur der
Stadt Hannover, bei einer ersten Vorstellung des Zentrums im März 2019, als Ausdruck von
Mut im Sinne der "Bereitschaft, angesichts zu erwartender Nachteile etwas zu tun, was man
für richtig hält" eine zentrale Rolle spielen.

Ein solcher Ort kann sicher - fachlich professionell ausgestattet und geführt - einen wichtigen
Beitrag zur Ausgestaltung einer lebendigen Demokratie sein, zu dem viele Bürgerinnen und
Bürger sicher auch praktisch beitragen möchten.

"So lernen Schüler Demokratie" titelte die "NP" am 6. Oktober 2020 und beschrieb das
Szenario, das die Besucher im Zentrum erwartet, wie folgt: "Jeder Besucher erhält am
Eingang eine sogenannte Spurenkarte, darauf eines von 45 Porträts. Es sind Männer, Frauen,
Kinder aus allen sozialen Schichten der damaligen Stadt. NS-Opfer, Täter, Juden,
Homosexuelle, Mitläufer, Widerständler, stille Helden, skrupellose Unternehmer. Egon Kuhn
etwa, der einst zur Waffen-SS gehörte, später alle NS-Ideologien hinterfragte und neue
politische Ideen lernte." Im Newsletter des Netzwerks Erinnerung und Zukunft heisst es dazu:
"Der überzeugte Hitlerjugendführer und junge Marinesoldat Egon Kuhn zeigte sich glühend
in seiner Verehrung und Treue zu 'seinem Führer' Adolf Hitler. Nach dem Krieg und in der
späteren Bundesrepublik Deutschland wandelte sich Kuhn zum linken Sozialdemokraten,
leitete das Freizeitheim Linden und setzte sich engagiert für die Aufarbeitung der NS-Zeit
ein." (Newsletter, September 2020, S. 2).

Biografsche Arbeit ist komplex und bedingt umfangreiche Recherchen. Die persönliche
Entwicklung eines Menschen ist von inneren Treibkräften wie von äußeren Ereignissen
abhängig. Motive und Handlungen werden oft nur gegenwartsbezogen gewertet und nicht in
ihrer historischen Entwicklung. Das Leben Egon Kuhns ist nicht zuletzt von ihm selbst in
"Das Buch EGON" (Hannover 2007) dargestellt worden, seine Entwicklung nach 1965 in
"Egon Kuhn - Ein Nachruf" aus der Sicht von Jonny Peter.
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Ich präsentiere in der nachfolgenden Dokumentation Ereignisse aus dem Leben von Egon
Kuhn aus der Sicht des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, eines nach dem Vorbild
der Repressivorgane der UdSSR geformten Kontrollorgans, das nicht nur das tägliche Leben
der Menschen im Osten Deutschlands minutiös auf abweichendes Verhalten zu überwachen
trachtete, sondern auch in Westdeutschland erheblich aktiv war. Wir veröffentlichen die
Materialien, die vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der
ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) sichergestellt werden konnten und
uns auf Anfrage zur Verfügung gestellt wurden.

Die Sichtweise der Ermittler ist ohne Zweifel - so viel läßt sich vorab sagen - einseitig und
grundsätzlich von der paranoiden Vorstellung geprägt, das Gegenüber sei potentieller Feind
und als solcher zu behandeln - wie es die psychisch beschädigten Kader mit
Russlanderfahrung ihnen als Arbeitsansatz vorgaben und die sowjetischen Besatzer in
Fortsetzung der Nazidiktatur praktizierten.

„Zusammenfassender Bericht zum AM 'Egon'
Der o.g. ist BRD-Bürger und zur Zeit Leiter des Freizeitheimes 'Linden' in Hannover.
K. ist Mitglied der SPD und wird dem linken Flügel dieser Partei zugeordnet. Im Rahmen
seiner Parteiarbeit ist er Vorsitzender des Stadtbezirkes Linden-Limmer. Er ist städtischer
Angestellter.

K. ist politisch sehr aktiv. Als Persönlichkeit ist er in der Lage, massenpolitisch zu wirken.
Von einem großen Kreis der Mitglieder der SPD seines Stadtbezirkes wird er sehr geschätzt
und als Vorbild anerkannt.
Auch Genossen der DKP erkennen ihn an und schätzen ihn. Seine politische Einstellung läuft
in Richtung der Einstellung der jugendlichen SPD-Anhänger (JuSo).

[Mehrere Passagen geschwärzt]

K. besaß ein sehr gutes Allgemeinwissen und war ein Vertreter der politischen Konzeptionen
des westdeutschen Imperialismus. Dieses und andere Einschätzungen zum K. aus dem
Zeitraum um 1959 [Hervorhebung von mir, Anm. R.D.] stehen im Widerspruch zu seinen
politischen Äußerungen und Haltungen ab 1975.

Von dem IM1 'Karl Langer' gibt es eine Einschätzung zum K. Der IM wird von der Abteilung
XV der Bezirksverwaltung Potsdam gesteuert. Im Jahre 1963 hielt sich der IM in Hannover
auf. Im dortigen Amerika-Haus wurde vom Stadtsenator für Kulturfragen 2 ein Gespräch über
Kulturpolitik organisiert, an dem auch der IM teilnahm. Hier kam es zum ersten Kontakt
zwischen IM und dem Kuhn.
In diesem Gespräch versuchte der K. die DDR-Position, daß die Kulturarbeit geplant werden

1 Inoffzieller Mitarbeiter (IM) - war in der DDR die MfS-interne Bezeichnung für eine Person, die dem
Ministerium für Staatssicherheit (MfS, auch „die Stasi“) gezwungenermaßen oder freiwillig verdeckt
Informationen lieferte oder auf Ereignisse oder Personen steuernd Einfuss nahm, ohne formal für diese Behörde
zu arbeiten. Mit seinen zuletzt rund 189.000 Angehörigen deckte das Netz aus inoffziellen Mitarbeitern
nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche der DDR ab und bildete somit eines der wichtigsten
Herrschaftsinstrumente und Stützen der SED-Diktatur. (Quelle: Wikipedia)
2 Es dürfte der damalige Kultur- und Sportdezernent (1959-1975) Heinz Lauenroth (SPD) gemeint sein.
3

müsse, zu widerlegen. In einem weiteren Einsatz in der BRD im Jahre 1965 hatte der IM
wiederum Kontakt zum K.
Der K. zeigte dem IM nach einer Veranstaltung das von ihm geleitete Freizeitheim in
Hannover-Linden. Während der Besichtigung des Heimes war der IM Zeuge der Gründung
einer neofaschistischen Jugendorganisation der BRD. K. gab gegenüber dem IM an, daß in
seinem Haus jede Organisation Veranstaltungen durchführen könne. Für den Inhalt sei er
grundsätzlich nicht verantwortlich.
Von 1965-1977 hatte der IM keinerlei Verbindungen zu K. Er war erstaunt, daß bei seiner
Einreise 1977 Kuhn ausgerechnet ihn als Gesprächspartner forderte.

Der K. weilte auf Einladung des Komitees Ostseewoche im Sommer 1975 in Rostock. 3 Dort
wurde zu DDR-Bürgern (Sportler aus Magdeburg) Kontakt aufgenommen und es erfolgte der
Austausch der Adressen. K. hatte danach das Bildungszentrum Magdeburg angeschrieben
und um Einreisegenehmigung ersucht. Er wurde von dort nach Potsdam vermittelt. Am 16.
01. 1976 kam es mit der Geschäftsstellenleiterin des Bildungszentrums 'International'
Potsdam4, der Genn. [Abkürzung von „Genossin“, Anm. R.D.] Bade, zur ersten
Zusammenkunft.
In persönlichen Gesprächen mit der Genn. Bade als auch mit einem Reisekader der SED-
Bezirksleitung zeigte sich K. sehr kritisch in seiner Haltung gegenüber der Politik der BRD

3 Die Ostseewoche war eine, von 1958 bis 1975 in der DDR jährlich veranstaltete, internationale Festwoche.
Veranstalter des Kultur- und Sportfestivals war der Gewerkschaftsbund FDGB, der jeweils gleichzeitig in
Rostock die „Arbeiterkonferenz der Ostseeländer, Norwegens und Islands“ durchführte. Das Ziel dieser
Konferenz und der Ostseewoche war es, die Beziehungen der DDR zu den nordeuropäischen Ländern zu
entwickeln und für die staatliche Anerkennung der DDR zu werben. Die Teilnehmer kamen aus der
Bundesrepublik Deutschland, den anderen Ostseeanliegerstaaten, aus Norwegen und Island. (Quelle:
Wikipedia)
4 International - Informations- und Bildungszentrum e.V. (1974-90). Nach der internat. Anerkennung der DDR
kam es in den 70er Jahren verstärkt zu offziellen Kontakten zwischen den Gewerkschaften des DGB und dem
FDGB. Der BuV hielt es nun nicht länger für zweckmäßig, dass Vorstände des FDGB daneben informelle
Kontakte zu einzelnen Gewerkschaftern der BRD unterhielten. Da jedoch das ZK der SED darauf bestand,
solche Kontakte weiter zu pfegen, wurde dafür eine offziell unabhängige Einrichtung in der Rechtsform eines
eingetragenen Vereins geschaffen. Auf der Grundlage der Beschlüsse des Sekr. des FDGB-BuV vom 29.8.1973
und 28.11.1973 wurde auf der Mitgliederversammlung am 31.1.1974 das I.-I.u.B.e.V. gegründet (Vgl. a. zur
Zielstellung Westarbeit). Als Mitglieder fungierten v.a. Mitarbeiter der Westabt. sowie der Leiter der Abt.
Bundesfnanzen, Harri Weber. Den dreiköpfgen Vorst. bildeten der Vors. des Vereins, Erich Sussujew, vertreten
durch Helmut Dunkel, und der stellv. Vors. Harri Weber. 1976 wurde der Vorst. um zwei weitere Mitglieder
erweitert. Der Vorst. berief den Geschäftsführer, 1990 war dies Harry Kein. Als Zweck des Vereins wurde
Information über die DDR und ihre Gewerkschaftspolitik angegeben. Dazu wurden Studien- und Urlaubsreisen
für Gewerkschafter und Gruppen aus der BRD angeboten und Kontakte unterhalb der offziellen Ebenen
vermittelt. Seine Geschäftsräume befanden sich in Berlin in der Dimitroff- (heute Danziger) Straße. Der Verein
betrieb ein Gästehaus in Rostock-Gehlsdorf. Die Besucherzahl stieg von 2000 im Gründungsjahr auf 13165 im
Jahre 1988 an, darunter etwa 2000 Besucher, die über die DKP bzw. die SEW vermittelt wurden.
Der Verein wurde unter der Nr. 462 in das Vereinsregister beim Präs. der VP in Berlin eingetragen und am
30.3.1976 vom MdI genehmigt. Nach außen hin scheinbar selbständig, war der Verein tatsächlich ein Sektor in
der Struktur der Westabt. Er sollte zunächst auch nach der Reorganisation des FDGB 1990 weitergeführt
werden (GV 31/90 vom 7.3.1990). Dazu wurde die Revision der Satzung und die Neuwahl des Vorst. auf der
Grundlage des neuen Vereinigungsgesetzes der DDR vom 21.2.1990 vorgesehen. Der GV benannte für den
Vereinsvorst. sein Vorstandsmitglied für Finanzen und Vermögen, Klaus Umlauf. Weitere Vorstandsmitglieder
sollten die IG Metall, IG Druck und Papier sowie die Gew. Unterricht und Erziehung benennen. Der Verein
wurde einer der Gesellschafter der VVG GmbH. Am 30.5.1990 beschloss der GV des Gewerkschaftlichen
Dachverbandes jedoch, den Verein I.-I.u.B.e.V. aufzulösen und den Gesellschaftsanteil an die
Einzelgewerkschaften zu übertragen. (Quelle: FDGB-Lexikon, Berlin 2009)
4

und der führenden Sozialdemokratie.
Er ist in vielen Fragen nicht mit der Politik der SED einverstanden. Er tritt für die
Aktionseinheit mit den Kommunisten ein.
Alle Versammlungen der DKP aus dem Stadtteil Hannover-Linden werden in dem von K.
geleiteten Freizeitheim durchgeführt.
In seiner Eigenschaft als SPD-Vorsitzender muß er bei der Polizei alle Veranstaltungen
anmelden und ist folglich bei der Polizei wie auch beim BfV [gemeint ist das Bundesamt für
Verfassungsschutz, Anm. R.D.] bekannt.

Dem Gen. Seifert, Sektorenleiter der SED-Bezirksleitung Potsdam wurde von Gen. des DKP-
Vorstandes Niedersachsen mitgeteilt, daß Kuhn bei einer SPD-Veranstaltung, an der auch
DKP-Mitglieder teilnahmen, einen Agenten des Verfassungsschutzes des Hauses verwiesen
hat.
Im Jahre 1959 wurde der K. als ein Vertreter der Konzeption des westdeutschen
Imperialismus eingeschätzt. Umstände, die den K. zu einer Änderung seines politischen
Verhaltens getrieben hätten, wurden nicht bekannt. Seine demonstrative Handlung
'Hausverweisung eines BfV-Agenten' kommt einer gezielten Aktion gleich.
Dadurch, daß alle Veranstaltungen der DKP im Freizeitheim stattfnden, ist das die beste
Kontrolle für die BfV.
Zum anderen muss man feststellen, daß die Position des K. trotz ständigen Kreuzfeuers der
rechten SPD-Führung bisher unantastbar war. Zur Beantwortung der Frage, inwieweit hier
das BfV Rückendeckung liefert, gibt es bisher keine Anhaltspunkte.

Nach Information eines Einsatzkaders aus dem Jahre 1964 oder 1965 (Name nicht bekannt,
kann auch nicht mehr rekonstruiert werden) ging hervor, daß Kuhn [zwei Worte geschwärzt]
In welchem Zusammenhang diese Information stand, konnte Gen. Seifert nicht mehr
erinnern.

Bei der Einreise des Kuhn am 16. 01. 1976 handelte es sich um Vorabsprachen. Die
Delegationsreise erfolgte am 12. 02. 1976. Kuhn reiste zusammen mit der Person [Passage
geschwärzt]
Die Übergabe der Berechtigungsscheine für die Einreise des Kuhn erfolgte an der Güst
[Abkürzung für Grenzübergangsstelle, Anm. R.D.] persönlich durch die Genn. Bade, da der
K. seine Personalien zu spät nach Potsdam geschickt hatte. Die Genn. Bade verwies darauf,
daß eine solche persönliche Übergabe der Berechtigungsscheine nur eine einmalige
Ausnahme war.
K. äußerte darauf, daß die Post der DDR sehr lange geht, weil der Verfassungsschutz die
Briefe kontrolliert. K. war der Meinung, daß er vom BfV überwacht wird und es günstiger
wäre, den Brief mit den Personalien der Delegationsmitglieder an die Privatadresse der
Genn. Bade und nicht an das Bildungszentrum Potsdam zu senden. [1 ½ Zeilen geschwärzt]
Seiner Meinung nach würden dadurch die Briefe nicht mehr 10 Tage unterwegs sein. Die
Genn. Bade übergab Kuhn ihre Privatanschrift. Mit diesem Hinweis auf das BfV gab sich der
K. einen vertrauenserweckenden Anstrich und erlangte zum anderen zu der [sic!]
Privatadresse.
Ein Delegationsteilnehmer stellte der Genn. Bade in einem persönlichen Gespräch die Frage,
ob es möglich sei, daß er in absehbarer Zeit mit einer Jugendgruppe zum Bildungszentrum
Potsdam einreisen könnte. Von diesem Gespräch muß K. Kenntnis erhalten haben, denn er
sprach Genn. Bade kurze Zeit danach an und äußerte den Wunsch, Verhandlungen über
5

weitere Delegationen aus dem Bestand der Delegationsmitglieder selbst mit abzusprechen,
auch wenn sie aus der BRD von diesem angeschrieben würde, möchte sie ihn (Kuhn)
verständigen.
Der K. hatte der Genn. Bade nach seiner Rückkehr in der BRD einen Brief geschrieben.
Dieser Brief ist nach Aussage der Genn. Bade recht persönlich gehalten.
Er trägt die Überschrift 'Liebe Renate' und ist mit 'Dein Egon' unterzeichnet. Diese Form
entsprach nicht dem Verhältnis des K. zur Genn. Bade.

Eine für den Zeitraum vom 17.- 20. 06. 1976 geplante Einreise wurde von Seiten von Kuhn
abgesagt.

[In der Jahresberichterstattung 1976 des Leiters der Potsdamer Dienststelle fndet sich
folgende Aussage zu Kuhn: „Bei seinen Einreisen zeigt er sich nur von der positiven Seite. Er
prahlt gegenüber unseren Verbindungen mit seinen guten Kontakten zur DKP und machte
mehrmals die Bemerkung, daß er deshalb bald aus der SPD ausgeschlossen werde. (…) Bei
erneuter Einreise des Kuhn werden mit dem Mitarbeiter der Abteilung II
Koordinierungsmaßnahmen festgelegt. U.a. wird ein exponierter IM der Abteilung II in das
Blickfeld des Kuhn gerückt. Sollte Kuhn tatsächlich für den Gegner arbeiten, ergibt sich für
die DKP eine große Gefahr.“ (BStU, MfS, HA Abt. II/19 5736, Bl. 0009)]

Nach Ausscheiden der Genn. Bade im Dezember 1976 wurde für das Bildungszentrum
Potsdam der Gen. Mummert, Werner eingesetzt.
In einem Brief am 05. 04. 1977 teilte K. mit, daß er und [Worte geschwärzt] am 10. 06. 1977
einreise. Bei dieser Einreise lernte Kuhn den Gen. Mummert kennen.

[Dieses Ereignis schlägt sich im Monatsbericht des International Informations- und
Bildungszentrums e.V. Potsdam vom 28. Juni 1977 nieder:
„2.) Aus dem Freizeitheim Hannover-Linden reisten der Leiter, Kollege K u h n und
[geschwärzt] in der Zeit vom 10.-12.06.77 nach Potsdam ein.
Er beabsichtigt, im September 1977 mit einer Gruppe von 15 Gewerkschaftern nach
Potsdam zu kommen. Das wäre die zweite Gruppe, die der Koll. Kuhn organisiert. Er war
bereits zweimal in der DDR, auch zur Arbeiterkonferenz in Rostock.
Das Programm wurde im Groben festgelegt.
Während der Gespräche zeigten sich beide Kollegen aufgeschlossen mit einer positiven
Einstellung zum Sozialismus und zur Sowjetunion (die der Kuhn als Mitglied einer Delegation
besucht hat) und zur DDR. Obwohl beide langfristig der SPD angehören, stehen sie der
SPD-Politik und den Spitzenpolitikern ablehnend gegenüber.
Nach Darlegung des Kuhn steht er der DKP nahe und arbeitet in seiner Funktion eng mit
DKP-Genossen und DKP-Funktionären zusammen.
Er betonte mehrfach, daß die DDR seit seinem letzten Aufenthalt auf allen Gebieten,
besonders aber dem Bauwesen, sichtbar gewachsen ist.
Dazu vertrat er die Meinung, daß die DDR-Bürger auf ihre erzielten Erfolge zu bescheiden
sind. [sic!]
Auf die Frage, warum er noch nicht den Weg zur DKP gefunden habe, erklärte er, daß er
nach Ansicht der DKP-Genossen für sie eine bessere Arbeit leisten würde, wenn er Mitglied
der SPD bleibt und in dieser Partei für sie arbeitet.
Interessant war zu erfahren, daß sein erster Aufenthalt in der Geschäftsstelle Potsdam eine
langanhaltende Wirkung bei den Teilnehmern erzielt und daß in ihrem Ergebnis 3 SPD-
6

Mitglieder zur DKP übergetreten sind und 8 Mitglieder der VVN der BRD geworden sind.
Auswertungen dieser Studienfahrt sind z.B. in das Monatsprogramm des Freizeitheimes
Linden aufgenommen worden.“ (BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0014)]

Von K. wurde das Ausscheiden der Genn. Bade bedauert.
Über den Gen. Mummert ließ der K. der Genn. Bade ein Geschenk und einen persönlichen
Brief übergeben.
Im Gespräch mit Kuhn stellte sich heraus, daß dieser Mitglied der VVN geworden war. Die
VVN setzte sich ursprünglich aus den Verfolgten des Naziregimes zusammen. Aus Gründen
der Überalterung und des Zusammenfalls werden BRD-Bürger in die VVN aufgenommen,
die sich bereit erklären, gegen Refaschisierung und Antikommunismus zu kämpfen.

Kurz vor der Rückreise aus Potsdam nach der BRD erklärte K., daß er einen Abstecher nach
Schönebeck unternehmen wird, um [Wort geschwärzt] zu besuchen.
[Passage geschwärzt]
Während der Einreise wurde bekannt, daß K. auch in anderen Bezirken war, so in
Neubrandenburg, 1975, [mehrere Worte geschwärzt] und Rostock 1975 und 1976
(Ostseewoche).

Am 30. 08. 1977 erhielt Gen. Mummert einen Anruf vom FDGB-Bundesvorstand Berlin,
Gen. Dr. Egon Springer – Berlin-West, indem [sic!] dieser mitteilte, daß er während der
Konferenz der Ostseeländer in Rostock den K. getroffen habe.
Dabei wurde bekannt, daß K. die Orientierung erhalten hat, künftig mit dem Bezirk
Magdeburg Einreisen zu vereinbaren.

Die nächste Einreise des K. erfolgte vom 22.-25. 09. 1977, zu den Betreuern gehörte der
Gen. Lill, Karl.
Der L. war zu diesem Zeitpunkt Leiter des Kulturhauses 'Hans Marchwitza' in Potsdam. Bei
diesem Aufenthalt wurde bekannt, daß sich K. und L. seit 1964 kennen. Damals fungierte
Karl Lill als Einsatzkader nach Hannover. [mehrere Worte geschwärzt]
Am 10. 06. 1978 nahm K. an der Arbeiterkonferenz der Ostseeländer in Leningrad teil.

Anfang Juli 1978 wurde seitens der Hauptabteilung VIII ein operativer Einsatz nach
Hannover zu einem Kontakt aus der Jura-Delegation (April in Potsdam) durchgeführt.
K. machte Gen. Dr. Springer, Mitarbeiter beim Bundesvorstand des FDGB die vertrauliche
Mitteilung, daß er von einem BRD-Bürger, welcher mit einer Delegation in der DDR weilte,
einen Brief erhielt. In diesem Brief wurde der Empfänger gebeten, zu einem erneuten
Studienaufenthalt in die DDR einzureisen. Als Absender fungierte der Leiter der
Geschäftsstelle Bildungszentrum 'International' Potsdam, der diesen Brief im Auftrag der
Hauptabteilung VIII/6 Berlin geschrieben hatte.
K. war der Meinung, daß es sich um eine versuchte Verbindungsaufnahme des MfS der DDR
handelt. Er habe von der Existenz des Briefes den DKP-Bezirksvorstand Niedersachsen, Gen.
Werner Hilke5, verständigt.

5 Werner Hilke war in den 1950er Jahren Orts-Jugendausschuss-Vorsitzender der Graphischen Jugend, die
damalige Jugendorganisation der IG Druck und Papier. Im Jahr 1959 wurde er DGB-Kreisjugend-
Ausschussvorsitzender. Ein Jahr später gab der damals 20-Jährige dieses Amt an Werner Tschischka ab und
bekleidete es erneut zwischen 1963 und 1967. Werner Hilke war so automatisch auch Mitglied im Orts- und
Bezirksvorstand der IG Druck und Papier und im DGB-Kreisvorstand. In den 1960er Jahren engagierte sich
7

Gegenüber dem Empfänger des Briefes habe K. geäußert, daß es vermutlich eine Provokation
des Verfassungsschutzes sein könnte.
Da er jedoch die Handschrift des Geschäftsstellenleiters der genannten Einrichtung
persönlich kennt, mußte ihm die Identität klar sein.

K. war am 08. und 09. 07. 1978 gemeinsam mit [Passage geschwärzt] beim Potsdamer
Bildungszentrum zu Vorabsprachen für Delegationseinreisen. Er reiste anschließend weiter
zum FDGB-Bundesvorstand Magdeburg, um sich dort mit dem Gen. Theo Fähnricht [Richtig:
Fähnrich, bis 1983 Sekretär für Internationale Verbindungen beim Bezirksvorstand des FDGB
Magdeburg, Anm. R.D.] zu treffen.

Am 07.-12. 12. 1978 erfolgte eine weitere Einreise des K. mit einer Delegation nach
Potsdam.
Durch die Bezirksleitung der SED Potsdam, Gen. Seifert, erhielt das BdL [= Büro der Leitung,
Anm. R.D.] (II) Potsdam die Mitteilung, daß seit ca. 3 Jahren (ab 1975) bei Reisekader-
Einsätzen im Freizeitheim Hannover-Linden (propagandistische Veranstaltungen) keine
Beauftragten des Verfassungsschutzes mehr erscheinen.
Der Zeitraum fällt mit dem Beginn der erneuten Einreisen des K. in die DDR zusammen.

Im Jahre 1979 erfolgten nach Potsdam Einreisen zur Vorabsprache (04. 06. – 05. 06. 1979)
und zum Delegationsbesuch (11. - 14. 10. 1979).
Durch den Genossen Seifert (SED-Bezirksleitung Potsdam) wurde bekannt, daß K. eine
postalische Verbindung zum Schauspieler Minetti, Hans-Peter (ehrenamtlicher Vorsitzender
Gewerksch. Kunst)6 unterhält.
Der Kontakt Kuhn-Minetti ist zurückzuführen auf den Aufenthalt des M. am 15./18. 09. 1979
im Freizeitheim Hannover-Linden.

Nach unserer Kenntnis erfolgte durch K. 1979 noch eine Einreise nach Magdeburg vom 26.
02.-03. 03.
Im Jahre 1980 gab es zwei Einreisen des K. Am 12./13. 04. 80 eine Einreise zur
Vorabsprache und am 16./22. 05. 1980 eine Einreise mit Delegation.
Zur Vorabsprache reiste der K. diesmal mit der Person [Worte geschwärzt] in Potsdam ein.
[Passage geschwärzt].
K. und [Wort geschwärzt] kennen sich aus ihrer berufichen Tätigkeit. [Passage geschwärzt]
Ausgehend von der berufichen Tätigkeit des K. als Leiter des Freizeitheimes Hannover-
Linden ist K. dem Leiter des Dezernates Kultur in der Stadtverwaltung Hannover unterstellt.
Der Name des selben wurde nicht genannt. [Passage geschwärzt].

Hilke außerdem als Betriebsratsmitglied bei der Druckerei H. Osterwald (Quelle: DGB-Maizeitung 2015)
6 Minetti, Hans-Peter (*21. April 1926 - 10. November 2006) - Geb. in Berlin als Sohn des Schauspielers
Bernhard Minetti, Volks- und Oberschule, Abitur; 1943 RAD, 1944/45 Wehrmacht; 1945/46 Studium der
Philosophie und Kunstgeschichte an der Univ. Kiel, ab Herbst 1946 an der Univ. Berlin, anschl. Studium in
Hamburg und 1949/50 am Theaterinstitut in Weimar, 1950 Diplom-Schauspieler; 1946 Mitgl. der KPD, 1950
der SED; ab 1950 Schauspieler am Wandertheater „Junges Ensemble“ ab 1952 Engagement am
„Mecklenburgischen Staatstheater“ Schwerin, später am „Maxim-Gorki-Theater“, 1956-59 am „Deutschen
Theater“, anschl. an der „Volksbühne“ und am „Berliner Ensemble“ Mitwirkung an zahlreichen DEFA- und
DFF-Filmen; 1958 KdZK, 1986-89 MdZK der SED; 1966-74 Vors. des ZV der Gew. Kunst, 1968-72 Mitgl. des
FDGB-BuV; 1974-87 Dir./Rekt. der Staatl. Schauspielschule „Ernst Busch“ 1975-89 Präs. der Ges. „Neue
Heimat - Vereinigung in der DDR für die Verbindung mit Bürgern deutscher Herkunft im Ausland“, 1984-89
Präs. des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR. A.H. (Quelle: FDGB-Lexikon, Berlin 2009)
8

[Passage geschwärzt].
Des weiteren ist erwähnenswert, daß der K. von den vorhandenen Fotoaufnahmen der
Einreise, wo [Worte geschwärzt] als Betreuerin fungiert, Abzüge haben wollte.
Ihm wurden Bilder ausgehändigt.

Zu Kuhn wurde weiterhin bekannt, daß er mit einer Gruppe von 'Arbeit und Leben' für 14
Tage in Jugoslawien weilte.
Im Jahre 1981 reiste K. mit einer Delegation vom 15. 06. bis 21. 06. 1981 nach Potsdam. Zur
Delegation gehörten 10 Personen.
Die Übernachtungen erfolgten im Arbeiterwohnheim des WBK [= Wohnungsbaukombinat,
Anm. R.D.] in der Waldstadt.
Vom 13. 11. - 15. 11. 1981 fand im Bildungszentrum Potsdam eine Vorabsprache für die
geplanten Kontakte für 1982 statt.
Die Delegation soll demnach vom 14. 6. bis 20. 6. 1982 nach Potsdam einreisen.
An der Absprache nahmen seitens der SPD Kuhn und [Worte geschwärzt] teil.
Seit November 1981 wird die Funktion des Gen. Mummert von der Genn. Küchler
wahrgenommen.

Im allgemeinen kann eingeschätzt werden, daß K. bei erfolgten Einreisen nach Potsdam
durch die Betreuer des Bildungszentrums einer operativen Kontrolle unterlag.

Der Kuhn ist aufgrund seiner Tätigkeit und seiner Kontakte objektiv in der Lage, auf dem
Gebiet der politischen Spionage nachrichtendienstlich tätig zu sein. In seiner Funktion als
Leiter des Freizeitheimes Hannover-Linden hat er sich in bezug auf die DKP-Führung eine
solche Vertrauensstellung erarbeitet, die es ihm ermöglicht, die Aktivitäten der DKP in
Hannover unter Kontrolle zu halten.

Bei seinen Reisen in die DDR erhält er Informationen über die Entwicklung der DDR und hat
Kontakte zu Personen bis hin zur Ebene der Bezirksleitung der SED.

Im Prozeß der Klärung und qualifzierten Beantwortung der Frage 'Wer ist wer?' wird der
Kuhn bei seiner Einreise im Juni 1982 unter operative Kontrolle gestellt.
Dazu wird ein erfahrener und geeigneter IM ausgewählt und zielgerichtet instruiert. Da
bekannt ist, in welchem Unterkunftsobjekt der K. im Juni übernachten wird, wird der Einsatz
von besonderen operativen Maßnahmen geprüft.

In Auswertung der Ergebnisse dieser Einreise soll nach Beratung und Festlegung die weitere
Entwicklung des Materials entschieden werden.
Als sofortige Maßnahme wird die allseitige speichermäßige Überprüfung des K. und der
Kontaktpersonen erfolgen.“

Hier endet der auf den 15. Januar 1982 datierte Bericht der Bezirksverwaltung (BV) für
Staatssicherheit Potsdam7, unterzeichnet vom Referatsleiter der Abteilung II/4, Major Gräber

7 Die Bezirksverwaltung Potsdam des Staatssicherheitsdienstes war die personell am stärksten besetzte
Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR. Insgesamt 9.287 inoffzielle Mitarbeiter
übten im Auftrag der BV für Staatssicherheit des MfS (Stand 31.12.1988) in Potsdam eine konspirative Tätigkeit
aus. (Quelle: https://www.gvoon.de/bezirksverwaltung-bv-staatssicherheit-bvfs-potsdam-ministerium-
staatssicherheit-mfs-ddr.html)
9

und dem für die bisherigen Maßnahmen zuständigen Oberleutnant Recknagel (BStU, MfS,
BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0019-0027). Er ist Teil des Egon Kuhn betreffenden und
259 Seiten umfassenden Konvoluts, das beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der
Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) sichergestellt
werden konnte und Unterlagen verschiedener Dienststellen des Ministerium für
Staatssicherheit (MfS) umfasst – der BV Potsdam, Abt. II (Spionageabwehr) und der
Abteilungen II/19 (Politisch-operative Sichtung) und VIII (Beobachtung, Ermittlung) der
Hauptabteilung (HA). Ob weitere Unterlagen existiert haben, ist nicht bekannt. Durch die
BStU geschwärzte Passagen des Dokuments sind durch möglicher Weise berührte
Persönlichkeitsrechte Dritter zu erklären.

Kuhn wird im Dokument als AM charakterisiert, die Abkürzung für „Agenturischer
Mitarbeiter“, eine Stasi-Konstruktion, die diverse Abstufungen kennt. Die so genannte
„Agenturische Informationsbeschaffung“ durch den Geheimdienst unterscheidet zwei
grundlegende Arten: die Informationsbeschaffung durch Eigenerkundung und die durch
„geheimdienstliche Abschöpfung“. Im Falle von Egon Kuhn dürfte letzteres zutreffen, hielt
man ihn doch zunächst für einen Agenten des westdeutschen Verfassungsschutzes. 8

Folgen wir den Aussagen des Dokuments, so liegen der Stasi bereits aus den späten 50er
Jahren Erkenntnisse über die politischen Auffassungen von Egon Kuhn vor.

Wir wissen, dass Kuhn - aktiv bei der Marine-Hitlerjugend und seit dem 20. April 1944
Mitglied der NSDAP - als Angehöriger der 5. SS-Freiwilligen-Panzer-Division "Wiking" im
Mai 1945 im oberösterreichischen Windischgarsten in amerikanische Kriegsgefangenschaft
geriet. Er wurde in Grafenwöhr in der Oberpfalz interniert und im September 1945 aus der
Gefangenschaft entlassen. Zurückgekehrt nach Osnabrück konnte er seine Ausbildung zum
Technischen Zeichner fortsetzen und 1947 abschließen, war vorübergehend Landeskanzler
der Landesmark Niedersachsen der Pfadfnder und als Technischer Zeichner bei der
Osnabrücker Landesbahn tätig. Er schloss sich der Deutschen Jungenschaft dj.1.11 an,

8 Agenturische Informationsbeschaffung - Die Informationsbeschaffung durch geworbene Agenten gegnerischer
Geheimdienste wird grundlegend in zwei Arten unterschieden. Auf der einen Seite die Informationsbeschaffung
durch Eigenerkundung und auf der anderen Seite die Informationsbeschaffung durch geheimdienstliche
Abschöpfung. Bei der Eigenerkundung wird der Zugriff auf geheime Informationen durch berufiche oder
private Positionen der Agenten gewährleistet. Dadurch sind Agenten beispielsweise in der Lage, geheime
Unterlagen zu kopieren oder geheime Gespräche aufzunehmen. Bei der Eigenerkundung wird besonderes
Augenmerk auf die Werbung von Personen gelegt, die sowohl Möglichkeiten besitzen, geheime Informationen
zu beschaffen, als auch in der Lage sind, problemlos in das NSW zu reisen, da man sich dadurch eine
zuverlässige und konspirativere Übermittlung der beschafften Informationen verspricht (vgl. BStU, MfS JHS VVS
Nr. 67/85, S. 27ff). Bei geheimdienstlicher Abschöpfung werden Informationen durch Ausfragen der Personen,
die Kenntnis über geheim zuhaltende Informationen besitzen, beschafft. Die befragten Personen, also die
eigentlichen Informationsquellen, wissen dabei nichts über den geheimdienstlichen Charakter der Befragung.
Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass diese Art der Informationsbeschaffung nur schwer als
geheimdienstliche Handlung zu entlarven ist (vgl. BStU, MfS JHS VVS Nr. 67/85, S. 31ff). „Die
geheimdienstliche Abschöpfung ist aufgrund der Ausbildung und Instruierung der Spione sowie des
umfassenden Missbrauchs legaler Positionen und Möglichkeiten, unter Tarnung als kommerzielle, berufiche,
private bis hin zur intimen Beziehung betrieben, außerordentlich schwer als solche, d. h. als Spionage,
erkennbar“ (BStU, MfS JHS VVS Nr. 67/85, S. 34). (Quelle: Huber, Alexander u. Erkut Yildirim: Die operative
Aufklärungs- und Abwehrarbeit des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR, Berichte aus dem
Fachbereich I Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften Beuth Hochschule für Technik Berlin, Nr. 5, 2010,
S. 27-28, https://prof.beuth-hochschule.de/fleadmin/projekt/fb1_forschung/Berichtsreihe/Beuth_FB-I_2010-
05.pdf)
10

organisierte sich in der ÖTV und wurde im Osnabrücker Stadtjugendring und der
Gewerkschaftsjugend aktiv. Vorübergehend war er Mitglied des Betriebsrates der Stadtwerke
Osnabrück und trat 1958 der SPD bei. 1959 wurde Kuhn Leiter des Förderschulinternates der
Arbeiterwohlfahrt in Osnabrück.

Über das Verhältnis Kuhns zur Ideologie von SED und DDR oder ihren Organen liefert „Das
Buch EGON“ nur spärliche Erkenntnisse. Zwar gab es familiäre Beziehungen zur FDJ
(Cousine und Cousin seien dort Mitglied gewesen, S. 58), auch berichtet er von einer
Demonstration der FDJ in Osnabrück (S. 62/63) und seiner Ablehnung der
Ehrengerichtsverfahren des Bundes der Pfadfnder (BDP) zum Ausschluss von Mitgliedern,
die an den Weltjugendfestspielen 1951 in (Ost-)Berlin teilgenommen hatten. Das FDJ-Verbot
lehnte er aus recht pragmatischen Erwägungen heraus ab, „denn so stark“ sei „der Einfuss
der FDJ bei den anderen Jugendverbänden nicht.“ (S. 63)

Es ergibt sich ein seltsamer Spannungsbogen: Kuhns im Buch beschriebene Hinwendung zu
den Pfadfndern, später zur dj.1.11, sehen selbst die Eltern kritisch und „verglichen unsere
Pfadfnderarbeit mit dem HJ-Dienst“ (S. 55), für ihn aber ist das Einlaufen „der Roten Marine
der UdSSR nach Stockholm“ (S. 72) der Höhepunkt eines Schweden-Besuches. Die
Zielrichtung seiner politischen Einlassungen in gewerkschaftlichem Kontext ist nicht leicht zu
verorten. „Nun versuchte ich, politische Diskussionen in den Kollegenkreis zu transportieren.
Das allerdings mit großem Misserfolg. Einige Kollegen sagten schon: Geh lieber nach
drüben.“ (S. 77) Was ist damit gemeint? Charakteristisch ist vielleicht eher die nachfolgende
Bemerkung: „Um bestehen zu können, musste ich eine opportunistische Haltung
annehmen.“ (Ebenda) Der Beitritt zur SPD 1958 scheint denn auch ähnlichen Ursprungs zu
sein. Aber: „Was mir allerdings missfel, war die Diffamierung von ehemaligen KPD-
Mitgliedern, wenn die Teilnehmer zu marxistisch oder links mit den Referenten diskutierten.“
(S. 80)

Nicht unbemerkt unter „Operativer Personenkontrolle“ – Von
Anschleusungen, GMS „Nelke“ und dem weissen Lada
Ausgehend vom vorstehend wiedergegebenen „Zusammenfassenden Bericht zum AM
'Egon'“ ergreift die Staatssicherheit eine Reihe von Maßnahmen: In einem
„Einleitungsbericht“ vom 16. Februar 1982 wird vorgeschlagen, „eine OPK 9 über den BRD-
Bürger Kuhn, Egon (…) unter der Bezeichnung 'Demokrat' einzuleiten.“ (BStU, MfS, BV
Potsdam AOPK 497/89, BD. I, Bl. 0028)

Dabei wird davon ausgegangen, „daß die politische Einstellung des K. in der Zeit um 1959
gegenüber der Zeit ab 1975 eine grundlegend andere ist. Diese Änderung der politischen
Einstellung kommt einem 100%igen Gesinnungswandel gleich.
Eine Reihe von Informationen weisen auf die Möglichkeit einer Zusammenarbeit des K. mit
dem Bundesamt für Verfassungsschutz hin. Die andere Gruppe deutet darauf hin, daß K. im
9 OPK = Operative Personenkontrolle (MfS) - konspirativer Vorgang zur Aufklärung und Überwachung von
Personen; meist angelegt bei Verdacht auf politisch nicht konformes Verhalten bzw. zur Überprüfung von
Funktionären; auch Vorlauf für eine inoffzielle Tätigkeit in der Auslandsspionage / erst seit 1981
registrierpfichtig (Quelle: Abkürzungsverzeichnis. Hrsg.: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Abteilung Kommunikation und
Wissen)
11

Blickfeld des BfV steht und aufgrund seiner politischen Einstellung und seiner DDR-Reisen
Konsequenzen zu befürchten hat. Bei dieser Gruppe ist augenfällig, daß Äußerungen und
Handlungen des K. demonstrativ wirken und einer gezielten Aktion gleichkommen. Es
besteht die Möglichkeit, daß es sich hier nur um lancierte Schutzbehauptungen handelt, die
dazu dienen sollen, seine Position zur DKP und zu Funktionären des Bildungszentrums
Potsdam zu festigen.“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0033)

Von den oben genannten Grundannahmen ausgehend, formuliert der Dienst drei mögliche
Schlussfolgerungen als Basis der geplanten geheimdienstlichen Aufklärungstätigkeit:

„1. Der K. arbeitet seit Ende 1950 für das BfV und nutzt seine Beziehungen und Kontakte, die
er aufgrund seiner Tätigkeit im Rahmen der Gesamtdeutschen Arbeit hat. Ende der 60er und
Anfang der 70er Jahre wurde der K. durch das BfV kontinuierlich und gezielt zu einer
progressiven Persönlichkeit aufgebaut. Ausgangspunkt ist seine Mitgliedschaft in der SPD
und seine zielgerichtete Orientierung auf die Zusammenarbeit von Kommunisten über den
linken Flügel seiner Partei.
Ausgerüstet mit einem progressiven politischen Anstrich wird der K. in die
Delegationstätigkeit im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zwischen der DDR und
der BRD eingeführt.
Der K. hat über das Bildungszentrum Potsdam Kontakt zu Reisekadern und Funktionären bis
hin zur SED-Bezirksleitung Potsdam.
Er nutzt die Delegationstätigkeit zur Erlangung politischer Informationen.
2. Der K. wurde aufgrund seiner Tätigkeit als Leiter des Freizeitheimes Hannover-Linden und
seiner vielen Einreisen in die DDR sowie seiner Möglichkeiten, die DKP im Raum Hannover-
Linden unter Kontrolle zu halten, in den 70er Jahren durch das BfV angeworben. Die
Teilnahme eines BfV-Mitarbeiters an propagandistischen Veranstaltungen, an denen auch
DDR-Delegationen teilnehmen, erübrigt sich.
Im Rahmen seiner Reisetätigkeit in die DDR klärt der K. Reisekader und Funktionäre aus dem
Bezirk Potsdam auf.
3. Der K. arbeitet nicht für das BfV. Sein Gesinnungswandel ist die logische Antwort auf eine
kontinuierliche Rechtsentwicklung in der BRD.
Der K. hat die Gefahr dieser Entwicklung erkannt. Mit seiner Delegationstätigkeit in die DDR
will er Gruppen von BRD-Bürgern zeigen, wie die wahren Verhältnisse in der DDR sind.
Der K. ist im Blickfeld des BfV und wird aufgrund seiner progressiven Einstellung bearbeitet.“
(BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0033-0034)

Am gleichen Tag, also dem 16. Februar 1982, legt die Abteilung II/4 der Bezirksverwaltung
für Staatssicherheit Potsdam einen umfangreichen „Maßnahmeplan“ zur OPK „Demokrat“,
Kuhn, Egon vor. Er beinhaltet besondere operative Maßnahmen. Der K. soll „bei seiner
Einreise im Juni 1982 unter operative Kontrolle gestellt“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK
497/89, Bd. I, Bl. 0105) werden und dazu „ein erfahrener und geeigneter IM ausgewählt und
zielgerichtet instruiert werden. Die Möglichkeiten des IM 'Sylvia' des Ref. II/4 sind zu
prüfen.“ (Ebenda) Weiterhin soll im Bildungszentrum Potsdam ein geeigneter IM-Kandidat
gefunden werden und für die „Erarbeitung von Informationen, die die Vervollständigung des
Persönlichkeitsbildes des K. im Bereich des Freizeitheimes Hannover-Linden ermöglichen“
(…) „IM aus dem Bestand der Abt. II der BV Potsdam eingesetzt“ (BStU, MfS, BV Potsdam
AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0106) werden. Schließlich soll die HA II/19 zur Problematik
politischer Spionage, deren Kriterien, Zielgruppen, Mittel und Methoden des BfV konsultiert
12

werden, die speichermäßige Überprüfung des K. in den Speichern der Abteilungen XII, VI, M
(= Überwachung von Brief- und Paketverkehr) und PZF (= Post- bzw. Paketzollfahndung)
erfolgen und Kuhns Unterschrift beschafft werden.

Am 5. April 1982 legen Major Gräber und Oberleutnant Recknagel einen „Plan zur
Anwendung der operativen Kombination zur OPK 'Demokrat'“ (BStU, MfS, BV Potsdam
AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0108-0112) vor. Als „Ausgangsinformation“ (BStU, MfS, BV Potsdam
AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0105) führen sie die Aussage eines inhaftierten BND-Spions ein, der
1965 den Verdacht geäußert habe, „daß Kuhn für das BfV“ (Ebenda) arbeitet. Sodann wird
die „Zielstellung der Kombination zur OPK 'Demokrat'“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK
497/89, Bd. I, Bl. 0109) formuliert, die in der „Erarbeitung operativ-bedeutsamer
Informationen entsprechend der Zielstellung der OPK in be- bzw. entlastender Form, da es
Hinweise der möglichen Verbindung des K. zum BfV gibt“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK
497/89, Bd. I, Bl. 0109), „Schaffung der Grundlagen für die Anschleusung von inoffziellen
Kategorien an den K.“ (Ebenda), „Realisierung dieser gezielten Anschleusungen“ (Ebenda)
und dem „Ausbau der entstandenen Kontakte“ (Ebenda) bestehe.
Die Gelegenheit zur Umsetzung dieser „Kombination“ soll die Einreise Egon Kuhns mit einer
Delegation von 18 BRD-Bürgern bieten, die für den 14. - 20. Juni 1982 geplant ist. Das
Bildungszentrum International wird angewiesen, daß die Delegation in der Zeit eine
bestimmte Speisegaststätte („Klub der Architekten“) aufsucht, wo der Einsatz der IMS 10
„Sylvia“ erfolgen soll (die auch dort tätig ist). „Für die Anschleusung wird die Tatsache
genutzt, daß K. von einem seiner Persönlichkeitsmerkmale her ein 'Frauenheld' ist und auf
diesen Typ von Frau steht, den IMS 'Sylvia' verkörpert“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK
497/89, Bd. I, Bl. 0110). Im für K. vorgesehenen Zimmer im Bauarbeiterwohnheim des WBK-
Ost werden „besondere operative Maßnahmen durchgeführt“ (Ebenda) (also
Abhöreinrichtungen installiert). „Der GMS11 „Nelke“ ist offzieller Betreuer der Kuhn-
Delegation“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0111) und soll die operative
Personenkontrolle gewährleisten (GMS „Nelke“ war bereits im Vorjahr für die Delegation
zuständig. Wie in grundsätzlich allen DDR-Veröffentlichungen schlägt das generische
Maskulinum durch – obwohl es sich bei der GMS um eine Frau handelt.). Eine weitere
Betreuerin wird für eine Gruppenreise nach Dresden akquiriert. Sie kennt Kuhn von
Delegationsreisen 1980 und 1981 und darf „unter der Legende 'Anerkennung ihrer für das
BZI geleisteten Arbeit'“ (Ebenda) teilnehmen. Eine Beobachtergruppe der Abt. VIII soll den K.
ab Ende des offziellen Teils „bis zu seiner Nachtruhe und während seiner Rückreise“ (…)
„unter Kontrolle“ (Ebenda) halten. Die Dienststelle geht davon aus, dass Kuhn auf der
Rückreise wieder in Schönebeck Halt macht, die Beobachtung dort bis hin zur Güst wird die
Abt. VIII der BV Magdeburg übernehmen. Eine geplante Kulturveranstaltung im Kulturhaus
„Herbert Ritter“ wird ein IM der Abt. II/4 übernehmen, der dort angestellt ist.

Eine Fülle von Absprachen folgen, am 8. April erfährt der „Maßnahmeplan“ eine Ergänzung,
der GMS „Nelke“ soll aus dem FIM12-System einer anderen Dienststelle herausgelöst werden,
um ihn besser steuern zu können, verschiedene Abschöpfungen und Gespräche zur
Vorbereitung von Einsatzkräften werden fxiert.

10 IMS = Inoffzieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung des
Verantwortungsbereiches. Mit ihren zuletzt 93.600 Angehörigen bildeten die IMS die größte Kategorie
inoffzieller Informanten. (Quelle: Wikipedia)
11 GMS = Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit
12 FIM = Führungs-IM - Inoffzieller Mitarbeiter, der inoffzielle Mitarbeiter führt
13

Eine erste Abschöpfung erfolgt am 13. April 1982, die relevante Erkenntnisse liefert: Eine
Kontaktperson bestätigt, daß Kuhn vor 1960 Mitglied der FDJ war und nach eigenen
Angaben Kontakt zu deren Zentralrat hatte. Mit Geldern des Zentralrates wurden
Veranstaltungen in der BRD fnanziert. „Aufgrund der Verbindung zum Zentralrat hätte man
ihm unterstellt, er arbeite für die DDR.“ (BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl
0019) Außerdem habe er Kontakt zu Personen der Bezirksleitung der SED in Potsdam
aufgenommen, weil sich dort eine Fahne der „Aufständigen“ [sic!] des Kieler
Matrosenaufstandes befnden soll, die ihn interessierte. Der Informant verwies weiter darauf,
dass Kuhn in der Vergangenheit Zeitungsausschnitte aus der „UZ“, in denen über das
Freizeitheim Hannover-Linden berichtet wurde, an das BZI Potsdam schickte. In den
Berichten wurde u.a. auf die Unterstützung von Versammlungen der DKP durch das
Freizeitheim und dessen Leiter hingewiesen. Schließlich brachte der Informant sein eigenes
und das Erstaunen anderer Betreuer der Kuhn-Delegation über „das so offene, nach links
gerichtete Auftreten des K., seine Versuche der Aktionseinheit mit der DKP und deren
Unterstützung trotz seiner Mitgliedschaft in der SPD und trotz Radikalenerlaß“ (BStU, MfS,
BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0020) zum Ausdruck. „Sie können sichnicht [sic!]
erklären, warum er so eine 'Narrenfreiheit' genießt.“ (Ebenda)

Auch in einem ersten Gespräch mit dem GMS „Nelke“ (die den K. seit mehr als zwei Jahren
kennt) am 4. Mai 1982 kommen die „lautstark“ vertretenen politischen Äußerungen des K.
zur Aktionseinheit mit den Kommunisten zur Sprache. Auf Fragen äußerte K. „daß er von der
Stadt Hannover Rückendeckung erhält.“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl.
0161)

Am 3. Juni werden auf der Basis der getroffenen Absprachen konkrete Aufträge fxiert, neben
„Nelke“ auch für den langjährigen Bekannten Kuhns, den IM „Karl Langer“ (im Auftrag
fälschlicherweise als „Langner“ bezeichnet), eine „Nostalgie“ genannte Person und diverse
andere. Eine der Kontaktpersonen wird genauestens mit der Übergabe der Zimmerschlüssel
im Bauarbeiterwohnheim des WBK/Ost beauftragt, Kuhn soll das Zimmer 10 zugewiesen
werden, mit dem Hinweis, „daß in diesem Zimmer, im Gegensatz zu den anderen, ein
Fernseher steht.“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 292)

In einem Aussprachebericht der Potsdamer Dienststelle vom 9. Juni über eine Absprache mit
dem Leiter der Abteilung II der BV Magdeburg wurden die „Vorbehalte des Vorsitzenden des
BV der DKP Niedersachsen, Gen. Kampe13“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl.
0145) als operativ neu und bedeutsam eingeschätzt und „Demokrat“ (Kuhn) entsprechend
der Gründe für die Einleitung der OPK weiter belastet. Zwei Sachstandsberichte der
Magdeburger aus 1978 bzw. 1981 bestätigen die Skepsis der Potsdamer Dienststelle
gegenüber Kuhn und bestärken den ambivalenten Eindruck der Ermittler:

1975 nahm Kuhn demnach auf Empfehlung des DKP-Bezirksvorstandes Niedersachsen
Kontakt zu „International e.V.“ in Potsdam wegen der Organisation von Besuchsdelegationen
auf. Die erste Einreise einer Delegation erfolgte am 3. Dezember 1975, danach jährlich 2 – 3
Delegationseinreisen. Bei den Einreisen gab es keine politischen Provokationen, alles verlief
friedlich. Die Magdeburger konnten sich auf Angaben der Potsdamer stützen, wonach „Kuhn
13 Heinz Kampe, 1962-1963 Redakteur, später Leiter des Deutschen Freiheitssenders 904, Deckname Walter,
später in Duderstadt, 1973 stellvertretender Bezirksvorsitzender des DKP, 1977 Bezirksvorsitzender
14

ein Sympathisant der DKP sei. Er ist mit mehreren Funktionären der DKP befreundet, so auch
mit den Bezirkssekretär für Wirtschaft und Sozialpolitik, Genossen Werner Hilke. Kuhn ist
langjähriger Funktionär des Ortsvorstandes der SPD in Hannover und ständiger Teilnehmer
der Arbeiterkonferenzen der Ostseeländer. Kuhn stellt die Räume des Freizeitheimes
vorwiegend für Veranstaltungen der DKP zur Verfügung. Nach Einschätzung der DKP hat er
sogar Versammlungen der CDU ausfallen lassen, um der DKP das Vorrecht einzuräumen.“
(BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0147) Die Magdeburger bestätigten bereits
1978, daß seit „ca. 3 Jahren (…) bei Reisekader-Einsätzen im Freizeitheim Hannover Linden
(propagandistische Veranstaltungen) keine Beauftragten des Verfassungsschutzes mehr“
BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 147) erscheinen, andererseits Kuhn auf die
„Frage von DDR-Betreuern ob er wegen seiner DDR-Kontakte und seiner offziell bekannten
positiven Haltung zur DKP keine Repressalien zu befürchten habe, erklärte“ (…) „daß er in
der SPD einen solchen Stand habe, wo er sich bestimmte Dinge herausnehmen kann, ohne
dafür bestraft zu werden.“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0147-0148) Die
Magdeburger bringen das Dilemma auf den Punkt: Einerseits teilen sie die Auffassung, „daß
der Kuhn zur weiteren Verstärkung des Besuches von Delegationen von Gewerkschaftern aus
der BRD beitragen kann“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89, Bd. I, Bl. 0149),
andererseits: „Wenn der Kuhn weiter für das Landesamt für Verfassungsschutz Niedersachsen
arbeitet, dann besteht die Gefahr, daß er seine Kontakte in der DDR für staatsfeindliche
Tätigkeit ausnutzt. Außerdem wird er dann auch die Funktionäre des DKP-Vorstandes
aufklären, zu denen er nach eigenen Angaben gute persönliche Verbindungen hat.“ (Ebenda)
Die Magdeburger dokumentierten bereits 1981 einen weiteren operativ-relevanten Fakt:
Zwei weitere bei Kuhn im Freizeitheim tätige Personen werden von der Dienststelle erfaßt –
und bringen schließlich die Überlegung ins Spiel, die Kuhn-Delegationen nicht mehr nach
Potsdam, sondern nach Magdeburg einreisen zu lassen und „Möglichkeiten und Maßnahmen
zum Schutz der DKP Niedersachsen abzusprechen.“ (BStU, MfS, BV Potsdam AOPK 497/89,
Bd. I, Bl. 159)

Die Kuhn-Delegation reist wie geplant am 14. Juni (allerdings nur mit 12 Personen, davon 4
aus dem Freizeitheim „Weiße Rose“) ein und die großangelegte Observierung beginnt (wie
aus dem Bericht vom 15. Juni 1982 hervorgeht). Allerdings klappt nicht alles nach Plan:
Kuhn erhält von der Kontaktperson nicht wie geplant den Schlüssel zur Wohnung Nr. 10 des
Bauarbeiterwohnheims, sondern den zu Nr. 8. Damit fällt die Abhöraktion und auch ein
intensiverer Kontakt zu IMS „Sylvia“ fach. („Maßnahmen“ im Bericht: „Aufgrund der
fehlerhaften Auftragsrealisierung bei der Schlüsselübergabe macht sich eine Überprüfung der
operativen Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit der [Name der Kontaktperson geschwärzt]
notwendig.“) (BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0029). Ansonsten ergeben
sich für die Ermittler reichlich Erkenntnisse zu den politischen Auffassungen Kuhns – gleich
am ersten Tag beim Diskussionsabend zum Thema „Grundfragen zur Erhaltung des Friedens
und die darauf gerichtete Außenpolitik der DDR“ in der Geschäftsstelle des BZI (mit einem
Gesprächsleiter vom Institut für Internationale Beziehungen). Er offenbart, dass Anlass für
sein politisches Engagement „eine Begegnung mit sowjetischen Menschen in Saporoshez in
einem dortigen Kaufhaus“ sei. „Kuhn war begeistert, wie sich einfache sowjetische
Menschen für die Weltpolitik interessieren und ganz spontan diskutierten. Mittels
Dolmetscher schaltete sich Kuhn indiese [sic!] Diskussion ein. Zur Friedensbewegung
äußerte Kuhn, daß ihre politische Bedeutung nicht überschätzt werden darf und daß in ihr
der Antikommunismus stark ausgeprägt ist. Die politische Untermauerung der
Friedensbewegung fehlt noch. Im weiteren Verlauf der Diskussion äußerte Kuhn den
15

Gedanken, warum die DDR-Führung die Losung 'Pfugschare statt Schwerter' [sic!] für ihre
Zwecke nicht nutzt. Sie hätte die Möglichkeit, die Aufkleber mit dieser Losung in Unmengen
zu vertreiben.“14 (BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0028) Und plaudert
weiter aus dem Nähkästchen: „Es kann angenommen werden, daß Kuhn möglicherweise
eine beamtete Position als Leiter des Heims besitzt. Dies ergibt sich u.a. daraus, daß er den
Posten eines Wirtschaftsleiters seines Hauses neu zu besetzen habe, es hierfür als Kandidatin
ein DKP-Mitglied gäbe, er diese aber nur einstellen könne, wenn sie die Aufnahme in die
Beamtenlaufbahn erreichen würde.“ (BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl.
0031) Der GMS „Nelke“ formuliert diesen Fakt - dokumentiert im „Treffbericht“ vom 17.
Juni) - etwas abweichend: Demnach erhielt die „DKP-Genossin“ (…) „Berufsverbot und
damit war klar, daß sie diesen Posten nicht erhalten kann. Egon sagte, daß er daran auch
nicht rüttelt.“ (BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0037)

Die Darstellung seiner eigenen politischen Position macht Kuhn unmißverständlich klar:
„Kuhn betonte seine engen Beziehungen und Sympathien für die DKP und meinte, der
würde auch der DKP als Mitglied beitreten, wenn ihm nicht aus materiellen Gründen dass
Hemd näher als die Jacke [sic!] sei. (…) In der Wertung des 1960 durch Wehner
herbeigeführten außenpolitischen Gleichschaltungsbeschlusses der SPD 15 mit der CDU/CSU
vertrat er die Auffassung, dies werde noch einmal als eine der großen strategischen
Leistungen Wehners in die Geschichte der Arbeiterbewegung eingehen.“ (BStU, MfS, BV
Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0032) Er verwies weiter auf einen „frühzeitigen (50 er
Jahre) ersten, offensichtlich wiederholten Besuch in der UdSSR“ (BStU, MfS, BV Potsdam,
AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0033) und dort geführte Gespräche „mit einem ZK-Mitglied 16 sowie
mit Jugendlichen.“ (Ebenda) Ein Verweis auf die Überlegenheit des Sozialismus durfte nicht
fehlen: „Im Rahmen eines Meinungsaustausches über Fragen der Arbeitslosigkeit und die
Chancen der Jugend in der BRD räume Kuhn ein, daß die DDR hier ihre Überlegenheit
demonstriere, dies aber von vielen Jugendlichen in der DDR nicht genügend hoch
eingeschätzt werde.“ (Ebenda) Der „Treffbericht“ (Quelle: GMS „Nelke“) vom 16. Juni 1982
fxiert weitere Erkenntnisse: „Er [gemeint ist Egon Kuhn, Anm. R.D.] muß ganz ordentliche
Kontakte zum Oberbürgermeister der Stadt Hannover17 haben, der der SPD angehört, denn er
sagte, daß der übergebene Porzellanteller ein Gastgeschenk des Oberbürgermeisters an das
Bildungszentrum International ist. Auf Grund der Verbindungen im Rahmen der SPD, seiner
Stellung als VVN-Vorsitzender und der Lage des Freizeitheimes in einem traditionellen
Arbeiterviertel kann Kuhn sich etwas leisten, was andere Personen in seiner Funktion sich
nicht herausnehmen können.“ (BStU, MfS, BV Potsdam, AOPK 497/89, Bd. II, Bl. 0035)
Natürlich achtete der GMS auftragsgemäß darauf, „ob Kuhn für militärische Objekte oder

14 Mit dieser Bemerkung dürfte Kuhn sich keinen Gefallen getan haben. Mit Schreiben vom 17. März 1982
hatte just der Minister des MfS „Maßnahmen zur Unterbindung des öffentlichen Tragens und des Verbreitens
von Abzeichen, Aufnähern, Aufklebern, sonstigen Gegenständen, Symbolen und Texten mit pazifstischer
Aussage“ verbreitet, die im Besonderen gegen das Symbol „Schwerter zu Pfugscharen“ gerichtet war. Im
Unterschied zur Sowjetunion betrachtete die Führung der DDR den durch das Symbol zum Ausdruck
gelangenden Pazifsmus als gegen die eigenen Rüstungsbestrebungen und die Wehrpficht gerichtet. Die
Aufnäher – so hieß es - seien westliche Importe und schulfremdes Material, wer sie trage, übe
Wehrkraftzersetzung aus und untergrabe die staatliche und gesellschaftliche Tätigkeit zum Schutz des Friedens.
15 Mit seiner Grundsatzrede vor dem Bundestag am 30. Juni 1960 läutete Wehner den außenpolitischen
Kurswechsel der SPD, hin zur Westbindung und Anerkennung der Mitgliedschaft in der NATO, ein. (Quelle:
Wikipedia)
16 1952 hatte das ZK der KPdSU 125 Mitglieder. (Quelle: Wikipedia)
17 Gemeint ist Dr. h.c Herbert Schmalstieg, 1972 bis 2006 Oberbürgermeister Hannovers
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