StadtpunkteTHEMA - Nachhaltige Gesundheitsförderung und Prävention in Zeiten des Klimawandels - Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für ...
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StadtpunkteTHEMA Liebe Leser*innen, Hamburgische Arbeitsgemeinschaft Informationen zur Gesundheitsförderung | Ausgabe 02die weltweit grassierende | November 2021 Corona-Pandemie hat aufgrund dere.V. für Gesundheitsförderung persönlichen Zu- gangsbeschränkungen bzw. Abstandsempfehlungen zu einem enormen Zuwachs an digitaler Kommunikation, webbasierten Informationsangeboten, Austauschfor- maten und Planungshilfen bis hin zu unterstützenden Gesundheitsförderungsan- geboten geführt. Die Bandbreite digitalisierter Anwendungen wächst sprunghaft, in medizinischen Bereichen reichen die Nutzungen von der evidenzbasierten Diagnostik über die elektronische Patienten*innenakte bis zur robotergestützten Distanz-OP. Mittlerweile gibt es auch in der Prävention und Gesundheitsförderung viele Ansätze an digitalen Unterstützungen und die steigende Zahl von Erprobungen, Projekten und Entwicklungen ist Anlass, hier einige Beispiele aus dem Spektrum der Ideen und Umsetzungen vorzustellen. Zugleich wird deutlich, dass die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung kritisch begleitet werden müssen – gerade auch und insbesondere mit Blick auf vulnerable Anspruchsgruppen. Im Sinne einer gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen sollte nicht (nur) die technische Machbarkeit im Auge behalten werden. Es muss vielmehr für ausreichende technische Zugangsmöglichkeiten Sorge getragen werden, die von finanzierter Ausstattung über verständliche Anwendungssysteme bis hin zu ausreichender Kompetenzvermittlung reichen. Für den Erfolg des digitalen Trans- Bestellen Sie unseren Newsletter formationsprozesses ist es wichtig, die Partizipation vulnerabler Zielgruppen bei der Bedarfsermittlung, Stadtpunkte AKTUELL“: Maßnahmenentwicklung und -bewertung zu gewährleisten. newsletter@hag-gesundheit.de oder unter www.hag-gesundheit.de. Der Schutz der Persönlichkeit einschließlich des persönlichen Datenschutzes Er informiert Sie sechs Mal im muss erhalten bleiben. Die Algorithmisierung von Gesundheitszuständen im Jahr über Aktivitäten und Abgleich von Lebensqualität mit wirtschaftlichen Kalkülen bedarf dringlich ethi- Veranstaltungen der HAG sowie über scher Erwägungen, Orientierungen gesundheitspolitische und Entscheidungen. Themen und Termine in Hamburg und auf Bundesebene. Nutzung, Nützlichkeit und Nutzen sind in Einklang zu bringen. – » Die Digitalisierung kann manches Vorhandene verbessern und neue Möglichkei- ten eröffnen. Aber nicht alles Digitalisierte ist besser als die analogen, unmittelbaren Erfahrungen. Wir danken allen Autor*innen für die Beteiligung an dieser Ausgabe, zumal die Beiträge unter besonderen Rahmenbedingungen erstellt wurden. Wir wünschen Ihnen eine nachdenkliche und anregende Lektüre. Bleiben Sie gesund. Nachhaltige Gesundheitsförderung Petra Hofrichter und Team und Prävention in Zeiten des Klimawandels
2 | INHALT » 3 Editorial » Thema 27 4 Gesundheit und Wirtschaftswachstum Wolfgang Lührsen 8 Planetary Health Sophie Gepp, Laura Jung 11 Klimawandel und Gesundheit Caroline Schmuker 14 11 Klimaschutz ist Gesundheitsschutz Gerhard Reese 16 Gesundheitliche Auswirkungen von Hitzestress in der Stadt Antje Katzschner 18 Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungs- umgebungen gestalten 29 „KlimaGESUND“: Bildungsmodul Ulrike Arens-Azevêdo in Gesundheitswissenschaften und 21 Wege zu einer gesundheitsför- Public Health dernden und nachhaltigeren Walter Leal, Juliane Bönecke, Derya Taser Schulverpflegung 32 Klimaschutz in der Sozialen Arbeit Silke Bornhöft stärken! 24 Raumnahme im Quartier Altona- Janina Yeung 34 Neues Internetportal der BZgA Altstadt – Der KulturEnergieBunker – KEBAP informiert zum Thema Klimawandel Vera Stadie und Gesundheit 27 Mit mehr Umweltgerechtigkeit zu Michaela Goecke, Caroline Claren, Tanja Kessel einer gesunden Stadt beitragen » 35 Christa Böhme Impressum HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
3 Editorial Liebe Leser*innen, ob die Weltklimakonferenz in Glasgow einmal als der historische Moment be- trachtet wird, in dem sich die Länder für einen Ausstieg aus den fossilen Ener- gien, von Kohle, Öl und Gas entschieden haben oder ob diese Konferenz eher als allgemeines Versagen – als „blah, blah, blah“ (Greta Thunberg) – in Erinnerung 15 bleiben wird, hängt nun von den daraus folgenden Taten aller ab. Eines ist ge- wiss: der Klimawandel und die dadurch verursachten negativen gesundheitlichen Folgen wurden und werden durch menschliches Handeln erzeugt. Nur mensch- liches Handeln kann dazu beitragen, den Klimaschutz zu stärken, die globale Erwärmung abzumildern und die schädlichen Emissionen zu verringern. Dieser Veränderungsprozess erfordert globales und nationales Handeln auf allen Ebe- nen: im politischen Raum durch ambitionierte Ziele und integrierte, strategische Maßnahmen, in der Wirtschaft durch technologische und betriebliche Innovatio- nen, im persönlichen Leben durch klimabewusste Mobilität und Ernährung sowie beim Wohnen. Klimaschutz und Gesundheit in allen Politikbereichen benötigt Wissen und Ver- änderungswillen, Bewahrung der Natur und menschen-/klimagerechte Gestaltung der Lebenswelten. In dieser StadtpunkteTHEMA-Ausgabe beschäftigen wir uns mit verschiedenen Facetten des komplexen Themas. Brauchen wir neue Ansätze des Wirtschaftens? Stellt unser Wirtschaftssystem eine „systemimmanente Gesundheitsgefährdung“ dar? Und könnte ein vorsorge- orientiertes Postwachstum ein Zukunftsmodell sein? – Das Konzept der plane- taren Gesundheit als wertebasiertes, an Nachhaltigkeit ausgerichtetes Gesund- Bestellen Sie unseren Newsletter heitsnarrativ steht für eine inter- und transdisziplinäre Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen und innerhalb von Ökosystemen und damit für ein Stadtpunkte AKTUELL“: menschliches Leben auf der Erde. newsletter@hag-gesundheit.de Zwei Studien aus dem Versorgungs-Report „Klima und Gesundheit“ zu hitze- oder unter www.hag-gesundheit.de. bedingten Krankenhauseinweisungen und zur Wahrnehmung des Themas in der Er informiert Sie sechs Mal im Öffentlichkeit werden vorgestellt. Jahr über Aktivitäten und Ein Beitrag befasst sich damit, warum Naturerleben dem Klimaschutz dienen Veranstaltungen der HAG sowie über könnte, ein weiterer damit, was Hitzestress in der Stadt für vulnerable Gruppen gesundheitspolitische bedeuten kann. Themen und Termine in Hamburg und In zwei Artikeln zum Thema „Ernährung und Klimawandel“ werden eine integrierte auf Bundesebene. Ernährungspolitik und faire Ernährungsumgebungen sowie das HAG-Projekt „Lust auf Zukunft“ zu einer nachhaltigeren Schulverpflegung behandelt. Mit dem KulturEnergieBunker Altona stellt sich ein innovatives Projekt zukunfts- orientierter Stadtteilumgestaltung vor, und die Online-Toolbox Umweltgerechtig- keit unterstützt dabei, lebenswerte und gesunde Umweltverhältnisse für alle Bevölkerungsgruppen zu schaffen. „KlimaGESUND“ entwickelt ein Bildungsmodul für Gesundheitswissenschaften und Public Health zum Klimawandel und zur Klimaanpassung aus Sicht der Bevölkerungsgesundheit. Das Internetportal der BZgA informiert über die mit dem Klimawandel verbundenen Risiken. Wir danken allen Autor*innen für ihre Beteiligung an dieser Ausgabe und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Das Redaktionsteam HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
4 | VORSORGEORIENTIERTES POSTWACHSTUM Gesundheit und Wirtschaftswachstum Warum unser Wirtschaftssystem uns krank macht Wolfgang Lührsen „Corpus sanum in terra sana“, so möchte man in um den Nitratgehalt des Trinkwassers innerhalb der Anlehnung an „mens sana in corpore sano“ ausru- gesetzlichen Grenzen zu halten. Teilweise müssen Brun- fen! Einen gesunden Körper kann es nur auf einem nen wegen zu hohen Nitratgehalts stillgelegt werden. gesunden Planeten geben. Aber unser Planet – die Hauptgrund für diese hohen Werte sind hoher Eintrag von Luft, das Wasser, der Boden – ist nicht gesund. Dünger und Gülle in den Boden. Warum das so ist und was wir ändern müssen, in Denken und Handeln, beschreibt dieser Beitrag. Warum lassen wir diese Handlungsweisen zu? Auf der psychologischen Ebene sind wir daran gewöhnt, dass die Laut Umweltbundesamt gibt es allein in Deutschland Erde ein unerschöpfliches Reservoir an Rohstoffen besitzt mehr als 40.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr durch und dass die Erde uns eine unendliche große Müllhalde Feinstaub, der wiederum vor allem durch menschliches zur Verfügung stellt. Das war in der Frühzeit der Mensch- Handeln erzeugt wird wie Verbrennen fossiler Kraft- heit richtig. Seit etwa 50 Jahren ist es das aber nicht stoffe, Abrieb von Bremsen und Reifen und indirekt durch mehr. In den Einheiten des ökologischen Fußabdrucks Ammoniakemissionen bei der Tierhaltung. übernutzen wir die Erde um 70 %, in Deutschland ver- Wasserwerke müssen immer größeren Aufwand treiben, brauchen wir seitdem sogar „3 Erden“. Obwohl dies weithin HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
5 Perspektivwechsel: Wir müssen Um dem Klimawandel zu begegnen, sind neue offen für neue Ansätze des Denkmodelle notwendig Wirtschaftens sein. bekannt ist, werden keinerlei Maßnahmen getroffen, die Schon vom „Erfinder“ des BIP, Simon Kuznets, wurde diesen Trend umkehren würden. Die Gründe dafür sind mehrfach darauf hingewiesen, dass das BIP kein guter weitgehend psychologischer Natur, unser Gehirn ist – Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft ist. was zu Zeiten der Säbelzahntiger überlebenswichtig war Obwohl diese Schwächen bekannt sind, haben Politik und – darauf trainiert, auf direkt wahrnehmbare Gefahren zu Wirtschaft weltweit die stetige Steigerung des BIP als reagieren. Von Jahr zu Jahr dringlicher werdende Appelle oberstes Ziel. der Klimaforscher:innen werden nicht als unmittelbare Erwartungsgemäß hat die Konzentration auf die Ent- Gefahr wahrgenommen, auch wenn diese darauf hinwei- wicklung dieses einen Parameters – neben einer stetig sen, dass es Kipppunkte und Irreversibilitäten im Klima- steigenden Verschmutzung der Umwelt – zu einer Ver- system gibt, die – einmal in Gang gesetzt – nicht mehr größerung der Schere zwischen Arm und Reich geführt. angehalten werden können und uns potenziell in eine Die gesundheitlichen Auswirkungen sind gravierend: Welt bringen, die mit der aktuell vorhandenen Zivilisation Ein knappes Fünftel der deutschen Bevölkerung lebt in nichts mehr zu tun hat. relativer Armut und hat (bei Geburt) eine um 10 Jahre niedrigere Lebenserwartung als Menschen an der Spitze Primat der Wirtschaft der Einkommenspyramide. Die Wirtschaft hat einen sehr großen Einfluss auf die Niemand hat diese Situation prägnanter formuliert als Politik, das kann man an vielen Entscheidungen der Papst Franziskus 2013 in seinem Schreiben „Evangelii Bundesregierung ablesen, wenn es beispielsweise um Gaudium“: „Diese Wirtschaft tötet.“ die Aufrechterhaltung einer Landwirtschaft geht, die mit großen Mengen von Dünger und Giften operiert, mit Systemimmanente Gesundheitsgefährdung entsprechenden Auswirkungen auf die Gesundheit der Wir leben in einem System, in dem Gesundheit wenig Bevölkerung; oder bei der Lebensmittelindustrie, die und Geld alles zählt. Wenn wir der Gesundheitsförderung die Menge des zugesetzten Zuckers mit vielerlei Namen und Prävention mehr Raum geben wollen, dann genügt es verschleiert und sich mit Erfolg gegen die „Lebens- nicht, an einigen Stellrädern zu drehen und Symptome zu mittelampel“ wehrt. kurieren, sondern wir müssen das System grundsätzlich infrage stellen. Gemessen wird die Wirtschaftsleistung mit dem Brutto- In der Wissenschaft werden hierzu zwei Ansätze disku- inlandsprodukt, kurz BIP. Das BIP ist definiert als der in tiert. Zum einen das grüne Wachstum, auch qualitati- Geld gemessene Wert der über den Markt vermittelten ves Wachstum genannt. Die Idee ist, dass wir unseren Produkte und Dienstleistungen, meist um Inflation berei- Lebensstil im Wesentlichen beibehalten können. Dies nigt und als prozentuale Veränderung zu einem vorher- soll durch die sogenannte Entkopplung möglich sein, gehenden Zeitraum angegeben. Damit bildet das BIP aber d.h. technische Innovationen, die dafür sorgen sollen, nur einen kleinen Teil der Welt ab, nicht berücksichtigt dass auch bei steigendem BIP die Umweltauswirkungen werden z.B. unentgeltliche Leistungen in der Pflege oder geringer werden. Dies ist unter anderem die Position der im Ehrenamt. Gänzlich unberücksichtigt bleiben die Schä- Europäischen Kommission (European Green Deal). den an Ökosystemen, abgebildet werden nur die bezahl- ten „Reparaturmaßnahmen“, wie das Aufräumen nach der Die Gegenposition dazu ist das Postwachstum (engl. Explosion einer Bohrplattform. Schließlich interessiert degrowth). Postwachstum bedeutet die Zeit nach dem sich das BIP nicht dafür, ob die Einkommen in der Gesell- Wachstum, d.h. eine Zeit, in der BIP-Wachstum entwe- schaft gleichmäßig verteilt sind oder ob wenige Personen der nicht mehr stattfindet oder nicht mehr beachtet sehr viel bekommen und die meisten sehr wenig. wird. Postwachstum wird in der Zivilgesellschaft HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
6 | VORSORGEORIENTIERTES POSTWACHSTUM intensiv diskutiert, hat aber nur einen überschaubaren heraus darf daher nicht damit geplant werden, dass diese Einfluss an den Universitäten und praktisch keine Wir- Entkopplung möglich ist. kung im Regierungshandeln, wo man aus den Entschei- dungen, die dort getroffen werden, einen impliziten Die Gruppe richtet gemeinsam drei Forderungen an die „Wachstumsvorbehalt“ ablesen kann, wie etwa bei der Politik: konstanten Weigerung, umweltschädliche Subventionen abzubauen. 1. „Die Einhaltung der planetaren Grenzen erfordert Tatsächlich wird das Paradigma des ewigen Wachstums eine Anpassung der ökonomischen Rahmenbedingun- immer noch von einer großen Zahl von Ökonom:innen gen, insbesondere durch den entschlossenen Einsatz vertreten. Diese sind häufig auch nicht bereit, mit den von (marktbasierten) Instrumenten zur Internalisierung Anhänger:innen des Postwachstums auch nur zu disku- umweltschädlicher externer Effekte“, d.h., Preise müssen tieren. – soweit möglich – die ökologische Wahrheit sagen. In dieser Situation hat das Umweltbundesamt vor einigen 2. „Durch partizipative Suchprozesse, Experimentier- Jahren einen gemeinsamen Forschungsauftrag an zwei räume und neue innovations- und forschungspolitische Wirtschaftsforschungsinstitute vergeben, ein der herr- Ansätze sollten neue Pfade der gesellschaftlichen Ent- schenden Lehre folgendes und ein ökologisch orientiertes wicklung ausgelotet und erschlossen werden“, d.h., wir Institut. Durch diese Konstellation sind die Ergebnisse müssen offen für neue Ansätze des Wirtschaftens sein. besonders vertrauenswürdig. 3. „Potenziale für eine wachstumsunabhängigere Vorsorgeorientiertes Postwachstum Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen sollten iden- Die Arbeitsgruppe hat eine umfangreiche Literatur- tifiziert und nutzbar gemacht werden“, d.h., gesellschaft- analyse durchgeführt und hat damit die Positionen der liche Institutionen müssen so umgebaut werden, dass sie beiden Lager (grünes Wachstum [GW], Postwachstum dauerndes Wachstum nicht voraussetzen und dass es bei [PW]) konkretisiert. Es geht um zwei Fragestellungen, bei Aussetzen von Wachstum nicht zu krisenhaften Situationen denen unterschiedliche Einstellungen bzgl. zukünftiger kommt. Entwicklungen bestehen: Schlussfolgerungen aus dem Gutachten 1. Eine hinreichende (d.h. mit den planetaren Grenzen Was folgt aus alledem? Wenn wir ein gesundes Leben für kompatible) Entkopplung zwischen Wirtschaftsleistung uns und unsere Nachkommen sichern wollen, dann ist und Ressourcenverbrauch wird gelingen. es mit kleinen Reformen nicht getan. Wir müssen radikal GW: ja; PW: nein denken, d.h. auf die Wurzeln der Probleme eingehen und Lösungen suchen, die der Größe der Herausforderung 2. Höhere Lebensqualität ist auch bei geringerem BIP angemessen sind. Wir werden unvoreingenommen sein möglich. müssen und viele eingeübte Praktiken und Routinen GW: nein; PW: ja aufgeben müssen. Wir werden „unsere Welt neu denken“ müssen (Maja Göpel). Wir benötigen nicht weniger als Die Analyse ergab, dass sich keine der Positionen aus der eine sozialökologische Transformation! vorhandenen Literatur empirisch belegen lässt. Die Grup- pe hat daraufhin eine gemeinsame Position erarbeitet, Eine sehr gute Illustration, wie eine zukünftige Welt die sogenannte vorsorgeorientierte Postwachstumsposi- geplant werden könnte, ist der Donut nach Kate Raworth. tion, die besagt, dass es ungewiss ist, ob eine ausreichende Nach außen sind die planetaren Grenzen eingezeichnet, Entkopplung möglich sein wird. Aus Vorsorgeerwägungen die wir als Weltgemeinschaft keinesfalls auf Dauer HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
7 Quelle: Kate Raworth, Donut-Ökonomie plus eigene Darstellung https://doughnuteconomics.org/tools-and-stories/65 überschreiten dürfen, und zwar keine davon! Anmerkung: Fazit Der rote Ring, der diese absolute Grenze symbolisieren Wir werden nicht umhinkommen, uns von der Idee zu soll, ist nicht Teil der Originalgrafik. Nach innen sind die verabschieden, dass es eine Trennung zwischen Mensch sozialen Grundbedürfnisse eingezeichnet, die weltweit und Natur gibt und dass der Mensch die Natur beliebig für jedes Individuum zu garantieren sind. Klar ist, dass ausbeuten kann. Der Mensch ist der Teil der Mitwelt und sich die Definition der sozialen Grundbedürfnisse an dem kann ohne Beachtung der Belastungsgrenzen der Mitwelt orientieren muss, was für die Menschheit hochgerechnet nicht gesund leben und im Extremfall gar nicht mehr exis- noch innerhalb der planetaren Grenzen bleibt. tieren. Das wusste schon Johann Wolfgang von Goethe („Die Natur hat immer recht“) und wurde von Harald Ein gutes Beispiel für die Anwendung des Donuts ist die Lesch („Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln“) noch Ernährung. Für ein gutes Leben benötigen Menschen – einmal verstärkt. Entweder wir erkennen und beachten je nach körperlichem Aktivitätslevel – etwa 2.000 bis die Grenzen der Mitwelt oder – wie von Wolfgang 3.000 kcal pro Tag an gesunder Nahrung. Gleichzeitig Schäuble in einem anderen Zusammenhang formuliert – wissen wir, dass das weltweite Ernährungssystem in „Isch over!“. Aber es gibt noch keinen Anlass zu Defätis- erheblichem Umfang zur Überschreitung der planetaren mus. Wir müssen nur den Willen, den wir zur Rettung der Grenzen beiträgt. Die Lösung dieses Problems kann Wirtschaft aufbringen, auch zur Rettung der natürlichen – neben einem Abbau der Lebensmittelverschwendung – Lebensgrundlagen aufbringen. Frei nach Mario Draghi: nur darin bestehen, den Anteil der besonders ressourcen- We are ready to do whatever it takes to preserve a good intensiven Fleischerzeugung so weit zu senken, bis das life for all in the future! gesamte Ernährungssystem innerhalb der planetaren Grenzen bleibt. Autor und Literatur: Dr. Wolfgang Lührsen, wolfgang.luehrsen@bund-hamburg.de, www.bund-hamburg.de HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
8 | PLANETARE GESUNDHEIT Planetary Health Ein nachhaltiges Gesundheitskonzept für Gegenwart und Zukunft Sophie Gepp, Laura Jung Pandemie, Hitzesommer, Flutkatastrophen: Unsere dem Planetary-Health-Prinzip steht dagegen im Einklang Umwelt gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der – und das hat ganz reale Folgen für unsere Gesund- Vereinten Nationen (UN). heit. Planetary Health bietet eine ganzheitliche Perspektive auf die Herausforderungen unserer Ein transdisziplinäres Feld mit Zukunftspotenzial Zeit und zeigt auf, wie nachhaltige Lösungen aus- Planetary Health als wertebasiertes und an Nachhaltig- sehen können. Denn eins ist sicher: Gesunde Men- keit orientiertes Gesundheitsnarrativ steht für eine schen gibt es nur auf einem gesunden Planeten. inter- und transdisziplinäre Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen und innerhalb von Ökosystemen Planetare Grenzen achten und damit für ein menschliches Leben innerhalb der Wie stark Umwelt- und Klimaveränderung auch in planetaren Grenzen. Deutschland Gesundheit und Wohlergehen einer*s jeden Einzelnen beeinflusst, lässt sich mittlerweile nicht mehr Das ist notwendig, denn einseitige Betrachtungen von wegdiskutieren. Nach Dürre- und Hitzesommern kämpften Umweltveränderungen führen immer wieder zu unange- in diesem Jahr weite Teile des Landes mit den Wasser- nehmen Überraschungen. So gibt es neben den direkten, massen. Dazu kommen Waldsterben, Grundwasser- oft leicht verständlichen Gesundheitsfolgen, wie etwa verschmutzung und neue Infektionserkrankungen wie Dehydrierung älterer Menschen während Hitzewellen, das West-Nil-Fieber in Ostdeutschland. Die Diagnose ist auch häufig indirekte Folgen, welche zeitlich oder räum- offensichtlich: Unsere Umwelt leidet, und wir leiden mit. lich getrennt von der Ursache auftreten. Der Komplexität Höchste Zeit, unser Verständnis von Gesundheit zu hin- der interagierenden Systeme kann daher nur durch eine terfragen und die oft gelebte Trennung von Mensch und inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Umwelt zu überdenken. Planetary Health oder planetare Expert*innen aus Bereichen wie Gesundheit, Umwelt, Gesundheit beschreibt ein Konzept, welches menschliche Soziologie, Stadtplanung und vielem mehr gegenüber- Gesundheit in Zusammenhang mit den politischen, öko- getreten werden. Im kontinuierlichen Austausch kann so nomischen und sozialen Systemen sowie den natürlichen eine holistische Perspektive auf menschliche Gesundheit Systemen unseres Planeten stellt. Es erkennt die tief- im Einklang mit unserer Umwelt entwickelt werden. greifenden Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten, Beispielhaft für ein solches Herangehen sind indigene vor allem seit der Industrialisierung, auf unsere Umwelt Völker überall auf der Welt, die seit Hunderten von Jahren an und fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen gemeinsam mit der Natur leben und unter deren Schutz und planetare Grenzen anzuerkennen. Denn die stetig bis zu 80 % der noch erhaltenen Biodiversität unseres steigende Konzentration an Treibhausgasen in unserer Planeten steht. Doch auch direkt vor unserer Haustür gibt Atmosphäre, die zunehmende Nutzung der verfügbaren es ein großes Potenzial für Planetary Health. Fläche und der ungebremste Abbau natürlicher Rohstoffe führen immer mehr dazu, dass die natürlichen Grenzen Planetare Gesundheit in der Stadt unserer Ökosysteme überschritten werden – beispiels- Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits heute weise in Form des Klimawandels, aber auch der Biodiver- in Städten, Tendenz steigend. So prägt die zunehmende sitätskrise. Eine Achtung dieser planetaren Grenzen nach Verstädterung entscheidend das Gesicht unserer Umwelt HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
9 Der Klimawandel schadet der Gesundheit von Mensch und Planeten und nimmt eine zentrale Rolle im Planetary-Health- Es geht aber auch anders – aufgrund ihrer dynamischen Konzept ein. Struktur haben Städte das Potenzial, ihren ökologischen Urbane Lebensräume stehen oft für Beton statt Biodiver- Fußabdruck erheblich zu verringern, klimaresilienter zu sität, dazu kommen schlechte Luftqualität, erhöhtes werden und gleichzeitig Gesundheit zu verbessern. Durch Müllaufkommen und ein Großteil der klimaschädlichen gezielte sektorübergreifende Maßnahmen können sie so Emissionen. Dabei setzen die Folgen der Klimaveränderun- zu Vorreitern für Planetary Health werden. Ausbau von gen Städten auch besonders zu. Im Sommer verwandeln ÖPNV, Rad- und Fußwegen etwa, trägt zur Reduktion von sie sich zunehmend in sogenannte Hitzeinseln, Emissionen, Lärm und Luftverschmutzung bei und fördert welche sich stärker erwärmen als das Umland. In gleichzeitig aktive Mobilität im Alltag. Gründächer, Park- Hamburg nahmen in den letzten Jahrzehnten sowohl und Wasseranlagen können der zu starken Erhitzung im die Anzahl der heißen Tage als auch der Tropennächte Sommer entgegenwirken. Netzwerke wie C40 Cities oder deutlich zu. Daraus folgt oft eine erhöhte Morbidität und 100 Resilient Cities bieten dabei Austausch- und Entwick- Mortalität – vor allem in Risikogruppen mit Vorerkran- lungsplattformen auf dem Weg zu nachhaltigen Städten. kungen oder hohem Alter. Zudem richten Extremwetter- ereignisse wie Stürme und Überflutungen in Städten Hoffnung durch Handeln häufig große Zerstörung an. Dies besorgt immer mehr Nachhaltige Planung in Städten ist dabei ein Beispiel für auch die Bewohner*innen. So nahmen 2021 fast drei die vielen Bereiche, in denen transformatives Handeln für Viertel der befragten Hamburger*innen den Klimawandel eine gesunde Zukunft möglich ist. Denn trotz Flutkatas- als eine starke Bedrohung wahr. trophen, Hitzesommern und Artensterben – Planetary HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
10 | PLANETARE GESUNDHEIT Aufgrund ihrer dynamischen Struktur haben Health will Lösungswege aufzeigen. Und Hoffnung ist Städte das Potenzial, nicht unberechtigt: Menschen weltweit mobilisieren für eine lebenswerte Zukunft, ganze Industrien orientieren ihren ökologischen sich um und Gerichte sprechen wegweisende Urteile für den Planeten. Fußabdruck Auch Mitarbeitende im Gesundheitssektor und in der öffentlichen Gesundheit spielen für die gesellschaftliche erheblich zu Transformation eine zentrale Rolle. Sie erleben nicht nur zunehmend die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise verringern, hautnah an ihren Patient*innen, sondern können sich durch gute Kommunikation, Prävention und Gestaltung von nachhaltigen Lebensräumen auch aktiv für Planetary klimaresilienter zu Health einsetzen. werden und Seit 2017 widmet sich daher die Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), ein Zusammen- gleichzeitig schluss von Organisationen und Einzelpersonen aus dem Gesundheitsbereich, der Sicherung von Gesundheit und Lebensgrundlagen gegenwärtiger und künftiger Genera- Gesundheit zu tionen. Dabei unterstreicht sie nicht nur die Folgen der Klimakrise für die Gesundheit, sondern betont auch die verbessern. gesundheitlichen Chancen, die sich durch Klimaschutz- maßnahmen ergeben. Mit Health for Future gründete sich 2019 zudem eine Aktionsplattform für Gesundheits- berufe, die in Form von über 60 Lokalgruppen an Klima- streiks teilnimmt, Austausch vor Ort ermöglicht und erfolgreich lokale Entscheidungsprozesse beeinflusst. Gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten – so lässt sich die Vision von Planetary Health zusammen- fassen. Sie will Hoffnung geben, zum Handeln anregen und macht auf die Verantwortung aufmerksam, die wir für unsere Umwelt tragen. Wer eine gesunde Zukunft will, sollte schon heute nach den Planetary-Health-Prinzipien handeln. Autor*innen und Literatur (Quellen auf Nachfrage): Sophie Gepp und Laura Jung, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), sophie.gepp@klimawandel-gesundheit.de, laura.jung@klimawandel-gesundheit.de, www.klimawandel-gesundheit.de HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
11 Klimawandel und Gesundheit Zentrale Ergebnisse aus dem Versorgungs-Report „Klima und Gesundheit“ Caroline Schmuker Die zu beobachtenden Klimaveränderungen haben Fachbeiträge reichen von der Darstellung der globalen erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesundheit Bedeutung des Klimawandels für die Gesundheit bis und unser Wohlbefinden. Eine direkte gesundheitli- hin zu konkreten gesundheitlichen Auswirkungen und che Gefährdung stellen zunehmende Extremwetter- den damit einhergehenden Herausforderungen und eignisse wie Hitze oder Unwetter dar. Andere Handlungsbedarfen für die medizinische Versorgung in Gesundheitsgefahren sind weniger sichtbar. Bei- Deutschland. spielsweise wenn mit dem Klimawandel Belastun- Im Folgenden werden exemplarisch zwei Forschungs- gen durch Luftschadstoffe, UV-Strahlung, Allergene arbeiten aus dem Versorgungs-Report vorgestellt, die oder Infektionserkrankungen zunehmen. Es ist sich datenbasiert mit den gesundheitlichen Folgen des mehr Aufklärung zu den gesundheitlichen Risiken Klimawandels befassen: des Klimawandels in der Bevölkerung notwendig. Hitzebedingte Krankenhauseinweisungen Planetare Grenzen achten Am Beispiel der zunehmenden Hitzeperioden hat das Der Versorgungs-Report „Klima und Gesundheit“ des Klimaforschungsinstitut Mercator Research Institute on Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) nimmt die Global Commons and Climate Change (MCC) untersucht, Gesundheitsfolgen des Klimawandels in den Blick. Die wie viele Krankenhauseinweisungen in den Jahren 2008 bis 2018 auf die Hitze zurückzuführen waren (Klauber und Koch 2021). Den Modellrechnungen nach ist jede*r vierte AOK-Versicherte über 65 Jahre überdurchschnitt- lich gefährdet, an heißen Tagen gesundheitliche Pro- bleme zu bekommen und deshalb ins Krankenhaus zu müssen. An Tagen mit über 30 Grad Celsius kam es hitzebedingt zu drei Prozent mehr Krankenhauseinwei- sungen in dieser Altersgruppe. Wenn die Erderwärmung ungebremst voranschreitet, dann könnte sich bis zum Zum Versorgungs-Report Kostenloser Download: https://www.wido.de/publikationen-produkte/buch reihen/versorgungs-report/ Hitzekarten Unter https://mcc-berlin.shinyapps.io/Hitze_Hospitalisie rung/ können interaktive Hitzekarten aufgerufen werden. Hitze in der Stadt: Gewässer und Grünflächen helfen, Temperaturen zu senken HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
12 | VERSORGUNGSREPORT Jahr 2100 die Zahl der hitzebedingten Klinikeinweisun- geeignete Schutzmaßnahmen im Alltag ist. Hierfür wur- gen versechsfachen. Die Studie zeigt zudem, dass es den 3006 Personen zwischen 18 und 86 Jahren über ein große Unterschiede in der regionalen Anfälligkeit gegen- Onlinepanel zu ihrem Erleben von Gesundheitsbelastun- über gesundheitlichen Hitzeschäden gibt, was im Rahmen gen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und ihrem von lokalen Anpassungsstrategien und Schutzprogrammen Schutzverhalten im Alltag befragt. berücksichtigt werden muss. Zur Veranschaulichung der regionalen Betroffenheit stehen interaktive Hitzekarten Mehr Aufklärung zu gesundheitlichen Risiken für Deutschland zur Verfügung (siehe Infokasten). Die des Klimawandels notwendig Karten zeigen, welche Landkreise besonders von Kranken- Die Befragungsergebnisse machten deutlich, dass die hauseinweisungen in der älteren Bevölkerung bei Hitze gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels vielen betroffen sind und wie sich die regionale Betroffenheit Menschen erhebliche Sorgen bereiten. Mehr als die in Zukunft weiterentwickelt, wenn keine Maßnahmen zur Hälfte der Befragten (52 Prozent) zeigte sich mit Blick auf Reduktion der CO₂-Emissionen greifen. die eigene Gesundheit „ziemlich“ oder „sehr“ besorgt wegen der zunehmenden Hitzeperioden. Andere Risiken, Bewusstsein für die gesundheitlichen Risiken wie zunehmende Belastungen durch UV-Strahlung oder des Klimawandels in der Bevölkerung stärken Luftverschmutzung wurden allerdings von den Befragten Die zweite Studie – eine Befragung des Wissenschaft als weniger besorgniserregend eingestuft. Möglicher- lichen Institut der AOK (WIdO) – hat sich tiefergehend weise werden hier die Gesundheitsgefahren durch den mit der Wahrnehmung des Themas „Klimawandel und Klimawandel noch unterschätzt. Gesundheit“ in der Öffentlichkeit befasst (Schmuker et Viele Befragte fühlten sich zudem nicht ausreichend al. 2021). Ziel der Befragung war zu untersuchen, welche über die gesundheitlichen Auswirkungen des Klima- Bedeutung der Klimawandel im Gesundheitsbewusstsein wandels informiert. Bei Umweltereignissen wie Hitze der Menschen hat und wie verbreitet das Wissen um oder Unwettern signalisierte immerhin ein Drittel der Klimawandel und Gesundheit: Informationsstand in der Bevölkerung Wie gut fühlen Sie sich über den Klimawandel und seine 69 Auswirkungen auf die Gesundheit informiert? Informationsstand nach Einzelthemen Hitzeperioden 72 Unwetter und Überschwemmungen 71 UV-Strahlung 66 Insekten (z. B. Zecken, Stechmücken), 65 die Krankheitserreger übertragen Schadstoffe (z.B. Feinstaub, Ozon) in der Atemluft 59 Pollenflug 53 Belastung von Lebensmiteln mit Krankheiterregern 50 Belastung von Gewässern mit Krankheitserregern 47 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Anteil (%) ich weiß ich weiß umfassend darüber Bescheid kaum etwas darüber Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK ich weiß einiges darüber ich weiß nichts darüber HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
13 Befragten klaren Informationsbedarf (Abbildung). Noch besteht. Kenntnisse über gesundheitliche Risiken und deutlicher zeigen sich Informationsdefizite bei indirekten geeignete Schutzmaßnahmen müssen noch stärker Folgen des Klimawandels, wie erhöhte Belastungen durch Verbreitung finden, gerade auch mit Blick auf ältere Luftverschmutzung, Pollenallergene oder durch Wasser Menschen und vulnerable Gruppen (z.B. Menschen mit und Lebensmittel übertragene Krankheitserreger. 40 bis Vorerkrankungen), die besonders gefährdet sind. 50 Prozent der Befragten fühlen sich über diese Themen nicht ausreichend informiert. Konsequenzen für Gesundheitsversorgung Bei Betrachtung des individuellen Anpassungsverhal- und Prävention tens kam die Befragung zu unterschiedlichen Ergebnis- Die Auswirkungen des Klimawandels erfordern konkrete sen: Während die meisten Befragten ihr Verhalten bei Anpassungsstrategien im Bereich der gesundheitliche hoher Hitzebelastung anpassen und beispielsweise auf Vorsorge und Prävention (Bundesregierung 2020). ausreichend Flüssigkeit achten (87 Prozent), werden Vor dem Hintergrund des weiteren Fortschreitens des Schutzmaßnahmen bei erhöhter UV-Strahlung oder Luft- Klimawandels scheint dies umso mehr geboten. Es sind verschmutzung vergleichsweise seltener umgesetzt. Ein gleichzeitig Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und des gutes Sonnenschutzmittel verwenden weniger als die Klimas notwendig, wie auch Präventionsmaßnahmen zum Hälfte der Befragten (46 Prozent) zum UV-Schutz. Noch Schutz vor Erkrankungen und Todesfällen im Zusammen- weniger (32 Prozent) schützen sich mit hautbedecken- hang mit dem Klimawandel. der Kleidung. Weniger als ein Drittel der Befragten (29 Prozent) achtet darauf, bei erhöhter Belastung der Atemluft (z.B. mit Feinstaub oder Ozon) körperliche Belastungen und Sport zu vermeiden. In der Zusammenfassung zeigen die Befragungsergebnisse, Autorin und Literatur: Caroline Schmuker, Wissenschaftliches das noch deutlicher Informationsbedarf zu den gesund- Institut der AOK, caroline.schmuker@wido.bv.aok.de, heitlichen Risiken des Klimawandels in der Gesellschaft https://www.wido.de/ HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
14 | PSYCHISCHE GESUNDHEIT Klimaschutz ist Gesundheitsschutz Warum der Erhalt von Natur auch der Psyche dient Gerhard Reese Die Klimakrise hat auch Europa erreicht. Wälder unser Alltagshandeln und unsere Konsumgewohnheiten brennen, Überschwemmungen entziehen Menschen haben wir oft selbst in der Hand. Natürlich nicht immer, ihre Lebensgrundlage und Stürme verwüsten Natur denn wirtschaftliche oder politische Rahmenbedingungen und urbane Räume. So abgedroschen es klingt: Es leiten unser Verhalten. So ist es in vielen Lebensbereichen wirkt, als sägten wir am eigenen Überlebensast. (z.B. Ernährung, Mobilität) aufgrund fehlgeleiteter Neben solchen existenziellen Gründen für Klima- Subventionen weiterhin einfacher und günstiger, sich und Naturschutz sind naturnahe Umgebungen aber klimaschädlich zu verhalten. auch für unser Wohlbefinden enorm wichtig. Natur hilft uns, uns zu erholen und besser mit körper- Es gibt viele Wege, uns zu Klimaschutz zu motivieren, lichen und mentalen Stresszuständen umzugehen. doch es gibt keine „Eine für alle“-Lösung. Da ist eine der Liegt hier vielleicht ein weiterer Schlüssel, schönsten Seiten der Menschheit – ihre Vielfalt – gleich- Menschen zu mehr Klimaschutz zu motivieren? zeitig ein Hemmnis. Ein Schlüssel könnte tatsächlich eine eher egoistische Motivation sein: Wenn wir wissen und Klimaschutz ist Gesundheitsschutz erleben, wie wichtig eine intakte Natur für unser eigenes Es ist nicht erst seit den Hitzesommern, Überschwem- Wohlbefinden ist, vielleicht sind wir dann auch eher mungen und Dürreperioden der letzten Jahre offen- bereit, sie zu bewahren? sichtlich, dass die Klimakrise mehr und mehr unseren Alltag bestimmen wird. Ja, natürlich: Diese Phäno- Natur ist gut für die Psyche mene hat es schon immer gegeben, aber nahezu alle Den meisten Leser*innen wird es trivial vorkommen: Klimawissenschaftler*innen weltweit kommen zu der Ein Aufenthalt im Wald oder ein Spaziergang im Stadt- drastischen Annahme, dass der menschgemachte Klima- park sind erholsam, sie reduzieren unseren Stresslevel, wandel in Zukunft solche Extremereignisse in ihrer Puls und Blutdruck sinken. Das liegt einmal daran, dass Häufigkeit und Stärke befeuern wird – weltweit. Als wir – vermutlich evolutionär bedingt – Natur als etwas Verursacher*innen für diesen Schlamassel müssen wir Positives erleben und diese daraus entstehende positive auf vielen Ebenen aktiv werden: Jede und jeder Einzelne Stimmung unser Wohlbefinden steigert. Zudem scheint kann etwas beitragen, aber das alleine genügt nicht. Wir es daran zu liegen, dass Natur für uns einfacher und brauchen eine Politik, die Klimaschutz fördert und von flüssiger zu verarbeiten ist – die Wahrnehmung von Natur Unternehmen und Bürger*innen einfordert. Wir brauchen gleicht also einer Art Flow, der unsere Stimmung und einen gesellschaftlichen Wandel – eine Transformation – damit unser Wohlbefinden steigert. Schließlich nehmen hin zu einem Wirtschaftssystem, das Klimaschutz als Kern Theorien der Naturerholung an, dass unser naturferner politischen Handelns begreift und sozial gerecht gestaltet Alltag Stress auslöst und unsere Aufmerksamkeitsspanne wird. senkt – ein Aufenthalt in der Natur wirkt dann als „Lade- vorgang“, um die leeren Aufmerksamkeitsspeicher wieder Das ist natürlich alles nicht einfach. Geschweige denn aufzufüllen (für einen Überblick siehe Menzel & Reese, wünschenswert für jene, die am Status quo nichts ändern 2021). So lösen bestimmte Umgebungen – Berge, Seen, möchten. Folglich bedarf es Anstrengungen auf vielerlei aber auch Wiesen oder im Wind wehende Blätter – ein Ebenen unserer Gesellschaft – auf politischer Ebene Gefühl von Faszination oder auch „being away“ – sich genauso wie auf der Ebene des Wirtschaftens als auch gehen lassen – aus. auf individueller Ebene. Die politische Ebene können wir als Wähler*innen verändern. Diese Ebene wiederum kann Empirische Belege für die gesundheitsfördernde Natur der Wirtschaft klare Rahmen für Klimaschutz setzen. Und gibt es viele. So zeigen Menschen nach einem Spaziergang HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
15 Naturerleben stärkt das persönliche Wohlbefinden und kann motivieren, Umwelt und Natur zu schützen oder Aufenthalt im Wald messbar geringere Cortisol-Level umweltbewusster zu verhalten. Dies lässt sich dadurch im Blut – ein Indikator für verringerten Stress. Andere erklären, dass stärkere Naturerfahrungen mit einer Studien zeigen, dass Naturaufenthalte gegen Depres- höheren Naturverbundenheit einhergehen (Pensini et al., sionen und andere psychische Dysfunktionen helfen 2016) – und diese Naturverbundenheit scheint einer der können, unser Arbeitsgedächtnis verbessern, Symptome stärksten Prädiktoren für Umweltverhalten zu sein (Tam, von ADHS verringern oder unser Immunsystem stärken 2013). Daraus folgt, dass Menschen konkrete Naturerfah- (für Übersichten siehe Bratman et al., 2012; Frumkin rungen ermöglicht werden sollten – sowohl als Teil von et al., 2017). Studien aus Melbourne (Lim et al., 2018) Krankheitsprävention und Rehabilitation, aber auch um oder auch New York (Plunz et al., 2019) zeigten, dass klarzumachen, was es zu bewahren gilt. Dann wird die Menschen mehr positive und weniger negativ gestimmte zunächst egoistische Motivation, die eigene Gesundheit Tweets absetzen, wenn sie sich in Parks befanden, im zu schützen, zu einer intergenerationalen Motivation. Der Vergleich zu Menschen, die sich in bebauten Stadt- Wunsch, den Nachkommen eine intakte Welt zu hinter- bereichen aufhielten. Damit ist Naturerleben gerade im lassen, ist dann vielleicht doch stärker als der Wunsch, urbanen Bereich auch eine Gerechtigkeitsfrage, sind es mit dem Flieger oder dem 2,5-Tonnen-SUV in den nächsten doch meistens die hochpreisigen Wohngegenden, die sich Urlaub zu düsen. nahe an ruhigen Stadtparks oder kühlenden Grünflächen befinden. Naturerleben gleich Klimaschutz? Wenn Natur derart wichtig für unser Wohlbefinden ist – sollte das uns dann nicht motivieren, Natur und Umwelt zu schützen, allein schon um unser selbst willen? Tatsächlich gibt es hierzu wenig belastbare Forschung, Autor und Literatur: Prof. Dr. Gerhard Reese, aber doch einige Hinweise. Menschen, die viel Zeit in der Universität Koblenz-Landau, reese@uni-landau.de, Natur verbringen, berichten eine stärkere Tendenz, sich https://www.uni-koblenz-landau.de HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
16 | HITZESTRESS Gesundheitliche Auswirkungen von Hitzestress in der Stadt Vulnerable Gruppen und Lösungsansätze Antje Katzschner Hitzewellen sind eine der am meisten erfahrbaren Diese wiederum ist besonders in den Städten relevant. Auswirkungen des Klimawandels. In den letzten Angesichts einer erwarteten deutlichen Zunahme von Jahren gab es einen erheblichen Anstieg von Hitze- extremen Hitzeperioden im Sommer wird insbesondere in Extremen während der Sommermonate. Laut dem Städten der Hitzestress für Menschen ansteigen, intensiver Deutschen Wetterdienst (DWD) waren die drei werden und länger andauern. Ausschlaggebend dafür heißesten Sommer der Messgeschichte sämtlich in sind zusätzlich zu den Auswirkungen des Klimawandels den 2000er-Jahren: In Deutschland die Sommer die Phänomene des Stadtklimas, die sich unter dem 2003, 2018 und 2019. Begriff der urbanen Wärmeinsel zusammenfassen lassen. Damit Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden und vor allem Für die Gesundheit der Menschen besonders relevant sind die Gesundheit von Menschen in Städten auch zukünftig dabei die Dauer und Häufigkeit der Hitzewellen und die gesichert sind, muss die Stadtplanung schon heute städte- damit verbundene geringere Abkühlung in den Nächten. bauliche Planungen so optimieren, dass die durch Hitze ausgelösten Belastungen auch unter extremen Hitzebe- dingungen sowohl im Freien als auch in den Innenräumen auf ein erträgliches Maß reduziert werden. Soziale Unterschiede in der Exposition Um vor allem dem Kontext der Städte gerecht zu werden, müssen hier soziale Unterschiede in der Exposition und Betroffenheit mit einbezogen werden. Basierend auf dieser Aussage lassen sich die Gruppe der älteren Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen und chro- nisch Kranke als eine Risikogruppe definieren, da sie z.B. körperlich nicht mehr auf extreme Hitze reagieren können und möglicherweise auf Hilfe angewiesen sind, jedoch nicht notwendigerweise auf diese zurückgreifen können. Zum Beispiel wohnen ältere Menschen häufig in den innenstadtnahen Risikogebieten, sind aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität jedoch nicht in der Lage, sich während einer Hitzewelle entsprechend zu versorgen, indem sie beispielsweise eine entsprechende Kühlung ihrer Wohnung veranlassen. Häufig ist das aufgrund der bestehenden baulichen Struktur auch gar nicht möglich. Fassadenbegrünungen sind eine natürliche Klimaanlage und tragen zu einem gesün- deren Gebäudeumfeld bei HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
17 Warnsysteme gesetzliche Verpflichtung, sich an die stadtklimatischen In einigen Bundesländern wurden bereits, ausgehend Empfehlungen bei der Planung zu halten. vom DWD, Hitzewarnsysteme eingerichtet. Dies erfolgte zum Beispiel in Hessen und Niedersachsen. Das hessi- Das Projekt ZURES II sche Sozialministerium (HSM) hat in Zusammenarbeit Mit diesem Thema beschäftigt sich zum Beispiel das vom mit dem DWD, der Heimaufsicht, dem Medizinischen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Dienst der Krankenversicherung sowie den Kostenträgern geförderte Forschungsprojekt „Anwendung und Versteti- gemeinsam mit Akteuren aus der Praxis dieses Hitze- gung der zukunftsorientierten Klima- und Vulnerabilitäts- warnsystem entwickelt. Mit Erlass des HSM vom 22. Juni szenarien in ausgewählten Instrumenten und Planungs- 2004 wurde dies in Hessen eingeführt (Regierungsprä- prozessen – Modellstadt Ludwigsburg“ (ZURES II) unter sidium Gießen 2007). Diese sprechen gezielt Pflege- Leitung der Universität Stuttgart und der Beteiligung einrichtungen an und wenden sich bei längerer Dauer weiterer sechs Partner, davon drei Forschungseinrich- an die Gesundheitsämter und die Öffentlichkeit. Dies tungen, zwei Planungsbüros und der Stadt Ludwigsburg ist insofern problematisch, als es nicht beachtet, dass (www.zures.de). es Bevölkerungsgruppen gibt, die über die gebräuch- lichen Medien von den bestehenden Warnsystemen des Durch eine Erfassung und Bewertung des klimatischen Deutschen Wetterdienstes möglicherweise nicht erreicht Wandels mittels klimatischer Modellierungen und der werden, da sie deutschsprachiges Radio oder Fernsehen zukünftigen Veränderungen sozialer Verwundbarkeit der nicht nutzen. Darüber hinaus können ältere Menschen, Stadt Ludwigsburg wurde erreicht, dass die bisher nicht die alleine leben trotz der Warnungen möglicherweise gemeinsam betrachteten Belange einer klimaorientierten nicht entsprechend reagieren. und sozialen Stadtentwicklung verknüpft werden. Die An- wendung der zukunftsorientierten Klima- und Vulnerabili- Stadtentwicklung: Präventiv planen tätsszenarien zeigte insbesondere, dass die Betrachtung Hier kommt die Stadtplanung ins Spiel, die mit ihren Pla- der sozioökonomischen Belange als sehr herausfordernd nungsprozessen die Möglichkeit hat, frühzeitig das Klima für die Praxis empfunden wird, während die Ergebnisse mit einzubeziehen. Die Erfahrung zeigt, dass im komple- der Klimaanalysen direkt angewendet werden konnten. xen Prozess der Stadtplanung das Klima meist eine sehr Im Dialog mit den Vertreter:innen der Stadt Ludwigsburg geringe Rolle spielt und häufig anderen, meist ökonomi- konnte unter anderem das Instrument der Stadt(teil)- schen Interessen untergeordnet wird (Katzschner, 2008: entwicklungspläne als Schlüsselinstrument für ein Proceedings of the Workshop, Feb. 20th and 21st 2008, Zusammenbringen der beiden Belange erkannt werden. Kassel, Germany). Jedoch besteht hier die Möglichkeit, schon im Flächennutzungsplan Gebiete, die nachweislich Das Projekt ZURES II begleitet daher den Prozess der Ent- dem Stadtklima zuträglich sind, als solche auszuzeichnen wicklung und Fortführung eines Stadtentwicklungsplans und gegebenenfalls nicht oder nur begrenzt für Bauvor- auf gesamtstädtischer sowie Stadtteilebene. Das bedeutet, haben zur Verfügung zu stellen. Somit kann die Stadt- dass eine Integration sozialer Belange sowohl in die planung präventiv eingreifen. Bestandsaufnahme und die derzeitige Zielentwicklung als auch bei konkreten Maßnahmen und Handlungsfeldern Anhand von Klimafunktionskarten, welche für einige beachtet werden. Städte Deutschlands bereits vorliegen, können hitzebe- dingte Risikogebiete frühzeitig erkannt und gekennzeich- Das Ziel der Implementierungsphase bis Juni 2022 ist es net werden. Klimafunktionskarten bilden die thermischen somit, im Dialog mit der Stadt und Bürger:innenbeteili- Bedingungen eines Stadtgebietes, seine Kaltluftströmun- gungsmaßnahmen eine Anpassung an Hitzestress unter gen und -entstehungsgebiete sowie die bioklimatischen der Berücksichtigung verschiedener Vulnerabilitäten zu Bedingungen ab. Um Risikogebiete bezogen auf Hitze so- erreichen. zialdifferenziert zu betrachten, können diese mit sozialen Daten verschnitten werden. Da Klimafunktionskarten für Autorin und Literatur: Antje Katzschner, Ludwig-Maximilians- Städte bisher nicht verpflichtend sind, bestehen lediglich Universität München, Lehr- und Forschungseinheit Mensch- Richtlinien, wie mit diesen umzugehen ist. Es gibt keine Umwelt-Beziehungen, a.katzschner@lmu.de HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
18 | ERNÄHRUNGSPOLITIK Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten Das WBAE-Gutachten Ulrike Arens-Azevêdo Der folgende Beitrag bezieht sich auf das umfang- (siehe Abb. 1). „Nachhaltiger“ wird die Ernährung defi- reiche Gutachten des wissenschaftlichen Beirats niert, weil dieser Zustand sich kontinuierlich an aktuelle für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Gegebenheiten anpassen und neue wissenschaftliche Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium Erkenntnisse aufgreifen muss. für Ernährung und Landwirtschaft. 19 Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen Die vier Dimensionen im Einzelnen haben hierin die Grundsätze von nachhaltiger Ent- Gesundheit ist ein hohes Gut. Eine nachhaltigere wicklung und nachhaltigerer Ernährung bearbeitet, Ernährung soll die Gesundheit fördern und erhalten, die vertiefende Recherchen zu Einflussfaktoren und Lebenserwartung und Lebensqualität steigern. Von einer möglichen Bewertungen durchgeführt und Empfeh- nachhaltigeren Ernährung müssen alle profitieren, unge- lungen zu einer Transformation abgeleitet. achtet ihres jeweiligen sozioökonomischen Hintergrunds. In armutsgefährdeten Haushalten, die heute schon Ein Grundstein der Nachhaltigkeit wurde 2015 in der zwischen 16 und 18 % aller Haushalte ausmachen, kann Agenda 2030 gelegt, indem die Generalversammlung es zu Einschränkungen bei der Lebensmittelauswahl kom- der Vereinten Nationen 17 Ziele, „Sustainable Develop- men und die Aufnahme von wenig gesundheitsfördernden ment Goals (SDGs)“, formulierte, denen 169 Kriterien Lebensmitteln überwiegen. Häufig sind ein schlechterer zur Zielerreichung zugeordnet wurden. Die Europäische Gesundheitszustand, Übergewicht, Adipositas und asso- Union hat 2017 die Agenda 2030 zur Grundlage einer ziierte Erkrankungen die Folge. Dieser Zusammenhang gemeinsamen Erklärung des Rates, des Europäischen konnte im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) Parlaments und der Kommission gemacht und sich darauf und in den Studien zur Gesundheit Erwachsener (DEGS) verständigt, dass nachhaltige Entwicklung einen transfor- nachgewiesen werden. mativen politischen Rahmen bildet, die Armut weltweit zu beseitigen und wirtschaftliche, soziale und ökolo- Umwelt einschließlich Klima beeinflusst unser Leben in gische Dimensionen einschließlich zentraler Aspekte von vielfältiger Weise. In Bezug auf die Ernährung ist hier Governance und der Schaffung friedlicher und inklusiver der CO2-Fußabdruck der gesamten Wertschöpfungs- Gesellschaften zur Zielerreichung zu berücksichtigen. kette – von der Produktion bis hin zum Verzehr und Deutschland hat sich ebenfalls zur Umsetzung der Entsorgung – von Bedeutung. Eine gesundheitsfördernde Agenda 2030 verpflichtet und eine eigene Nachhaltig- Ernährung, die überwiegend aus Gemüse, Obst, Nüssen keitsstrategie entwickelt, die alle zwei Jahre aktualisiert und Hülsenfrüchten besteht und nur kleine Anteile an und deren Zielerreichung regelmäßig überprüft wird. Milchprodukten, Fleisch und Fisch integriert, hat einen deutlich niedrigeren CO2-Fußabdruck als die aktuell Eine nachhaltigere Ernährung ist Teil einer nachhaltigen übliche Ernährungsweise in Deutschland. Daneben spielt Entwicklung, denn die „Art und Weise, wie wir uns ernäh- aber auch die Qualität der Produkte eine wichtige Rolle. ren, beeinflusst wesentlich unsere individuelle Gesund- So fördert der Bio-Landbau die Arten- und Sortenvielfalt, heit, unsere Lebensqualität und unser Wohlbefinden“ die Biodiversität und wirkt sich positiv auf die Nitrat- und (WBAE 2020). Folgerichtig werden in diesem Kontext vier Phosphorbilanz aus. Darüber hinaus wird – ein geschlos- zentrale Zieldimensionen näher beleuchtet: Gesundheit, sener Wirtschaftskreislauf vorausgesetzt – das Tierwohl Soziales, Umwelt einschließlich Klima und Tierwohl gefördert. Regionalität kann positive Auswirkungen HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
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