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KONZEPTE UND KRITIKEN. EIN READER ATLAS DER STAATENLOSEN Daten und Fakten über Ausgrenzung und Vertreibung
IMPRESSUM Dieser Reader zum ATLAS DER STAATENLOSEN ist ein Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Projektleitung: Eva Wuchold Redaktion: Ulrike Lauerhaß, Graham Pote, Eva Wuchold Projektmanagement: Dietmar Bartz Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar Übersetzungen: Nicola Liebert Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger Dokumentation und Schlussredaktion: Andreas Kaizik, Sandra Thiele (Infotext GbR) Erstellt mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Für diese Publikation ist allein die Herausgeberin verantwortlich. Die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt des Zuwendungsgebers wieder. Für ihre Beiträge sind allein die Autor*innen verantwortlich. Die Inhalte entsprechen nicht zwingend den Positionen der Rosa-Luxemburg-Stiftung. V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein, Rosa-Luxemburg-Stiftung 1. Auflage, Oktober 2020 Druck: primeline print berlin GmbH, Berlin Dieses Werk steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen. ADRESSEN ZUR KOSTENFREIEN BESTELLUNG UND ZUM DOWNLOAD: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Straße der Pariser Kommune 8A, 10243 Berlin READER ZUM ATLAS DER STAATENLOSEN deutsch: www.rosalux.de/atlasderstaatenlosen-reader englisch: www.rosalux.de/en/atlasofthestateless-reader französisch: www.rosalux.de/atlasdesapatrides-reader ATLAS DER STAATENLOSEN deutsch: www.rosalux.de/atlasderstaatenlosen englisch: www.rosalux.de/en/atlasofthestateless französisch: www.rosalux.de/atlasdesapatrides
ATLAS DER STAATENLOSEN KONZEPTE UND KRITIKEN. EIN READER Dieser Reader versammelt einige Beiträge über Staatenlosigkeit, die sich aus philosophischer und praktisch-politischer Sicht mit diesem Menschenrechtsproblem befassen. Die Texte ergänzen den geografisch ausgerichteten Atlas der Staatenlosen. GEBÜRTIG ODER EINGEBÜRGERT von Stephanie DeGooyer............................................................ 4 UNTEILBAR von Erin Daly und James R. May................................................ 8 ABGESICHERT von Ulrike Lauerhaß und Eva Wuchold..................................... 9 DAZUGEHÖRIG von Rachid Boutayeb................................................................ 10 ATLAS DER STAATENLOSEN READER 3
GEBÜRTIG ODER EINGEBÜRGERT In den Vereinigten Staaten bilden Geburtsort zu beziehen scheint, so nennt der Wissen- der Ort der Geburt und die Abstammung schaftliche Dienst des US-Kongresses in einem Bericht einer Person zwei mächtige Mythen, von 2011 doch drei Möglichkeiten, wie Individuen zu die die Zugehörigkeit zur Nation begründen. diesem Status kommen: „… entweder indem sie ‚in‘ den Vereinigten Staaten und unter deren Gerichtsbarkeit Für Eingewanderte hingegen steckt geboren werden, auch wenn sie von ausländischen El- das US-Staatsangehörigkeitsrecht voller tern abstammen, oder indem sie im Ausland als Kinder Ungerechtigkeiten und Gefahren. von US-Bürgern geboren werden oder indem sie unter Von Stephanie DeGooyer anderen Bedingungen geboren werden, die die gesetz- lichen Anforderungen für die US-Staatsbürgerschaft A rchie Harrison Mountbatten-Windsor wurde ‚ab Geburt‘ erfüllen.“ Um als gebürtige*r US-Bürger*in am 6. Mai 2019 in einem Londoner Privatkran- zu gelten, muss eine Person demnach eine biologische kenhaus als Sohn einer amerikanischen Mutter Bindung zu den USA haben, sei es durch den Geburtsort (Meghan Markle) und eines englischen Vaters (Prinz oder durch ein Elternteil. Harry) geboren. Archie kam als Siebter in der engli- Dieser Status ist nicht nur für die wenigen Menschen schen Thronfolge auf die Welt, aber als erstes Mitglied von Bedeutung, die sich alle vier Jahre um das Präsi- der königlichen Familie, das sowohl Bürger Großbritan- dentenamt bewerben, sondern auch für die gesamte niens als auch der Vereinigten Staaten ist. US-amerikanische Bevölkerung. Sie wird in zwei Grup- Entscheidend dabei ist, dass Archie bei seiner Geburt pen unterteilt: Bürger*innen, für die die Staatsbürger- nicht nur einfach US-Staatsbürger wurde, sondern dass schaft ein Geburtsrecht ist, und Eingebürgerte, die sie er als ein „natural born citizen“ gilt, also als gebürtiger als eine Art Gabe erhalten. Diese Unterscheidung wurde US-Bürger. Dieser Status wurde erstmals in Artikel II, erst vor Kurzem spürbar, als Trump twitterte, dass vier Abschnitt 1 der US-Verfassung erwähnt, in dem es heißt: dunkelhäutige Kongressabgeordnete dorthin „zurück- „In das Amt des Präsidenten können nur in den Verei- gehen“ sollten, wo sie herkämen. nigten Staaten geborene Bürger oder Personen, die zur Zeit der Annahme dieser Verfassung Bürger der Verei- nigten Staaten waren, gewählt werden.“ Archie ist das erste Mitglied der königlichen Der kleine Archie könnte also das werden, was die Familie, das sowohl Bürger Großbritanniens US-amerikanischen Gründerväter am stärksten fürch- als auch der Vereinigten Staaten ist. teten: ihr Präsident, und das als englischer Prinz. Al- lerdings war die „Natural born”-Klausel in der Verfas- sung in den vergangenen Jahren mehrfach Gegenstand In den meisten Nachrichten wurde eiligst darauf besorgter Debatten. So stritten Ted Cruz und Donald hingewiesen, dass drei der vier Frauen doch in den USA Trump im Jahr 2016 während der Präsidentschaftsnomi- geboren seien. Anders die vierte betroffene Abgeordne- nierung der Republikanischen Partei darüber, ob sich te, die gebürtige Somalierin Ilhan Omar: In der Wahr- der im kanadischen Calgary als Sohn einer US-amerika- nehmung der USA unterscheidet sie sich nicht nur von nischen Mutter und eines kubanischen Vaters geborene den anderen dreien, weil sie die Staatsbürgerschaft erst Cruz überhaupt für das Präsidentenamt qualifiziere. beantragen musste, sondern weil die biologischen Defi- Nach Trumps Auffassung bezogen sich die Väter der nitionen, an die die Staatsangehörigkeit geknüpft wird, Verfassung mit ihrer Vorgabe, der Präsident müsse ein sie zu einer nicht zugehörigen Bürgerin machen. gebürtiger US-Bürger sein, auf das Prinzip des Jus soli Nehmen wir den Fall eines anderen Kindes, das im („Recht des Bodens“). Cruz‘ Antwort darauf lautete, er selben Jahr wie Archie in London von einer Leihmutter sei ein gebürtiger US-Bürger gemäß einem anderen Na- als Kind eines gleichgeschlechtlichen männlichen Paa- tionalitätsprinzip, nämlich dem Jus sanguinis („Recht res geboren wurde. Die Eltern des Babys sind verhei- des Blutes“), das die Staatsbürgerschaft von einer bio- ratet, und beide sind US-Bürger, obwohl ein Elternteil logischen Verbindung zu einem US-amerikanischen – und zwar der, der das Sperma gespendet hatte – in Bürger abhängig macht. Großbritannien geboren wurde. Kurz nach der Geburt Die meisten Verfassungsrechtler stimmen mit Cruz‘ wurde das Paar durch ein Schreiben des US-Außen- Interpretation überein. Auch wenn sich der Status als ministeriums davon in Kenntnis gesetzt, dass ihr Kind gebürtige*r US-Bürger*in zunächst einmal auf den nicht qua Geburt US-Staatsbürger sei. Der Elternteil 4 ATLAS DER STAATENLOSEN READER
mit der genetischen Verbindung zum Kind habe nicht darstellt. Ein faireres Staatsbürgerschaftsrecht würde das laut Gesetz erforderliche Minimum von fünf Jahren voraussetzen, dass das Gesetz nicht länger zwischen als US-Bürger in den Vereinigten Staaten gelebt, um Bürger*innen und Eingebürgerten unterscheidet. Das seine Staatsbürgerschaft weiterzugeben. Der andere bedeutet nicht, dass in den USA Geborene künftig nicht Elternteil, per Geburt US-Bürger, könne keine „Blutsver- mehr automatisch deren Staatsbürgerschaft erhalten wandtschaft“ zu dem Kind nachweisen. Somit ist das sollen. Vielmehr wird auf diese Weise verhindert, dass Kind sowohl nach den Prinzipien des Jus soli als auch ein so zufälliger Faktor wie der Geburtsort Schutz und des Jus sanguinis in den USA ein Ausländer. Vorteile mit sich bringt, die später Eingebürgerten nicht Wieso hat das Kind einer britischen Prinzessin, die zur Verfügung stehen. vielleicht nie mehr in den USA leben wird, ein Recht auf Die Staatsbürgerschaft ist an sich schon eine Form die US-Staatsbürgerschaft, während das Kind zweier der Spaltung und Ungleichheit. Grenzen sind insofern US-Bürger ein Touristenvisum beantragen muss, um eine wesentliche Ursache von Ungleichheit, als sie soziale Vorteile für diejenigen vorsehen, die als „Insi- der“ gelten. Viele Linke fordern daher eine Öffnung 1790 war die Staatsbürgerschaft auf der Grenzen – ein Vorschlag, der auch die Ausweitung Einwanderer beschränkt, die freie weiße des Schutzes von Migrant*innen und die Aufweichung Personen mit „gutem Charakter“ waren. der territorialen Definition von Staatsangehörigkeit be- inhaltet. Es ist nicht ganz klar, inwieweit die Verwirk- lichung offener Grenzen die Abschaffung der Staats- seine Eltern in den USA zu besuchen? Wie kann es sein, bürgerschaft und eine revolutionäre Demontage des dass Menschenmengen an eine US-Kongressabgeord- weltweiten Systems von Nationalstaaten erfordert. So- nete gerichtet „Schickt sie zurück!“ grölen? Mit welcher lange es jedoch ein konstitutives „Wir“ gibt, über das moralischen oder historischen Begründung wird die sich die Bevölkerung eines Landes definiert, wird die Geburt als aussagekräftigeres Kriterium für staatsbür- Staatsbürgerschaft als Mitgliedsausweis in einem Club gerliche Treue angesehen? der Privilegierten dienen. Wir müssen deshalb dafür Diese Fragen erscheinen umso wichtiger, seit Trump sorgen, dass mehr Menschen Zugang dazu haben. Eine in einem Fernsehinterview eine Rechtsverordnung zur gute und mehrheitsfähige Möglichkeit zur Umsetzung Abschaffung der Staatsbürgerschaft nach dem Territo- wäre es, den Geburtsort nicht mehr als das wichtigste rialprinzip ankündigte. „Wir sind das einzige Land auf Kriterium für die nationale Zugehörigkeit zu begreifen. der Welt“, behauptete er, „in dem jemand einreist und T ein Baby kriegt, und das Baby wird tatsächlich ein Bür- atsächlich war in der Frühzeit der USA der Ge- ger der Vereinigten Staaten mit all den damit einher- burtsort eher ein zweitrangiges Kriterium für die gehenden Vorteilen.“ (Dies ist natürlich nicht korrekt: Staatsangehörigkeit. Im Einbürgerungsgesetz von In mehr als dreißig anderen Ländern gilt ebenfalls das 1790, in dem zum ersten Mal die Staatsbürgerschaft ge- Territorialprinzip). Trump will die Staatsangehörigkeit regelt wurde, war diese auf Eingewanderte beschränkt, qua Geburtsort aus demselben Grund abschaffen, aus die freie weiße Personen mit „gutem Charakter“ waren. dem er eine Mauer bauen und Familien an der Grenze Den Ureinwohner*innen Amerikas, Versklavten, frei- trennen will: um die „Invasion“ der Migrant*innen an en Schwarzen und Eingewanderten in Schuldknecht- der Südgrenze zu stoppen – und auf diese Weise für die schaft blieben die Bürgerrechte also versagt. Diversen nächsten Wahlen seine Anhänger zu mobilisieren. Wie Gerichtsurteilen zufolge könnten Angehörige der indige- häufig betont wird, wurde das geltende Staatsbürger- nen Völker, auch wenn sie auf dem Gebiet der Vereinig- schaftsrecht eingeführt, um besonders gefährdete Be- ten Staaten geboren wurden, keine Staatsbürger*innen völkerungsgruppen in den USA zu schützen, nament- sein, weil sie per Geburt Angehörige von außerhalb des lich die befreiten Sklav*innen. Heute schützt dasselbe US-Rechts stehenden Stämmen seien. In den USA gebo- Gesetz die Kinder von Eingewanderten ohne Aufent- rene freie Schwarze waren ebenfalls von der Staatsbür- haltsgenehmigung in den USA. gerschaft ausgeschlossen, weil Gerichte in den Südstaa- Doch das Territorialprinzip bietet zwar den in den ten paradoxerweise argumentierten, dass der Geburtsort USA geborenen Kindern von Eingewanderten Schutz, allein nicht zur Staatsbürgerschaft führe, sondern viel- aber dieses Staatsbürgerschaftsrecht trägt nichts zum mehr der Besitz von Rechten und Privilegien. Schutz der Eltern dieser Kinder bei oder ihrer Geschwis- Nach der Abschaffung der Sklaverei durch den 13. ter, die als kleine Kinder in die USA kamen. In dieser Hin- Zusatzartikel zur Verfassung verabschiedete der Kon- sicht ist das Jus soli allenfalls eine Verlegenheitslösung, gress den Civil Rights Act von 1866, der den befreiten die nur einigen Menschen hilft, während aber ebendie- Sklav*innen Bürgerrechte gewährte: „Alle Personen, die ses Prinzip für viele andere eine Quelle der Ungleichheit in den Vereinigten Staaten geboren sind und keiner aus- ATLAS DER STAATENLOSEN READER 5
ländischen Macht unterstehen, mit Ausnahme der nicht Dies mag nach legitimen Gründen für die Aufhe- besteuerten Indianer, werden hiermit zu Bürgern der bung der Staatsbürgerschaft aussehen. Aber die Mög- Vereinigten Staaten erklärt.“ Um diese neue Sichtweise lichkeit der Ausbürgerung wurde zunächst nicht nur der Staatsbürgerschaft, die nun zu einer Angelegenheit als Strafe eingeführt. Durch eine Ausbürgerungsklausel des Bundes und nicht der einzelnen Bundesstaaten im Einbürgerungsgesetz von 1906 sollte das Verfahren wurde, zu schützen, verabschiedete der Kongress 1868 vereinfacht werden, da die Behörden nun unnötige oder den 14. Zusatzartikel, wo in Abschnitt 1 die Vorausset- fehlerhafte Einbürgerungen einfach annullieren konn- zungen für die Staatsbürgerschaft festgelegt sind: „Alle ten. Sobald es technisch möglich war, begann die Regie- Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder rung jedoch, die Ausbürgerung für die gezielte Auswei- eingebürgert und ihrer Regierungsgewalt unterworfen sung unerwünschter Personen zu nutzen. sind, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Bun- So wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts desstaats, in dem sie ihren Wohnsitz haben.“ einigen Frauen (sogar in den USA geborenen) die Staats- Bis dahin war die Einbürgerung die verbreitetste Art bürgerschaft aberkannt, nachdem sie Ausländer gehei- gewesen, die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Die USA ratet hatten, ebenso wie Asiat*innen, deren „Rasse“ als brauchten Einwander*innen, und die Einbürgerungs- „unamerikanisch“ galt. 1956 schlug US-Generalstaatsan- politik spiegelte diese Notwendigkeit wider. Die Einstel- walt Herbert Brownell vor, Kommunist*innen durch den lung zur Staatsbürgerschaft begann sich jedoch ab Ende Entzug der Staatsbürgerschaft zu bestrafen. Als Reaktion des 19. Jahrhunderts zu verschieben. Als die Nation sich darauf und angesichts der während der Nachkriegszeit selbst als autark begriff und der 14. Verfassungszusatz weit verbreiteten Staatenlosigkeit plädierte die Philoso- zunehmend als historisches Relikt erschien, begann phin Hannah Arendt für einen Verfassungszusatz zum eine erneute Mythologisierung des Geburtsortes als Schutz der Staatsbürgerschaft. Sie, die selbst als staaten- notwendige Voraussetzung für eine wahrhafte Zugehö- lose Geflüchtete aus Deutschland in die USA gekommen rigkeit zur Nation. Eingebürgerte mussten ihre Loyalität war, wusste nur allzu gut, wie leicht die Ausbürgerung erst beweisen. zu einer totalitären Waffe werden kann, um Menschen Nun sollen eingebürgerte Staatsbürger*innen Fähig- aus dem Schutzbereich des Gesetzes zu drängen. keiten und Kenntnisse belegen, die gebürtige US-Ame- Selbst vermeintlich legitime Gründe für eine Aus- rikaner*innen vielleicht nie besitzen werden. Die Ein- bürgerung sind darüber hinaus oft schwer zu ermitteln. bürgerung ist ein langwieriges Verfahren. Um sich Im Juni 2018 kündigte die US-Einwanderungsbehörde zu qualifizieren, muss ein*e Bewerber*in in den USA wohnen und nachweisen, Englisch lesen, schreiben und sprechen zu können. Er oder sie muss außerdem Schon Hannah Arendt forderte einen über solide Kenntnisse der Geschichte und des US-Re- Verfassungszusatz zum Schutz der Staats- gierungssystems verfügen. Für die Einbürgerung muss angehörigkeit von Eingebürgerten. man darüber hinaus nachweisen, dass man „eine Per- son mit gutem moralischen Charakter ist, die sich den Prinzipien der Verfassung der Vereinigten Staaten ver- USCIS die Einrichtung einer neuen Abteilung an, die bunden fühlt“. Man kann sich leicht vorstellen, wie teilweise schon Jahrzehnte zurückliegende Fälle von viele gebürtige US-Amerikaner*innen über Fragen wie Einbürgerungsbetrug untersuchen soll. Das Interes- „Was hat die Unabhängigkeitserklärung bewirkt?“ oder se an solchen Fällen begann schon während der Prä- „Wie viele US-Senatoren gibt es?“ stolpern würden. Es sidentschaft Obamas, als die Regierung das Fehlen fallen einem auch viele gebürtige US-Amerikaner*innen der Fingerabdrücke von 13.000 Personen in einer zen- mit einem durchaus fragwürdigen „moralischen Cha- tralen Fingerabdruckdatenbank bemerkte. Die neue rakter“ ein, darunter so manche Präsidenten. USCIS-Stelle wurde mit der Durchsuchung der Dateien Überdies laufen Eingebürgerte anders als gebürtige beauftragt, um herauszufinden, welche Personen die US-Amerikaner*innen auch Gefahr, ihre Staatsbürger- Einbürgerung unter einem falschen Namen beantragt schaft zu verlieren. Sie können beispielsweise ausge- haben könnten. bürgert werden, wenn die Regierung feststellt, dass sie Ein Mann namens Baljinder Singh war 2018 die erste bei ihrem Einbürgerungsantrag Fakten gefälscht oder Person, deren Einbürgerungsurkunde im Rahmen die- verschwiegen haben, oder wenn sie sich einer Aussage ser Operation für nichtig erklärt wurde. Singh war 1991 vor dem Kongress verweigern. Eine Ausbürgerung ist durch einen Asylantrag unter dem Namen Davinder auch möglich, wenn sich herausstellt, dass ein zuvor Singh in die USA gelangt. Nachdem er den Antrag zu- Eingebürgerter Mitglied einer terroristischen Organisa- rückzog, sollte er abgeschoben werden, lebte aber wei- tion (wie der Nazi-Partei oder Al-Qaida) ist, oder wenn terhin in den USA. Durch die Heirat mit einer US-Bür- er unehrenhaft aus dem Militär entlassen wird. gerin erhielt er 2006 die Staatsbürgerschaft unter dem 6 ATLAS DER STAATENLOSEN READER
Namen Baljinder, ohne zu erklären, dass er einen aberkannt. Im Jahr 2017 hob der Oberste Gerichtshof die Asylantrag unter einem anderen Namen gestellt hatte. Entscheidung auf und wies den Fall an die Vorinstanz Der Fall scheint ein eindeutiges Beispiel für Betrug zu mit der Begründung zurück, es sei unklar, ob Maslen- sein. „Der Beschuldigte hat unser Einwanderungssys- jaks Unwahrheit über ihren Ehemann für ihren Einbür- tem ausgenutzt und sich unrechtmäßig den ultimativen gerungsantrag „ausreichend relevant“ sei. Einwanderungsvorteil der Einbürgerung gesichert“, er- In solchen Fällen handelt es sich um ganz gewöhn- klärte der zuständige Staatsanwalt Chad Readler. Aber liche Bürger*innen, die seit Langem in den USA leben. es ist juristisch völlig offen, wie Singh das Einwande- Ihr einziges „Verbrechen“ besteht darin, dass sie Regie- rungssystem „ausgenutzt“ haben soll. Ist die Tatsache, rungsbeamten bei ihrem Antrag auf Asyl oder Einbür- dass Singh den Abschiebungsbefehl nicht vorlegte, ein gerung gewisse Informationen vorenthalten haben, die Beleg für seinen schlechten moralischen Charakter, für ihren Einbürgerungsantrag relevant gewesen sein sodass er nicht für eine Einbürgerung infrage kommt? könnten. Die Beispiele zeigen, warum die Ankündigung Oder genügt schon das Verschweigen an sich, um ihn der Einwanderungsbehörde einer aggressiveren Unter- nicht einzubürgern? suchung von Betrugsfällen viele eingebürgerte US-Ame- rikaner*innen in Panik versetzte. D iese Fragen stellen sich auch bei anderen Aus- Was, wenn sie eine falsche Adresse auf ihrem Antrag bürgerungsverfahren, die allesamt zeigen, wie eingetragen oder den dritten Vornamen ihrer Mutter schwierig die Einordnung bestimmter Tatsa- nicht genannt hatten? Eine Freundin, die ihren ständi- chen in Einbürgerungsverfahren ist, beziehungsweise gen Wohnsitz in den USA hatte und ihre Einbürgerung wann das Leugnen oder Verheimlichen dieser Tatsa- beantragen wollte, sorgte sich über eine drohende Ab- chen die Ausbürgerung rechtfertigt. In einem aktuel- schiebung, sollte sie im Fall eines Umzugs vergessen, len Fall droht beispielsweise einem 62-jährigen Mann ihre neue Adresse innerhalb von zehn Tagen der Behör- aus Florida, Parvez Manzoor Khan, die Ausbürgerung, de mitzuteilen. Denn nach dem Staatsangehörigkeits- ebenfalls mit der Begründung, er habe bei seinem Ein- gesetz ist dieses Versäumnis ein Vergehen, das mit Ab- bürgerungsantrag eine frühere Ausweisungsanordnung schiebung geahndet wird. verschwiegen. Khan hielt dagegen, er habe von der An- Selbst wenn Abschiebungen ausgesetzt werden, ordnung gar nichts gewusst. Er hatte nie die Hilfe eines wird die Ungleichbehandlung fortbestehen, solange die Übersetzers erhalten, und sein Anwalt, dem im Übrigen Option bestehen bleibt. Schließlich kann Angst, auch später die Anwaltszulassung wegen Fehlverhaltens ent- wenn sie ungerechtfertigt ist, das Verhalten mancher zogen wurde, hatte es versäumt, ihn über seine Anhö- Menschen verändern. Auch wenn die Anträge der meis- rung vor dem Einwanderungsgericht zu informieren. ten Eingebürgerten in Wirklichkeit nie mehr untersucht Sein jetziger Rechtsbeistand vertritt den Standpunkt, werden, führt allein schon die Angst vor der Ausbürge- dass, selbst wenn ihm die damalige Anordnung be- rung dazu, dass die meisten von ihnen etwa ihr Recht, kannt gewesen wäre und er die Einwanderungsbehörde gegen die Regierung zu protestieren, möglicherweise darüber informiert hätte, die juristische Relevanz dieser nicht wahrnehmen. Ausweisungsverfügung für die Einbürgerung nicht ein- Oder vielleicht wird ein*e Ausländer*in mit ständi- deutig gegeben sei. gem Wohnsitz in den USA sicherheitshalber überhaupt In einem ähnlichen Fall (Maslenjak vs. United Sta- keinen Einbürgerungsantrag stellen und damit auf das tes) wurde eine bosnische Serbin beschuldigt, bei ihrem Wahlrecht verzichten. Da die Möglichkeiten der Medi- Einbürgerungsantrag über die Aktivitäten ihres Mannes en, diese Ängste zu zerstreuen, begrenzt sind, schließe in der bosnisch-serbischen Armee gelogen zu haben. ich mich an dieser Stelle der Forderung Hannah Arendts Als Maslenjak die Anerkennung als Geflüchtete bean- nach einem Verfassungszusatz zum Schutz der Staats- tragte, gab sie gegenüber einem Einwanderungsbeam- angehörigkeit von eingebürgerten Bürger*innen an. Es ten an, sie und ihre Familie seien Ziel von Verfolgung, sollte nur eine Art von Bürger*innen in den Vereinigten weil ihr Mann sich der Einberufung in die Armee entzo- Staaten geben: Bürger*innen. gen habe. Sie erhielt daraufhin Asyl. In ihrem späteren Antrag auf Einbürgerung erklärte Maslenjak unter Eid, Stephanie DeGooyer ist Assistenzprofessorin an der dass sie niemals einen US-Einwanderungsbeamten be- University of North Carolina at Chapel Hill. Sie befasst logen habe. Nachdem jedoch die Einwanderungsbehör- sich vor allem mit transatlantischer Literatur, Recht de Beweise dafür vorlegte, dass ihr Mann in Wirklichkeit und politischer Philosophie, besonders im Hinblick auf ein Offizier der bosnisch-serbischen Armee gewesen Staatsbürgerschaft und Immigration. Der Text erschien war, wurde Maslenjak wegen widerrechtlich erlangter am 18. Juli 2019 unter dem Titel „Rethinking Birthright“ Einbürgerung vor Gericht gestellt. 2014 wurde sie des- auf der Website Boston Review. Die Autorin hat ihn für wegen verurteilt, ihre US-Staatsangehörigkeit wurde diese Veröffentlichung bearbeitet. ATLAS DER STAATENLOSEN READER 7
UNTEILBAR verlassen auch Familie und Freunde, vertraute Orte, Dinge, die ihnen lieb und teuer waren. Orte, die sie ihr Zuhause nannten, und die Landschaften ihres Lebens. Alles können sie zurücklassen – außer ihrer Würde. Der Wert jedes Menschen ist gleich, Wie auch immer die Umstände sein mögen, die Würde seine Würde gilt überall. Sie begleitet muss intakt bleiben. Das gilt auch für diejenigen, die ihn auf Schritt und Tritt und kann verletzt staatenlos geboren werden: Sie haben vielleicht keine werden, aber nicht verloren gehen. der Bindungen, die mit einer Staatsbürgerschaft ein- hergehen, aber sie haben eine Bindung an ihre eigene Von Erin Daly und James R. May Menschenwürde. Die ursprünglichen Verfasser der All- gemeinen Erklärung der Menschenrechte haben sich W ürde ist insofern universell, als sie jedem dafür entschieden, den Vorrang der einzelnen Person Menschen innewohnt, der je geboren wurde vor jeder Gruppe oder sonstigen Instanz, ob real oder oder wird. Sie ist insofern inhärent, als sie eingebildet, hervorzuheben und die Würde an die Ge- weder vonseiten der Regierung noch des Gesetzes aner- burt eines jeden „Mitglieds der menschlichen Familie“ kannt zu werden braucht – sie ist einfach in jedem von zu knüpfen. uns. Die Würde definiert auch unsere Beziehungen zu Da die Menschenwürde unabhängig von jedem anderen, unser Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Ge- Staat existiert und es keiner Regierung bedarf, um sie meinschaft, unser Bedürfnis, als Person behandelt zu zu schaffen, zu definieren oder zu gewähren, kommt werden, und unsere Verpflichtung, die Würde anderer ihr eine besondere Bedeutung für diejenigen zu, die zu respektieren. Würde erkennt an, dass jede Person staatenlos sind oder es werden. Für Staatenlose ist die einen Wert hat und dass der Wert jeder Person gleich Menschenwürde die Energie, die ihr Recht begründet, ist. Aus diesem Wert ergibt sich Handlungsfähigkeit, Rechte einzufordern, sei es von dem einen oder von das heißt ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Le- dem anderen oder von gar keinem Staat. ben, und aus Handlungsfähigkeit ergeben sich Rechte – Insofern, als die Würde das Wesen des Menschseins auch für diejenigen, die staatenlos sind. ist, steht sie in Zusammenhang mit allen gemeinschaft- Würde ist jedoch mehr als eine dem Menschen in- lichen Facetten der menschlichen Erfahrung. Wenn newohnende Eigenschaft. Sie ist ein Recht, das im Völ- Menschen den Zugang zu Gesundheitsfürsorge und kerrecht, in 160 Verfassungen und in Tausenden von Bildung verlieren, wenn sie ihre Arbeit und ihren Le- Gerichtsentscheidungen auf der ganzen Welt anerkannt bensunterhalt verlieren, wenn ihre Familien auseinan- worden ist, manchmal in Verbindung mit anderen dergerissen werden und ihr Gemeinschaftsgefühl zer- Rechten (wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung, schlagen wird, ist ihre Würde bedroht. Wenn Menschen dem Recht auf Öffentlichkeitsbeteiligung, dem Recht ihre Stimme in ihrem politischen Umfeld verlieren, auf Reisen, dem Recht auf Wohnung und Bildung, um wenn sie keine Mitspracherechte mehr bei der Entschei- nur einige zu nennen). Sie wird auch als ein Grund- dungsfindung haben, wenn ihnen der Zugang zur Justiz recht oder die „Mutter aller Rechte“ bezeichnet, da sie verwehrt wird, beeinträchtigt das ebenfalls ihre Würde. die Quelle aller anderen Rechte ist. In Erweiterung von Alle Rechte – bürgerliche, politische wie auch sozioöko- Hannah Arendts berühmtem Diktum könnte man es so nomische – sind wichtig, gerade weil sie in engem Zu- formulieren: Würde ist das Recht, andere Rechte zu ha- sammenhang mit der Würde eines Menschen stehen. ben und zu beanspruchen. Für manche ist sie so ent- Und für Menschen, die keine dauerhafte Bindung an scheidend für das Rechtssystem, dass sie als Grundwert einen Staat haben, ist die Wahrung ihrer Würde auf einer Rechts- oder Verfassungsordnung, als ihre Basis allen diesen miteinander verbundenen und vonein- und ihr Zweck, als Alpha und Omega einer gerechten ander abhängigen Ebenen zwingend erforderlich. Die Rechtsstaatlichkeit angesehen wird. In der Tat könnten Würde vereinigt alle anderen Rechte und manifestiert wir sagen, dass der Grund, warum wir überhaupt Geset- ihre Unteilbarkeit. Sie ist das, was unseren eigenen An- ze und Rechte und Regierungen haben, der Schutz und spruch auf ein menschenwürdiges Leben und auf Aner- die Förderung der Menschenwürde ist. Staaten sind da- kennung „als Person“ zum Leben erweckt. Würde und mit die Mittel, mit denen die Würde geschützt und res- Rechte sind daher eng miteinander verwoben: Würde pektiert wird. Sie sollten ihr nicht im Wege stehen. begründet das Recht, Rechte einzufordern, und Rechte Staatenlose Menschen sind besonders anfällig für werden eingefordert, um die Menschenwürde zu schüt- den Entzug von Rechten. Wird ein Mensch im Laufe zen und zu fördern. seines Lebens staatenlos, verliert dieser oft die Rechte, Für Staatenlose heißt das, dass sie das Recht haben, die er als Bürger*in im Heimatstaat besaß. Wenn sie „als Person“ von allen anderen Personen respektiert zu gehen, lassen sie mehr als nur ihre Rechte zurück, sie werden, unabhängig davon, ob diese in privater oder 8 ATLAS DER STAATENLOSEN READER
öffentlicher Eigenschaft handeln. Es bedeutet, dass Was letztlich zählt, sind also nicht so sehr die Staats- ihr Leben von Belang ist und sie nicht entlassen oder bürgerschaft oder Nationalität und die Rechte, die sich entsorgt oder als bloße Objekte bei der Verfolgung der daraus ableiten lassen. Was zählt, sind vielmehr die Staatsräson behandelt werden können. Es bedeutet Menschenwürde und die Rechte, die sich aus ihr erge- auch, dass sie Anspruch auf eine individuelle Behand- ben. Dazu gehört insbesondere das Recht, als Person lung haben, in dem Sinne, dass die einzigartigen Um- behandelt zu werden, ganz egal wo. stände jeder einzelnen Situation angemessen zu be- rücksichtigen sind. Und es bedeutet, dass Strafen und Erin Daly und James R. May sind Professoren für Recht Belastungen in einem angemessenen Verhältnis zu den an der Widener University School of Law im US-Bundes- Notwendigkeiten stehen sollten, aber nicht darüber hi- staat Delaware. Gemeinsam forschen sie über Rechts- naus gehen. philosophie und Menschenrechte in der Umweltkrise. ABGESICHERT als angeboren, unveräußerlich und auch als unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Das Recht auf soziale Si- cherheit ist ein zentraler Bestandteil der sozialen Rech- te. Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschen- Oft wird Staatenlosen ihre materielle rechte (AEMR) von 1948 besagt ebenso wie Artikel 9 Sicherheit verweigert. Dabei gehört sie des UN-Sozialpaktes, dass jeder Mensch als Mitglied der zu den Sozialrechten, die zugleich Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit hat. Maß- Menschenrecht sind. Kampagnen zu geblich für diese Rechtsstellung ist, dass ohne materi- elle Sicherheit soziale und kulturelle Rechte und auch ihrer universellen Durchsetzung sollten die bürgerlichen und politischen Rechte eine Illusion so geführt werden, dass das „Recht bleiben. auf Rechte“ zur Selbstverständlichkeit Die Grundlagen für die Ausübung der sozialen Rechte wird, fordert das Konzept der „Globalen muss der Staat bereitstellen, sofern er über die notwen- Sozialen Rechte“. Von Ulrike Lauerhaß digen Mittel dafür verfügt. Ansonsten sind die Staaten- und Eva Wuchold gemeinschaft und die internationalen Organisationen in der Pflicht. Problematisch ist, dass dem Artikel 9 des UN-Sozialpaktes keine Verpflichtung im Völker- S taatenlose Menschen bezeichnen sich selbst oft recht folgt, die soziale Sicherung auch zu verwirklichen. als „unsichtbar”, wenn sie mit keinem amtli- Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard ist chen Dokument registriert sind. Die Folgen für in Artikel 25 der AEMR verankert, und Mindestnormen sie sind erheblich: Sie müssen um ihre Rechte kämp- der sozialen Sicherheit sind in Übereinkommen 102 der fen, werden diskriminiert und nicht selten aus der Ge- Internationalen Arbeitsorganisation definiert. Während sellschaft ausgeschlossen. Mit der Staatsangehörigkeit das „Was“ also klar ist, ist der Spielraum bei dem „Wie” gehen eben nicht nur emotionale Werte wie Zugehörig- sehr groß, bei der Frage also, auf welche Weise die sozi- keit und Identität einher, sondern auch fundamentale ale Sicherheit im Sinne dieses Paktes verwirklicht wer- bürgerliche und politische Rechte sowie der Zugang den soll. zum System der sozialen Sicherheit. Auch wenn der Strittig ist insbesondere das „Für wen”, also wer in Staat innerhalb seines Hoheitsgebietes die Pflicht hat, das soziale Sicherungssystem einbezogen ist. In der Re- alle Menschen vor Übergriffen zu schützen und dafür gel legen die Staaten diese Frage äußerst restriktiv aus. zu sorgen, dass die Menschenrechte verwirklicht wer- Staatenlose können sich nicht auf nationale Gesetze den, wird dieses Prinzip bei Staatenlosen in der Praxis berufen und befinden sich praktisch in einem „rechts- vielfach eingeschränkt oder gar verletzt. Dies gilt insbe- freien Raum“. Der Zugang zu grundlegenden Sozial- sondere für die sozialen Rechte, die sogenannte „zweite leistungen ist erschwert, Staatenlose erwerben selten Generation” der Menschenrechte. Schul- und Universitätsabschlüsse, sind Diskriminie- Sozialrechte sind individuelle Grund- und Men- rung und Schikane durch Behörden ausgesetzt und von schenrechte, die jedem einzelnen Menschen durch sein Ausbeutung bedroht. Ohne Ausweispapiere können sie Menschsein zustehen. Sie sollen das Individuum vor kein Bankkonto eröffnen, nicht frei reisen, nicht wäh- Ausbeutung schützen und ihm das Recht auf Teilhabe len, sich und ihre Familienangehörigen nicht registrie- am gesellschaftlichen Reichtum garantieren. Sie gelten ren lassen. ATLAS DER STAATENLOSEN READER 9
Die Ausgrenzung von Staatenlosen wie soziale Aus- somit keinen Ausschluss und auch keinen Verlust sozi- grenzung insgesamt ist ein mehrdimensionaler Prozess, aler Rechte aufgrund fehlender Staatsangehörigkeit ge- der durch ungleiche Machtverhältnisse angetrieben ben kann, wie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann wird. Er findet auf verschiedenen Ebenen statt: Indivi- schrieb. duum, Haushalt, Gruppe, Gemeinschaft, Staat und glo- Um den Gegensatz zwischen globaler Gerechtig- bal. Ein Ansatz, die Ausgrenzung zu überwinden, sind keit und Nationalstaatlichkeit aufzulösen und die GSR die Globalen Sozialen Rechte (GSR). Sie beziehen sich durchzusetzen, müsste in globalem Maßstab umver- auf den Menschenrechtsgedanken, richten sich aber teilt werden. Möglich wäre das. 2019 lebten mehr als nicht an eine staatliche oder überstaatliche Organisati- 600 Millionen Menschen in extremer Armut, das heißt on, die die Rechte gewährt, sondern fordern zur aktiven von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. 55 Prozent der Aneignung als legitim anerkannter Rechte auf. Sie pro- Weltbevölkerung erhielten keinerlei Sozialschutzleis- pagieren kollektive Prozesse, weil sie davon ausgehen, tungen, etwa Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Invali- dass Rechte immer und zugleich allen und jedem Ein- denrente. Gleichzeitig lag das Welteinkommen bei über zelnen zustehen. 11.000 US-Dollar pro Kopf. Der Transfer von nur einem Das Konzept GSR bedeutet die emanzipatorische Prozent des Einkommens der reichen in die armen Län- Aneignung universaler Menschenrechte. Es soll so der, etwa 500 Milliarden von 90 Billionen US-Dollar pro angewandt werden, dass sich – global – das „Recht Jahr, würde ausreichen, das Recht auf soziale Sicherheit auf Rechte“ im Alltagsverstand einnistet. In diesem durchsetzen. Sinne kann es nur ein erster Schritt sein, Staatenlo- sigkeit weltweit zu beenden. Ziel muss vielmehr sein, Ulrike Lauerhaß ist Projektmanagerin der Rosa-Lux- dass Staatsangehörigkeit nicht mehr nötig ist, weil alle emburg-Stiftung in Berlin für deren Büro in Beirut. Eva Menschen tatsächlich frei und gleich sind, also eine Wuchold ist Programmdirektorin für Soziale Rechte im Weltgesellschaft, die kein Außen kennt, und in der es Büro Genf der Stiftung. DAZUGEHÖRIG von denen der Soziologe Zygmunt Bauman sprach,1 sind eng miteinander verwoben. Doch die Politik auf Stimmenfang und die Medien im Panikmodus interes- sieren sich nicht für solche Diagnosen; sie haben bereits Die westliche Kultur enthält Spuren eines einen Schuldigen gefunden, nämlich – wie immer – kalten Rationalismus und einen nach die Ausländer*innen. Heute sind es vor allem die Men- innen gerichteten Chauvinismus, der das schen islamischen Glaubens, denen diese Rolle zuge- Heimatland erhöht und Außenstehende wiesen wird. Die Paranoia gegenüber dem Islam ist die große Lüge im neoliberalen Diskurs. Schon Hannah mit fremdenfeindlichem Misstrauen Arendt meinte dazu, die politische Lüge sei in der Mo- betrachtet. Dies taugt nicht für eine derne „vollständig und endgültig“ geworden. moderne Gesellschaft, in der Menschen Diese Industrie der Angst basiert auf Ideen oder viel- mit unterschiedlichem Hintergrund in mehr Vorurteilen, die zu einem großen Teil noch aus Nachbarschaft leben. Stattdessen brauchen dem Mittelalter und dem Zeitalter der Aufklärung stam- wir eine Ethik, die Fremde willkommen men. Sie beherrscht nach wie vor die Verbindungen heißt. Von Rachid Boutayeb zwischen dem Westen und dem Islam, allem Erkennt- niszuwachs zum Trotz. Schließlich ist der Islam schon seit der Spätantike ein fester Bestandteil der westlichen W ir sind alle Ausländer – richtet sich diese Auf- Kultur und Geschichte. Indem er ihn wegstößt, bestätigt schrift an der Wand einer deutschen Univer- der Westen lediglich die Präsenz des Islam, zumindest sität an die Leute im Allgemeinen, an Leute, als etwas Unverständliches und Fremdes. Da der Islam die diesen Menschen gegenüber oft genug misstrauisch bekanntlich politisch instrumentalisiert und in seinem sind? Oder richtet sie sich an Studierende im Besonde- Namen eine blutige Ideologie vertreten wird, ist diese ren? Oder an Philosophierende, die von einer besseren Welt träumen? 1 Zygmunt Bauman, Wasted lives: Modernity and its outcasts, Die „überflüssigen Menschen“ der Moderne, die „mo- Malden, Massachusetts 2003. Deutsch: Verworfenes Leben. ralische Panikmache“ und die „Politik der Absicherung“, Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005 10 ATLAS DER STAATENLOSEN READER
Angst durchaus nachvollziehbar. Gleichwohl wird sie auf eine geschäftsmäßige Reaktion, auf einen zu er- im Westen und anderswo ausgenutzt. Anstatt die Inst- haltenen Nutzen reduzieren lässt. Sie ist eine ethische rumentalisierung des Islam abzulehnen, geben wir uns Vision, wie sie von den großen monotheistischen Re- mit der Schuldzuweisung an die Kultur zufrieden. Mit ligionen4 vertreten wurde, aber heute ungebräuchlich der Verurteilung des Islam verurteilt die westliche Mo- geworden ist. derne jedoch nur sich selbst. Die deutsche Idee des Heimatdenkens ist die fal- Die Debatte über die angeblichen Integrationspro- sche Antwort auf den gesellschaftlichen Winter der bleme von Muslim*innen scheint daher der falsche Vernunft. Heimatdenken ist eine irrationale Reaktion, Ansatz zu sein. Mag sein, dass sich manche im Namen die von genau dieser Ratio ausgeht und ihre eigene Lo- eines illusorischen Zugehörigkeitsgefühls selbst get- gik der Ausgrenzung reproduziert. „Heimat“ impliziert toisieren, während ihre etwaigen Verfehlungen in den Besitz, nicht Teilen. Und ein solches Denken bleibt der Medien unverhältnismäßige Aufmerksamkeit erregen. Logik der Verwandtschaft, einem spezifischen genea- Doch wird im politischen und medialen Diskurs in Län- logischen Mythos verhaftet. Levinas sieht in dieser Fe- dern wie Deutschland und Frankreich übersehen, dass tischisierung des Ortes, der Heimat, zu Recht die Aus- wir es dabei nicht mit Religion, sondern mit Religiosität löschung derjenigen, die nicht Teil davon sind (und zu tun haben. Diese Religiosität hängt zusammen mit auch nicht dazugehören sollen). den Erfahrungen der Marginalisierung und Ablehnung, Ich neige nicht zur Oikophobie (der Abneigung ge- ja auch mit sozialer Unsichtbarkeit, um es mit dem Phi- gen die eigene Heimat). Ich lehne aber trotzdem die losophen Axel Honneth zu sagen.2 These ab, dass man von Nachbarschaft nur in Bezug Immanuel Kant hatte seinerzeit dem Judentum „Un- auf den Oikos sprechen kann. In der Nachbarschaft be- freiheit“ unterstellt. Viele zeitgenössische Denker wie steht eine Bindung zu den anderen, was die Nachbar- Peter Sloterdijk behaupten gar, es sei unmöglich, dem schaft zu einem ontologischen Bestandteil eines jeden Islam anzugehören und gleichzeitig Bürger*in einer Menschen macht. Mehr noch, die Nachbarschaft stellt Demokratie zu sein. Hegelianische Philosophie „reist einen Rückzug von sich selbst dar, eine Dissoziation nicht“ und wird dennoch von dem starken Bedürfnis des Ortes, denn Nachbarn ersetzen in demokratischen getrieben, über andere zu urteilen. Wie ein Kind ver- Gesellschaften die Verwandtschaft. Sie ist laut Hélène sucht sie, das Gegenüber zu beherrschen, es zu zivili- L‘Heuillet eine Art „freier Zusammenschluss“.5 sieren und zu vollständigem Gehorsam zu bringen. Die Für all diejenigen aber, die in einem nationalisti- kühle Vernunft unterscheidet sich in ihrer Missachtung schen Paradigma gefangen bleiben, kann der Nachbar der interkulturellen Beziehungen nicht von einem sol- allenfalls ein Verwandter sein. Es gibt keinen Platz chen Intellektualismus, in dem (wie Emmanuel Levinas für das, was Jacques Derrida das „absolut Ungleiche“ gezeigt hat) sich Sinngebung auf „Inhalte, die zu Be- nennt, für das Gesicht, das im Sinne von Levinas jede wusstsein kommen“, beschränkt.3 objektivierende Intentionalität überwindet, oder für Mein Vorschlag stellt eine Alternative zu einem Zu- den Gott, Freund des Fremden, von dem Hermann Co- gehörigkeitsgefühl dar, das andere Menschen angreift, hen sprach. Es wird deutlich, welche Form der Mensch sie zu assimilieren und auf diese Weise selbst unverän- annehmen oder verlieren kann, wenn das Heimatden- dert zu bleiben versucht. Anstelle dessen schlage ich ken – jener ethnokulturelle Ansatz, der soziale Gruppen eine „Rationalität der Nachbarschaft“ vor, eine Ethik nach ihrer Herkunft oder Zugehörigkeit definiert – und des Mitgefühls und der Toleranz gegenüber Mehrdeu- damit die Versuchung, Mauern zu bauen, beziehungs- tigkeiten. Es handelt sich um eine Rationalität, die sich weise die politische „Diktatur der Brüder“ die Welt er- bewusst der Sprache der Spontaneität, Empathie und obert. Kooperation bedient. Sie tritt, anders gesagt, der Über- Ich habe nur ein Land, aber es gehört mir nicht. bewertung des kognitiven, abstrakten Denkens entge- gen und setzt ein Zeichen gegen die Machtausweitung Rachid Boutayeb ist Professor für moderne Philoso- und die grausame Ablehnung anderer. Ihre Logik ist phie am Doha-Institut. Er forscht zu Andersartigkeit, nicht die des objektiven Denkens, sondern der subjek- Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen und tiven Dankbarkeit – einer Dankbarkeit, die sich nicht zur Sozialphilosophie. 2 A xel Honneth, Invisibility: On the Epistemology of 4 Elisabeth Conradi, Forgotten Approaches to Care. ‚Recognition‘, in: Aristotelian Society Supplementary The Human Being as Neighbour in the German-Jewish Volume, Band 75, Heft 1, S. 111–126, Juli 2001 Tradition of the Nineteenth Century, in: Care in 3 „contenus donnés à la conscience“, Emmanuel Levinas, Healthcare, hrsg. v. Franziska Krause und Joachim Boldt, Humanisme et l’autre homme, Paris 1987, S. 18. Deutsch: Cham 2017, S. 13–35 Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 2005 5 Hélène L’Heuillet, Du voisinage, Paris 2016 ATLAS DER STAATENLOSEN READER 11
Das Territorialitätsprinzip ist allenfalls eine Verlegenheitslösung, die nur einigen Menschen hilft, während aber ebendieses Prinzip für viele andere eine Quelle der Ungleichheit darstellt. aus: GEBÜRTIG ODER EINGEBÜRGERT von Stephanie DeGooyer, Seite 5 Für Staatenlose ist die Menschenwürde die Energie, die ihr Recht begründet, Rechte einzufordern, sei es von dem einen oder von dem anderen oder von gar keinem Staat. aus: UNTEILBAR von Erin Daly und James R. May, Seite 8 Das Ziel muss sein, dass Staatsangehörigkeit nicht mehr nötig ist, weil alle Menschen tatsächlich frei und gleich sind. aus: ABGESICHERT von Ulrike Lauerhaß und Eva Wuchold, Seite 10 Ich schlage eine „Rationalität der Nachbarschaft“ vor, eine Ethik des Mitgefühls und der Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeiten. aus: DAZUGEHÖRIG von Rachid Boutayeb, Seite 11
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