STASI IN SACHSEN DIE DDR-GEHEIMPOLIZEI IN DEN BEZIRKEN DRESDEN, KARL-MARX-STADT UND LEIPZIG - BSTU
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www.bstu.de Karl-Marx-Stadt und Leipzig Stasi in Sachsen Die DDR-Geheimpolizei in den Bezirken Dresden, EINBL ICKE IN DA S S TA S I - U N T E R L A G E N - A R C H I V STASI IN DER REGION
Peter Boeger, Elise Catrain (Hg.) Stasi in Sachsen. Die DDR-Geheimpolizei in den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig
2 S TA S I I N S A C H S E N > > I N H A LT S V E R Z E I C H N I S 3 Inhaltsverzeichnis Einleitung 4 Das Ende 131 »Schließt euch an!« – die L eipziger Montagsdemonstrationen 132 Die Zäsuren 7 Prag – Dresden – Hof: Sonderzüge in die Freiheit 136 Das Ende der Stasi – Ein Zeitzeugenbericht zur Besetzung der Dienststelle in Siegmar 141 1945–1950 »Jeden Parteiauftrag erfüllen« – der Aufbau einer Geheimpolizei in Sachsen 8 1953 »Stürzt die Regierung!« – der 17. Juni 1953 in Niesky 12 1956 »Auch Walter Ulbricht wird in Kürze stolpern« – Reaktionen auf den XX. Parteitag der KPdSU Anmerkungen 146 in Sachsen 17 1961 Zwangsumsiedlungen aus dem Vogtland 22 1968 Vivat Dubček! Ein Augenzeuge aus Karl-Marx-Stadt erlebt den Prager Frühling 27 Übersichten und Verzeichnisse 154 1976 Die Ausbürgerung von Wolf Biermann und der Fall »Wagner« in Meerane 30 1985 Glasnost und »Sputnik«-Verbot. »Neues Denken« und »Dialog« in Leipzig 34 Struktur und Aufgaben der Stasi in Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig 154 Dienststellen der Stasi (BV, KD, OD) in den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig 157 Kurzbiografien der Minister und der Leiter der Bezirksverwaltungen 162 Der Apparat 39 Kurzbiografien der 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen 167 Autoren 172 »Zutritt für Unbefugte verboten« – die Abschottung der Dresdner Stasi-Zentrale 40 Abkürzungsverzeichnis 173 Auf der Spur des Taxi-Agenten – Kalter Krieg in Kamenz 45 Weiterführende Literaturhinweise zum MfS in Sachsen 175 Die Stasi-Kreisdienststelle Leipzig-Stadt und dieZerschlagung des »Gohliser Kreises« 50 Feind ist, wer anders denkt – die Kreisdienststelle Plauen und die Verfolgung des Künstlers Klaus Hopf 53 »Keine fertigen Tschekisten von der Straße« – die hauptamtlichen Mitarbeiter 56 Augen und Ohren immer offen halten – das Spitzelnetz der Staatssicherheit 61 Tschekistischer Kampf gegen »Terrorverbrechen« – die Grenzübergangsstelle Gutenfürst 66 Die Methoden und ihr Einsatz 71 Überprüfen – überwachen – » zersetzen«: Im Mahlwerk der »operativen Bearbeitung« des MfS 72 »Im Interesse und zum Schutz der Bürger«? – die Postkontrolle der Stasi 76 Haft für Radeburger Familie – die Stasi und ihr Gefängnissystem 81 Flucht in die DDR – Anklage gegen den »Amerikaner von Karl-Marx-Stadt« 85 »Ich fordere die Umsiedlung!« – die Stasi bekämpft Ausreiseantragsteller 90 »Für weltoffenen Handel und technischen Fortschritt« – die Leipziger Messen 94 »Industrienebel« über dem »Rio Phenole« – Umweltverschmutzung in Leipzig 99 Die »toten Helden der Arbeit« – das schwere Grubenunglück bei der Wismut AG 1955 in N iederschlema 102 Maschinengewehrfeuer auf »Grenzverletzer« – Flucht über Tschechien 107 »Nazischwein« und »Adenauer-Spion« – Pfarrer im Kampf gegen die Jugendweihe 111 Staatsaffäre Opernpremiere – die Wiedereröffnung der Semperoper unter Stasi-Kontrolle 114 »Sportverräter« Kotte – die Stasi und der DDR-Fußball 118 Kaderschmieden des Leistungssports – die Kinder- und Jugendsportschulen 122 »Ich habe keine Angst vor euch« – Opposition aus Hainichen 126
4 S TA S I I N S A C H S E N >> EINLEITUNG 5 Einleitung mend verdeckter und subtiler Maßnahmen – von der Postkontrolle bis zu geheimen Verhören. Die Länder- In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) studie macht deutlich, dass die Stasi in allen Bereichen waren laute Beatles-Songs und »wilde Mähnen« à la aktiv war. Ob in den Wirtschaftsbetrieben der Wismut Mick Jagger Mitte der 1960er-Jahre für die herrschende oder bei der Leipziger Messe, ob in Kirchgemeinden Staatspartei, die SED, eine unerträgliche Provokation.1 oder kulturellen Institutionen wie der Dresdner Um die als »dekadent« geltende Mode zu unterbinden, Semperoper. Auch das Privatleben der Bürger stand verbot die Partei im Oktober 1965 die Beat-Gruppen im Blickpunkt des MfS. Gezeigt wird das Vorgehen der in der DDR. Viele Jugendliche wollten sich mit dieser Stasi gegen abweichendes Verhalten am Beispiel einer Entscheidung nicht abfinden. Allein in Leipzig versam- Familie aus Radeburg, die einen Fluchtversuch unter melten sich in den Morgenstunden des 31. Oktober nahm, sowie gegen einen Ausreiseantragsteller aus 1965 etwa 1 000 Beat-Fans auf dem zentralen Wilhelm- Dresden. Leuschner-Platz. Mit aller Härte gingen Funktionäre der Partei, Polizisten und Kräfte der Staatssicherheit Das Ende gegen die »Gammler« vor: Sie setzten Wasserwerfer ein Das letzte Kapitel der Studie widmet sich dem Unter- und verhafteten rund 260 Jugendliche.2 gang der DDR und der Auflösung der Staatssicherheit. Seit Mitte der 1980er-Jahre sah sich die SED-Führung Aus Protest gegen die Inhaftierung ihrer Freunde in ihrem Machtanspruch insbesondere durch politi- zogen zwei junge Frauen in den Abendstunden des sche Reformen in den sozialistischen Bruderländern > Die Stasi konfiszierte bei den Beat-Fans die Sammelkarten 5. November 1965 durch die Leipziger Innenstadt. Sie mit Fotos ihrer Idole. 1965 bedroht. Die wirtschaftlich prekäre Lage und der wach- brachten Losungen an Litfaßsäulen und Schaufenstern BStU, MfS, BV Leipzig, AU 252/66, Bd. 2, Bl. 139 sende Wunsch der Bevölkerung nach mehr Freiheiten an, und sie verteilten Flugblätter – auch in öffentlichen – vor allem Reisefreiheit – setzten Prozesse in Gang, Gebäuden. Ihre Botschaft war unmissverständlich: die Partei und Stasi nicht mehr aufhalten konnten. In »Haussuchungen, Verhaftungen, Verhöre! Es folgen Leipzig fanden die ersten Montagsdemonstrationen > Litfaßsäule an der Coppi-/Wittenberger Straße in Leipzig mit Fan- Urteile und das geht zu weit […] wir fordern: Freiheit Protest. 1965 sicherheit. Aufgezeigt werden auch die Auswirkungen statt, die bald im ganzen Land Verbreitung fanden. für alle Beat-Fans und rufen, es lebe der Beat!« Diesen BStU, MfS, BV Leipzig, AU 212/66, Bd. 4, Bl. 204 des Baus der Berliner Mauer im Jahre 1961 am Beispiel Das Aus für die Staatssicherheit kam am 4. Dezember offenen Widerspruch konnte und wollte die SED nicht der Zwangsaussiedlungen im Vogtland. Einzelproteste 1989. In den Nachmittagsstunden besetzten Bürger akzeptieren. Die Stasi verhaftete die beiden 16- und um den Prager Frühling (1968) und die Ausbürgerung zum Beispiel die Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt 17-jährigen Beat-Fans wenige Tage nach ihrer Aktion des Liedermachers Wolf Biermann (1976) verdeutlichen im Stadtteil Siegmar. So stoppten sie die Vernichtung und ließ sie vor Gericht stellen. Die Initiatorin, die noch Chemnitz, Dresden und Leipzig des Bundesbeauftrag- jeweils die Biografie eines Studenten aus Karl-Marx- von Akten und sicherten die brisanten Unterlagen der versucht hatte, nach West-Berlin zu fliehen, erhielt ten für die Stasi-Unterlagen verwahrt. Stadt und eines Pfarrers aus Meerane. Geheimpolizei. eine Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Ihre Freundin kam mit einer Bewährungsstrafe davon.3 Aus diesen Archiven zeigt die vorliegende Länderstudie Der Apparat PBo / ECa eine Auswahl persönlicher Schicksale. Sie wirft Schlag- Ein eigener Abschnitt widmet sich der Struktur und Dieses Beispiel − nur eines von unzähligen − zeigt, wie lichter auf 40 Jahre MfS-Geschichte in den ehemaligen dem Aufbau des Ministeriums für Staatssicherheit. In die Staatssicherheit rigoros gegen jene vorging, die Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig. In den Sachsen befanden sich drei der insgesamt 15 Bezirks- es wagten, systemkritisch zu agieren. Als »Schild und Beiträgen sind die biografischen Fallbeispiele besonders verwaltungen – in Dresden, Karl-Marx-Stadt und Schwert« der Partei war das Ministerium für Staats gekennzeichnet. Wir möchten allen Mitbürgerinnen Leipzig. Von Auerbach bis Zittau überzog das MfS die sicherheit (MfS) zwischen 1950 und 1989 der Garant und Mitbürgern danken, die einer Veröffentlichung sächsische Region mit insgesamt 51 Kreisdienststellen der Machtsicherung der SED. Seine Maßnahmen ihrer Akten zugestimmt haben. und einer Objektdienststelle zur Überwachung der reichten dabei von bloßer Einschüchterung bis hin Technischen Universität (TU) Dresden. Neben dieser zum Erwirken langjähriger Haftstrafen. Das ganze Aus- Struktur werden auch die hauptamtlichen Mitarbeiter maß dieser repressiven Methoden wurde erst nach der Die vier Kapitel im Überblick des MfS sowie das umfangreiche Netz der inoffiziellen Friedlichen Revolution von 1989 durch den Zugang zu Mitarbeiter vorgestellt. den Stasi-Unterlagen bekannt. Heute können die über Die Zäsuren 100 Regalkilometer Akten zur persönlichen Akten Im ersten Kapitel der Länderstudie werden jene Ereig- Die Methoden und ihr Einsatz einsicht für Betroffene, für Forschungszwecke sowie nisse vorgestellt, welche die DDR-Geschichte geprägt In diesem Kapitel werden die Methoden der Staats- zur Unterrichtung der Öffentlichkeit genutzt werden. haben. Beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 stellten sicherheit beleuchtet. Um die Bevölkerung zu über- Allein in Sachsen hinterließ die Staatssicherheit über sich zum Beispiel Bürger in Niesky gegen die Regierung wachen und Systemkritik im Vorfeld zu unterbinden, 1 Liebing, Yvonne: All you need is beat. Jugendsubkultur in Leipzig 1957–1968. Leipzig 2005. 26 Kilometer Akten. Sie 2 werden in den Außenstellen undder Einzelinformation Nr. 968/65 über erste Ergebnisse besetzten die örtliche Untersuchungen gegen dieDienststelle deranStaats wegen Beteiligung der Zusammenrottung in entwickelte die Geheimpolizei eine ganze Reihe zuneh- Leipzig festgenommenen Jugendlichen, 1.11.1965; BStU, MfS, ZAIG, Nr. 1129, Bl. 6–8. 3 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AU 212/66.
6 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 7 Die Zäsuren > Tausende Görlitzer kamen ins Stadtzentrum, um gegen die SED zu demonstrieren. 17.6.1953 Foto: Ratsarchiv Görlitz (Ausschnitt)
8 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 9 1945–1950 »Jeden Parteiauftrag erfüllen« – zonen war bereits im Februar 1945 bei der Konferenz von Jalta vereinbart worden. Ein halbes Jahr später die ersten Polizeireviere in Dresden neu eingerichtet. Die rasche Neugründung der Polizei in Sachsen galt als der Aufbau einer Geheimpolizei hatten die Alliierten beim Potsdamer Abkommen poli Vorbild für die anderen Länder. Diese Aufbauarbeit war in Sachsen tische Grundsätze definiert: Denazifizierung, Demili- durch »eine besonders rigorose Personalpolitik und tarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung. durch eine enge Verquickung mit dem Parteiapparat Die SMAD übernahm die Verwaltung der sowjetischen der KPD/SED [Kommunistische Partei Deutschlands/ In der Nacht vom 7. auf den 8. Mai 1945 wurde in Dres- Besatzungszone im östlichen Teil Deutschlands. Sie lei- Sozialistische Einheitspartei Deutschlands]« geprägt.5 den die letzte Zeitung des Dritten Reiches gedruckt – tete tiefgreifende politische, gesellschaftliche und wirt- Bewährte Kommunisten übernahmen Führungsposi- die Nr. 105 des NSDAP-Parteiorgans »Der Freiheits- schaftliche Transformationsprozesse ein. Eine zentrale tionen und sorgten dafür, dass die sächsische Polizei kampf«. Ausgeliefert werden konnte diese Ausgabe am Rolle spielte dabei die kommunistische Führungscrew zum Machtinstrument des Staates wurde.6 Kurt Fischer Tag der deutschen Kapitulation allerdings schon nicht um Walter Ulbricht, die sich auf die Machtübernahme (1900–1950) war eine entscheidende Figur bei diesem mehr, weil die Rote Armee bereits ins Stadtzentrum im Moskauer Exil jahrelang vorbereitet und schon vor Prozess. Nach dem Ende des Krieges trug er als Ober- > Wolfgang Natonek. Um 1956 vordrang. Schon am 22. Mai erschien die erste Aus- der Kapitulation wieder deutschen Boden betreten bürgermeister der Stadt Dresden zur Neuausrichtung BStU, MfS, HA IX/11, PA, Nr. 6212, Bl. 36 gabe der »Tageszeitung für die deutsche Bevölkerung« hatte. Speziell in Sachsen war die aus Moskau zurück- der städtischen Polizei bei. Er galt als besonderer unter Aufsicht der Sowjetischen Militäradministration gekehrte Gruppe um Anton Ackermann (1905–1973), Vertrauensmann Moskaus. Ab Juli 1945 war er als säch- (SMAD) und verkündete auf der dritten Seite, dass die der unter sowjetischer Anleitung den Neuaufbau regeln sischer Innenminister und ab 1948 als Präsident der »neue Stadtverwaltung von Dresden […] die Arbeit sollte, aktiv. Deutschen Verwaltung des Innern an der Politisierung dazu: »Als wir nach einem sechsjährigen Krieg wieder begonnen« hatte.4 der Polizei maßgeblich beteiligt.7 an die Universitäten kamen, glaubten wir, dass nun Die Durchsetzung einer kommunistischen staatlichen endlich die Zeit angebrochen sei, dass wir uns wissen- Das Land Sachsen gehörte nach dem Ende des Zweiten Ordnung mit einer funktionierenden Verwaltung schaftlicher Arbeit hingeben könnten. Keiner hatte Weltkriegs zur sowjetischen Besatzungszone. Die Auf- setzte einen zuverlässigen deutschen Polizeiapparat vo- 1949 hatte die die Absicht, an der Universität Politik zu treiben, aber teilung Deutschlands in drei (später vier) Besatzungs raus. Bereits eine Woche nach der Kapitulation wurden noch viel weniger, in eine Partei einzutreten. Wir sehen »Hauptverwaltung zum Schutz jedoch, dass es nötig ist, Parteipolitik zu treiben, damit der Volkswirtschaft« wir nicht von einer anderen Partei majorisiert werden. 1 150 hauptamtliche Mitarbeiter.8 Wir wissen, was auf dem Spiele steht«.11 Überliefert ist Natoneks Bonmot, wonach es 1937 die »nicht-arische« Großmutter gewesen sei, die ein Studium verhindert hätte, 1947 sei es die »nicht-proletarische« Großmutter Schon früh wurden auch die Weichen für den Aufbau gewesen. Natonek geriet rasch in Gegensatz zur SED, einer politischen Polizei gestellt.9 Abteilungen zur die ihn als »Idol der reaktionären Studentenschaft« Bearbeitung politischer Kriminalität bildeten sich denunzierte. innerhalb der Polizei aus und erhielten nach einem Vereinheitlichungsprozess Anfang 1947 die Bezeich- In der Nacht vom 11. auf den 12. November 1948 nung »K 5«. Diese Abteilungen galten als Hilfsorgane wurde Natonek auf Veranlassung der SED von der 5 Tantzscher, Monika: Die Vorläufer des Staatssicherheitsdienstes in der Polizei der Sowjetischen Besatzungszone – Ur- der sowjetischen Geheimpolizei und arbeiteten sprung und Entwicklung der K 5. In: ihr sowjetischen Jahrbuch für Historische Geheimpolizei Kommunismusforschung. festgenommen Berlin 1998, S. 125–156,und hier in 136. Delikten, Kriegsverbrechen in Fällen von politischen das Gefängnis der Geheimpolizei in Dresden gebracht. 6 Schmeitzner, Mike: Formierung eines neuen Polizeistaates. Aufbau und Entwicklung der politischen Polizei in Sachsen sowie Widerstand gegen die neue 1945–1952. staatliche In: Behring, Rainer;Ordnung Zugleich Schmeitzner, Mike (Hg.): erfolgte dieinVerhaftung Diktaturdurchsetzung von Sachsen. Studien zurzehn Geneseweiteren der zu.10 kommunistischen Herrschaft 1945–1952. Köln u. a. 2003, S. 201–267,Natonek Studenten. hier 207. wurde am 30. März 1949 von 7 Vgl. https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=823 (letzter einem Sowjetischen Aufruf 23.2.2017); Spors, Joachim: Der Aufbau des Sicherheitsapparates Militärtribunal in Sachsen in Dresden wegen 1945–1949. Die Gewährleistung von Ordnung und Sicherheit unter den Bedingungen angeblicher eines politischenSpionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit Systemwechsels. Frankfurt am Main 2003, S. ver- 30–38. Ein Beispiel für die 9 Repressionspraxis Engelmann, Roger: Aufbau in der undSBZ Anleitung urteiltStaatssicherheit ist der ostdeutschen und kam erst nach durch Torgau, sowjetische dann1949–1959. Organe nach Bautzen der Fall des Studenten Wolfgang Natonek (1919–1984). In: Hilger, Andreas u. a. (Hg.): Diktaturdurchsetzung. ins Gefängnis. 1956 aus der Haft entlassen verließ er Instrumente und Methoden der kommunistischen Machtsiche- rung in der SBZ/DDR 1945–1955. Dresden 2001, S. 55–64, hier 55. 4 http://digital.slub-dresden.de/fileadmin/data/425384225-19450522/425384225-19450522_ Im Februar 1946 10begann er, an der Universität Leipzig die DDR.12 Gieseke, Jens: Die Stasi 1945–1990. München 2011, S. 40 f. u. Tanzscher: Vorläufer (Anm. 5), S. 142 f. tif/jpegs/425384225-19450522.pdf (letzter Aufruf 29.3.2017). Germanistik, Anglistik 11 Vgl.und Zeitungswissenschaft Kowalczuk, zu Ilko-Sascha: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961. Berlin 2003, S. 503. studieren. Im Februar 1947 wurde Natonek als Mitglied 12 Ebd., S. 502–504; Blecher, Jens: »… ab nach Sibirien«. Einschüchterungspolitik und Meinungsbildung durch Terror an der Liberal-Demokratischen Partei der Universität (LDP) Leipzig zum1945 zwischen Vorsit- Ab 1948 und 1955. In: Blecher, drängte Jens; Wiemers,die SED-Führung Gerald: in Moskau Studentischer Widerstand darauf, an den mitteldeutschen zenden des Studentenrates gewählt. Universitäten Diskussionen 1945 bisum 1955. Von dereine Universität eigene in den GULAG. Studentenschicksale deutsche in sowjetischen Geheimpolizei aufbauen zu Straflagern 1945 bis 1955. Leipzig 2005, S. 42–57. Die Universität Leipzig verlieh Natonek 1992 den Titel eines Profes- > Das Sowjetische Militärtribunal verurteilte Wolfgang Natonek wegen Spionage zu 25 Jahren Haft, acht davon verbüßte er. 15.7.1955 politische Fragen gehörten zu diesem Zeitpunkt zum sors ehrenhalber. dürfen. Trotz Skepsis des sowjetischen Geheimdiens- BStU, MfS, HA IX/11, PA, Nr. 6212, Bl. 15 Universitätsalltag der Studenten. Natonek erklärte tes stimmte Stalin dem Vorhaben im Dezember 1948
10 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 11 > Gesetz zur Schaffung eines DDR-Geheimdienstes vom 8. Februar 1950. Aus dem kurzen Gesetzestext war > Dienstausweis von Joseph Gutsche. 1947 nicht zu entnehmen, welche Befugnisse und welche Stellung das neue Ministerium im SED-Staat hatte. 1950 BStU, MfS, ZAIG, Fo, Nr. 87, Bild 1 zu. Das bedeutete die Abkoppelung der »K 5« aus der Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Gutsche nach bald erfahren würde, wenn ich meine Zusage gegeben 60 Mitarbeiter, zum Jahresende waren es rund 340 und Kriminalpolizei und die Gründung einer »Hauptver- Deutschland zurück. Er war zunächst als Präsident hätte, jeden Parteiauftrag zu erfüllen. Worauf ich ihm Ende 1951 ca. 1 200.16 Damit war in Sachsen in kurzer waltung zum Schutz der Volkswirtschaft« als Vorläu- des Landeskriminalamts Sachsen tätig. 1949 wurde er antwortete, dass das selbstverständlich sei, wie ja mein Zeit eine politisch ausgerichtete Geheimpolizei ent- ferin des Ministeriums für Staatssicherheit, die unter zum Leiter der »Verwaltung zum Schutz der Volkswirt- ganzes Leben beweise. Darauf erzählte er mir, dass das, standen, die in ihrer Funktion als »Schild und Schwert« strenger sowjetischer Aufsicht stattfand.13 schaft Sachsen« bestimmt. 1950 übernahm er dann die was jetzt in der Kriminalpolizei die K 5 ist, ein selbst- der Partei die Machtinteressen der SED mit allen Mit- Leitung der Länderverwaltung des MfS in Sachsen und ständiges Organ werden würde, welches ausschließlich teln durchsetzte. Nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 folgte 1952 die Bezirksverwaltung (BV) Dresden. mit den Fragen der Sicherheit des Staates sich befas- schon am 8. Februar 1950 das Gesetz zur Bildung des sen würde […] So wurde ich am 1.5.1949 der Gründer, Ministeriums für Staatssicherheit, auch hier nach sow- Leiter und Organisator der Staatssicherheit im Lande ECa jetischem Vorbild. Das MfS verfügte 1950 über Sachsen, wo ich jeden Mitarbeiter, jedes Haus, jeden 13 Engelmann: Aufbau (Anm. 9), S. 56. Wagen selbst heranschaffen musste.« GanzMfS, 15 15 BStU, allein HA IX/11, SV 295/87, Bl. 19. In: Gieseke, Jens: Die DDR-Staatssicherheit. Schild und 14 Chronologischer Lebenslauf, 2 700 hauptamtliche Mitarbeiter. 12.4.1949; war Gutsche freilich nicht. Er arbeitete Schwert der Partei. Bonn 2001, S. 13. eng mit seinem BStU, MfS, KS 163/64, Bl. 105 f. 16 Schmeitzner: Polizeistaat (Anm. 6), S. 254. Eine zentrale Rolle beim Aufbau der Staatssicher- Stellvertreter Rolf Markert (1914–1995), dem späteren heit in Sachsen spielte Joseph Gutsche (1895–1964). Leiter der BV Dresden, zusammen. Beim Aufbau des Er war Kommunist der ersten Stunde und diente An den Aufbau der Geheimpolizei in Sachsen erinnerte Kaderbestands musste er sich mit der Berliner Zentrale während seines Exils in der Sowjetunion als sich Gutsche folgendermaßen: »Im April 1949 kam ei- und vor allem der sowjetischen Geheimpolizei abstim- Regimentskommandeur der Roten Armee. Schon im nes Tages der Genosse Erich Mielke nach Dresden und men, die am Ende die Entscheidungen traf. Seinem Auftrag Moskaus hatte er militärische und parteiliche fragte mich, ob ich mitmache? Ich sagte ihm, dass ich Auftrag ging Gutsche konsequent nach. Am 1. Septem Arbeit geleistet.14 doch wissen müsse wobei. Darauf sagte er, dass ich das ber 1949 zählte die Landesverwaltung Sachsen etwa
12 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 13 1953 »Stürzt die Regierung!« – Putzwatte und wurde von der Zeugin S[…] gesehen, wie er mit der dann brennenden Putzwatte zum Gebäude der 17. Juni 1953 in Niesky des Min. f. Staatssicherheit ging. Als die Volkspolizei auf das Grundstück des M.F.S. kam, forderte er diese auf, nicht auf die Arbeiter zu schießen, sondern die ›Knarre‹ Victor Piegsa (Jg. 1905) war Hilfsschlosser im volks umzudrehen. Nach dem erzwungenen Abzug verfolgte eigenen Betrieb Lokomotiv- und Waggonbau (LOWA) er die Volkspolizei noch bis zum VP-Kreisamt und be- in Niesky. Am 17. Juni 1953 schloss er sich den spon- schimpfte diese, indem er sagte: ›Die Arbeiter müssen tanen Demonstrationen im Ort an. Nach seiner schwer arbeiten und bekommen wenig zu essen und Festnahme befragt, warum er sich »an diesen faschis- die VP-Angehörigen bekämen besonders gutes Essen tischen Terrormaßnahmen« beteiligt hatte, antwor- und viel Geld.‹ Weiter äußerte er noch, dass wir keine tete er: »Da ich mit verschiedenen Maßnahmen der Kasernen, sondern Wohnungen brauchen.«18 Regierung der Deutschen Demokratischen Republik nicht einverstanden und besonders in der letzten Zeit Das Gericht befand in seinem Urteil, Victor Piegsa habe über verschiedene Dinge sehr verärgert war«.17 feindliche Ziele verfolgt und sich der Brandstiftung und der Boykott- und Kriegshetze schuldig gemacht. Piegsa wurde vor Gericht gestellt und verurteilt: »Der Das Urteil lautete auf sechs Jahre Zuchthaus.19 Aus- Angeklagte Victor Piegsa beteiligte sich am 17. Juni schlaggebend für das hohe Strafmaß war auch die 1953 ab 15.00 Uhr von der LOWA aus an der Demons Zeugenaussage von Frieda S. (Jg. 1920), die in der Kreis- tration. Als die Menge an der SED-Kreisleitung begann, dienststelle (KD) Niesky (i S. 158) als Reinigungskraft handgreiflich zu werden, stellte er sich abseits und be- beschäftigt war.20 Sie gab an, »dass sie Piegsa gesehen obachtete von da aus alles. Zum Min. f. Staatssicherheit hat, wie er mit einem Wattebausch, der mit Benzin [gemeint ist die MfS-Kreisdienststelle Niesky] zog er getränkt war, aber nicht brannte, um das Gebäude des dann mit und kam dort an, als bereits die Türen erbro- MfS gelaufen ist«.21 Die Frage, woran sie auf Distanz er- > In den Nachmittagsstunden standen 1 200 Menschen vor der Dienststelle der Staatssicherheit in Niesky. chen waren. Er ging in den Hof und sah wie Markwirth kennen konnte, dass ein Bausch Polierwatte mit Benzin 17.6.1953 [der Mitangeklagte ›Rädelsführer‹] in die Garage ging getränkt war, stellte der Richter offenbar nicht. BStU, MfS, BV Dresden, AKG, Fo, Nr. 10745, Bild 18 und mit noch anderen Benzin holte. Aus den dort zwischen Garage und Haus stehenden Tonnen nahm er Im November 1956 prüfte der Staatsanwalt des Bezirks Dresden, ob eine Strafaussetzung auf Bewährung für Piegsa infrage käme. In der Strafvollzugsanstalt Leipzig eingetroffen und unterrichtete seine Kollegen über die die Kreisleitung nicht mehr verhindern. Am und im 17 wurde das29.6.1953; Vernehmungsprotokoll, Ansinnen »noch BStU, MfS, BVals verfrüht Dresden, angesehen«. AU 237/54, 22 Bl. 139–141, hier 141 Streikwelle in Berlin, Leipzig und Görlitz: »Ich komme Gebäude wurden Transparente, Fahnen, Embleme und (Akte Staatsanwalt). Die Umerziehung des Strafgefangenen Victor Piegsa soeben aus Berlin, was hier gesprochen wurde ist alles Bilder heruntergerissen und auf der Straße in Brand 18 Urteil, 26.7.1953; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bl. 156–186, hier 173. 19 Ebd., Bl. 4. sei noch nicht abgeschlossen, außerdem erkenne er die Lüge. In Berlin wird gestreikt und wir fordern nicht nur gesetzt.25 Damit brachten die Demonstranten ihre Wut 20 BStU, MfS, BVUrteilsbegründung Dresden, KD Niesky, Nr.nicht 6119, an. Bl. 6Victor sowie diePiegsa verbüßte im Ermittlungs- Zeugenvernehmung die Herabsetzung der Normen, sondern auch die Abset- über den Staat und den proklamierten »Aufbau des So- verfahren; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bl. 173. 21 Provokateure schließlich Victor Piegsaeine Haftstrafe und [Name] von5.8.1953; aus Niesky, fünf Jahren undBVfünf BStU, MfS, Dresden, KS 402/59, zung der Regierung, die Absetzung der Partei, der FDJ zialismus« zum Ausdruck, der eine Wiedervereinigung Bl. 65. Monaten. [Freien Deutschen Jugend], der Werksleitung.«23 Beim Deutschlands in weite Ferne rückte. Die zunehmende 22 Dortiges Ersuchen vom 7.11.56 [Strafvollzugsanstalt Leipzig an Staatsanwalt des Bezirkes], 28.11.1956; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bl. 59 (Vollzugsakte), 73. Schichtwechsel um 15.00 Uhr legten die Arbeiter dann Militarisierung, die Enteignung von Betrieben und die endgültig die Arbeit nieder. Früh- und Spätschicht Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die verstärk- 23 Abschrift Vernehmung eines Zeugen, KD Niesky, 26.6.1953; ebd., Bd. o. Nr., Bl. 23; vgl. Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953 Neben Görlitz gehörte in Ostsachsen die Kreisstadt arbeiter machten sich auf den Weg zum VEB (Volks in Sachsen. Köln u. a. 1999, S. 297–299. ten Repressionen und schließlich die Erhöhung der Niesky zu den Brennpunkten des Volksaufstands vom 24 Gesamtübersicht über eigener Betrieb) Stahlbau, einem anderen Großbetrieb die Vorgänge vom 17.–19.6.1953 in Bezirk Dresden, Arbeitsnormen stießen 1.7.1953; BStU, MfS, zunehmend aufBVWiderstand Dresden, 1. in Stellvertreter des Leiters, Nr. 4, Bl. 1–26, hier 6. 17. Juni 1953 in der DDR. Schon in den Morgenstunden der Region, wo sich weitere Mitstreiter dem Demons 25 Roth: 17. Juni (Anm. 23), S. 300. der Bevölkerung. Der Druck und die Frustrationen bei spürten Beobachter auf der Baustelle des Flugplatzes trationszug anschlossen.26 24 Vgl. http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/der-aufstand-des-17-juni-1953/154325/der-weg-in-die- Arbeitern und Angestellten wurden immer größer. Wie krise (letzter Aufruf 20.1.2017). Bremenhain die ersten Unruhen. Auch in der LOWA, sollte man beispielsweise in den Betrieben die Norm einem der größten Betriebe der Region, diskutierten Die Streikenden marschierten zunächst Richtung erfüllen, ja sogar übererfüllen, wenn es an Material Beschäftigte über eine Beteiligung an der Streikbewe- Innenstadt bis zum Sitz der SED-Kreisleitung am mangelte?26 gung. In den Mittagstunden drang die Nachricht zu Zinzendorfplatz. Dort verschärfte sich die Situation: den Betriebsangehörigen durch, dass in anderen Orten SED-Funktionäre wurden beschimpft und zum Teil Die Nieskyer beschränkten die Protestkundgebung > MfS-Häftling Victor Piegsa. 1953 bereits demonstriert wurde. Der 24-jährige Elektro- angegriffen – sie brachten sich in Sicherheit. Auch der nicht auf die SED-Kreiszentrale. Gegen 16.00 Uhr BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Beiakte, Bild 3 mechaniker Heinz Sachsenröder war in der LOWA Einsatz von Volkspolizisten konnte den Sturm auf standen 1 200 Demonstranten in der Karl-Marx-Straße
14 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 15 vor dem Sitz der MfS-Kreisdienststelle.27 Karl Schulze drei seiner Mitarbeiter wurden entwaffnet und in den (1905–1974), kommissarischer Leiter der KD, hatte aus Hundezwinger der KD gesperrt. Höhepunkt der Demü- der Bezirksverwaltung Dresden die klare Anweisung tigung: Demonstranten stellten ihnen einen Napf mit bekommen, »das Gebäude unter allen Umständen zu saurem Hundefutter hin.30 Gegen 20.00 Uhr beende- verteidigen«28. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich ten Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP) die gerade einmal zehn Mitarbeiter der Stasi im Gebäude. Besetzung. Zwei Stunden später war in Niesky wieder Es herrschte Unklarheit unter den Hauptamtlichen, ob Ruhe eingekehrt. Im Vergleich zu anderen Städten wie geschossen werden sollte oder nicht, und sie suchten Görlitz waren in Niesky keine sowjetischen Truppen zunächst Zuflucht in der oberen Etage des Gebäudes. angerückt. Offenbar standen auf deutscher Seite keine Die Menge forderte die Freilassung von Gefangenen. Dolmetscher zur Verfügung, die die »Freunde« um Einen Demonstranten ließ Schulze eintreten, der kurz Unterstützung bitten konnten.31 darauf wieder hinauskam und verkündete, dass sich im Gebäude kein einziger Häftling befände. Die Menge Die Ereignisse des 17. Juni trafen SED-Funktionäre glaubte ihm jedoch nicht und stürmte das Gebäude. und Mitarbeiter des MfS in Niesky völlig überra- Einige Demonstranten gelangten in den Keller und schend. In der Nacht zuvor war eine Vorwarnung des legten Feuer, um die Stasi-Mitarbeiter »auszuräuchern« Zentralkomitees (ZK) über bevorstehende Unruhen und dazu zu zwingen, das Gebäude zu verlassen.29 Der eingegangen. Jedoch war Schulze in den Vormit- Einsatz von Volkspolizisten und das Abfeuern von tagsstunden noch der Meinung, dass keine Gefahr Warnschüssen schreckte die Menschenmenge nicht ab. bestünde. Die Szenen, welche sich in der MfS-Dienst- Die Situation spitzte sich weiter zu. Karl Schulze und stelle von Niesky ein paar Stunden später abspielten, 27 Die Kreisdienststelle Niesky befand sich 1953 auf der Karl-Marx-Straße 15, später hatte die Stasi ihren Sitz in der Gersdorfstraße 35. BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54 sowie Zeitzeugengespräch mit Christel Haude am 19.7.2016. 28 Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953. München 2013, S. 104. 29 Strafsache gegen Markwirth, 8.7.1953; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bd. o. Nr., Bl. 6. 30 Ebd., Bd. o. Nr., Bl. 26. 31 Kowalczuk: 17. Juni 1953 (Anm. 28), S. 105. > Stürmung der KD Niesky. 17.6.1953 > Verhängung des Ausnahmezustandes durch den Chef der Garnison der Stadt Dresden Schmyrnow. 17.6.1953 BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bd. o. Nr., Bl. 38 BStU, MfS, BV Dresden, KD Niesky, Nr. 6119, Bl. 7
16 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 17 1956 »Auch Walter Ulbricht wird in erklärte der Betriebsleiter des Volkseigenen Gutes Reckwitz im Kreis Oschatz, ein Mitglied der SED: »Uns Kürze stolpern« – Reaktionen hat man zehn Jahre den Stalinismus eingeflößt und auf den XX. Parteitag der KPdSU auf einmal stellt man fest, dass er kein Klassiker ist. Wenn früher jemand etwas gegen Stalin sagte, ging in Sachsen er nach Sibirien ab. […] In der DDR gibt es ähnliche Verhältnisse. Was Walter Ulbricht sagt, ist maßgebend, Das Jahr 1956 begann mit einem Paukenschlag: Auf und das ist auch Personenkult.«40 Ein Zugpassagier dem XX. Parteitag der KPdSU, der im Februar in Moskau wagte auf dem Weg nach Leipzig die Prognose: »So stattfand, rechnete Generalsekretär Nikita Chruscht wie Stalin nach seinem Tode gestolpert ist, wird auch schow schonungslos mit der Herrschaft Stalins, seinen Walter Ulbricht in Kürze stolpern, denn er ist doch der Verbrechen und dem Personenkult ab. Die plötzliche glühendste Verehrer und Verfechter der Lehren Stalins Abkehr vom bisher vergötterten Diktator löste im und ist genauso diktatorisch wie dieser.«41 gesamten sowjetischen Machtbereich eine Krise aus. In besonderem Maße zeigte sich dies in Polen und Un- Besonders intensiv wurde an den Universitäten über garn, wo es nicht nur zu politischen Führungswechseln Stalin diskutiert. An der Karl-Marx-Universität Leipzig kam, sondern auch zu den Aufständen breiter Schichten etwa machte sich nach der III. Parteikonferenz der der Bevölkerung, die blutig niedergeschlagen wurden. SED, die kurz nach dem XX. Parteitag stattfand, Ent- täuschung breit, da die erwartete Kritik an Ulbricht > Verhandlung zum 17. Juni 1953 vor dem Bezirksgericht Dresden gegen 16 Angeklagte, darunter Victor Piegsa (erste Reihe, rechts). 25.7.1953 BArch, Bild 183-20524-0001, Foto: Braun (Ausschnitt) An der DDR ging der Parteitag ebenfalls nicht spurlos ausgeblieben und »nichts Neues« gesagt worden sei.42 vorüber. Walter Ulbricht, der Erste Sekretär des ZK der Am dortigen Institut für Marxismus-Leninismus gab SED, sah sich Anfang März veranlasst, im Parteiorgan es Spekulationen über die Ablösung verschiedener »Neues Deutschland« Stellung zu beziehen.37 Sein Arti- SED-Funktionäre. Das MfS beobachtete, dass auch kel, der in den schlichten Satz mündete »Zu den Klas- grundsätzlich freier diskutiert wurde als zuvor. Dies gehörten republikweit zu den gewalttätigsten. SED und Funktionen. Von diesem Zeitpunkt an ordnete die Par- sikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen«, ging so weit, dass Studenten am Franz-Mehring- das örtliche MfS hatten die Kontrolle völlig verloren. tei an, von der Staatssicherheit über alle Geschehnisse kam einem politischen Erdbeben gleich. Die Reaktio- Institut es wagten, die Meinung zu vertreten, dass der Der KD-Leiter Schulze wurde seines Amtes enthoben in der DDR informiert zu werden.35 Zu jedem Jahrestag nen der DDR-Bevölkerung waren ambivalent. Während Marxismus-Leninismus keine exakte Wissenschaft sei. und als operativer Mitarbeiter in eine Abteilung der BV des 17. Juni verstärkte das MfS seine Kontrollen mit viele SED-Mitglieder von der plötzlichen Kehrtwende versetzt. Ihm wurde vorgeworfen, dass er von der Waffe der Prämisse, eine Wiederholung solcher Ereignisse verunsichert waren, fühlten sich andere in ihrem Urteil Es blieb jedoch nicht bei allgemeinpolitischen Diskus- keinen Gebrauch gemacht hatte: »Er verfügt über keine bereits im Vorfeld zu verhindern.36 So blieb der 17. Juni über Stalin bestätigt und sprachen nun offen aus, was sionen. Erhebliche Proteste entzündeten sich an der zielklare Entscheidungskraft.«32 Nach der Erstürmung bis zum Untergang der DDR stets ein Tag erhöhter sie schon lange dachten. Sie hofften auf eine Liberali- im Mai vom ZK der SED gegebenen Anweisung, dass der KD Niesky wurden 16 Personen, darunter Piegsa, Alarmbereitschaft bei der Staatssicherheit – auch noch sierung des politischen Kurses auch in der DDR. Studenten in den Semesterferien nicht mehr nach inhaftiert. Nur einen Monat später, am 18. Juli 1953, 36 Jahre nach den Ereignissen des Jahres 1953. Westdeutschland fahren durften. An der Technischen wurde das Urteil gefällt. Die Haftstrafen reichten von 32 Roth: 17. Juni (Anm. 23), S. 314 f. u. BStU, MfS, BV Dresden, KS 91/73, Bd. o. Nr., Bl. 4. Die Stimmungsberichte 37 Ulbricht, Walter: zum ÜberXX.denParteitag, XX. Parteitagdie derdas MfS Kommunistischen Hochschule (TH) Dresden Partei der Sowjetunion. In: Neues kam es beiv.der Verkündung Deutschland anderthalb Jahren bis lebenslänglich.33 33 Urteil, 18. 7.1953; BStU, MfS, BV Dresden, AU 237/54, Bd. o. Nr., Bl. 1–32. AJM/ECa im Auftrag der4.3.1956, S. 3 f., hier veranschaulichen SED erstellte, 4. diese durch den Prorektor Werner Turski (1918–1986) zu 34 Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen 38 Stimmung zum XX. Parteitag der KPdSU [Information (Info) M65/56] v. 23.3.1956. In: Bispinck, Henrik [Bearb.]: Die – Abläufe – Folgen. Bremen 2003, S. 9. Gemütslage eindrücklich. DDR im Blick derIn der1956. Stasi ganzen DDR waren Die geheimen »erheblichen Berichte an die SED-Führung. Missfallenskundgebungen«. Göttingen 2016. Hieraus auch alle folgen- 43 Für den 35 Vgl. Engelmann, Roger [Bearb.]: Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die gehei- den zitierten Informationen. hoffnungsvolle Stimmen zu hören, auch in den Bezir- folgenden Nachmittag, den 24. Mai, luden Chemie- men Berichte an die SED-Führung. Göttingen 2013, S. 12–21. 39 Neue Argumente zum XX. Parteitag der KPdSU [Info M54/56] v. 14.3.1956. Das MfS verfügte 1953 über 36 Aufklärung und Abwehr geplanter feindlicher Aktivitäten im Zusammenhang ken Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt. So äußerte 40 Hetze gegen den Genossen Walter Ulbricht und andere [Info M90/56] studenten zu einer Veranstaltung zum Thema »Wa- v. 25.4.1956. mit dem 17. Juni 1988; BStU, MfS, BdL/Dok Nr. 008643, Bl. 1–4; BStU, MfS, BV Halle, ein Bauer41 aus Hetze Hilmsdorf gegen den imGenossen Kreis Rochlitz, es habe Walter Ulbricht [Info sich rum dürfen M88/56] v. 19.4.1956. Hierauswir auchnicht nach dem das folgende Zitat. Westen fahren?« ein. 12 630 hauptamtliche Mitarbeiter. BKG, Nr. 1739; BStU, MfS, BV Schwerin, BdL, Nr. 400027. 42 Lage in den Universitäten und unter den Studenten [Info M104/56] v. 18.5.1956. Hieraus auch die folgenden Zitate. »erwiesen,43dass derundWeg der Sowjetunion und auch der an derObwohl der fürWeimar die Versammlung vorgesehene Hörsaal Hierzu zum Folgenden: Studentendemonstrationen Musikhochschule und an der Technischen DDR nicht richtig ist« und Hochschule er hoffe Dresden daher, dass [Info M109/56] die Plan- v. 25.5.1956. auf Beschluss der Universitätsparteileitung nicht wirtschaft und die LPG »wieder abgeschafft« würden.38 freigegeben wurde, kamen 760 Studenten zusammen Der 17. Juni 1953 hinterließ sowohl bei der Partei als Im VEB Phänomen-Werk Zittau wurde darüber speku- und unterzeichneten eine an Ministerpräsident Otto auch bei der Staatssicherheit für Jahrzehnte ein tiefes liert, ob die Erkenntnis, dass Stalin »Fehler gemacht« Grotewohl gerichtete Protestresolution. Unterstüt- Trauma. Etwa eine Million Menschen in über 700 Städ- habe, auch dazu führen würde, die Oder-Neiße-Grenze zung erfuhren sie durch Karl Trinks (1891–1981), den ten und Gemeinden der DDR hatten sich am Volksauf- zu revidieren.39 Dekan der Fakultät Berufspädagogik, der an erster stand beteiligt.34 Die SED machte ihrer Geheimpolizei Stelle unterschrieb. Einen Tag später versammelten den Vorwurf, die Gefahr nicht erkannt zu haben, und Zugleich nahm die Kritik an der SED-Führung, ins- sich über 1 000 Studenten in der Mensa. Sie forderten entband Stasi-Minister Wilhelm Zaisser von seinen besondere an der Person Ulbrichts, zu. Beispielsweise mit Sprechchören »Wo bleibt Turski?« den Prorektor
18 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 19 > Die Leipziger Staatssicherheit registriert den Protest des Physikers Professor Kockel. BStU, MfS, BV Leipzig, AP 1019/62, Bl. 54 zu einer Stellungnahme auf. Als dieser nicht erschien, des Theoretisch-physikalischen Instituts. Als interna- strömten sie zum etwa 100 Meter entfernt gelegenen tional vernetztem Wissenschaftler war ihm jegliche Prorektorat, wo sie Turski und den Geschichtsprofessor Beschränkung der Reisefreiheit ein Dorn im Auge. Hermann Ley (1911–1990), Prorektor für Gesellschafts- Kockel reagierte mit »Zwölf Thesen«, in denen er das wissenschaft, aufforderten, offiziell zum Verbot der Reiseverbot in zum Teil sarkastischer Form kritisierte Westreisen Stellung zu nehmen. Ein kurzes Statement und die DDR-Führung auf ihre eigenen Widersprü- Leys konnte die Situation44nicht beruhigen, erst ein Studentendemonstration undher- che aufmerksam Stimmung unter machte. den Studenten [Info Das M114/56]. Verbot Siehe zeugeMatthias: auch Lienert, von derZwischen Widerstand und Repression. Studenten der TU Dresden 1946–1989. Köln, Weimar, Wien 2011, S. 85. aufziehendes Gewitter sorgte dafür, dass die Studenten »Unehrlichkeit« der Regierung, die sich ansonsten über 45 Hierzu und zum Folgenden: Sonderinformation – Betrifft: Professor Dr. Kockel, Direktor des Theoretisch-Physikalischen sich zerstreuten.44 Ein Teil derInstituts Professoren stellte sich Leipzig»Kulturtage, der Karl-Marx-Universität [Info M122/56] Deutsche v. 7.6.1956. Begegnungen, Kongresse der 46 Zurder hinter die Studenten, darunter Biografie vgl. Wappler, Karl: Bernhard verschiedensten Chemieprofessor Kockel. Zum 100. Geburtstag am Sport« Art, den 3. September 2009. In:mit bemühe, Jubiläen West-2009. Personen | Ereignisse. Hg. v. Rektor der Universität Leipzig. Leipzig 2009, S. 59–63. Arthur Simon (1893–1962), 47 der am und Dieses 24. die Mai den Hörsaal folgenden deutschland Zitate aus: Anlage ins(Anm. zur Info M122/56 Gespräch 45). zu kommen. Auch fände 47 für die Versammlung zur Verfügung gestellt hatte. man bei Marx »keine Stelle, die besagt, dass sozia- listische Länder sich mit einer Sperre aus Draht und Formularen umgeben müssen«. Die offiziellen Begrün- Deutlich weiter ging eine Aktion des Professors Bern- dungen für das Verbot (»Agententätigkeit und Abwer- hard Kockel (1909–1987) an der Karl-Marx-Universität bung«) nannte er »falsch und verlogen«. Am Schluss Leipzig.45 Kockel, Mitglied der SED, war ein renom- kritisierte er – kaum verschleiert – das MfS: Das Verbot, mierter Physiker und Schüler des Nobelpreisträgers so der Professor, sei »Ausfluss der viel zu weitgehenden, Werner Heisenberg (1901–1976). Im Dritten Reich war 46 ständigen, misstrauischen Gängelungs- und Beob- ihm wegen seiner früheren Mitgliedschaft im Sozia- achtungssucht der Administrative, die es schrecklich listischen Studentenbund eine universitäre Karriere findet, wenn sie nicht auch in den Urlaubsmonaten von verwehrt geblieben. In Leipzig übernahm er 1952 den Nr. 1 bis Nr. N der Bevölkerung genau weiß, was diese > Prof. Kockel verfasst 12 Thesen, um gegen das Reiseverbot von Studenten zu protestieren. Auszug. Juni 1956 Lehrstuhl für Theoretische Physik und wurde Direktor Nummer isst, trinkt, hört, liest, spricht, sieht und tut.« BStU, MfS, BV Leipzig, AP 1019/62, Bl. 41
20 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 21 angereisten Chruschtschow. Die Wahl Gomułkas stieß verbreitet war.55 An der TH Dresden hielten Studenten auf enthusiastische Reaktionen in der polnischen – wie an vielen anderen Schulen und Universitäten – Bevölkerung, die in einer Demonstration mit etwa Gedenkminuten für die Opfer des Volksaufstands in 500 000 Teilnehmern am 24. Oktober in Warschau Ungarn ab,56 an der Hochschule für Maschinenbau in gipfelten. In Ungarn weitete sich eine Demonstration Karl-Marx-Stadt äußerte ein Student auf einer Ver- von Studenten am 23. Oktober in einen Massenprotest sammlung: »Wenn es in Ungarn an Freiwilligen bei den aus, gegen den die kommunistische Führung die sow- Konterrevolutionären mangelt, dann melden wir uns jetische Armee um Hilfe bat. Nachdem die Forderung freiwillig, und das zu 99 % der hier Anwesenden.«57 der Demonstranten nach der Berufung des reform orientierten Kommunisten Imre Nagy (1896–1958) Auch forderten Studenten Veränderungen im Politbüro zum Ministerpräsidenten erfüllt worden war, keimte und den Rücktritt Ulbrichts. Sie fanden dabei vielfach zunächst Hoffnung auf. Als Nagy jedoch den Austritt Unterstützung bei den Professoren. Der angesehene Ungarns aus dem Warschauer Pakt erklärte, wurde er Leipziger Medizinprofessor Heinrich Bredt ( 1906–1989), abgesetzt. Am 4. November griff die sowjetische Armee Nationalpreisträger und Mitglied der Akademie der erneut ein und schlug den Aufstand in den folgenden Wissenschaften, wurde grundsätzlich: Vor dem Hinter- > Freiheitskämpfer schwenken die ungarische Nationalfahne auf einem > In Budapest legen Studenten vor dem Denkmal erbeuteten sowjetischen Panzer. 2.11.1956 des ungarischen Freiheitshelden Sandor Petöfi ein Wochen blutig nieder. Etwa 2 500 Menschen fielen den grund der Ereignisse in Polen und Ungarn äußerte er, Foto: picture alliance/akg-images Freiheitsgelöbnis ab. 27.10.1956 gewaltsamen Auseinandersetzungen zum Opfer. »man müsse jetzt doch einsehen, dass der Kommunis- Foto: picture alliance/akg-images mus nichts für die Menschheit sei«.58 Das MfS verfügte 1956 über Die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands hatte die Grenzen der vorsichtigen Öffnung nach dem Alles in allem war das Manifest eine Provokation. Die Proteste gegen das Reiseverbot, die es nicht nur in 16 264 hauptamtliche Mitarbeiter. XX. Parteitag deutlich gemacht. Die Sowjetführung er- Kockel hatte es an die Parteileitung seines Instituts, an Dresden und Leipzig, sondern an allen Universitäten kannte, dass zu weitgehende politische Zugeständnisse den Rektor der Universität Georg Mayer (1892–1973) der DDR gab, hatten – zumindest vorübergehend – Er- zu einem Auseinanderbrechen ihres Machtbereichs sowie an das ZK der SED geschickt. Sein Vorhaben, folg: Die SED-Führung entschloss sich, das Verbot zu- In der DDR wurden diese Entwicklungen aufmerk- in Ostmitteleuropa führen konnten. Deshalb wurden die »12 Punkte« auch am Schwarzen Brett auszuhän- rückzunehmen.50 Doch schon ein Jahr später verfügte sam registriert, wobei sich die Bevölkerung nicht auf auch in den übrigen Staaten des Ostblocks diejenigen gen, wurde von Mayer unterbunden. Das MfS stellte das Staatssekretariat für Hochschulwesen, dass Reisen die offizielle Darstellung der Ereignisse in Ungarn Kräfte gestärkt, die sich gegen politische Lockerungen in seinem Bericht beruhigt fest, dass am Institut von Studenten in NATO-Staaten und nach West-Berlin als »Konterrevolution« verließ, sondern sich auch gestellt hatten; in der DDR war dies Walter Ulbricht. noch keine Diskussionen zu dem Schreiben bekannt nur noch anlässlich von Besuchen von engen Ver- über westliche Medien informierte. Aus den biswei- Die Verhaftungen des Philosophen Wolfgang geworden seien. Zugleich kritisierte es den Parteise- wandten genehmigt werden dürften. Begründet wurde len mehrmals täglich für die SED-Führung erstellten Harich (1923–1995) und des Verlegers Walter Janka kretär der Universität, Wolfgang Heinke (geb. 1927), diese Maßnahme mit einem angeblichen Komplott Berichten des MfS ging u. a. hervor, dass die Studenten (1914–1994) Ende November bzw. Anfang Dezember der den »Ernst« des Schreibens nicht erkannt habe. In westlicher Geheimdienste gegen Studenten der DDR. sich die Forderungen ihrer ungarischen Kommilitonen 1956 als Mitglieder einer angeblich »konterrevolutio mehreren Aussprachen mit der SED-Bezirksleitung Auch jetzt kam es wieder zu Demonstrationen, unter zu eigen machten. Sie diskutierten über die Bildung nären Gruppe« markierten das Ende der reformkom- 48 SED-BL Leipzig, Bericht über eine Aussprache zwischen Gen. Wetzel und Gen. Prof. Dr. Kockel, sowie mit der Zentralen Parteileitung der Universität anderem an der TH Dresden, die jedoch, da Partei und 12.6.1956 (Abschrift); BStU, MfS, BV Leipzig, AP 1019/62, Bl. 43–45; MfS, BV Leipzig, Abt. VI/2, Betr. einer unabhängigen Studentenorganisation sowie munistischen Diskussion in der DDR. Ulbricht behielt Leipzig rückte Kockel nicht von seiner Position ab und des Physikalischen Leitungssitzung MfS nun Institutes besser vorbereitet waren, rasch der Karl-Marx-Universität aufgelöst mit Prof. Kockel, 19.6.1956; über die Abschaffung des obligatorischen Russisch die Oberhand und konnte in den folgenden Jahren äußerte sich sehr kritisch zur Partei und zurebd., Lage Bl. 46 f. in werden konnten.51 unterrichts und des gesellschaftswissenschaftlichen auch seine innerparteilichen Widersacher Karl Schir- 49 MfS, BV Leipzig, Abt. VI/2, Bericht betr. Bernhard Kockel, 18.6.1956; ebd., Bl. 38 f., hier 38. der DDR.48 Seinem Renommee war es zu 50 verdanken, Vgl. Herzberg, Guntolf: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren Grundstudiums. Von der Forderung war es nicht weit 52 dewan (1907–1998) und den Minister für Staatssicher- dass die Aktion keine Konsequenzen für seine 1956/58. beruf-Berlin 2006, S.Im 340.Herbst 1956 kam es an den Universitäten erneut bis zum Boykott: Am 8. November erschienen 52 Info in 285/56 der – Betrifft:heit LageErnst an denWollweber Universitäten und Hochschulenaus (1898–1967) der Deutschen ihren Ämtern 51 Vgl. Lienert: Zwischen Widerstand und Repression (Anm. 44), S. 107 f. Demokratischen Republik v. 28.10.1956. Für die Universität Leipzig: MfS, BV Leipzig, liche Laufbahn hatte – selbst das MfS war der Ansicht, zu Protesten. Hintergrund waren die Entwicklungen zahnmedizinischen Fakultät der Universität Leipzig drängen. Leiter der Informationsgruppe Leubold, Personen aus dem Bezirk, die bei politischen dass ein Weggang des Physikers aus der DDR »unserer in den »Bruderstaaten« Polen und Ungarn. In Polen von einer Seminargruppe nur drei StudentenEreignissen beim im Jahre 1956 feindliche Diskussionen führten, 27.11.1956; BStU, MfS, BV Leipzig, Leitung, Nr. 573, Bl. 67–86. Wissenschaft großen Schaden zufügen« würde.49 Ko- war die innenpolitische Situation nach der Nieder- Russischunterricht, eine andere blieb dem 53 Unterricht HBi Diskussionen sowie bemerkenswerte Vorkommnisse an der MfS, BV Leipzig, Feindliche ckel blieb bis zum Herbst 1959 an der Universität und schlagung des Posener Arbeiteraufstandes Ende Juni geschlossen fern. Am Physikalischen Institut emp- 53 Karl-Marx-Universität und anderen Hochschulen, 9.11.1956; BStU, MfS, BV Leipzig, Leitung, Nr. 824/02, Bl. 41. wurde anschließend mit der Leitung einer im Aufbau 1956 instabil geblieben. Um die Lage zu beruhigen, fingen, so wusste das MfS zu berichten, Studenten 54 Info 348/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v. 20.11.1956. befindlichen »Arbeitsstelle für Theoretische Chemie« setzte der reformorientierte Flügel der Polnischen in gesellschaftswissenschaftlichen Vorlesungen 55 Infoden 303/56 – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v. 4.11.1956. 54 56 Info 313/56 – Betrifft: Die Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v. in Leipzig betraut, die der Akademie der Wissenschaf- Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) die Wahl des 1948 Dozenten »mit Zischen und Pfeifen«. Kritisiert wurde 7.11.1956. ten der DDR unterstand. Parallel dazu übernahm er abgesetzten und 1951 inhaftierten ehemaligen Par- das Eingreifen der sowjetischen Armee in57Ungarn so- – Betrifft: Lage in der Deutschen Demokratischen Republik v. 5.11.1956. Info 307/56 ein Jahr später eine Gastprofessur an der Universität teichefs Władysław Gomułka (1905–1982) zum Ersten 58 Info 285/56 wie die »unvollständige« und »schönfärberische« Be- (Anm. 52). Gießen und kehrte nicht mehr in die DDR zurück. Sekretär durch – gegen den ausdrücklichen Willen des richterstattung von DDR-Presse und -Rundfunk, eine eigens zu der entscheidenden Sitzung am 21. Oktober Kritik, die bis in die Universitätsparteileitung hinein
22 S TA S I I N S A C H S E N >> DIE ZÄSUREN 23 1961 Zwangsumsiedlungen aus dem mer 1960 erklärte er gegenüber einer Erntehelferin, er werde seine Ackerflächen nicht mit der LPG zu- Vogtland sammenlegen und die Gründung der LPG im April sei unter Zwang erfolgt. Im Herbst 1960 vertrat er die Auf- fassung, die LPG-Bauern seien nur noch Tagelöhner.59 Burgstein, 3. Oktober 1961 Innerhalb weniger Stunden mussten die beiden > Abriss des Burgsteinguts. 1986 Familie Frank erfuhr weder an diesem Morgen noch zu Männer ihren Hof räumen. Unter Beobachtung der Privat einem späteren Zeitpunkt den Grund, warum sie sofort angerückten Kräfte wurden Möbel, Lebensmittel und > Das Burgsteingut (am linkeren Bildrand) lag knapp ihren Hausrat packen und Haus und Hof verlassen persönliche Gegenstände auf die Lkw aufgeladen. Tiere nterhalb einer Anhöhe mit zwei imposanten mittelalter u sollte. Die beiden Männer, Vater Paul (1897–1966) und durften nicht mitgenommen werden. So blieb auch die lichen Kirchenruinen, die bis ins 16. Jahrhundert nach Marienerscheinungen als Wallfahrtsort dienten. Sohn Werner (1929–2000), bewirtschafteten ihren Hof wertvolle reinrassige Kuhherde, über die ein sogenann- Postkarte um 1900 allein und waren auf sich gestellt, als in den frühen tes Herdbuch geführt wurde, in den Stallungen zurück Deutsch-deutsches Museum Mödlareuth Morgenstunden zahlreiche Lkw mit bewaffneten Kräf- und fiel an die LPG. Die Franks wurden in die Gegend ten in den Vierseithof Burgsteingut einfuhren. LPG- um Waldenburg bei Karl-Marx-Stadt/Glauchau um- Bauer Werner Frank war der Stasi schon vor Monaten gesiedelt, wo sie ein baufälliges Bauernhaus beziehen aufgefallen. Im Frühsommer 1960 verkündete er mutig, mussten. Beide kehrten der Landwirtschaft den Rücken die Einwohner des Grenzgebietes seien nicht mit dem und suchten sich Beschäftigungen in anderen Berei- Aufbau der Grenzsicherung einverstanden. Im Som- chen.60 Grundlage für die Zwangsräumung des Burgsteinguts Als sie einen Grenzsoldaten darauf anspricht, wird sie war eine äußerst knappe Begründung und umfasste abgewimmelt: Am Abend werde sie den Grund dafür gerade einmal fünf Schreibmaschinenzeilen: »Fr. […] schon wissen. Um 6.00 Uhr früh fährt vor dem Haus stellte sich grundsätzlich gegen die genossenschaftli- von Familie Günther plötzlich ein Räumkommando che Entwicklung, diskutierte erst vor kurzem wieder vor. »Jetzt geht der Krieg los«, ist der erste Gedanke gegen die Genossenschaft, indem er forderte, dass man der 14-jährigen Gisela Günther (Jg. 1947), die in der ihn in Ruhe lassen soll […]. Hat Verbindungen nur zu Schule gelernt hatte, dass der Westen den Sozialismus negativen Kräften – ist Bremsklotz im Dorf.«61 Die zerstören wolle.62 Die Familie erfährt, dass sie binnen wenigen Zeilen, die die Zwangsumsiedlung von Werner Tagesfrist ihr Haus zu räumen hat und aus Ebersberg Frank und seinem Vater besiegelten, brandmarkten wegziehen muss. Die etwa 20 Männer des Räumkom- 59 Mitteilungen des Leiters der BV Karl-Marx-Stadt, Oberstleutnant Gehlert an Mielke, 19.5.1960, 8.9.1960, 24.11.1960; BStU, MfS, AS 204/62, Bd. 12, Bl. den Bauern als politisch unzuverlässigen Bewohner des mandos beginnen sofort, die Schränke auszuräumen, 209, 99, 84. Grenzgebietes. Mit der Zwangsaussiedlung von Familie den Hausrat der Familie in die mitgebrachten Kisten zu 60 Auskunft der Familienangehörigen Michaela Pätz, Reuth bei Plauen – Vgl. Frank wurde innerhalb wenigen Stunden die mehrhun- verpacken und auf die Fahrzeuge zu laden. Renate Wöllner, Oktober 2012 – Vogtländischer Chronistentag erinnert an das Jahr 1952 und die Veränderungen danach http://www.vogtlandkreis.de/ dertjährige Familiengeschichte am Burgstein beendet. 61 Landratsamt Vogtlandkreis, Außenstelle Oelsnitz, SG Archiv, RdK PL, VwA, Nr. 18359, S. shownews.php?id=2607 (Letzter Aufruf 26.12.2016). 1986 ließ die SED das Burgsteingut restlos abreißen.7. Zufällig sieht Gerda Günther bei den Männern einen 62 Interview Peter Boeger Zettel mitmitAngaben Giesela Werner, geb. Günther, zur Größe am 24.6.2016. der neuen Wohnung. Fassungslos will sie wissen, wie eine sechsköpfige Fami- lie in zwei Zimmern mit Küche unterkommen soll. Die Wiedersberg, Ortsteil Ebersberg, 3. Oktober 1961 Räumung des Hauses wird zunächst gestoppt. »Später sind sie dann wieder gekommen und erklärten, es Gerda Günther (Jg. 1929) stand wie an jedem Tag früh muss nur die junge Familie Günther fort, für die Alten auf, um die Schweine zu füttern. Eigentlich war es ein hätten sie keine Unterkunft. Dadurch gab es ein neues > Mitglieder der Familie Frank und Wohnhaus des Burgsteinguts. Vor 1961 normaler Morgen, nur der starke Verkehr zu dieser Problem. Wir hatten einen gemeinsamen Hausstand. Privat frühen Stunde in dem kleinen Grenzort wunderte sie. Plötzlich musste alles aufgeteilt werden in einem Haus-
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