STAATENLOSEN ATLAS DER - KONZEPTE UND KRITIKEN. EIN READER - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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KONZEPTE UND KRITIKEN. EIN READER

       ATLAS DER
 STAATENLOSEN
             Daten und Fakten über
          Ausgrenzung und Vertreibung
IMPRESSUM
Dieser Reader zum ATLAS DER STAATENLOSEN ist ein Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Projektleitung: Eva Wuchold
Redaktion: Ulrike Lauerhaß, Graham Pote, Eva Wuchold

Projektmanagement: Dietmar Bartz
Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar

Übersetzungen: Nicola Liebert
Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger
Dokumentation und Schlussredaktion: Andreas Kaizik, Sandra Thiele (Infotext GbR)

Erstellt mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ). Für diese Publikation ist allein die Herausgeberin verantwortlich.
Die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt des Zuwendungsgebers wieder.
Für ihre Beiträge sind allein die Autor*innen verantwortlich. Die Inhalte entsprechen nicht zwingend
den Positionen der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein, Rosa-Luxemburg-Stiftung

1. Auflage, Oktober 2020

Druck: primeline print berlin GmbH, Berlin

Dieses Werk steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0).
Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine
Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen.

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KONZEPTE UND KRITIKEN. EIN READER

Dieser Reader versammelt einige Beiträge
über Staatenlosigkeit, die sich aus
philosophischer und praktisch-politischer
Sicht mit diesem Menschenrechtsproblem
befassen. Die Texte ergänzen den geografisch
ausgerichteten Atlas der Staatenlosen.

GEBÜRTIG ODER EINGEBÜRGERT
   von Stephanie DeGooyer............................................................ 4

UNTEILBAR
  von Erin Daly und James R. May................................................ 8

ABGESICHERT
  von Ulrike Lauerhaß und Eva Wuchold..................................... 9

DAZUGEHÖRIG
   von Rachid Boutayeb................................................................ 10

                                                                      ATLAS DER STAATENLOSEN READER   3
GEBÜRTIG ODER EINGEBÜRGERT
    In den Vereinigten Staaten bilden                             Geburtsort zu beziehen scheint, so nennt der Wissen-
    der Ort der Geburt und die Abstammung                         schaftliche Dienst des US-Kongresses in einem Bericht
    einer Person zwei mächtige Mythen,                            von 2011 doch drei Möglichkeiten, wie Individuen zu
    die die Zugehörigkeit zur Nation begründen.                   diesem Status kommen: „… entweder indem sie ‚in‘ den
                                                                  Vereinigten Staaten und unter deren Gerichtsbarkeit
    Für Eingewanderte hingegen steckt
                                                                  geboren werden, auch wenn sie von ausländischen El-
    das US-Staatsangehörigkeitsrecht voller
                                                                  tern abstammen, oder indem sie im Ausland als Kinder
    Ungerechtigkeiten und Gefahren.                               von US-Bürgern geboren werden oder indem sie unter
    Von Stephanie DeGooyer                                        anderen Bedingungen geboren werden, die die gesetz-
                                                                  lichen Anforderungen für die US-Staatsbürgerschaft

    A
             rchie Harrison Mountbatten-Windsor wurde             ‚ab Geburt‘ erfüllen.“ Um als gebürtige*r US-Bürger*in
             am 6. Mai 2019 in einem Londoner Privatkran-         zu gelten, muss eine Person demnach eine biologische
             kenhaus als Sohn einer amerikanischen Mutter         Bindung zu den USA haben, sei es durch den Geburtsort
    (Meghan Markle) und eines englischen Vaters (Prinz            oder durch ein Elternteil.
    Harry) geboren. Archie kam als Siebter in der engli-              Dieser Status ist nicht nur für die wenigen Menschen
    schen Thronfolge auf die Welt, aber als erstes Mitglied       von Bedeutung, die sich alle vier Jahre um das Präsi-
    der königlichen Familie, das sowohl Bürger Großbritan-        dentenamt bewerben, sondern auch für die gesamte
    niens als auch der Vereinigten Staaten ist.                   US-amerikanische Bevölkerung. Sie wird in zwei Grup-
        Entscheidend dabei ist, dass Archie bei seiner Geburt     pen unterteilt: Bürger*innen, für die die Staatsbürger-
    nicht nur einfach US-Staatsbürger wurde, sondern dass         schaft ein Geburtsrecht ist, und Eingebürgerte, die sie
    er als ein „natural born citizen“ gilt, also als gebürtiger   als eine Art Gabe erhalten. Diese Unterscheidung wurde
    US-Bürger. Dieser Status wurde erstmals in Artikel II,        erst vor Kurzem spürbar, als Trump twitterte, dass vier
    Abschnitt 1 der US-Verfassung erwähnt, in dem es heißt:       dunkelhäutige Kongressabgeordnete dorthin „zurück-
    „In das Amt des Präsidenten können nur in den Verei-          gehen“ sollten, wo sie herkämen.
    nigten Staaten geborene Bürger oder Personen, die zur
    Zeit der Annahme dieser Verfassung Bürger der Verei-
    nigten Staaten waren, gewählt werden.“                        Archie ist das erste Mitglied der königlichen
        Der kleine Archie könnte also das werden, was die         Familie, das sowohl Bürger Großbritanniens
    US-amerikanischen Gründerväter am stärksten fürch-            als auch der Vereinigten Staaten ist.
    teten: ihr Präsident, und das als englischer Prinz. Al-
    lerdings war die „Natural born”-Klausel in der Verfas-
    sung in den vergangenen Jahren mehrfach Gegenstand                In den meisten Nachrichten wurde eiligst darauf
    besorgter Debatten. So stritten Ted Cruz und Donald           hingewiesen, dass drei der vier Frauen doch in den USA
    Trump im Jahr 2016 während der Präsidentschaftsnomi-          geboren seien. Anders die vierte betroffene Abgeordne-
    nierung der Republikanischen Partei darüber, ob sich          te, die gebürtige Somalierin Ilhan Omar: In der Wahr-
    der im kanadischen Calgary als Sohn einer US-amerika-         nehmung der USA unterscheidet sie sich nicht nur von
    nischen Mutter und eines kubanischen Vaters geborene          den anderen dreien, weil sie die Staatsbürgerschaft erst
    Cruz überhaupt für das Präsidentenamt qualifiziere.           beantragen musste, sondern weil die biologischen Defi-
        Nach Trumps Auffassung bezogen sich die Väter der         nitionen, an die die Staatsangehörigkeit geknüpft wird,
    Verfassung mit ihrer Vorgabe, der Präsident müsse ein         sie zu einer nicht zugehörigen Bürgerin machen.
    gebürtiger US-Bürger sein, auf das Prinzip des Jus soli           Nehmen wir den Fall eines anderen Kindes, das im
    („Recht des Bodens“). Cruz‘ Antwort darauf lautete, er        selben Jahr wie Archie in London von einer Leihmutter
    sei ein gebürtiger US-Bürger gemäß einem anderen Na-          als Kind eines gleichgeschlechtlichen männlichen Paa-
    tionalitätsprinzip, nämlich dem Jus sanguinis („Recht         res geboren wurde. Die Eltern des Babys sind verhei-
    des Blutes“), das die Staatsbürgerschaft von einer bio-       ratet, und beide sind US-Bürger, obwohl ein Elternteil
    logischen Verbindung zu einem US-amerikanischen               – und zwar der, der das Sperma gespendet hatte – in
    Bürger abhängig macht.                                        Großbritannien geboren wurde. Kurz nach der Geburt
        Die meisten Verfassungsrechtler stimmen mit Cruz‘         wurde das Paar durch ein Schreiben des US-Außen-
    Interpretation überein. Auch wenn sich der Status als         ministeriums davon in Kenntnis gesetzt, dass ihr Kind
    gebürtige*r US-Bürger*in zunächst einmal auf den              nicht qua Geburt US-Staatsbürger sei. Der Elternteil

4   ATLAS DER STAATENLOSEN READER
mit der genetischen Verbindung zum Kind habe nicht            darstellt. Ein faireres Staatsbürgerschaftsrecht würde
das laut Gesetz erforderliche Minimum von fünf Jahren         voraussetzen, dass das Gesetz nicht länger zwischen
als US-Bürger in den Vereinigten Staaten gelebt, um           Bürger*innen und Eingebürgerten unterscheidet. Das
seine Staatsbürgerschaft weiterzugeben. Der andere            bedeutet nicht, dass in den USA Geborene künftig nicht
Elternteil, per Geburt US-Bürger, könne keine „Blutsver-      mehr automatisch deren Staatsbürgerschaft erhalten
wandtschaft“ zu dem Kind nachweisen. Somit ist das            sollen. Vielmehr wird auf diese Weise verhindert, dass
Kind sowohl nach den Prinzipien des Jus soli als auch         ein so zufälliger Faktor wie der Geburtsort Schutz und
des Jus sanguinis in den USA ein Ausländer.                   Vorteile mit sich bringt, die später Eingebürgerten nicht
    Wieso hat das Kind einer britischen Prinzessin, die       zur Verfügung stehen.
vielleicht nie mehr in den USA leben wird, ein Recht auf          Die Staatsbürgerschaft ist an sich schon eine Form
die US-Staatsbürgerschaft, während das Kind zweier            der Spaltung und Ungleichheit. Grenzen sind insofern
US-Bürger ein Touristenvisum beantragen muss, um              eine wesentliche Ursache von Ungleichheit, als sie
                                                              soziale Vorteile für diejenigen vorsehen, die als „Insi-
                                                              der“ gelten. Viele Linke fordern daher eine Öffnung
                     1790 war die Staatsbürgerschaft auf      der Grenzen – ein Vorschlag, der auch die Ausweitung
                 Einwanderer beschränkt, die freie weiße      des Schutzes von Migrant*innen und die Aufweichung
                 Personen mit „gutem Charakter“ waren.        der territorialen Definition von Staatsangehörigkeit be-
                                                              inhaltet. Es ist nicht ganz klar, inwieweit die Verwirk-
                                                              lichung offener Grenzen die Abschaffung der Staats-
seine Eltern in den USA zu besuchen? Wie kann es sein,        bürgerschaft und eine revolutionäre Demontage des
dass Menschenmengen an eine US-Kongressabgeord-               weltweiten Systems von Nationalstaaten erfordert. So-
nete gerichtet „Schickt sie zurück!“ grölen? Mit welcher      lange es jedoch ein konstitutives „Wir“ gibt, über das
moralischen oder historischen Begründung wird die             sich die Bevölkerung eines Landes definiert, wird die
Geburt als aussagekräftigeres Kriterium für staatsbür-        Staatsbürgerschaft als Mitgliedsausweis in einem Club
gerliche Treue angesehen?                                     der Privilegierten dienen. Wir müssen deshalb dafür
     Diese Fragen erscheinen umso wichtiger, seit Trump       sorgen, dass mehr Menschen Zugang dazu haben. Eine
in einem Fernsehinterview eine Rechtsverordnung zur           gute und mehrheitsfähige Möglichkeit zur Umsetzung
Abschaffung der Staatsbürgerschaft nach dem Territo-          wäre es, den Geburtsort nicht mehr als das wichtigste
rialprinzip ankündigte. „Wir sind das einzige Land auf        Kriterium für die nationale Zugehörigkeit zu begreifen.
der Welt“, behauptete er, „in dem jemand einreist und

                                                              T
ein Baby kriegt, und das Baby wird tatsächlich ein Bür-               atsächlich war in der Frühzeit der USA der Ge-
ger der Vereinigten Staaten mit all den damit einher-                 burtsort eher ein zweitrangiges Kriterium für die
gehenden Vorteilen.“ (Dies ist natürlich nicht korrekt:               Staatsangehörigkeit. Im Einbürgerungsgesetz von
In mehr als dreißig anderen Ländern gilt ebenfalls das        1790, in dem zum ersten Mal die Staatsbürgerschaft ge-
Territorialprinzip). Trump will die Staatsangehörigkeit       regelt wurde, war diese auf Eingewanderte beschränkt,
qua Geburtsort aus demselben Grund abschaffen, aus            die freie weiße Personen mit „gutem Charakter“ waren.
dem er eine Mauer bauen und Familien an der Grenze            Den Ureinwohner*innen Amerikas, Versklavten, frei-
trennen will: um die „Invasion“ der Migrant*innen an          en Schwarzen und Eingewanderten in Schuldknecht-
der Südgrenze zu stoppen – und auf diese Weise für die        schaft blieben die Bürgerrechte also versagt. Diversen
nächsten Wahlen seine Anhänger zu mobilisieren. Wie           Gerichtsurteilen zufolge könnten Angehörige der indige-
häufig betont wird, wurde das geltende Staatsbürger-          nen Völker, auch wenn sie auf dem Gebiet der Vereinig-
schaftsrecht eingeführt, um besonders gefährdete Be-          ten Staaten geboren wurden, keine Staatsbürger*innen
völkerungsgruppen in den USA zu schützen, nament-             sein, weil sie per Geburt Angehörige von außerhalb des
lich die befreiten Sklav*innen. Heute schützt dasselbe        US-Rechts stehenden Stämmen seien. In den USA gebo-
Gesetz die Kinder von Eingewanderten ohne Aufent-             rene freie Schwarze waren ebenfalls von der Staatsbür-
haltsgenehmigung in den USA.                                  gerschaft ausgeschlossen, weil Gerichte in den Südstaa-
     Doch das Territorialprinzip bietet zwar den in den       ten paradoxerweise argumentierten, dass der Geburtsort
USA geborenen Kindern von Eingewanderten Schutz,              allein nicht zur Staatsbürgerschaft führe, sondern viel-
aber dieses Staatsbürgerschaftsrecht trägt nichts zum         mehr der Besitz von Rechten und Privilegien.
Schutz der Eltern dieser Kinder bei oder ihrer Geschwis-          Nach der Abschaffung der Sklaverei durch den 13.
ter, die als kleine Kinder in die USA kamen. In dieser Hin-   Zusatzartikel zur Verfassung verabschiedete der Kon-
sicht ist das Jus soli allenfalls eine Verlegenheitslösung,   gress den Civil Rights Act von 1866, der den befreiten
die nur einigen Menschen hilft, während aber ebendie-         Sklav*innen Bürgerrechte gewährte: „Alle Personen, die
ses Prinzip für viele andere eine Quelle der Ungleichheit     in den Vereinigten Staaten geboren sind und keiner aus-

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ländischen Macht unterstehen, mit Ausnahme der nicht            Dies mag nach legitimen Gründen für die Aufhe-
    besteuerten Indianer, werden hiermit zu Bürgern der         bung der Staatsbürgerschaft aussehen. Aber die Mög-
    Vereinigten Staaten erklärt.“ Um diese neue Sichtweise      lichkeit der Ausbürgerung wurde zunächst nicht nur
    der Staatsbürgerschaft, die nun zu einer Angelegenheit      als Strafe eingeführt. Durch eine Ausbürgerungsklausel
    des Bundes und nicht der einzelnen Bundesstaaten            im Einbürgerungsgesetz von 1906 sollte das Verfahren
    wurde, zu schützen, verabschiedete der Kongress 1868        vereinfacht werden, da die Behörden nun unnötige oder
    den 14. Zusatzartikel, wo in Abschnitt 1 die Vorausset-     fehlerhafte Einbürgerungen einfach annullieren konn-
    zungen für die Staatsbürgerschaft festgelegt sind: „Alle    ten. Sobald es technisch möglich war, begann die Regie-
    Personen, die in den Vereinigten Staaten geboren oder       rung jedoch, die Ausbürgerung für die gezielte Auswei-
    eingebürgert und ihrer Regierungsgewalt unterworfen         sung unerwünschter Personen zu nutzen.
    sind, sind Bürger der Vereinigten Staaten und des Bun-          So wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
    desstaats, in dem sie ihren Wohnsitz haben.“                einigen Frauen (sogar in den USA geborenen) die Staats-
        Bis dahin war die Einbürgerung die verbreitetste Art    bürgerschaft aberkannt, nachdem sie Ausländer gehei-
    gewesen, die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Die USA        ratet hatten, ebenso wie Asiat*innen, deren „Rasse“ als
    brauchten Einwander*innen, und die Einbürgerungs-           „unamerikanisch“ galt. 1956 schlug US-Generalstaatsan-
    politik spiegelte diese Notwendigkeit wider. Die Einstel-   walt Herbert Brownell vor, Kommunist*innen durch den
    lung zur Staatsbürgerschaft begann sich jedoch ab Ende      Entzug der Staatsbürgerschaft zu bestrafen. Als Reaktion
    des 19. Jahrhunderts zu verschieben. Als die Nation sich    darauf und angesichts der während der Nachkriegszeit
    selbst als autark begriff und der 14. Verfassungszusatz     weit verbreiteten Staatenlosigkeit plädierte die Philoso-
    zunehmend als historisches Relikt erschien, begann          phin Hannah Arendt für einen Verfassungszusatz zum
    eine erneute Mythologisierung des Geburtsortes als          Schutz der Staatsbürgerschaft. Sie, die selbst als staaten-
    notwendige Voraussetzung für eine wahrhafte Zugehö-         lose Geflüchtete aus Deutschland in die USA gekommen
    rigkeit zur Nation. Eingebürgerte mussten ihre Loyalität    war, wusste nur allzu gut, wie leicht die Ausbürgerung
    erst beweisen.                                              zu einer totalitären Waffe werden kann, um Menschen
        Nun sollen eingebürgerte Staatsbürger*innen Fähig-      aus dem Schutzbereich des Gesetzes zu drängen.
    keiten und Kenntnisse belegen, die gebürtige US-Ame-            Selbst vermeintlich legitime Gründe für eine Aus-
    rikaner*innen vielleicht nie besitzen werden. Die Ein-      bürgerung sind darüber hinaus oft schwer zu ermitteln.
    bürgerung ist ein langwieriges Verfahren. Um sich           Im Juni 2018 kündigte die US-Einwanderungsbehörde
    zu qualifizieren, muss ein*e Bewerber*in in den USA
    wohnen und nachweisen, Englisch lesen, schreiben
    und sprechen zu können. Er oder sie muss außerdem           Schon Hannah Arendt forderte einen
    über solide Kenntnisse der Geschichte und des US-Re-        Verfassungszusatz zum Schutz der Staats-
    gierungssystems verfügen. Für die Einbürgerung muss         angehörigkeit von Eingebürgerten.
    man darüber hinaus nachweisen, dass man „eine Per-
    son mit gutem moralischen Charakter ist, die sich den
    Prinzipien der Verfassung der Vereinigten Staaten ver-      USCIS die Einrichtung einer neuen Abteilung an, die
    bunden fühlt“. Man kann sich leicht vorstellen, wie         teilweise schon Jahrzehnte zurückliegende Fälle von
    viele gebürtige US-Amerikaner*innen über Fragen wie         Einbürgerungsbetrug untersuchen soll. Das Interes-
    „Was hat die Unabhängigkeitserklärung bewirkt?“ oder        se an solchen Fällen begann schon während der Prä-
    „Wie viele US-Senatoren gibt es?“ stolpern würden. Es       sidentschaft Obamas, als die Regierung das Fehlen
    fallen einem auch viele gebürtige US-Amerikaner*innen       der Fingerabdrücke von 13.000 Personen in einer zen-
    mit einem durchaus fragwürdigen „moralischen Cha-           tralen Fingerabdruckdatenbank bemerkte. Die neue
    rakter“ ein, darunter so manche Präsidenten.                USCIS-Stelle wurde mit der Durchsuchung der Dateien
        Überdies laufen Eingebürgerte anders als gebürtige      beauftragt, um herauszufinden, welche Personen die
    US-Amerikaner*innen auch Gefahr, ihre Staatsbürger-         Einbürgerung unter einem falschen Namen beantragt
    schaft zu verlieren. Sie können beispielsweise ausge-       haben könnten.
    bürgert werden, wenn die Regierung feststellt, dass sie         Ein Mann namens Baljinder Singh war 2018 die erste
    bei ihrem Einbürgerungsantrag Fakten gefälscht oder         Person, deren Einbürgerungsurkunde im Rahmen die-
    verschwiegen haben, oder wenn sie sich einer Aussage        ser Operation für nichtig erklärt wurde. Singh war 1991
    vor dem Kongress verweigern. Eine Ausbürgerung ist          durch einen Asylantrag unter dem Namen Davinder
    auch möglich, wenn sich herausstellt, dass ein zuvor        Singh in die USA gelangt. Nachdem er den Antrag zu-
    Eingebürgerter Mitglied einer terroristischen Organisa-     rückzog, sollte er abgeschoben werden, lebte aber wei-
    tion (wie der Nazi-Partei oder Al-Qaida) ist, oder wenn     terhin in den USA. Durch die Heirat mit einer US-Bür-
    er unehrenhaft aus dem Militär entlassen wird.              gerin erhielt er 2006 die Staatsbürgerschaft unter dem

6   ATLAS DER STAATENLOSEN READER
Namen Baljinder, ohne zu erklären, dass er einen            aberkannt. Im Jahr 2017 hob der Oberste Gerichtshof die
Asylantrag unter einem anderen Namen gestellt hatte.        Entscheidung auf und wies den Fall an die Vorinstanz
Der Fall scheint ein eindeutiges Beispiel für Betrug zu     mit der Begründung zurück, es sei unklar, ob Maslen-
sein. „Der Beschuldigte hat unser Einwanderungssys-         jaks Unwahrheit über ihren Ehemann für ihren Einbür-
tem ausgenutzt und sich unrechtmäßig den ultimativen        gerungsantrag „ausreichend relevant“ sei.
Einwanderungsvorteil der Einbürgerung gesichert“, er-           In solchen Fällen handelt es sich um ganz gewöhn-
klärte der zuständige Staatsanwalt Chad Readler. Aber       liche Bürger*innen, die seit Langem in den USA leben.
es ist juristisch völlig offen, wie Singh das Einwande-     Ihr einziges „Verbrechen“ besteht darin, dass sie Regie-
rungssystem „ausgenutzt“ haben soll. Ist die Tatsache,      rungsbeamten bei ihrem Antrag auf Asyl oder Einbür-
dass Singh den Abschiebungsbefehl nicht vorlegte, ein       gerung gewisse Informationen vorenthalten haben, die
Beleg für seinen schlechten moralischen Charakter,          für ihren Einbürgerungsantrag relevant gewesen sein
sodass er nicht für eine Einbürgerung infrage kommt?        könnten. Die Beispiele zeigen, warum die Ankündigung
Oder genügt schon das Verschweigen an sich, um ihn          der Einwanderungsbehörde einer aggressiveren Unter-
nicht einzubürgern?                                         suchung von Betrugsfällen viele eingebürgerte US-Ame-
                                                            rikaner*innen in Panik versetzte.

D
        iese Fragen stellen sich auch bei anderen Aus-          Was, wenn sie eine falsche Adresse auf ihrem Antrag
        bürgerungsverfahren, die allesamt zeigen, wie       eingetragen oder den dritten Vornamen ihrer Mutter
        schwierig die Einordnung bestimmter Tatsa-          nicht genannt hatten? Eine Freundin, die ihren ständi-
chen in Einbürgerungsverfahren ist, beziehungsweise         gen Wohnsitz in den USA hatte und ihre Einbürgerung
wann das Leugnen oder Verheimlichen dieser Tatsa-           beantragen wollte, sorgte sich über eine drohende Ab-
chen die Ausbürgerung rechtfertigt. In einem aktuel-        schiebung, sollte sie im Fall eines Umzugs vergessen,
len Fall droht beispielsweise einem 62-jährigen Mann        ihre neue Adresse innerhalb von zehn Tagen der Behör-
aus Florida, Parvez Manzoor Khan, die Ausbürgerung,         de mitzuteilen. Denn nach dem Staatsangehörigkeits-
ebenfalls mit der Begründung, er habe bei seinem Ein-       gesetz ist dieses Versäumnis ein Vergehen, das mit Ab-
bürgerungsantrag eine frühere Ausweisungsanordnung          schiebung geahndet wird.
verschwiegen. Khan hielt dagegen, er habe von der An-           Selbst wenn Abschiebungen ausgesetzt werden,
ordnung gar nichts gewusst. Er hatte nie die Hilfe eines    wird die Ungleichbehandlung fortbestehen, solange die
Übersetzers erhalten, und sein Anwalt, dem im Übrigen       Option bestehen bleibt. Schließlich kann Angst, auch
später die Anwaltszulassung wegen Fehlverhaltens ent-       wenn sie ungerechtfertigt ist, das Verhalten mancher
zogen wurde, hatte es versäumt, ihn über seine Anhö-        Menschen verändern. Auch wenn die Anträge der meis-
rung vor dem Einwanderungsgericht zu informieren.           ten Eingebürgerten in Wirklichkeit nie mehr untersucht
Sein jetziger Rechtsbeistand vertritt den Standpunkt,       werden, führt allein schon die Angst vor der Ausbürge-
dass, selbst wenn ihm die damalige Anordnung be-            rung dazu, dass die meisten von ihnen etwa ihr Recht,
kannt gewesen wäre und er die Einwanderungsbehörde          gegen die Regierung zu protestieren, möglicherweise
darüber informiert hätte, die juristische Relevanz dieser   nicht wahrnehmen.
Ausweisungsverfügung für die Einbürgerung nicht ein-            Oder vielleicht wird ein*e Ausländer*in mit ständi-
deutig gegeben sei.                                         gem Wohnsitz in den USA sicherheitshalber überhaupt
    In einem ähnlichen Fall (Maslenjak vs. United Sta-      keinen Einbürgerungsantrag stellen und damit auf das
tes) wurde eine bosnische Serbin beschuldigt, bei ihrem     Wahlrecht verzichten. Da die Möglichkeiten der Medi-
Einbürgerungsantrag über die Aktivitäten ihres Mannes       en, diese Ängste zu zerstreuen, begrenzt sind, schließe
in der bosnisch-serbischen Armee gelogen zu haben.          ich mich an dieser Stelle der Forderung Hannah Arendts
Als Maslenjak die Anerkennung als Geflüchtete bean-         nach einem Verfassungszusatz zum Schutz der Staats-
tragte, gab sie gegenüber einem Einwanderungsbeam-          angehörigkeit von eingebürgerten Bürger*innen an. Es
ten an, sie und ihre Familie seien Ziel von Verfolgung,     sollte nur eine Art von Bürger*innen in den Vereinigten
weil ihr Mann sich der Einberufung in die Armee entzo-      Staaten geben: Bürger*innen.
gen habe. Sie erhielt daraufhin Asyl. In ihrem späteren
Antrag auf Einbürgerung erklärte Maslenjak unter Eid,       Stephanie DeGooyer ist Assistenzprofessorin an der
dass sie niemals einen US-Einwanderungsbeamten be-          University of North Carolina at Chapel Hill. Sie befasst
logen habe. Nachdem jedoch die Einwanderungsbehör-          sich vor allem mit transatlantischer Literatur, Recht
de Beweise dafür vorlegte, dass ihr Mann in Wirklichkeit    und politischer Philosophie, besonders im Hinblick auf
ein Offizier der bosnisch-serbischen Armee gewesen          Staatsbürgerschaft und Immigration. Der Text erschien
war, wurde Maslenjak wegen widerrechtlich erlangter         am 18. Juli 2019 unter dem Titel „Rethinking Birthright“
Einbürgerung vor Gericht gestellt. 2014 wurde sie des-      auf der Website Boston Review. Die Autorin hat ihn für
wegen verurteilt, ihre US-Staatsangehörigkeit wurde         diese Veröffentlichung bearbeitet.

                                                                                           ATLAS DER STAATENLOSEN READER   7
UNTEILBAR                                                   verlassen auch Familie und Freunde, vertraute Orte,
                                                                Dinge, die ihnen lieb und teuer waren. Orte, die sie ihr
                                                                Zuhause nannten, und die Landschaften ihres Lebens.
                                                                Alles können sie zurücklassen – außer ihrer Würde.
    Der Wert jedes Menschen ist gleich,                         Wie auch immer die Umstände sein mögen, die Würde
    seine Würde gilt überall. Sie begleitet                     muss intakt bleiben. Das gilt auch für diejenigen, die
    ihn auf Schritt und Tritt und kann verletzt                 staatenlos geboren werden: Sie haben vielleicht keine
    werden, aber nicht verloren gehen.                          der Bindungen, die mit einer Staatsbürgerschaft ein-
                                                                hergehen, aber sie haben eine Bindung an ihre eigene
    Von Erin Daly und James R. May
                                                                Menschenwürde. Die ursprünglichen Verfasser der All-
                                                                gemeinen Erklärung der Menschenrechte haben sich

    W
              ürde ist insofern universell, als sie jedem       dafür entschieden, den Vorrang der einzelnen Person
              Menschen innewohnt, der je geboren wurde          vor jeder Gruppe oder sonstigen Instanz, ob real oder
              oder wird. Sie ist insofern inhärent, als sie     eingebildet, hervorzuheben und die Würde an die Ge-
    weder vonseiten der Regierung noch des Gesetzes aner-       burt eines jeden „Mitglieds der menschlichen Familie“
    kannt zu werden braucht – sie ist einfach in jedem von      zu knüpfen.
    uns. Die Würde definiert auch unsere Beziehungen zu              Da die Menschenwürde unabhängig von jedem
    anderen, unser Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Ge-        Staat existiert und es keiner Regierung bedarf, um sie
    meinschaft, unser Bedürfnis, als Person behandelt zu        zu schaffen, zu definieren oder zu gewähren, kommt
    werden, und unsere Verpflichtung, die Würde anderer         ihr eine besondere Bedeutung für diejenigen zu, die
    zu respektieren. Würde erkennt an, dass jede Person         staatenlos sind oder es werden. Für Staatenlose ist die
    einen Wert hat und dass der Wert jeder Person gleich        Menschenwürde die Energie, die ihr Recht begründet,
    ist. Aus diesem Wert ergibt sich Handlungsfähigkeit,        Rechte einzufordern, sei es von dem einen oder von
    das heißt ein Gefühl der Kontrolle über das eigene Le-      dem anderen oder von gar keinem Staat.
    ben, und aus Handlungsfähigkeit ergeben sich Rechte –            Insofern, als die Würde das Wesen des Menschseins
    auch für diejenigen, die staatenlos sind.                   ist, steht sie in Zusammenhang mit allen gemeinschaft-
        Würde ist jedoch mehr als eine dem Menschen in-         lichen Facetten der menschlichen Erfahrung. Wenn
    newohnende Eigenschaft. Sie ist ein Recht, das im Völ-      Menschen den Zugang zu Gesundheitsfürsorge und
    kerrecht, in 160 Verfassungen und in Tausenden von          Bildung verlieren, wenn sie ihre Arbeit und ihren Le-
    Gerichtsentscheidungen auf der ganzen Welt anerkannt        bensunterhalt verlieren, wenn ihre Familien auseinan-
    worden ist, manchmal in Verbindung mit anderen              dergerissen werden und ihr Gemeinschaftsgefühl zer-
    Rechten (wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung,          schlagen wird, ist ihre Würde bedroht. Wenn Menschen
    dem Recht auf Öffentlichkeitsbeteiligung, dem Recht         ihre Stimme in ihrem politischen Umfeld verlieren,
    auf Reisen, dem Recht auf Wohnung und Bildung, um           wenn sie keine Mitspracherechte mehr bei der Entschei-
    nur einige zu nennen). Sie wird auch als ein Grund-         dungsfindung haben, wenn ihnen der Zugang zur Justiz
    recht oder die „Mutter aller Rechte“ bezeichnet, da sie     verwehrt wird, beeinträchtigt das ebenfalls ihre Würde.
    die Quelle aller anderen Rechte ist. In Erweiterung von     Alle Rechte – bürgerliche, politische wie auch sozioöko-
    Hannah Arendts berühmtem Diktum könnte man es so            nomische – sind wichtig, gerade weil sie in engem Zu-
    formulieren: Würde ist das Recht, andere Rechte zu ha-      sammenhang mit der Würde eines Menschen stehen.
    ben und zu beanspruchen. Für manche ist sie so ent-         Und für Menschen, die keine dauerhafte Bindung an
    scheidend für das Rechtssystem, dass sie als Grundwert      einen Staat haben, ist die Wahrung ihrer Würde auf
    einer Rechts- oder Verfassungsordnung, als ihre Basis       allen diesen miteinander verbundenen und vonein-
    und ihr Zweck, als Alpha und Omega einer gerechten          ander abhängigen Ebenen zwingend erforderlich. Die
    Rechtsstaatlichkeit angesehen wird. In der Tat könnten      Würde vereinigt alle anderen Rechte und manifestiert
    wir sagen, dass der Grund, warum wir überhaupt Geset-       ihre Unteilbarkeit. Sie ist das, was unseren eigenen An-
    ze und Rechte und Regierungen haben, der Schutz und         spruch auf ein menschenwürdiges Leben und auf Aner-
    die Förderung der Menschenwürde ist. Staaten sind da-       kennung „als Person“ zum Leben erweckt. Würde und
    mit die Mittel, mit denen die Würde geschützt und res-      Rechte sind daher eng miteinander verwoben: Würde
    pektiert wird. Sie sollten ihr nicht im Wege stehen.        begründet das Recht, Rechte einzufordern, und Rechte
        Staatenlose Menschen sind besonders anfällig für        werden eingefordert, um die Menschenwürde zu schüt-
    den Entzug von Rechten. Wird ein Mensch im Laufe            zen und zu fördern.
    seines Lebens staatenlos, verliert dieser oft die Rechte,        Für Staatenlose heißt das, dass sie das Recht haben,
    die er als Bürger*in im Heimatstaat besaß. Wenn sie         „als Person“ von allen anderen Personen respektiert zu
    gehen, lassen sie mehr als nur ihre Rechte zurück, sie      werden, unabhängig davon, ob diese in privater oder

8   ATLAS DER STAATENLOSEN READER
öffentlicher Eigenschaft handeln. Es bedeutet, dass             Was letztlich zählt, sind also nicht so sehr die Staats-
ihr Leben von Belang ist und sie nicht entlassen oder        bürgerschaft oder Nationalität und die Rechte, die sich
entsorgt oder als bloße Objekte bei der Verfolgung der       daraus ableiten lassen. Was zählt, sind vielmehr die
Staatsräson behandelt werden können. Es bedeutet             Menschenwürde und die Rechte, die sich aus ihr erge-
auch, dass sie Anspruch auf eine individuelle Behand-        ben. Dazu gehört insbesondere das Recht, als Person
lung haben, in dem Sinne, dass die einzigartigen Um-         behandelt zu werden, ganz egal wo.
stände jeder einzelnen Situation angemessen zu be-
rücksichtigen sind. Und es bedeutet, dass Strafen und        Erin Daly und James R. May sind Professoren für Recht
Belastungen in einem angemessenen Verhältnis zu den          an der Widener University School of Law im US-Bundes-
Notwendigkeiten stehen sollten, aber nicht darüber hi-       staat Delaware. Gemeinsam forschen sie über Rechts-
naus gehen.                                                  philosophie und Menschenrechte in der Umweltkrise.

ABGESICHERT                                                  als angeboren, unveräußerlich und auch als unabhängig
                                                             von der Staatsangehörigkeit. Das Recht auf soziale Si-
                                                             cherheit ist ein zentraler Bestandteil der sozialen Rech-
                                                             te. Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschen-
Oft wird Staatenlosen ihre materielle                        rechte (AEMR) von 1948 besagt ebenso wie Artikel 9
Sicherheit verweigert. Dabei gehört sie                      des UN-Sozialpaktes, dass jeder Mensch als Mitglied der
zu den Sozialrechten, die zugleich                           Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit hat. Maß-
Menschenrecht sind. Kampagnen zu                             geblich für diese Rechtsstellung ist, dass ohne materi-
                                                             elle Sicherheit soziale und kulturelle Rechte und auch
ihrer universellen Durchsetzung sollten
                                                             die bürgerlichen und politischen Rechte eine Illusion
so geführt werden, dass das „Recht
                                                             bleiben.
auf Rechte“ zur Selbstverständlichkeit                           Die Grundlagen für die Ausübung der sozialen Rechte
wird, fordert das Konzept der „Globalen                      muss der Staat bereitstellen, sofern er über die notwen-
Sozialen Rechte“. Von Ulrike Lauerhaß                        digen Mittel dafür verfügt. Ansonsten sind die Staaten-
und Eva Wuchold                                              gemeinschaft und die internationalen Organisationen
                                                             in der Pflicht. Problematisch ist, dass dem Artikel 9
                                                             des UN-Sozialpaktes keine Verpflichtung im Völker-

S
       taatenlose Menschen bezeichnen sich selbst oft        recht folgt, die soziale Sicherung auch zu verwirklichen.
       als „unsichtbar”, wenn sie mit keinem amtli-          Das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard ist
       chen Dokument registriert sind. Die Folgen für        in Artikel 25 der AEMR verankert, und Mindestnormen
sie sind erheblich: Sie müssen um ihre Rechte kämp-          der sozialen Sicherheit sind in Übereinkommen 102 der
fen, werden diskriminiert und nicht selten aus der Ge-       Internationalen Arbeitsorganisation definiert. Während
sellschaft ausgeschlossen. Mit der Staatsangehörigkeit       das „Was“ also klar ist, ist der Spielraum bei dem „Wie”
gehen eben nicht nur emotionale Werte wie Zugehörig-         sehr groß, bei der Frage also, auf welche Weise die sozi-
keit und Identität einher, sondern auch fundamentale         ale Sicherheit im Sinne dieses Paktes verwirklicht wer-
bürgerliche und politische Rechte sowie der Zugang           den soll.
zum System der sozialen Sicherheit. Auch wenn der                Strittig ist insbesondere das „Für wen”, also wer in
Staat innerhalb seines Hoheitsgebietes die Pflicht hat,      das soziale Sicherungssystem einbezogen ist. In der Re-
alle Menschen vor Übergriffen zu schützen und dafür          gel legen die Staaten diese Frage äußerst restriktiv aus.
zu sorgen, dass die Menschenrechte verwirklicht wer-         Staatenlose können sich nicht auf nationale Gesetze
den, wird dieses Prinzip bei Staatenlosen in der Praxis      berufen und befinden sich praktisch in einem „rechts-
vielfach eingeschränkt oder gar verletzt. Dies gilt insbe-   freien Raum“. Der Zugang zu grundlegenden Sozial-
sondere für die sozialen Rechte, die sogenannte „zweite      leistungen ist erschwert, Staatenlose erwerben selten
Generation” der Menschenrechte.                              Schul- und Universitätsabschlüsse, sind Diskriminie-
    Sozialrechte sind individuelle Grund- und Men-           rung und Schikane durch Behörden ausgesetzt und von
schenrechte, die jedem einzelnen Menschen durch sein         Ausbeutung bedroht. Ohne Ausweispapiere können sie
Menschsein zustehen. Sie sollen das Individuum vor           kein Bankkonto eröffnen, nicht frei reisen, nicht wäh-
Ausbeutung schützen und ihm das Recht auf Teilhabe           len, sich und ihre Familienangehörigen nicht registrie-
am gesellschaftlichen Reichtum garantieren. Sie gelten       ren lassen.

                                                                                             ATLAS DER STAATENLOSEN READER   9
Die Ausgrenzung von Staatenlosen wie soziale Aus-         somit keinen Ausschluss und auch keinen Verlust sozi-
     grenzung insgesamt ist ein mehrdimensionaler Prozess,         aler Rechte aufgrund fehlender Staatsangehörigkeit ge-
     der durch ungleiche Machtverhältnisse angetrieben             ben kann, wie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann
     wird. Er findet auf verschiedenen Ebenen statt: Indivi-       schrieb.
     duum, Haushalt, Gruppe, Gemeinschaft, Staat und glo-              Um den Gegensatz zwischen globaler Gerechtig-
     bal. Ein Ansatz, die Ausgrenzung zu überwinden, sind          keit und Nationalstaatlichkeit aufzulösen und die GSR
     die Globalen Sozialen Rechte (GSR). Sie beziehen sich         durchzusetzen, müsste in globalem Maßstab umver-
     auf den Menschenrechtsgedanken, richten sich aber             teilt werden. Möglich wäre das. 2019 lebten mehr als
     nicht an eine staatliche oder überstaatliche Organisati-      600 Millionen Menschen in extremer Armut, das heißt
     on, die die Rechte gewährt, sondern fordern zur aktiven       von weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. 55 Prozent der
     Aneignung als legitim anerkannter Rechte auf. Sie pro-        Weltbevölkerung erhielten keinerlei Sozialschutzleis-
     pagieren kollektive Prozesse, weil sie davon ausgehen,        tungen, etwa Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Invali-
     dass Rechte immer und zugleich allen und jedem Ein-           denrente. Gleichzeitig lag das Welteinkommen bei über
     zelnen zustehen.                                              11.000 US-Dollar pro Kopf. Der Transfer von nur einem
         Das Konzept GSR bedeutet die emanzipatorische             Prozent des Einkommens der reichen in die armen Län-
     Aneignung universaler Menschenrechte. Es soll so              der, etwa 500 Milliarden von 90 Billionen US-Dollar pro
     angewandt werden, dass sich – global – das „Recht             Jahr, würde ausreichen, das Recht auf soziale Sicherheit
     auf Rechte“ im Alltagsverstand einnistet. In diesem           durchsetzen.
     Sinne kann es nur ein erster Schritt sein, Staatenlo-
     sigkeit weltweit zu beenden. Ziel muss vielmehr sein,         Ulrike Lauerhaß ist Projektmanagerin der Rosa-Lux-
     dass Staatsangehörigkeit nicht mehr nötig ist, weil alle      emburg-Stiftung in Berlin für deren Büro in Beirut. Eva
     Menschen tatsächlich frei und gleich sind, also eine          Wuchold ist Programmdirektorin für Soziale Rechte im
     Weltgesellschaft, die kein Außen kennt, und in der es         Büro Genf der Stiftung.

     DAZUGEHÖRIG                                                   von denen der Soziologe Zygmunt Bauman sprach,1
                                                                   sind eng miteinander verwoben. Doch die Politik auf
                                                                   Stimmenfang und die Medien im Panikmodus interes-
                                                                   sieren sich nicht für solche Diagnosen; sie haben bereits
     Die westliche Kultur enthält Spuren eines                     einen Schuldigen gefunden, nämlich – wie immer –
     kalten Rationalismus und einen nach                           die Ausländer*innen. Heute sind es vor allem die Men-
     innen gerichteten Chauvinismus, der das                       schen islamischen Glaubens, denen diese Rolle zuge-
     Heimatland erhöht und Außenstehende                           wiesen wird. Die Paranoia gegenüber dem Islam ist die
                                                                   große Lüge im neoliberalen Diskurs. Schon Hannah
     mit fremdenfeindlichem Misstrauen
                                                                   Arendt meinte dazu, die politische Lüge sei in der Mo-
     betrachtet. Dies taugt nicht für eine
                                                                   derne „vollständig und endgültig“ geworden.
     moderne Gesellschaft, in der Menschen                             Diese Industrie der Angst basiert auf Ideen oder viel-
     mit unterschiedlichem Hintergrund in                          mehr Vorurteilen, die zu einem großen Teil noch aus
     Nachbarschaft leben. Stattdessen brauchen                     dem Mittelalter und dem Zeitalter der Aufklärung stam-
     wir eine Ethik, die Fremde willkommen                         men. Sie beherrscht nach wie vor die Verbindungen
     heißt. Von Rachid Boutayeb                                    zwischen dem Westen und dem Islam, allem Erkennt-
                                                                   niszuwachs zum Trotz. Schließlich ist der Islam schon
                                                                   seit der Spätantike ein fester Bestandteil der westlichen

     W
                ir sind alle Ausländer – richtet sich diese Auf-   Kultur und Geschichte. Indem er ihn wegstößt, bestätigt
                schrift an der Wand einer deutschen Univer-        der Westen lediglich die Präsenz des Islam, zumindest
                sität an die Leute im Allgemeinen, an Leute,       als etwas Unverständliches und Fremdes. Da der Islam
     die diesen Menschen gegenüber oft genug misstrauisch          bekanntlich politisch instrumentalisiert und in seinem
     sind? Oder richtet sie sich an Studierende im Besonde-        Namen eine blutige Ideologie vertreten wird, ist diese
     ren? Oder an Philosophierende, die von einer besseren
     Welt träumen?
                                                                   1 	Zygmunt Bauman, Wasted lives: Modernity and its outcasts,
         Die „überflüssigen Menschen“ der Moderne, die „mo-            Malden, Massachusetts 2003. Deutsch: Verworfenes Leben.
     ralische Panikmache“ und die „Politik der Absicherung“,           Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg 2005

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Angst durchaus nachvollziehbar. Gleichwohl wird sie          auf eine geschäftsmäßige Reaktion, auf einen zu er-
im Westen und anderswo ausgenutzt. Anstatt die Inst-         haltenen Nutzen reduzieren lässt. Sie ist eine ethische
rumentalisierung des Islam abzulehnen, geben wir uns         Vision, wie sie von den großen monotheistischen Re-
mit der Schuldzuweisung an die Kultur zufrieden. Mit         ligionen4 vertreten wurde, aber heute ungebräuchlich
der Verurteilung des Islam verurteilt die westliche Mo-      geworden ist.
derne jedoch nur sich selbst.                                    Die deutsche Idee des Heimatdenkens ist die fal-
    Die Debatte über die angeblichen Integrationspro-        sche Antwort auf den gesellschaftlichen Winter der
bleme von Muslim*innen scheint daher der falsche             Vernunft. Heimatdenken ist eine irrationale Reaktion,
Ansatz zu sein. Mag sein, dass sich manche im Namen          die von genau dieser Ratio ausgeht und ihre eigene Lo-
eines illusorischen Zugehörigkeitsgefühls selbst get-        gik der Ausgrenzung reproduziert. „Heimat“ impliziert
toisieren, während ihre etwaigen Verfehlungen in den         Besitz, nicht Teilen. Und ein solches Denken bleibt der
Medien unverhältnismäßige Aufmerksamkeit erregen.            Logik der Verwandtschaft, einem spezifischen genea-
Doch wird im politischen und medialen Diskurs in Län-        logischen Mythos verhaftet. Levinas sieht in dieser Fe-
dern wie Deutschland und Frankreich übersehen, dass          tischisierung des Ortes, der Heimat, zu Recht die Aus-
wir es dabei nicht mit Religion, sondern mit Religiosität    löschung derjenigen, die nicht Teil davon sind (und
zu tun haben. Diese Religiosität hängt zusammen mit          auch nicht dazugehören sollen).
den Erfahrungen der Marginalisierung und Ablehnung,              Ich neige nicht zur Oikophobie (der Abneigung ge-
ja auch mit sozialer Unsichtbarkeit, um es mit dem Phi-      gen die eigene Heimat). Ich lehne aber trotzdem die
losophen Axel Honneth zu sagen.2                             These ab, dass man von Nachbarschaft nur in Bezug
    Immanuel Kant hatte seinerzeit dem Judentum „Un-         auf den Oikos sprechen kann. In der Nachbarschaft be-
freiheit“ unterstellt. Viele zeitgenössische Denker wie      steht eine Bindung zu den anderen, was die Nachbar-
Peter Sloterdijk behaupten gar, es sei unmöglich, dem        schaft zu einem ontologischen Bestandteil eines jeden
Islam anzugehören und gleichzeitig Bürger*in einer           Menschen macht. Mehr noch, die Nachbarschaft stellt
Demokratie zu sein. Hegelianische Philosophie „reist         einen Rückzug von sich selbst dar, eine Dissoziation
nicht“ und wird dennoch von dem starken Bedürfnis            des Ortes, denn Nachbarn ersetzen in demokratischen
getrieben, über andere zu urteilen. Wie ein Kind ver-        Gesellschaften die Verwandtschaft. Sie ist laut Hélène
sucht sie, das Gegenüber zu beherrschen, es zu zivili-       L‘Heuillet eine Art „freier Zusammenschluss“.5
sieren und zu vollständigem Gehorsam zu bringen. Die             Für all diejenigen aber, die in einem nationalisti-
kühle Vernunft unterscheidet sich in ihrer Missachtung       schen Paradigma gefangen bleiben, kann der Nachbar
der interkulturellen Beziehungen nicht von einem sol-        allenfalls ein Verwandter sein. Es gibt keinen Platz
chen Intellektualismus, in dem (wie Emmanuel Levinas         für das, was Jacques Derrida das „absolut Ungleiche“
gezeigt hat) sich Sinngebung auf „Inhalte, die zu Be-        nennt, für das Gesicht, das im Sinne von Levinas jede
wusstsein kommen“, beschränkt.3                              objektivierende Intentionalität überwindet, oder für
    Mein Vorschlag stellt eine Alternative zu einem Zu-      den Gott, Freund des Fremden, von dem Hermann Co-
gehörigkeitsgefühl dar, das andere Menschen angreift,        hen sprach. Es wird deutlich, welche Form der Mensch
sie zu assimilieren und auf diese Weise selbst unverän-      annehmen oder verlieren kann, wenn das Heimatden-
dert zu bleiben versucht. Anstelle dessen schlage ich        ken – jener ethnokulturelle Ansatz, der soziale Gruppen
eine „Rationalität der Nachbarschaft“ vor, eine Ethik        nach ihrer Herkunft oder Zugehörigkeit definiert – und
des Mitgefühls und der Toleranz gegenüber Mehrdeu-           damit die Versuchung, Mauern zu bauen, beziehungs-
tigkeiten. Es handelt sich um eine Rationalität, die sich    weise die politische „Diktatur der Brüder“ die Welt er-
bewusst der Sprache der Spontaneität, Empathie und           obert.
Kooperation bedient. Sie tritt, anders gesagt, der Über-         Ich habe nur ein Land, aber es gehört mir nicht.
bewertung des kognitiven, abstrakten Denkens entge-
gen und setzt ein Zeichen gegen die Machtausweitung          Rachid Boutayeb ist Professor für moderne Philoso-
und die grausame Ablehnung anderer. Ihre Logik ist           phie am Doha-Institut. Er forscht zu Andersartigkeit,
nicht die des objektiven Denkens, sondern der subjek-        Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen und
tiven Dankbarkeit – einer Dankbarkeit, die sich nicht        zur Sozialphilosophie.

2   A
     xel Honneth, Invisibility: On the Epistemology of      4	Elisabeth Conradi, Forgotten Approaches to Care.
    ‚Recognition‘, in: Aristotelian Society Supplementary       The Human Being as Neighbour in the German-Jewish
    Volume, Band 75, Heft 1, S. 111–126, Juli 2001              Tradition of the Nineteenth Century, in: Care in
3	„contenus donnés à la conscience“, Emmanuel Levinas,         Healthcare, hrsg. v. Franziska Krause und Joachim Boldt,
   Humanisme et l’autre homme, Paris 1987, S. 18. Deutsch:      Cham 2017, S. 13–35
   Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 2005             5 Hélène L’Heuillet, Du voisinage, Paris 2016

                                                                                               ATLAS DER STAATENLOSEN READER   11
Das Territorialitätsprinzip ist allenfalls eine Verlegenheitslösung,
   die nur einigen Menschen hilft, während aber ebendieses
 Prinzip für viele andere eine Quelle der Ungleichheit darstellt.
       aus: GEBÜRTIG ODER EINGEBÜRGERT von Stephanie DeGooyer, Seite 5

         Für Staatenlose ist die Menschenwürde die Energie,
die ihr Recht begründet, Rechte einzufordern, sei es von dem einen
          oder von dem anderen oder von gar keinem Staat.
             aus: UNTEILBAR von Erin Daly und James R. May, Seite 8

     Das Ziel muss sein, dass Staatsangehörigkeit nicht mehr
   nötig ist, weil alle Menschen tatsächlich frei und gleich sind.
         aus: ABGESICHERT von Ulrike Lauerhaß und Eva Wuchold, Seite 10

      Ich schlage eine „Rationalität der Nachbarschaft“ vor,
            eine Ethik des Mitgefühls und der Toleranz
                   gegenüber Mehrdeutigkeiten.
                aus: DAZUGEHÖRIG von Rachid Boutayeb, Seite 11
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