STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU

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STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
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              Karl-Marx-Stadt und Leipzig
                                                               Stasi in Sachsen
              Die DDR-Geheimpolizei in den Bezirken Dresden,

                                                                                                  EINBL ICKE IN DA S
                                                                                  S TA S I - U N T E R L A G E N - A R C H I V
                                                                                  STASI IN DER REGION
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
Peter Boeger, Elise Catrain (Hg.)

Stasi in Sachsen.
Die DDR-Geheimpolizei in den Bezirken Dresden,
Karl-Marx-Stadt und Leipzig
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
2                                                    S TA S I I N S A C H S E N                                                                                  > > I N H A LT S V E R Z E I C H N I S              3

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung 		                                                                                             4    Das ­Ende		                                                                                 131

                                                                                                                   »Schließt euch an!« – die L
                                                                                                                                             ­ eipziger Montags­demonstrationen                                132
    Die ­Zäsuren		                                                                                             7   Prag – Dresden – Hof: Sonderzüge in die Freiheit                                            136
                                                                                                                   Das Ende der Stasi – Ein Zeitzeugenbericht zur Besetzung der Dienststelle in Siegmar        141
    1945–1950 »Jeden Parteiauftrag erfüllen« – der Aufbau einer Geheimpolizei in Sachsen                      8
    1953      »Stürzt die Regierung!« – der 17. Juni 1953 in Niesky                                          12
    1956	»Auch Walter Ulbricht wird in Kürze stolpern« – Reaktionen auf den XX. Parteitag der KPdSU               Anmerkungen		                                                                               146
              in Sachsen                                                                                     17
    1961      Zwangsumsiedlungen aus dem Vogtland                                                            22
    1968      Vivat Dubček! Ein Augenzeuge aus Karl-Marx-Stadt erlebt den Prager Frühling                    27    Übersichten und Verzeichnisse                                                               154
    1976      Die Ausbürgerung von Wolf ­Biermann und der Fall »Wagner« in Meerane                           30
    1985      Glasnost und »Sputnik«-Verbot. »Neues Denken« und »Dialog« in Leipzig                          34    Struktur und Aufgaben der Stasi in Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig                     154
                                                                                                                   Dienststellen der Stasi (BV, KD, OD) in den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig   157
                                                                                                                   Kurzbiografien der Minister und der Leiter der Bezirksverwaltungen                          162
    Der ­Apparat		                                                                                            39   Kurzbiografien der 1. Sekretäre der SED-­Bezirks­leitungen                                  167
                                                                                                                   Autoren		                                                                                   172
    »Zutritt für Unbefugte ­verboten« – die Abschottung der Dresdner Stasi-Zentrale                          40    Abkürzungsverzeichnis                                                                       173
    Auf der Spur des Taxi-Agenten – Kalter Krieg in Kamenz                                                   45    Weiterführende Literaturhinweise zum MfS in Sachsen                                         175
    Die Stasi-Kreisdienststelle ­Leipzig-Stadt und die­Zerschlagung des »Gohliser Kreises«                   50
    Feind ist, wer anders denkt – die Kreisdienststelle Plauen und die Verfolgung des Künstlers Klaus Hopf   53
    »Keine fertigen Tschekisten von der Straße« – die hauptamtlichen Mitarbeiter                             56
    Augen und Ohren immer ­offen halten – das Spitzelnetz der Staatssicherheit                               61
    Tschekistischer Kampf gegen »Terrorverbrechen« – die Grenz­übergangsstelle Gutenfürst                    66

    Die ­Methoden und ihr Einsatz                                                                             71
    Überprüfen – überwachen – »  ­ zersetzen«: Im Mahlwerk der »operativen Bearbeitung« des MfS               72
    »Im Interesse und zum Schutz der Bürger«? – die Postkontrolle der Stasi                                   76
    Haft für Radeburger Familie – die Stasi und ihr Gefängnissystem                                           81
    Flucht in die DDR – Anklage ­gegen den »Amerikaner von ­Karl-Marx-Stadt«                                  85
    »Ich fordere die Umsiedlung!« – die Stasi bekämpft Ausreise­antragsteller                                 90
    »Für weltoffenen Handel und technischen Fortschritt« – die Leipziger Messen                               94
    »Industrienebel« über dem »Rio Phenole« – Umwelt­verschmutzung in Leipzig                                 99
    Die »toten Helden der Arbeit« – das schwere Grubenunglück bei der Wismut AG 1955 in N ­ iederschlema     102
    Maschinengewehrfeuer auf »Grenzverletzer« – Flucht über Tschechien                                       107
    »Nazischwein« und »Adenauer-Spion« – Pfarrer im Kampf gegen die Jugendweihe                              111
    Staatsaffäre Opernpremiere – die Wiedereröffnung der Semper­oper unter Stasi-Kontrolle                   114
    »Sportverräter« Kotte – die Stasi und der DDR-Fußball                                                    118
    Kaderschmieden des Leistungssports – die Kinder- und Jugendsportschulen                                  122
    »Ich habe keine Angst vor euch« – Opposition aus Hainichen                                               126
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
4                                                                S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                                 >> EINLEITUNG                                                      5

    Einleitung                                                                                                                                                                                                                      mend verdeckter und subtiler Maßnahmen – von der
                                                                                                                                                                                                                                    Postkontrolle bis zu geheimen Verhören. Die Länder-
    In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)                                                                                                                                                                                  studie macht deutlich, dass die Stasi in allen Bereichen
    waren laute Beatles-Songs und »wilde Mähnen« à la                                                                                                                                                                               aktiv war. Ob in den Wirtschaftsbetrieben der Wismut
    Mick Jagger Mitte der 1960er-Jahre für die herrschende                                                                                                                                                                          oder bei der Leipziger Messe, ob in ­Kirchgemeinden
    Staatspartei, die SED, eine unerträgliche Provokation.1                                                                                                                                                                         oder kulturellen Institutionen wie der Dresdner
    Um die als »dekadent« geltende Mode zu unterbinden,                                                                                                                                                                             Semperoper. Auch das Privatleben der Bürger stand
    verbot die Partei im Oktober 1965 die Beat-Gruppen                                                                                                                                                                              im Blickpunkt des MfS. Gezeigt wird das Vorgehen der
    in der DDR. Viele Jugendliche wollten sich mit dieser                                                                                                                                                                           Stasi gegen abweichendes Verhalten am Beispiel einer
    Entscheidung nicht abfinden. Allein in Leipzig versam-                                                                                                                                                                          Familie aus Radeburg, die einen Fluchtversuch unter­
    melten sich in den Morgenstunden des 31. Oktober                                                                                                                                                                                nahm, sowie gegen einen Ausreiseantragsteller aus
    1965 etwa 1 000 Beat-Fans auf dem zentralen Wilhelm-                                                                                                                                                                            Dresden.
    Leusch­ner-Platz. Mit aller Härte gingen Funktionäre
    der Partei, Polizisten und Kräfte der Staatssicherheit                                                                                                                                                                          Das Ende
    gegen die »Gammler« vor: Sie setzten Wasserwerfer ein                                                                                                                                                                           Das letzte Kapitel der Studie widmet sich dem Unter-
    und verhafteten rund 260 Jugendliche.2                                                                                                                                                                                          gang der DDR und der Auflösung der Staatssicherheit.
                                                                                                                                                                                                                                    Seit Mitte der 1980er-Jahre sah sich die SED-Führung
    Aus Protest gegen die Inhaftierung ihrer Freunde                                                                                                                                                                                in ihrem Machtanspruch insbesondere durch politi-
    zogen zwei junge Frauen in den Abendstunden des                                                                                                                                                                                 sche Reformen in den sozialistischen Bruderländern
                                                                                                                                                              > Die Stasi konfiszierte bei den Beat-Fans die Sammelkarten
    5. November 1965 durch die Leipziger Innenstadt. Sie                                                                                                      mit Fotos ihrer Idole. 1965                                           bedroht. Die wirtschaftlich prekäre Lage und der wach-
    brachten Losungen an Litfaßsäulen und Schaufenstern                                                                                                       BStU, MfS, BV Leipzig, AU 252/66, Bd. 2, Bl. 139                      sende Wunsch der Bevölkerung nach mehr Freiheiten
    an, und sie verteilten Flugblätter – auch in öffentlichen                                                                                                                                                                       – vor allem Reisefreiheit – setzten Prozesse in Gang,
    Gebäuden. Ihre Botschaft war unmissverständlich:                                                                                                                                                                                die Partei und Stasi nicht mehr aufhalten konnten. In
    »Haussuchungen, Verhaftungen, Verhöre! Es folgen                                                                                                                                                                                Leipzig fanden die ersten Montagsdemonstrationen
                                                                                  > Litfaßsäule an der Coppi-/Wittenberger Straße in Leipzig mit Fan-­
    Urteile und das geht zu weit […] wir fordern: Freiheit                        Protest. 1965                                                               sicherheit. Aufgezeigt werden auch die Auswirkungen                   statt, die bald im ganzen Land Verbreitung fanden.
    für alle Beat-Fans und rufen, es lebe der Beat!« Diesen                       BStU, MfS, BV Leipzig, AU 212/66, Bd. 4, Bl. 204                            des Baus der Berliner Mauer im Jahre 1961 am Beispiel                 Das Aus für die Staatssicherheit kam am 4. Dezember
    offenen Widerspruch konnte und wollte die SED nicht                                                                                                       der Zwangsaussiedlungen im Vogtland. Einzelproteste                   1989. In den Nachmittagsstunden besetzten Bürger
    akzeptieren. Die Stasi verhaftete die beiden 16- und                                                                                                      um den Prager Frühling (1968) und die Ausbürgerung                    zum Beispiel die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt
    17-jährigen Beat-Fans wenige Tage nach ihrer Aktion                                                                                                       des Liedermachers Wolf Biermann (1976) verdeutlichen                  im Stadtteil Siegmar. So stoppten sie die Vernichtung
    und ließ sie vor Gericht stellen. Die Initiatorin, die noch                   Chemnitz, Dresden und Leipzig des Bundesbeauftrag-                          jeweils die Biografie eines Studenten aus Karl-Marx-                  von Akten und sicherten die brisanten Unterlagen der
    versucht hatte, nach West-Berlin zu fliehen, erhielt                          ten für die Stasi-Unterlagen verwahrt.                                      Stadt und eines Pfarrers aus Meerane.                                 Geheimpolizei.
    eine Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Ihre
    Freundin kam mit einer Bewährungsstrafe davon.3                               Aus diesen Archiven zeigt die vorliegende Länderstudie                      Der Apparat                                                           PBo / ECa
                                                                                  eine Auswahl persönlicher Schicksale. Sie wirft Schlag-                     Ein eigener Abschnitt widmet sich der Struktur und
    Dieses Beispiel − nur eines von unzähligen − zeigt, wie                       lichter auf 40 Jahre MfS-Geschichte in den ehemaligen                       dem Aufbau des Ministeriums für Staatssicherheit. In
    die Staatssicherheit rigoros gegen jene vorging, die                          Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig. In den                       Sachsen befanden sich drei der insgesamt 15 Bezirks-
    es wagten, systemkritisch zu agieren. Als »Schild und                         Beiträgen sind die biografischen Fallbeispiele besonders                    verwaltungen – in Dresden, Karl-Marx-Stadt und
    Schwert« der Partei war das Ministerium für Staats­                           gekennzeichnet. Wir möchten allen Mitbürgerinnen                            Leipzig. Von Auerbach bis Zittau überzog das MfS die
    sicherheit (MfS) zwischen 1950 und 1989 der Garant                            und Mitbürgern danken, die einer Veröffentlichung                           sächsische Region mit insgesamt 51 Kreisdienststellen
    der Machtsicherung der SED. Seine Maßnahmen                                   ihrer Akten zugestimmt haben.                                               und einer Objektdienststelle zur Überwachung der
    reichten dabei von bloßer Einschüchterung bis hin                                                                                                         Technischen Universität (TU) Dresden. Neben dieser
    zum Erwirken langjähriger Haftstrafen. Das ganze Aus-                                                                                                     Struktur werden auch die hauptamtlichen Mitarbeiter
    maß dieser repressiven Methoden wurde erst nach der                      Die vier Kapitel im Überblick                                                    des MfS sowie das umfangreiche Netz der inoffiziellen
    Friedlichen Revolution von 1989 durch den Zugang zu                                                                                                       Mitarbeiter vorgestellt.
    den Stasi-Unterlagen bekannt. Heute können die über                      Die Zäsuren
    100 Regalkilometer Akten zur persönlichen Akten­                         Im ersten Kapitel der Länderstudie werden jene Ereig-                            Die Methoden und ihr Einsatz
    einsicht für Betroffene, für Forschungszwecke sowie                      nisse vorgestellt, welche die DDR-Geschichte geprägt                             In diesem Kapitel werden die Methoden der Staats-
    zur Unterrichtung der Öffentlichkeit genutzt werden.                     haben. Beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 stellten                             sicherheit beleuchtet. Um die Bevölkerung zu über-
    Allein in Sachsen hinterließ die Staatssicherheit über                   sich zum Beispiel Bürger in Niesky gegen die Regierung                           wachen und Systemkritik im Vorfeld zu unterbinden,
                          1   Liebing, Yvonne: All you need is beat. Jugendsubkultur in Leipzig 1957–1968. Leipzig 2005.
    26 Kilometer Akten. Sie
                          2  werden     in den  Außenstellen                 undder
                              Einzelinformation Nr. 968/65 über erste Ergebnisse   besetzten     die örtliche
                                                                                      Untersuchungen   gegen dieDienststelle   deranStaats­
                                                                                                                 wegen Beteiligung   der Zusammenrottung in   entwickelte die Geheimpolizei eine ganze Reihe zuneh-
                                  Leipzig festgenommenen Jugendlichen, 1.11.1965; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1129, Bl. 6–8.
                             3    Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AU 212/66.
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
6   S TA S I I N S A C H S E N               >> DIE ZÄSUREN                                                                  7

                                 Die
                                 ­Zäsuren

                                 > Tausende Görlitzer kamen ins Stadtzentrum, um gegen die SED zu demonstrieren. 17.6.1953
                                 Foto: Ratsarchiv Görlitz (Ausschnitt)
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
8                                                                   S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                              >> DIE ZÄSUREN                                                                           9

    1945–1950
    »Jeden Parteiauftrag erfüllen« –                                                 zonen war bereits im Februar 1945 bei der Konferenz
                                                                                     von Jalta vereinbart worden. Ein halbes Jahr später
                                                                                                                                                         die ersten Polizeireviere in Dresden neu eingerichtet.
                                                                                                                                                         Die rasche Neugründung der Polizei in Sachsen galt als
    der Aufbau einer Geheimpolizei                                                   hatten die Alliierten beim Potsdamer Abkommen poli­                 Vorbild für die anderen Länder. Diese Aufbauarbeit war
    in Sachsen                                                                       tische Grundsätze definiert: Denazifizierung, Demili-               durch »eine besonders rigorose Personalpolitik und
                                                                                     tarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung.                durch eine enge Verquickung mit dem Parteiapparat
                                                                                     Die SMAD übernahm die Verwaltung der sowjetischen                   der KPD/SED [Kommunistische Partei Deutschlands/
    In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1945 wurde in Dres-                           Besatzungszone im östlichen Teil Deutschlands. Sie lei-             Sozialistische Einheitspartei Deutschlands]« geprägt.5
    den die letzte Zeitung des Dritten Reiches gedruckt –                            tete tiefgreifende politische, gesellschaftliche und wirt-          Bewährte Kommunisten übernahmen Führungsposi-
    die Nr. 105 des NSDAP-Parteiorgans »Der Freiheits-                               schaftliche Transformationsprozesse ein. Eine zentrale              tionen und sorgten dafür, dass die sächsische Polizei
    kampf«. Ausgeliefert werden konnte diese Ausgabe am                              Rolle spielte dabei die kommunistische Führungscrew                 zum Machtinstrument des Staates wurde.6 Kurt Fischer
    Tag der deutschen Kapitulation allerdings schon nicht                            um Walter Ulbricht, die sich auf die Machtübernahme                 (1900–1950) war eine entscheidende Figur bei diesem
    mehr, weil die Rote Armee bereits ins Stadtzentrum                               im Moskauer Exil jahrelang vorbereitet und schon vor                Prozess. Nach dem Ende des Krieges trug er als Ober-
                                                                                                                                                                                                                                         > Wolfgang Natonek. Um 1956
    vordrang. Schon am 22. Mai erschien die erste Aus-                               der Kapitulation wieder deutschen Boden betreten                    bürgermeister der Stadt Dresden zur Neuausrichtung                              BStU, MfS, HA IX/11, PA, Nr. 6212, Bl. 36
    gabe der »Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung«                             hatte. Speziell in Sachsen war die aus Moskau zurück-               der städtischen Polizei bei. Er galt als besonderer
    unter Aufsicht der Sowjetischen Militäradministration                            gekehrte Gruppe um Anton Ackermann (1905–1973),                     Vertrauensmann Moskaus. Ab Juli 1945 war er als säch-
    (SMAD) und verkündete auf der dritten Seite, dass die                            der unter sowjetischer Anleitung den Neuaufbau regeln               sischer Innenminister und ab 1948 als Präsident der
    »neue Stadtverwaltung von Dresden […] die Arbeit                                 sollte, aktiv.                                                      Deutschen Verwaltung des Innern an der Politisierung                            dazu: »Als wir nach einem sechsjährigen Krieg wieder
    begonnen« hatte.4                                                                                                                                    der Polizei maßgeblich beteiligt.7                                              an die Universitäten kamen, glaubten wir, dass nun
                                                                                     Die Durchsetzung einer kommunistischen staatlichen                                                                                                  endlich die Zeit angebrochen sei, dass wir uns wissen-
    Das Land Sachsen gehörte nach dem Ende des Zweiten                               Ordnung mit einer funktionierenden Verwaltung                                                                                                       schaftlicher Arbeit hingeben könnten. Keiner hatte
    Weltkriegs zur sowjetischen Besatzungszone. Die Auf-                             setzte einen zuverlässigen deutschen Polizeiapparat vo-                           1949 hatte die                                                    die Absicht, an der Universität Politik zu treiben, aber
    teilung Deutschlands in drei (später vier) Besatzungs­                           raus. Bereits eine Woche nach der Kapitulation wurden                                                                                               noch viel weniger, in eine Partei einzutreten. Wir sehen
                                                                                                                                                               »Hauptverwaltung zum Schutz                                               jedoch, dass es nötig ist, Parteipolitik zu treiben, damit
                                                                                                                                                                    der Volkswirtschaft«                                                 wir nicht von einer anderen Partei majorisiert werden.
                                                                                                                                                              1 150 hauptamtliche Mitarbeiter.8                                          Wir wissen, was auf dem Spiele steht«.11 Überliefert ist
                                                                                                                                                                                                                                         Natoneks Bonmot, wonach es 1937 die »nicht-arische«
                                                                                                                                                                                                                                         Großmutter gewesen sei, die ein Studium verhindert
                                                                                                                                                                                                                                         hätte, 1947 sei es die »nicht-proletarische« Großmutter
                                                                                                                                                         Schon früh wurden auch die Weichen für den Aufbau                               gewesen. Natonek geriet rasch in Gegensatz zur SED,
                                                                                                                                                         einer politischen Polizei gestellt.9 Abteilungen zur                            die ihn als »Idol der reaktionären Studentenschaft«
                                                                                                                                                         Bearbeitung politischer Kriminalität bildeten sich                              denunzierte.
                                                                                                                                                         innerhalb der Polizei aus und erhielten nach einem
                                                                                                                                                         Vereinheitlichungsprozess Anfang 1947 die Bezeich-                               In der Nacht vom 11. auf den 12. November 1948
                                                                                                                                                         nung »K 5«. Diese Abteilungen galten als Hilfsorgane                             wurde Natonek auf Veranlassung der SED von der
                                                                                                                                                                           5   Tantzscher, Monika: Die Vorläufer des Staatssicherheitsdienstes in der Polizei der Sowjetischen Besatzungszone – Ur-
                                                                                                                                                         der sowjetischen Geheimpolizei         und arbeiteten
                                                                                                                                                                               sprung und Entwicklung       der K 5. In: ihr              sowjetischen
                                                                                                                                                                                                                         Jahrbuch für Historische            Geheimpolizei
                                                                                                                                                                                                                                                   Kommunismusforschung.          festgenommen
                                                                                                                                                                                                                                                                              Berlin 1998, S. 125–156,und
                                                                                                                                                                                                                                                                                                        hier in
                                                                                                                                                                               136. Delikten, Kriegsverbrechen
                                                                                                                                                         in Fällen von politischen                                                        das Gefängnis der Geheimpolizei in Dresden gebracht.
                                                                                                                                                                           6   Schmeitzner, Mike: Formierung eines neuen Polizeistaates. Aufbau und Entwicklung der politischen Polizei in Sachsen
                                                                                                                                                         sowie Widerstand gegen      die neue
                                                                                                                                                                               1945–1952.          staatliche
                                                                                                                                                                                            In: Behring,   Rainer;Ordnung                 Zugleich
                                                                                                                                                                                                                   Schmeitzner, Mike (Hg.):            erfolgte dieinVerhaftung
                                                                                                                                                                                                                                              Diktaturdurchsetzung                     von
                                                                                                                                                                                                                                                                         Sachsen. Studien zurzehn
                                                                                                                                                                                                                                                                                               Geneseweiteren
                                                                                                                                                                                                                                                                                                      der
                                                                                                                                                         zu.10                 kommunistischen Herrschaft 1945–1952. Köln u. a. 2003,         S. 201–267,Natonek
                                                                                                                                                                                                                                          Studenten.        hier 207. wurde am 30. März 1949 von
                                                                                                                                                                           7   Vgl. https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=823 (letzter
                                                                                                                                                                                                                                          einem Sowjetischen
                                                                                                                                                                               Aufruf 23.2.2017); Spors, Joachim: Der Aufbau des Sicherheitsapparates                  Militärtribunal
                                                                                                                                                                                                                                                               in Sachsen                  in Dresden wegen
                                                                                                                                                                                                                                                                          1945–1949. Die Gewährleistung
                                                                                                                                                                               von Ordnung und Sicherheit unter den Bedingungen angeblicher
                                                                                                                                                                                                                                          eines politischenSpionage      zu 25 Jahren Zwangsarbeit
                                                                                                                                                                                                                                                             Systemwechsels.  Frankfurt am  Main 2003, S. ver-
                                                                                                                                                                               30–38.
                                                                                                                                                         Ein Beispiel für die
                                                                                                                                                                           9 Repressionspraxis
                                                                                                                                                                               Engelmann, Roger: Aufbau  in der
                                                                                                                                                                                                              undSBZ
                                                                                                                                                                                                                   Anleitung              urteiltStaatssicherheit
                                                                                                                                                                                                                          ist der ostdeutschen     und kam erst        nach
                                                                                                                                                                                                                                                                    durch     Torgau,
                                                                                                                                                                                                                                                                          sowjetische   dann1949–1959.
                                                                                                                                                                                                                                                                                      Organe     nach Bautzen
                                                                                                                                                         der Fall des Studenten Wolfgang Natonek (1919–1984).
                                                                                                                                                                               In: Hilger, Andreas  u. a. (Hg.): Diktaturdurchsetzung.    ins Gefängnis. 1956 aus der Haft entlassen verließ er
                                                                                                                                                                                                                                         Instrumente   und  Methoden    der kommunistischen   Machtsiche-
                                                                                                                                                                               rung in der SBZ/DDR 1945–1955. Dresden 2001, S. 55–64, hier 55.
                                                             4    http://digital.slub-dresden.de/fileadmin/data/425384225-19450522/425384225-19450522_   Im Februar 1946 10begann    er, an  der    Universität       Leipzig             die DDR.12
                                                                                                                                                                               Gieseke, Jens: Die Stasi 1945–1990. München 2011, S. 40 f. u. ­Tanzscher: Vorläufer (Anm. 5), S. 142 f.
                                                                  tif/jpegs/425384225-19450522.pdf (letzter Aufruf 29.3.2017).
                                                                                                                                                         Germanistik, Anglistik
                                                                                                                                                                           11 Vgl.und    Zeitungswissenschaft
                                                                                                                                                                                    Kowalczuk,                             zu
                                                                                                                                                                                                 Ilko-Sascha: Geist im Dienste     der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin
                                                                                                                                                                               2003, S. 503.
                                                                                                                                                         studieren. Im Februar 1947 wurde Natonek als Mitglied
                                                                                                                                                                           12 Ebd., S. 502–504; Blecher, Jens: »… ab nach Sibirien«. Einschüchterungspolitik und Meinungsbildung durch Terror an
                                                                                                                                                         der Liberal-Demokratischen        Partei
                                                                                                                                                                               der Universität      (LDP)
                                                                                                                                                                                                Leipzig       zum1945
                                                                                                                                                                                                          zwischen    Vorsit-             Ab 1948
                                                                                                                                                                                                                           und 1955. In: Blecher,     drängte
                                                                                                                                                                                                                                                  Jens;  Wiemers,die   SED-Führung
                                                                                                                                                                                                                                                                   Gerald:                in Moskau
                                                                                                                                                                                                                                                                           Studentischer Widerstand      ­da­rauf,
                                                                                                                                                                                                                                                                                                     an den
                                                                                                                                                                               mitteldeutschen
                                                                                                                                                         zenden des Studentenrates       gewählt. Universitäten
                                                                                                                                                                                                     Diskussionen 1945 bisum 1955. Von dereine
                                                                                                                                                                                                                                           Universität
                                                                                                                                                                                                                                                eigene  in den  GULAG. Studentenschicksale
                                                                                                                                                                                                                                                           deutsche                          in sowjetischen
                                                                                                                                                                                                                                                                        Geheimpolizei aufbauen            zu
                                                                                                                                                                               Straflagern 1945 bis 1955. Leipzig 2005, S. 42–57. Die Universität Leipzig verlieh Natonek 1992 den Titel eines Profes-
    > Das Sowjetische Militärtribunal verurteilte Wolfgang Natonek wegen Spionage zu 25 Jahren Haft, acht davon verbüßte er. 15.7.1955
                                                                                                                                                         politische Fragen gehörten      zu diesem Zeitpunkt zum
                                                                                                                                                                               sors ehrenhalber.                                          dürfen. Trotz Skepsis des sowjetischen Geheimdiens-
    BStU, MfS, HA IX/11, PA, Nr. 6212, Bl. 15                                                                                                            Universitätsalltag der Studenten. Natonek erklärte                               tes stimmte Stalin dem Vorhaben im Dezember 1948
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
10                                                                  S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                   >> DIE ZÄSUREN                                                                   11

     > Gesetz zur Schaffung eines DDR-Geheim­dienstes vom 8. Februar 1950. Aus dem kurzen Gesetzestext war                                            > Dienstausweis von Joseph Gutsche. 1947
     nicht zu entnehmen, welche Befugnisse und welche Stellung das neue Ministerium im SED-Staat hatte. 1950                                          BStU, MfS, ZAIG, Fo, Nr. 87, Bild 1

     zu. Das bedeutete die Abkoppelung der »K 5« aus der                             Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Gutsche nach             bald erfahren würde, wenn ich meine Zusage gegeben                      60 Mitarbeiter, zum Jahresende waren es rund 340 und
     Kriminalpolizei und die Gründung einer »Hauptver-                               Deutschland zurück. Er war zunächst als Präsident                hätte, jeden Parteiauftrag zu erfüllen. Worauf ich ihm                  Ende 1951 ca. 1 200.16 Damit war in Sachsen in kurzer
     waltung zum Schutz der Volkswirtschaft« als Vorläu-                             des Landeskriminalamts Sachsen tätig. 1949 wurde er              antwortete, dass das selbstverständlich sei, wie ja mein                Zeit eine politisch ausgerichtete Geheimpolizei ent-
     ferin des Ministeriums für Staatssicherheit, die unter                          zum Leiter der »Verwaltung zum Schutz der Volkswirt-             ganzes Leben beweise. Darauf erzählte er mir, dass das,                 standen, die in ihrer Funktion als »Schild und Schwert«
     strenger sowjetischer Aufsicht stattfand.13                                     schaft Sachsen« bestimmt. 1950 übernahm er dann die              was jetzt in der Kriminalpolizei die K 5 ist, ein selbst-               der Partei die Machtinteressen der SED mit allen Mit-
                                                                                     Leitung der Länderverwaltung des MfS in Sachsen und              ständiges Organ werden würde, welches ausschließlich                    teln durchsetzte.
     Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 folgte                             1952 die Bezirksverwaltung (BV) Dresden.                         mit den Fragen der Sicherheit des Staates sich befas-
     schon am 8. Februar 1950 das Gesetz zur Bildung des                                                                                              sen würde […] So wurde ich am 1.5.1949 der Gründer,
     Ministeriums für Staatssicherheit, auch hier nach sow-                                                                                           Leiter und Organisator der Staatssicherheit im Lande                    ECa
     jetischem Vorbild.                                                                       Das MfS verfügte 1950 über                              Sachsen, wo ich jeden Mitarbeiter, jedes Haus, jeden
                                          13   Engelmann: Aufbau (Anm. 9), S.                                                            56.          Wagen selbst heranschaffen musste.«        GanzMfS,
                                                                                                                                                                                           15 15 BStU,  allein
                                                                                                                                                                                                           HA IX/11, SV 295/87, Bl. 19. In: Gieseke, Jens: Die DDR-Staatssicherheit. Schild und
                                          14   Chronologischer Lebenslauf,                 2 700 hauptamtliche Mitarbeiter.              12.4.1949;
                                                                                                                                                      war ­Gutsche freilich nicht. Er arbeitete
                                                                                                                                                                                                 Schwert der Partei. Bonn 2001, S. 13.
                                                                                                                                                                                                 eng mit seinem
                                               BStU, MfS, KS 163/64, Bl. 105 f.                                                                                                            16 Schmeitzner:    Polizeistaat (Anm. 6), S. 254.
     Eine zentrale Rolle beim Aufbau der Staatssicher-                                                                                                Stellvertreter Rolf Markert (1914–1995), dem späteren
     heit in Sachsen spielte Joseph Gutsche (1895–1964).                                                                                              Leiter der BV Dresden, zusammen. Beim Aufbau des
     Er war Kommunist der ersten Stunde und diente                                   An den Aufbau der Geheimpolizei in Sachsen erinnerte             Kaderbestands musste er sich mit der Berliner Zentrale
     während seines Exils in der Sowjetunion als                                     sich Gutsche folgendermaßen: »Im April 1949 kam ei-              und vor allem der sowjetischen Geheimpolizei abstim-
     Regimentskomman­deur der Roten Armee. Schon im                                  nes Tages der Genosse Erich Mielke nach Dresden und              men, die am Ende die Entscheidungen traf. Seinem
     Auftrag Moskaus hatte er militärische und parteiliche                           fragte mich, ob ich mitmache? Ich sagte ihm, dass ich            Auftrag ging Gutsche konsequent nach. Am 1. Septem­
     Arbeit geleistet.14                                                             doch wissen müsse wobei. Darauf sagte er, dass ich das           ber 1949 zählte die Landesverwaltung Sachsen etwa
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
12                                                        S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                                            >> DIE ZÄSUREN                                                                        13

     1953
     »Stürzt die Regierung!« –                                             Putzwatte und wurde von der Zeugin S[…] gesehen, wie
                                                                           er mit der dann brennenden Putzwatte zum Gebäude
     der 17. Juni 1953 in Niesky                                           des Min. f. Staatssicherheit ging. Als die Volkspolizei auf
                                                                           das Grundstück des M.F.S. kam, forderte er diese auf,
                                                                           nicht auf die Arbeiter zu schießen, sondern die ›Knarre‹
     Victor Piegsa (Jg. 1905) war Hilfsschlosser im volks­                 umzudrehen. Nach dem erzwungenen Abzug verfolgte
     eigenen Betrieb Lokomotiv- und Waggonbau (LOWA)                       er die Volkspolizei noch bis zum VP-Kreisamt und be-
     in Niesky. Am 17. Juni 1953 schloss er sich den spon-                 schimpfte diese, indem er sagte: ›Die Arbeiter müssen
     tanen Demonstrationen im Ort an. Nach seiner                          schwer arbeiten und bekommen wenig zu essen und
     Festnahme befragt, warum er sich »an diesen faschis-                  die VP-Angehörigen bekämen besonders gutes Essen
     tischen Terrormaßnahmen« beteiligt hatte, antwor-                     und viel Geld.‹ Weiter äußerte er noch, dass wir keine
     tete er: »Da ich mit verschiedenen Maßnahmen der                      Kasernen, sondern Wohnungen brauchen.«18
     Regierung der Deutschen Demokratischen Republik
     nicht einverstanden und besonders in der letzten Zeit                 Das Gericht befand in seinem Urteil, Victor Piegsa habe
     über verschiedene Dinge sehr verärgert war«.17                        feindliche Ziele verfolgt und sich der Brandstiftung
                                                                           und der Boykott- und Kriegshetze schuldig gemacht.
     Piegsa wurde vor Gericht gestellt und verurteilt: »Der                Das Urteil lautete auf sechs Jahre Zuchthaus.19 Aus-
     Angeklagte Victor Piegsa beteiligte sich am 17. Juni                  schlaggebend für das hohe Strafmaß war auch die
     1953 ab 15.00 Uhr von der LOWA aus an der Demons­                     Zeugenaussage von Frieda S. (Jg. 1920), die in der Kreis-
     tration. Als die Menge an der SED-Kreisleitung begann,                dienststelle (KD) Niesky (i S. 158) als Reinigungskraft
     handgreiflich zu werden, stellte er sich abseits und be-              beschäftigt war.20 Sie gab an, »dass sie Piegsa gesehen
     obachtete von da aus alles. Zum Min. f. Staatssicherheit              hat, wie er mit einem Wattebausch, der mit Benzin
     [gemeint ist die MfS-Kreisdienststelle Niesky] zog er                 getränkt war, aber nicht brannte, um das Gebäude des
     dann mit und kam dort an, als bereits die Türen erbro-                MfS gelaufen ist«.21 Die Frage, woran sie auf Distanz er-                            > In den Nachmittagsstunden standen 1 200 Menschen
                                                                                                                                                                vor der Dienststelle der Staatssicherheit in Niesky.
     chen waren. Er ging in den Hof und sah wie Markwirth                  kennen konnte, dass ein Bausch Polierwatte mit Benzin                                17.6.1953
     [der Mitangeklagte ›Rädelsführer‹] in die Garage ging                 getränkt war, stellte der Richter offenbar nicht.                                    BStU, MfS, BV Dresden, AKG, Fo, Nr. 10745, Bild 18
     und mit noch anderen Benzin holte. Aus den dort
     zwischen Garage und Haus stehenden Tonnen nahm er                     Im November 1956 prüfte der Staatsanwalt des Bezirks
                                                                           Dresden, ob eine Strafaussetzung auf Bewährung für
                                                                           Piegsa infrage käme. In der Strafvollzugsanstalt Leipzig                             eingetroffen und unterrichtete seine Kollegen über die                          die Kreisleitung nicht mehr verhindern. Am und im
                                                         17                wurde das29.6.1953;
                                                              Vernehmungsprotokoll,      Ansinnen     »noch
                                                                                                  BStU, MfS, BVals verfrüht
                                                                                                                 Dresden,     angesehen«.
                                                                                                                          AU 237/54,
                                                                                                                                              22
                                                                                                                                     Bl. 139–141, hier 141      Streikwelle in Berlin, Leipzig und Görlitz: »Ich komme                          Gebäude wurden Transparente, Fahnen, Embleme und
                                                              (Akte Staatsanwalt).
                                                                           Die Umerziehung des Strafgefangenen Victor Piegsa                                    soeben aus Berlin, was hier gesprochen wurde ist alles                          Bilder heruntergerissen und auf der Straße in Brand
                                                         18   Urteil, 26.7.1953; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bl. 156–186, hier 173.
                                                         19   Ebd., Bl. 4. sei noch nicht abgeschlossen, außerdem erkenne er die                                Lüge. In Berlin wird gestreikt und wir fordern nicht nur                        gesetzt.25 Damit brachten die Demonstranten ihre Wut
                                                         20   BStU, MfS, BVUrteilsbegründung
                                                                              Dresden, KD Niesky, Nr.nicht
                                                                                                      6119, an.
                                                                                                            Bl. 6Victor
                                                                                                                 sowie diePiegsa  verbüßte im Ermittlungs-
                                                                                                                           Zeugenvernehmung                     die Herabsetzung der Normen, sondern auch die Abset-                            über den Staat und den proklamierten »Aufbau des So-
                                                              verfahren; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bl. 173.
                                                         21   Provokateure schließlich
                                                                             Victor Piegsaeine  Haftstrafe
                                                                                           und [Name]         von5.8.1953;
                                                                                                       aus Niesky, fünf Jahren     undBVfünf
                                                                                                                            BStU, MfS,    Dresden, KS 402/59,   zung der Regierung, die Absetzung der Partei, der FDJ                           zialismus« zum Ausdruck, der eine Wiedervereinigung
                                                              Bl. 65.      Monaten.                                                                             [Freien Deutschen Jugend], der Werksleitung.«23 Beim                            Deutschlands in weite Ferne rückte. Die zunehmende
                                                         22   Dortiges Ersuchen vom 7.11.56 [Strafvollzugsanstalt Leipzig an Staatsanwalt des Bezirkes],
                                                              28.11.1956; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bl. 59 (Vollzugsakte), 73.
                                                                                                                                                                Schichtwechsel um 15.00 Uhr legten die Arbeiter dann                            Militarisierung, die Enteignung von Betrieben und die
                                                                                                                                                                endgültig die Arbeit nieder. Früh- und Spätschicht­                             Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die verstärk-
                                                                                                                                                                                        23 Abschrift Vernehmung eines Zeugen, KD Niesky, 26.6.1953; ebd., Bd. o. Nr., Bl. 23; vgl. Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953
                                                                           Neben Görlitz gehörte in Ostsachsen die Kreisstadt                                   arbeiter machten sich auf den       Weg    zum    VEB   (Volks­
                                                                                                                                                                                              in Sachsen. Köln u. a. 1999, S. 297–299.          ten Repressionen und schließlich die Erhöhung der
                                                                           Niesky zu den Brennpunkten des Volksaufstands vom                                                            24    Gesamtübersicht    über
                                                                                                                                                                eigener Betrieb) Stahlbau, einem anderen Großbetrieb  die Vorgänge    vom   17.–19.6.1953 in Bezirk Dresden,
                                                                                                                                                                                                                                                Arbeitsnormen        stießen 1.7.1953; BStU, MfS,
                                                                                                                                                                                                                                                                               zunehmend       aufBVWiderstand
                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Dresden, 1.  in
                                                                                                                                                                                              Stellvertreter des Leiters, Nr. 4, Bl. 1–26, hier 6.
                                                                           17. Juni 1953 in der DDR. Schon in den Morgenstunden                                 der Region, wo sich weitere     Mitstreiter     dem    Demons­
                                                                                                                                                                                        25 Roth: 17. Juni (Anm. 23), S. 300.                    der  Bevölkerung.      Der   Druck   und   die  Frustrationen   bei
                                                                           spürten Beobachter auf der Baustelle des Flugplatzes                                 trationszug anschlossen.26 24 Vgl. http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/der-aufstand-des-17-juni-1953/154325/der-weg-in-die-
                                                                                                                                                                                                                                                Arbeitern und Angestellten wurden immer größer. Wie
                                                                                                                                                                                              krise (letzter Aufruf 20.1.2017).
                                                                           Bremenhain die ersten Unruhen. Auch in der LOWA,                                                                                                                     sollte man beispielsweise in den Betrieben die Norm
                                                                           einem der größten Betriebe der Region, diskutierten                                  Die Streikenden marschierten zunächst Richtung                                  erfüllen, ja sogar übererfüllen, wenn es an Material
                                                                           Beschäftigte über eine Beteiligung an der Streikbewe-                                Innenstadt bis zum Sitz der SED-Kreisleitung am                                 mangelte?26
                                                                           gung. In den Mittagstunden drang die Nachricht zu                                    Zinzendorfplatz. Dort verschärfte sich die Situation:
                                                                           den Betriebsangehörigen durch, dass in anderen Orten                                 SED-Funktionäre wurden beschimpft und zum Teil                                  Die Nieskyer beschränkten die Protestkundgebung
     > MfS-Häftling Victor Piegsa. 1953
                                                                           bereits demonstriert wurde. Der 24-jährige Elektro-                                  angegriffen – sie brachten sich in Sicherheit. Auch der                         nicht auf die SED-Kreiszentrale. Gegen 16.00 Uhr
     BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Beiakte, Bild 3                     mechaniker Heinz Sachsenröder war in der LOWA                                        Einsatz von Volkspolizisten konnte den Sturm auf                                standen 1 200 Demonstranten in der Karl-Marx-Straße
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
14                                                                      S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                                    >> DIE ZÄSUREN                             15

       vor dem Sitz der MfS-Kreisdienststelle.27 Karl Schulze                            drei seiner Mitarbeiter wurden entwaffnet und in den
       (1905–1974), kommissarischer Leiter der KD, hatte aus                             Hundezwinger der KD gesperrt. Höhepunkt der Demü-
       der Bezirksverwaltung Dresden die klare Anweisung                                 tigung: Demonstranten stellten ihnen einen Napf mit
       bekommen, »das Gebäude unter allen Umständen zu                                   saurem Hundefutter hin.30 Gegen 20.00 Uhr beende-
       verteidigen«28. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich                                 ten Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP) die
       gerade einmal zehn Mitarbeiter der Stasi im Gebäude.                              Besetzung. Zwei Stunden später war in Niesky wieder
       Es herrschte Unklarheit unter den Hauptamtlichen, ob                              Ruhe eingekehrt. Im Vergleich zu anderen Städten wie
       geschossen werden sollte oder nicht, und sie suchten                              Görlitz waren in Niesky keine sowjetischen Truppen
       zunächst Zuflucht in der oberen Etage des Gebäudes.                               angerückt. Offenbar standen auf deutscher Seite keine
       Die Menge forderte die Freilassung von Gefangenen.                                Dolmetscher zur Verfügung, die die »Freunde« um
       Einen Demonstranten ließ Schulze eintreten, der kurz                              Unterstützung bitten konnten.31
       darauf wieder hinauskam und verkündete, dass sich
       im Gebäude kein einziger Häftling befände. Die Menge                              Die Ereignisse des 17. Juni trafen SED-Funktionäre
       glaubte ihm jedoch nicht und stürmte das Gebäude.                                 und Mitarbeiter des MfS in Niesky völlig überra-
       Einige Demonstranten gelangten in den Keller und                                  schend. In der Nacht zuvor war eine Vorwarnung des
       legten Feuer, um die Stasi-Mitarbeiter »auszuräuchern«                            Zentralkomi­tees (ZK) über bevorstehende Unruhen
       und dazu zu zwingen, das Gebäude zu verlassen.29 Der                              eingegangen. Jedoch war Schulze in den Vormit-
       Einsatz von Volkspolizisten und das Abfeuern von                                  tagsstunden noch der Meinung, dass keine Gefahr
       Warnschüssen schreckte die Menschenmenge nicht ab.                                bestünde. Die Szenen, welche sich in der MfS-Dienst-
       Die Situation spitzte sich weiter zu. Karl Schulze und                            stelle von Niesky ein paar Stunden später abspielten,

                                                  27   Die Kreisdienststelle Niesky befand sich 1953 auf der Karl-Marx-Straße 15, später hatte die Stasi ihren Sitz in
                                                       der Gersdorfstraße 35. BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54 sowie Zeitzeugengespräch mit Christel Haude am
                                                       19.7.2016.
                                                  28   Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953. München 2013, S. 104.
                                                  29   Strafsache gegen Markwirth, 8.7.1953; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bd. o. Nr., Bl. 6.
                                                  30   Ebd., Bd. o. Nr., Bl. 26.
                                                  31   Kowalczuk: 17. Juni 1953 (Anm. 28), S. 105.

> Stürmung der KD Niesky. 17.6.1953                                                                                                                                      > Verhängung des Ausnahmezustandes durch den Chef der Garnison der Stadt Dresden Schmyrnow. 17.6.1953
BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bd. o. Nr., Bl. 38                                                                                                                     BStU, MfS, BV Dresden, KD Niesky, Nr. 6119, Bl. 7
STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
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                                                                                                                                                                 »Auch Walter Ulbricht wird in                                                  erklärte der Betriebsleiter des Volkseigenen Gutes
                                                                                                                                                                                                                                                Reckwitz im Kreis Oschatz, ein Mitglied der SED: »Uns
                                                                                                                                                                 Kürze stolpern« – Reaktionen                                                   hat man zehn Jahre den Stalinismus eingeflößt und
                                                                                                                                                                 auf den XX. Parteitag der KPdSU                                                auf einmal stellt man fest, dass er kein Klassiker ist.
                                                                                                                                                                                                                                                Wenn früher jemand etwas gegen Stalin sagte, ging
                                                                                                                                                                 in Sachsen                                                                     er nach Sibirien ab. […] In der DDR gibt es ähnliche
                                                                                                                                                                                                                                                Verhältnisse. Was Walter Ulbricht sagt, ist maßgebend,
                                                                                                                                                                 Das Jahr 1956 begann mit einem Paukenschlag: Auf                               und das ist auch Personenkult.«40 Ein Zugpassagier
                                                                                                                                                                 dem XX. Parteitag der KPdSU, der im Februar in Moskau                          wagte auf dem Weg nach Leipzig die Prognose: »So
                                                                                                                                                                 stattfand, rechnete Generalsekretär Nikita Chruscht­                           wie Stalin nach seinem Tode gestolpert ist, wird auch
                                                                                                                                                                 schow schonungslos mit der Herrschaft Stalins, seinen                          Walter Ulbricht in Kürze stolpern, denn er ist doch der
                                                                                                                                                                 Verbrechen und dem Personenkult ab. Die plötzliche                             glühendste Verehrer und Verfechter der Lehren Stalins
                                                                                                                                                                 Abkehr vom bisher vergötterten Diktator löste im                               und ist genauso diktatorisch wie dieser.«41
                                                                                                                                                                 gesamten sowjetischen Machtbereich eine Krise aus.
                                                                                                                                                                 In besonderem Maße zeigte sich dies in Polen und Un-                           Besonders intensiv wurde an den Universitäten über
                                                                                                                                                                 garn, wo es nicht nur zu politischen Führungswechseln                          Stalin diskutiert. An der Karl-Marx-Universität Leipzig
                                                                                                                                                                 kam, sondern auch zu den Aufständen breiter Schichten                          etwa machte sich nach der III. Parteikonferenz der
                                                                                                                                                                 der Bevölkerung, die blutig nieder­geschlagen wurden.                          SED, die kurz nach dem XX. Parteitag stattfand, Ent-
                                                                                                                                                                                                                                                täuschung breit, da die erwartete Kritik an Ulbricht
     > Verhandlung zum 17. Juni 1953 vor dem Bezirksgericht Dresden gegen 16 Angeklagte, darunter Victor Piegsa (erste Reihe, rechts). 25.7.1953
     BArch, Bild 183-20524-0001, Foto: Braun (Ausschnitt)                                                                                                        An der DDR ging der Parteitag ebenfalls nicht spurlos                          ausgeblieben und »nichts Neues« gesagt worden sei.42
                                                                                                                                                                 vorüber. Walter Ulbricht, der Erste Sekretär des ZK der                        Am dortigen Institut für Marxismus-Leninismus gab
                                                                                                                                                                 SED, sah sich Anfang März veranlasst, im Parteiorgan                           es Spekulationen über die Ablösung verschiedener
                                                                                                                                                                 »Neues Deutschland« Stellung zu beziehen.37 Sein Arti-                         SED-Funktionäre. Das MfS beobachtete, dass auch
                                                                                                                                                                 kel, der in den schlichten Satz mündete »Zu den Klas-                          grundsätzlich freier diskutiert wurde als zuvor. Dies
     gehörten republikweit zu den gewalttätigsten. SED und               Funktionen. Von diesem Zeitpunkt an ordnete die Par-                                    sikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen«,                           ging so weit, dass Studenten am Franz-Mehring-­
     das örtliche MfS hatten die Kontrolle völlig verloren.              tei an, von der Staatssicherheit über alle Geschehnisse                                 kam einem politischen Erdbeben gleich. Die Reaktio-                            Institut es wagten, die Meinung zu vertreten, dass der
     Der KD-Leiter Schulze wurde seines Amtes enthoben                   in der DDR informiert zu werden.35 Zu jedem Jahrestag                                   nen der DDR-Bevölkerung waren ambivalent. Während                              Marxismus-Leninismus keine exakte Wissenschaft sei.
     und als operativer Mitarbeiter in eine Abteilung der BV             des 17. Juni verstärkte das MfS seine Kontrollen mit                                    viele SED-Mitglieder von der plötzlichen Kehrtwende
     versetzt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er von der Waffe              der Prämisse, eine Wiederholung solcher Ereignisse                                      verunsichert waren, fühlten sich andere in ihrem Urteil                             Es blieb jedoch nicht bei allgemeinpolitischen Diskus-
     keinen Gebrauch gemacht hatte: »Er verfügt über keine               bereits im Vorfeld zu verhindern.36 So blieb der 17. Juni                               über Stalin bestätigt und sprachen nun offen aus, was                               sionen. Erhebliche Proteste entzündeten sich an der
     zielklare Entscheidungskraft.«32 Nach der Erstürmung                bis zum Untergang der DDR stets ein Tag erhöhter                                        sie schon lange dachten. Sie hofften auf eine Liberali-                             im Mai vom ZK der SED gegebenen Anweisung, dass
     der KD Niesky wurden 16 Personen, darunter Piegsa,                  Alarm­bereitschaft bei der Staatssicherheit – auch noch                                 sierung des politischen Kurses auch in der DDR.                                     Studenten in den Semesterferien nicht mehr nach
     inhaftiert. Nur einen Monat später, am 18. Juli 1953,               36 Jahre nach den Ereignissen des Jahres 1953.                                                                                                                              Westdeutschland fahren durften. An der Technischen
     wurde das Urteil gefällt. Die Haftstrafen reichten von
                                                 32 Roth:  17. Juni (Anm. 23), S. 314 f. u. BStU, MfS, BV Dresden, KS 91/73, Bd. o. Nr., Bl. 4.                  Die Stimmungsberichte
                                                                                                                                                                            37 Ulbricht, Walter: zum ÜberXX.denParteitag,
                                                                                                                                                                                                                XX. Parteitagdie
                                                                                                                                                                                                                               derdas   MfS
                                                                                                                                                                                                                                    Kommunistischen  Hochschule        (TH) Dresden
                                                                                                                                                                                                                                                      Partei der Sowjetunion.   In: Neues kam    es beiv.der Verkündung
                                                                                                                                                                                                                                                                                          Deutschland
     anderthalb Jahren bis lebenslänglich.33     33 Urteil, 18. 7.1953; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bd. o. Nr., Bl. 1–32.
                                                                         AJM/ECa                                                                                 im Auftrag der4.3.1956,   S. 3 f., hier veranschaulichen
                                                                                                                                                                                  SED erstellte,         4.                        diese             durch den Prorektor Werner Turski (1918–1986) zu
                                                                           34      Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen               38 Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU [Information (Info) M65/56] v. 23.3.1956. In: Bispinck, Henrik [Bearb.]: Die
                                                                           – Abläufe – Folgen. Bremen 2003, S. 9.                                                Gemütslage eindrücklich.
                                                                                                                                                                                 DDR im Blick derIn      der1956.
                                                                                                                                                                                                      Stasi   ganzen    DDR waren
                                                                                                                                                                                                                  Die geheimen                       »erheb­lichen
                                                                                                                                                                                                                                  Berichte an die SED-Führung.           Missfallenskundgebungen«.
                                                                                                                                                                                                                                                                  Göttingen  2016. Hieraus auch alle folgen-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                              43
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Für den
                                                                           35      Vgl. Engelmann, Roger [Bearb.]: Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die gehei-                   den zitierten Informationen.
                                                                                                                                                                 hoffnungsvolle Stimmen zu hören, auch in den Bezir-                                 folgenden Nachmittag, den 24. Mai, luden Chemie-
                                                                           men Berichte an die SED-Führung. Göttingen 2013, S. 12–21.                                       39 Neue Argumente zum XX. Parteitag der KPdSU [Info M54/56] v. 14.3.1956.
            Das MfS verfügte 1953 über                                     36      Aufklärung und Abwehr geplanter feindlicher Aktivitäten im Zusammenhang       ken Leipzig,  Dresden      und     Karl-Marx-Stadt.         So  äußerte
                                                                                                                                                                            40 Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht und andere [Info M90/56]     studenten       zu einer Veranstaltung zum Thema »Wa-
                                                                                                                                                                                                                                                              v. 25.4.1956.
                                                                           mit dem 17. Juni 1988; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 008643, Bl. 1–4; BStU, MfS, BV Halle,   ein Bauer41 aus Hetze
                                                                                                                                                                                 Hilmsdorf
                                                                                                                                                                                        gegen den imGenossen
                                                                                                                                                                                                       Kreis Rochlitz,       es habe
                                                                                                                                                                                                                 Walter Ulbricht   [Info sich        rum dürfen
                                                                                                                                                                                                                                         M88/56] v. 19.4.1956. Hierauswir
                                                                                                                                                                                                                                                                        auchnicht    nach dem
                                                                                                                                                                                                                                                                              das folgende Zitat. Westen fahren?« ein.
         12 630 hauptamtliche Mitarbeiter.                                 BKG, Nr. 1739; BStU, MfS, BV Schwerin, BdL, Nr. 400027.                                          42 Lage in den Universitäten und unter den Studenten [Info M104/56] v. 18.5.1956. Hieraus auch die folgenden Zitate.
                                                                                                                                                                 »erwiesen,43dass  derundWeg     der   Sowjetunion        und auch der an derObwohl               der fürWeimar
                                                                                                                                                                                                                                                                            die Versammlung         vorgesehene Hörsaal
                                                                                                                                                                                 Hierzu       zum   Folgenden:   Studentendemonstrationen              Musikhochschule             und an der Technischen
                                                                                                                                                                 DDR nicht richtig     ist« und
                                                                                                                                                                                 Hochschule          er hoffe
                                                                                                                                                                                               Dresden           daher, dass
                                                                                                                                                                                                          [Info M109/56]          die Plan-
                                                                                                                                                                                                                           v. 25.5.1956.             auf Beschluss der Universitätsparteileitung nicht
                                                                                                                                                                 wirtschaft und die LPG »wieder abgeschafft« würden.38                               freigegeben wurde, kamen 760 Studenten zusammen
     Der 17. Juni 1953 hinterließ sowohl bei der Partei als                                                                                                      Im VEB Phänomen-Werk Zittau wurde darüber speku-                                    und unterzeichneten eine an Ministerpräsident Otto
     auch bei der Staatssicherheit für Jahrzehnte ein tiefes                                                                                                     liert, ob die Erkenntnis, dass Stalin »Fehler gemacht«                              Grotewohl gerichtete Protestresolution. Unterstüt-
     Trauma. Etwa eine Million Menschen in über 700 Städ-                                                                                                        habe, auch dazu führen würde, die Oder-Neiße-Grenze                                 zung erfuhren sie durch Karl Trinks (1891–1981), den
     ten und Gemeinden der DDR hatten sich am Volksauf-                                                                                                          zu revidieren.39                                                                    Dekan der Fakultät Berufspädagogik, der an erster
     stand beteiligt.34 Die SED machte ihrer Geheimpolizei                                                                                                                                                                                           Stelle unterschrieb. Einen Tag später versammelten
     den Vorwurf, die Gefahr nicht erkannt zu haben, und                                                                                                         Zugleich nahm die Kritik an der SED-Führung, ins-                                   sich über 1 000 Studenten in der Mensa. Sie forderten
     entband Stasi-Minister Wilhelm Zaisser von seinen                                                                                                           besondere an der Person Ulbrichts, zu. Beispielsweise                               mit Sprechchören »Wo bleibt Turski?« den Prorektor
18                                                                      S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                                      >> DIE ZÄSUREN                                19

     > Die Leipziger Staatssicherheit registriert den Protest des Physikers Professor Kockel.
     BStU, MfS, BV Leipzig, AP 1019/62, Bl. 54

     zu einer Stellungnahme auf. Als dieser nicht erschien,                      des Theoretisch-physikalischen Instituts. Als interna-
     strömten sie zum etwa 100 Meter entfernt gelegenen                          tional vernetztem Wissenschaftler war ihm jegliche
     Prorektorat, wo sie Turski und den Geschichts­professor                     Beschränkung der Reisefreiheit ein Dorn im Auge.
     Hermann Ley (1911–1990), Prorektor für Gesellschafts-                       Kockel reagierte mit »Zwölf Thesen«, in denen er das
     wissenschaft, aufforderten, offiziell zum Verbot der                        Reiseverbot in zum Teil sarkastischer Form kritisierte
     Westreisen Stellung zu nehmen. Ein kurzes Statement                         und die DDR-Führung auf ihre eigenen Widersprü-
     Leys konnte die Situation44nicht   beruhigen, erst ein
                                     Studentendemonstration     undher-          che aufmerksam
                                                                     Stimmung unter                       machte.
                                                                                        den Studenten [Info        Das
                                                                                                             M114/56].   Verbot
                                                                                                                       Siehe      zeugeMatthias:
                                                                                                                             auch Lienert,  von derZwischen
                                     Widerstand und Repression. Studenten der TU Dresden 1946–1989. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 85.
     aufziehendes Gewitter sorgte dafür, dass die Studenten                      »Unehrlichkeit« der Regierung, die sich ansonsten über
                                45 Hierzu und zum Folgenden: Sonderinformation – Betrifft: Professor Dr. Kockel, Direktor des Theoretisch-Physikalischen
     sich zerstreuten.44 Ein Teil derInstituts
                                      Professoren       stellte sich Leipzig»Kulturtage,
                                               der Karl-Marx-Universität           [Info M122/56] Deutsche
                                                                                                   v. 7.6.1956. Begegnungen, Kongresse der
                                46 Zurder
     hinter die Studenten, darunter      Biografie vgl. Wappler, Karl: Bernhard verschiedensten
                                             Chemieprofessor                     Kockel. Zum 100. Geburtstag    am Sport«
                                                                                                         Art, den  3. September 2009. In:mit
                                                                                                                             bemühe,       Jubiläen
                                                                                                                                               West-2009. Personen |
                                     Ereignisse. Hg. v. Rektor der Universität Leipzig. Leipzig 2009, S. 59–63.
     Arthur Simon (1893–1962),  47 der am und
                                     Dieses  24. die
                                                 Mai    den Hörsaal
                                                     folgenden                   deutschland
                                                                Zitate aus: Anlage                 ins(Anm.
                                                                                     zur Info M122/56   Gespräch
                                                                                                              45). zu kommen. Auch fände
                                                                                                                                     47

     für die Versammlung zur Verfügung gestellt hatte.                           man bei Marx »keine Stelle, die besagt, dass sozia-
                                                                                 listische Länder sich mit einer Sperre aus Draht und
                                                                                 Formularen umgeben müssen«. Die offiziellen Begrün-
     Deutlich weiter ging eine Aktion des Professors Bern-                       dungen für das Verbot (»Agententätigkeit und Abwer-
     hard Kockel (1909–1987) an der Karl-Marx-Universität                        bung«) nannte er »falsch und verlogen«. Am Schluss
     Leipzig.45 Kockel, Mitglied der SED, war ein renom-                         kritisierte er – kaum verschleiert – das MfS: Das Verbot,
     mierter Physiker und Schüler des Nobelpreisträgers                          so der Professor, sei »Ausfluss der viel zu weitgehenden,
     Werner Heisenberg (1901–1976). Im Dritten Reich war
                                         46
                                                                                 ständigen, misstrauischen Gängelungs- und Beob-
     ihm wegen seiner früheren Mitgliedschaft im Sozia-                          achtungssucht der Administrative, die es schrecklich
     listischen Studentenbund eine universitäre Karriere                         findet, wenn sie nicht auch in den Urlaubsmonaten von
     verwehrt geblieben. In Leipzig übernahm er 1952 den                         Nr. 1 bis Nr. N der Bevölkerung genau weiß, was diese                                 > Prof. Kockel verfasst 12 Thesen, um gegen das Reiseverbot von Studenten zu protestieren. Auszug. Juni 1956
     Lehrstuhl für Theoretische Physik und wurde Direktor                        Nummer isst, trinkt, hört, liest, spricht, sieht und tut.«                            BStU, MfS, BV Leipzig, AP 1019/62, Bl. 41
20                                                                 S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                       >> DIE ZÄSUREN                                                                21

                                                                                                                                                           angereisten Chruschtschow. Die Wahl Gomułkas stieß                   verbreitet war.55 An der TH Dresden hielten Studenten
                                                                                                                                                           auf enthusiastische Reaktionen in der polnischen                     – wie an vielen anderen Schulen und Universitäten –
                                                                                                                                                           Bevölkerung, die in einer Demonstration mit etwa                     Gedenkminuten für die Opfer des Volksaufstands in
                                                                                                                                                           500 000 Teilnehmern am 24. Oktober in Warschau                       Ungarn ab,56 an der Hochschule für Maschinenbau in
                                                                                                                                                           gipfelten. In Ungarn weitete sich eine Demonstration                 Karl-Marx-Stadt äußerte ein Student auf einer Ver-
                                                                                                                                                           von Studenten am 23. Oktober in einen Massenprotest                  sammlung: »Wenn es in Ungarn an Freiwilligen bei den
                                                                                                                                                           aus, gegen den die kommunistische Führung die sow-                   Konterrevolutionären mangelt, dann melden wir uns
                                                                                                                                                           jetische Armee um Hilfe bat. Nachdem die Forderung                   freiwillig, und das zu 99 % der hier Anwesenden.«57
                                                                                                                                                           der Demonstranten nach der Berufung des reform­
                                                                                                                                                           orientierten Kommunisten Imre Nagy (1896–1958)                       Auch forderten Studenten Veränderungen im Politbüro
                                                                                                                                                           zum Ministerpräsidenten erfüllt worden war, keimte                   und den Rücktritt Ulbrichts. Sie fanden dabei vielfach
                                                                                                                                                           zunächst Hoffnung auf. Als Nagy jedoch den Austritt                  Unterstützung bei den Professoren. Der angesehene
                                                                                                                                                           Ungarns aus dem Warschauer Pakt erklärte, wurde er                   Leipziger Medizinprofessor Heinrich Bredt (­ 1906–1989),
                                                                                                                                                           abgesetzt. Am 4. November griff die sowjetische Armee                Nationalpreisträger und Mitglied der ­Akademie der
                                                                                                                                                           erneut ein und schlug den Aufstand in den folgenden                  Wissenschaften, wurde grundsätzlich: Vor dem Hinter-
     > Freiheitskämpfer schwenken die ungarische Nationalfahne auf einem                         > In Budapest legen Studenten vor dem Denkmal
     erbeuteten sowjetischen Panzer. 2.11.1956                                                   des ungarischen Freiheitshelden Sandor Petöfi ein         Wochen blutig nieder. Etwa 2 500 Menschen fielen den                 grund der Ereignisse in Polen und ­Ungarn äußerte er,
     Foto: picture alliance/akg-images                                                           Freiheitsgelöbnis ab. 27.10.1956                          gewaltsamen Auseinandersetzungen zum Opfer.                          »man müsse jetzt doch einsehen, dass der Kommunis-
                                                                                                 Foto: picture alliance/akg-images
                                                                                                                                                                                                                                mus nichts für die Menschheit sei«.58

                                                                                                                                                                  Das MfS verfügte 1956 über                                      Die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands
                                                                                                                                                                                                                                  hatte die Grenzen der vorsichtigen Öffnung nach dem
     Alles in allem war das Manifest eine Provokation.                      Die Proteste gegen das Reiseverbot, die es nicht nur in
                                                                                                                                                               16 264 hauptamtliche Mitarbeiter.                                  XX. Parteitag deutlich gemacht. Die Sowjetführung er-
     Kockel hatte es an die Parteileitung seines Instituts, an              Dresden und Leipzig, sondern an allen Universitäten                                                                                                   kannte, dass zu weitgehende politische Zugeständnisse
     den Rektor der Universität Georg Mayer (1892–1973)                     der DDR gab, hatten – zumindest vorübergehend – Er-                                                                                                   zu einem Auseinanderbrechen ihres Machtbereichs
     sowie an das ZK der SED geschickt. Sein Vorhaben,                      folg: Die SED-Führung entschloss sich, das Verbot zu-                          In der DDR wurden diese Entwicklungen aufmerk-                         in Ostmitteleuropa führen konnten. Deshalb wurden
     die »12 Punkte« auch am Schwarzen Brett auszuhän-                      rückzunehmen.50 Doch schon ein Jahr später verfügte                            sam registriert, wobei sich die Bevölkerung nicht auf                  auch in den übrigen Staaten des Ostblocks diejenigen
     gen, wurde von Mayer unterbunden. Das MfS stellte                      das Staatssekretariat für Hochschulwesen, dass Reisen                          die ­offizielle Darstellung der Ereignisse in Ungarn                   Kräfte gestärkt, die sich gegen politische ­Lockerungen
     in seinem Bericht beruhigt fest, dass am Institut                      von Studenten in NATO-Staaten und nach West-Berlin                             als »Konterrevolution« verließ, sondern sich auch                      gestellt hatten; in der DDR war dies Walter ­Ulbricht.
     noch keine Diskussionen zu dem Schreiben bekannt                       nur noch anlässlich von Besuchen von engen Ver-                                über westliche Medien informierte. Aus den biswei-                     Die Verhaftungen des Philosophen Wolfgang
     geworden seien. Zugleich kritisierte es den Parteise-                  wandten genehmigt werden dürften. Begründet wurde                              len mehrmals täglich für die SED-Führung erstellten                    ­Harich (1923–1995) und des Verlegers Walter Janka
     kretär der Universität, Wolfgang Heinke (geb. 1927),                   diese Maßnahme mit einem angeblichen Komplott                                  Berichten des MfS ging u. a. hervor, dass die Studenten                 ­(1914–1994) Ende November bzw. Anfang Dezember
     der den »Ernst« des Schreibens nicht erkannt habe. In                  westlicher Geheimdienste gegen Studenten der DDR.                              sich die Forderungen ihrer ungarischen Kommilitonen                      1956 als Mitglieder einer angeblich »konterrevolutio­
     mehreren Aussprachen mit der SED-Bezirksleitung                        Auch jetzt kam es wieder zu Demonstrationen, unter                             zu eigen machten. Sie diskutierten über die Bildung                      nären Gruppe« markierten das Ende der reformkom-
                                             48 SED-BL Leipzig, Bericht über eine Aussprache zwischen Gen. Wetzel und Gen. Prof. Dr. Kockel,
     sowie mit der Zentralen Parteileitung der Universität                  anderem an der TH Dresden, die jedoch, da Partei und
                                                  12.6.1956 (Abschrift); BStU, MfS, BV Leipzig, AP 1019/62, Bl. 43–45; MfS, BV Leipzig, Abt. VI/2, Betr.
                                                                                                                                                           einer ­unabhängigen Studentenorganisation sowie                          munistischen Diskussion in der DDR. Ulbricht behielt
     Leipzig rückte Kockel nicht von seiner Position    ab und des Physikalischen
                                                  Leitungssitzung           MfS nun Institutes
                                                                                      besser vorbereitet      waren, rasch
                                                                                                 der Karl-Marx-Universität      aufgelöst
                                                                                                                           mit Prof.  Kockel, 19.6.1956;   über die Abschaffung des obligatorischen Russisch­                       die Oberhand und konnte in den folgenden Jahren
     äußerte sich sehr kritisch zur Partei und zurebd.,
                                                   Lage Bl. 46 f.
                                                            in              werden konnten.51                                                              unterrichts und des gesellschaftswissenschaftlichen                      auch seine innerparteilichen Widersacher Karl Schir-
                                             49 MfS, BV Leipzig, Abt. VI/2, Bericht betr. Bernhard Kockel, 18.6.1956; ebd., Bl. 38 f., hier 38.
     der DDR.48 Seinem Renommee war es zu    50 verdanken,
                                                  Vgl. Herzberg, Guntolf: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren           Grundstudiums. Von der Forderung war es nicht weit
                                                                                                                                                                              52
                                                                                                                                                                                                                                    dewan (1907–1998) und den Minister für Staatssicher-
     dass die Aktion keine Konsequenzen für seine 1956/58.
                                                       beruf-Berlin 2006, S.Im
                                                                             340.Herbst 1956 kam es an den Universitäten erneut                            bis zum Boykott: Am 8. November erschienen  52 Info
                                                                                                                                                                                                             in 285/56
                                                                                                                                                                                                                der – Betrifft:heit  LageErnst
                                                                                                                                                                                                                                          an denWollweber
                                                                                                                                                                                                                                                 Universitäten und Hochschulenaus
                                                                                                                                                                                                                                                               (1898–1967)     der Deutschen
                                                                                                                                                                                                                                                                                   ihren Ämtern
                                             51 Vgl. Lienert: Zwischen Widerstand und Repression (Anm. 44), S. 107 f.                                                                                      Demokratischen Republik v. 28.10.1956. Für die Universität Leipzig: MfS, BV Leipzig,
     liche Laufbahn hatte – selbst das MfS war der Ansicht,                 zu Protesten. Hintergrund waren die Entwicklungen                              zahnmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig                       drängen.
                                                                                                                                                                                                           Leiter der Informationsgruppe Leubold, Personen aus dem Bezirk, die bei politischen
     dass ein Weggang des Physikers aus der DDR »unserer                    in den »Bruderstaaten« Polen und Ungarn. In Polen                              von einer Seminargruppe nur drei StudentenEreignissen
                                                                                                                                                                                                            beim im Jahre 1956 feindliche Diskussionen führten, 27.11.1956; BStU, MfS, BV
                                                                                                                                                                                                           Leipzig, Leitung, Nr. 573, Bl. 67–86.
     Wissenschaft großen Schaden zufügen« würde.49 Ko-                      war die innenpolitische Situation nach der Nieder-                             Russisch­unterricht, eine andere blieb dem  53 Unterricht                HBi Diskussionen sowie bemerkenswerte Vorkommnisse an der
                                                                                                                                                                                                           MfS, BV Leipzig, Feindliche
     ckel blieb bis zum Herbst 1959 an der Universität und                  schlagung des Posener Arbeiteraufstandes Ende Juni                             geschlossen fern. Am Physikalischen Institut emp-
                                                                                                                                                                               53                          Karl-Marx-Universität     und anderen Hochschulen, 9.11.1956; BStU, MfS, BV Leipzig,
                                                                                                                                                                                                           Leitung, Nr. 824/02, Bl. 41.
     wurde anschließend mit der Leitung einer im Aufbau                     1956 instabil geblieben. Um die Lage zu beruhigen,                             fingen, so wusste das MfS zu berichten, Studenten
                                                                                                                                                                                                       54 Info 348/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v. 20.11.1956.
     befindlichen »Arbeitsstelle für Theoretische Chemie«                   setzte der reformorientierte Flügel der Polnischen                             in gesellschaftswissenschaftlichen Vorlesungen
                                                                                                                                                                                                       55 Infoden
                                                                                                                                                                                                                303/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v. 4.11.1956.
                                                                                                                                                                                                   54 56   Info 313/56 – Betrifft: Die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v.
     in Leipzig betraut, die der Akademie der Wissenschaf-                  Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) die Wahl des 1948                            Dozenten »mit Zischen und Pfeifen«. Kritisiert wurde
                                                                                                                                                                                                           7.11.1956.
     ten der DDR unterstand. Parallel dazu übernahm er                      abgesetzten und 1951 inhaftierten ehemaligen Par-                              das Eingreifen der sowjetischen Armee in57Ungarn       so- – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v. 5.11.1956.
                                                                                                                                                                                                           Info 307/56
     ein Jahr später eine Gast­professur an der Universität                 teichefs Władysław Gomułka (1905–1982) zum Ersten                                                                          58 Info 285/56
                                                                                                                                                           wie die »unvollständige« und »schönfärberische«         Be- (Anm. 52).
     Gießen und kehrte nicht mehr in die DDR zurück.                        Sekretär durch – gegen den ausdrücklichen Willen des                           richterstattung von DDR-Presse und -Rundfunk, eine
                                                                            eigens zu der entscheidenden Sitzung am 21. Oktober                            Kritik, die bis in die Universitätsparteileitung hinein
22                                                                 S TA S I I N S A C H S E N                                                                                                                                    >> DIE ZÄSUREN                                                                     23

     1961
     Zwangsumsiedlungen aus dem                                                     mer 1960 erklärte er gegenüber einer Erntehelferin,
                                                                                    er werde seine Ackerflächen nicht mit der LPG zu-
     Vogtland                                                                       sammenlegen und die Gründung der LPG im April sei
                                                                                    unter Zwang erfolgt. Im Herbst 1960 vertrat er die Auf-
                                                                                    fassung, die LPG-Bauern seien nur noch Tage­löhner.59
     Burgstein, 3. Oktober 1961
                                                                                    Innerhalb weniger Stunden mussten die beiden                                                                                                                         > Abriss des Burgsteinguts. 1986
     Familie Frank erfuhr weder an diesem Morgen noch zu                            Männer ihren Hof räumen. Unter Beobachtung der                                                                                                                       Privat
     einem späteren Zeitpunkt den Grund, warum sie sofort                           angerückten Kräfte wurden Möbel, Lebensmittel und
                                                                                                                                                                                                                                                         > Das Burgsteingut (am linkeren Bildrand) lag knapp
     ihren Hausrat packen und Haus und Hof verlassen                                persönliche Gegenstände auf die Lkw aufgeladen. Tiere                                                                                                                ­ nterhalb einer Anhöhe mit zwei imposanten mittelalter­
                                                                                                                                                                                                                                                         u
     sollte. Die beiden Männer, Vater Paul (1897–1966) und                          durften nicht mitgenommen werden. So blieb auch die                                                                                                                  lichen Kirchenruinen, die bis ins 16. Jahrhundert nach
                                                                                                                                                                                                                                                         Marienerscheinungen als Wallfahrtsort dienten.
     Sohn Werner (1929–2000), bewirtschafteten ihren Hof                            wertvolle reinrassige Kuhherde, über die ein sogenann-                                                                                                               Postkarte um 1900
     allein und waren auf sich gestellt, als in den frühen                          tes Herdbuch geführt wurde, in den Stallungen zurück                                                                                                                 Deutsch-deutsches Museum Mödlareuth

     Morgenstunden zahlreiche Lkw mit bewaffneten Kräf-                             und fiel an die LPG. Die Franks wurden in die Gegend
     ten in den Vierseithof Burgsteingut einfuhren. LPG-                            um Waldenburg bei Karl-Marx-Stadt/Glauchau um-
     Bauer Werner Frank war der Stasi schon vor Monaten                             gesiedelt, wo sie ein baufälliges Bauernhaus beziehen
     aufgefallen. Im Frühsommer 1960 verkündete er mutig,                           mussten. Beide kehrten der Landwirtschaft den Rücken
     die Einwohner des Grenzgebietes seien nicht mit dem                            und suchten sich Beschäftigungen in anderen Berei-
     Aufbau der Grenzsicherung einverstanden. Im Som-                               chen.60

                                                                                                                                                                      Grundlage für die Zwangsräumung des Burgsteinguts              Als sie einen Grenzsoldaten darauf anspricht, wird sie
                                                                                                                                                                      war eine äußerst knappe Begründung und umfasste                abgewimmelt: Am Abend werde sie den Grund dafür
                                                                                                                                                                      gerade einmal fünf Schreibmaschinenzeilen: »Fr. […]            schon wissen. Um 6.00 Uhr früh fährt vor dem Haus
                                                                                                                                                                      stellte sich grundsätzlich gegen die genossenschaftli-         von Familie Günther plötzlich ein Räumkommando
                                                                                                                                                                      che Entwicklung, diskutierte erst vor kurzem wieder            vor. »Jetzt geht der Krieg los«, ist der erste Gedanke
                                                                                                                                                                      gegen die Genossenschaft, indem er forderte, dass man          der 14-jährigen Gisela Günther (Jg. 1947), die in der
                                                                                                                                                                      ihn in Ruhe lassen soll […]. Hat Verbindungen nur zu           Schule gelernt hatte, dass der Westen den Sozialismus
                                                                                                                                                                      negativen Kräften – ist Bremsklotz im Dorf.«61 Die             zerstören wolle.62 Die Familie erfährt, dass sie binnen
                                                                                                                                                                      wenigen Zeilen, die die Zwangsumsiedlung von Werner            Tagesfrist ihr Haus zu räumen hat und aus Ebersberg
                                                                                                                                                                      Frank und seinem Vater besiegelten, brandmarkten               wegziehen muss. Die etwa 20 Männer des Räumkom-
                                                                               59     Mitteilungen des Leiters der BV Karl-Marx-Stadt, Oberstleutnant Gehlert
                                                                                      an Mielke, 19.5.1960, 8.9.1960, 24.11.1960; BStU, MfS, AS 204/62, Bd. 12, Bl.
                                                                                                                                                                      den Bauern als politisch unzuverlässigen Bewohner des          mandos beginnen sofort, die Schränke auszuräumen,
                                                                                      209, 99, 84.                                                                    Grenzgebietes. Mit der Zwangsaussiedlung von Familie           den Hausrat der Familie in die mitgebrachten Kisten zu
                                                                               60     Auskunft der Familienangehörigen Michaela Pätz, Reuth bei Plauen – Vgl.
                                                                                                                                                                      Frank wurde innerhalb wenigen Stunden die mehrhun-             verpacken und auf die Fahrzeuge zu laden.
                                                                                      Renate Wöllner, Oktober 2012 – Vogtländischer Chronistentag erinnert an
                                                                                      das Jahr 1952 und die Veränderungen danach http://www.vogtlandkreis.de/         dertjährige Familiengeschichte am Burgstein beendet.
                                                                                                                                                                                                                      61 Landratsamt Vogtlandkreis, Außenstelle Oelsnitz, SG Archiv, RdK PL, VwA, Nr. 18359, S.
                                                                                      shownews.php?id=2607 (Letzter Aufruf 26.12.2016).                               1986 ließ die SED das Burgsteingut restlos abreißen.7.         Zufällig sieht Gerda Günther bei den Männern einen
                                                                                                                                                                                                                      62 Interview Peter Boeger
                                                                                                                                                                                                                                     Zettel  mitmitAngaben
                                                                                                                                                                                                                                                    Giesela Werner, geb. Günther,
                                                                                                                                                                                                                                                              zur Größe           am 24.6.2016.
                                                                                                                                                                                                                                                                            der neuen     Wohnung.
                                                                                                                                                                                                                                     Fassungslos will sie wissen, wie eine sechsköpfige Fami-
                                                                                                                                                                                                                                     lie in zwei Zimmern mit Küche unterkommen soll. Die
                                                                                                                                                                      Wiedersberg, Ortsteil Ebersberg, 3. Oktober 1961               Räumung des Hauses wird zunächst gestoppt. »Später
                                                                                                                                                                                                                                     sind sie dann wieder gekommen und erklärten, es
                                                                                                                                                                      Gerda Günther (Jg. 1929) stand wie an jedem Tag früh           muss nur die junge Familie Günther fort, für die Alten
                                                                                                                                                                      auf, um die Schweine zu füttern. Eigentlich war es ein         hätten sie keine Unterkunft. Dadurch gab es ein neues
     > Mitglieder der Familie Frank und Wohnhaus des Burgsteinguts. Vor 1961
                                                                                                                                                                      normaler Morgen, nur der starke Verkehr zu dieser              Problem. Wir hatten einen gemeinsamen Hausstand.
     Privat                                                                                                                                                           frühen Stunde in dem kleinen Grenzort wunderte sie.            Plötzlich musste alles aufgeteilt werden in einem Haus-
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