StadtpunkteTHEMA - Nachhaltige Gesundheitsförderung und Prävention in Zeiten des Klimawandels - Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für ...

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StadtpunkteTHEMA - Nachhaltige Gesundheitsförderung und Prävention in Zeiten des Klimawandels - Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für ...
StadtpunkteTHEMA                                   Liebe Leser*innen,                    Hamburgische Arbeitsgemeinschaft
Informationen zur Gesundheitsförderung | Ausgabe 02die weltweit grassierende
                                                    | November   2021        Corona-Pandemie     hat aufgrund dere.V.
                                                                                          für Gesundheitsförderung persönlichen Zu-
                                                   gangsbeschränkungen bzw. Abstandsempfehlungen zu einem enormen Zuwachs
                                                   an digitaler Kommunikation, webbasierten Informationsangeboten, Austauschfor-
                                                   maten und Planungshilfen bis hin zu unterstützenden Gesundheitsförderungsan-
                                                   geboten geführt. Die Bandbreite digitalisierter Anwendungen wächst sprunghaft,
                                                   in medizinischen Bereichen reichen die Nutzungen von der evidenz­basierten
                                                   Diagnostik über die elektronische Patienten*innenakte bis
                                                   zur robotergestützten Distanz-OP. Mittlerweile gibt es auch in der
                                                   Prävention und Gesundheitsförderung viele Ansätze an digitalen
                                                   Unterstützungen und die steigende Zahl von Erprobungen, Projekten und
                                                   Entwicklungen ist Anlass, hier einige Beispiele aus dem Spektrum der Ideen und
                                                   Umsetzungen vorzustellen.

                                                   Zugleich wird deutlich, dass die gesellschaftlichen Folgen der Digita­lisierung
                                                   kritisch begleitet werden müssen – gerade auch und insbesondere mit Blick auf
                                                   vulnerable Anspruchsgruppen.

                                                   Im Sinne einer gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen sollte nicht (nur)
                                                   die technische Machbarkeit im Auge behalten werden. Es muss vielmehr für
                                                   ausreichende technische Zugangsmöglichkeiten Sorge getragen werden, die
                                                   von finanzierter Ausstattung über verständliche Anwendungssysteme bis hin zu
                                                   ausreichender Kompetenzvermittlung reichen. Für den Erfolg des digitalen Trans-
           Bestellen Sie unseren Newsletter        formationsprozesses ist
                                                   es wichtig, die Partizipation vulnerabler Zielgruppen bei der Bedarfsermittlung,
                         Stadtpunkte AKTUELL“:     Maßnahmenentwicklung und -bewertung zu gewährleisten.
                 newsletter@hag-gesundheit.de
            oder unter www.hag-gesundheit.de.      Der Schutz der Persönlichkeit einschließlich des persönlichen Datenschutzes
                  Er informiert Sie sechs Mal im   muss erhalten bleiben. Die Algorithmisierung von Gesundheitszuständen im
                       Jahr über Aktivitäten und   Abgleich von Lebensqualität mit wirtschaftlichen Kalkülen bedarf dringlich ethi-
           Veranstaltungen der HAG sowie über      scher Erwägungen, Orientierungen
                           gesundheitspolitische   und Entscheidungen.
         Themen und Termine in Hamburg und
                               auf Bundesebene.    Nutzung, Nützlichkeit und Nutzen sind in Einklang zu bringen. –

»
                                                   Die Digitalisierung kann manches Vorhandene verbessern und neue Möglichkei-
                                                   ten eröffnen. Aber nicht alles Digitalisierte ist besser
                                                   als die analogen, unmittelbaren Erfahrungen.

                                                   Wir danken allen Autor*innen für die Beteiligung an dieser Ausgabe, zumal die
                                                   Beiträge unter besonderen Rahmenbedingungen erstellt
                                                   wurden. Wir wünschen Ihnen eine nachdenkliche und anregende
                                                   Lektüre. Bleiben Sie gesund.

Nachhaltige Gesundheitsförderung                   Petra Hofrichter und Team

und Prävention
in Zeiten des Klimawandels
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2             | INHALT

     » 3 		              Editorial

     »        		Thema
                                                                                                                    27
              4          Gesundheit und Wirtschaftswachstum
              		 Wolfgang Lührsen

              8		Planetary Health
              		 Sophie Gepp, Laura Jung

              11         Klimawandel und Gesundheit
              		 Caroline Schmuker

              14
                                                                        11
                         Klimaschutz ist Gesundheitsschutz
              		 Gerhard Reese

              16         Gesundheitliche Auswirkungen
                         von Hitzestress in der Stadt
                         Antje Katzschner

              18 Eine integrierte Ernährungspolitik

                 entwickeln und faire Ernährungs-
                 umgebungen gestalten                           29
                                                                 „KlimaGESUND“: Bildungsmodul
              		 Ulrike Arens-Azevêdo                            in Gesundheitswissenschaften und

              21		 Wege zu einer gesundheitsför-
                                                                 Public Health

              		   dernden und nachhaltigeren
                                                                        Walter Leal, Juliane Bönecke, Derya Taser

              		   Schulverpflegung                             32 Klimaschutz in der Sozialen Arbeit
              		 Silke Bornhöft                                 		 stärken!

              24 Raumnahme im Quartier Altona-
                                                                		 Janina Yeung

              		                                                34 Neues Internetportal der BZgA

                 Altstadt – Der KulturEnergieBunker

                 – KEBAP

                                     			                           informiert zum Thema Klimawandel
                         Vera Stadie                               und Gesundheit

              27 Mit mehr Umweltgerechtigkeit zu
                                                                		 Michaela Goecke, Caroline Claren, Tanja Kessel

              		 einer gesunden Stadt beitragen

                                                              » 35
              		 Christa Böhme
              		                                                        Impressum

HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
StadtpunkteTHEMA - Nachhaltige Gesundheitsförderung und Prävention in Zeiten des Klimawandels - Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für ...
3

                                           Editorial

                                           Liebe Leser*innen,
                                           ob die Weltklimakonferenz in Glasgow einmal als der historische Moment be-
                                           trachtet wird, in dem sich die Länder für einen Ausstieg aus den fossilen Ener-
                                           gien, von Kohle, Öl und Gas entschieden haben oder ob diese Konferenz eher als
                                           allgemeines Versagen – als „blah, blah, blah“ (Greta Thunberg) – in Erinnerung

15
                                           bleiben wird, hängt nun von den daraus folgenden Taten aller ab. Eines ist ge-
                                           wiss: der Klimawandel und die dadurch verursachten negativen gesundheitlichen
                                           Folgen wurden und werden durch menschliches Handeln erzeugt. Nur mensch-
                                           liches Handeln kann dazu beitragen, den Klimaschutz zu stärken, die globale
                                           Erwärmung abzumildern und die schädlichen Emissionen zu verringern. Dieser
                                           Veränderungsprozess erfordert globales und nationales Handeln auf allen Ebe-
                                           nen: im politischen Raum durch ambitionierte Ziele und integrierte, strategische
                                           Maßnahmen, in der Wirtschaft durch technologische und betriebliche Innovatio-
                                           nen, im persönlichen Leben durch klimabewusste Mobilität und Ernährung sowie
                                           beim Wohnen.
                                           Klimaschutz und Gesundheit in allen Politikbereichen benötigt Wissen und Ver-
                                           änderungswillen, Bewahrung der Natur und menschen-/klimagerechte Gestaltung
                                           der Lebenswelten.
                                           In dieser StadtpunkteTHEMA-Ausgabe beschäftigen wir uns mit verschiedenen
                                           Facetten des komplexen Themas.
                                           Brauchen wir neue Ansätze des Wirtschaftens? Stellt unser Wirtschaftssystem
                                           eine „systemimmanente Gesundheitsgefährdung“ dar? Und könnte ein vorsorge-
                                           orientiertes Postwachstum ein Zukunftsmodell sein? – Das Konzept der plane-
                                           taren Gesundheit als wertebasiertes, an Nachhaltigkeit ausgerichtetes Gesund-
  Bestellen Sie unseren Newsletter         heitsnarrativ steht für eine inter- und transdisziplinäre Auseinandersetzung mit
                                           den Beziehungen zwischen und innerhalb von Ökosystemen und damit für ein
                 Stadtpunkte AKTUELL“:     menschliches Leben auf der Erde.
         newsletter@hag-gesundheit.de      Zwei Studien aus dem Versorgungs-Report „Klima und Gesundheit“ zu hitze-
    oder unter www.hag-gesundheit.de.      bedingten Krankenhauseinweisungen und zur Wahrnehmung des Themas in der
          Er informiert Sie sechs Mal im   Öffentlichkeit werden vorgestellt.
               Jahr über Aktivitäten und   Ein Beitrag befasst sich damit, warum Naturerleben dem Klimaschutz dienen
   Veranstaltungen der HAG sowie über      könnte, ein weiterer damit, was Hitzestress in der Stadt für vulnerable Gruppen
                   gesundheitspolitische   bedeuten kann.
 Themen und Termine in Hamburg und         In zwei Artikeln zum Thema „Ernährung und Klimawandel“ werden eine integrierte
                       auf Bundesebene.    Ernährungspolitik und faire Ernährungsumgebungen sowie das HAG-Projekt „Lust
                                           auf Zukunft“ zu einer nachhaltigeren Schulverpflegung behandelt.
                                           Mit dem KulturEnergieBunker Altona stellt sich ein innovatives Projekt zukunfts-
                                           orientierter Stadtteilumgestaltung vor, und die Online-Toolbox Umweltgerechtig-
                                           keit unterstützt dabei, lebenswerte und gesunde Umweltverhältnisse für alle
                                           Bevölkerungsgruppen zu schaffen.
                                            „KlimaGESUND“ entwickelt ein Bildungsmodul für Gesundheitswissenschaften
                                           und Public Health zum Klimawandel und zur Klimaanpassung aus Sicht der
                                           Bevölkerungsgesundheit.
                                           Das Internetportal der BZgA informiert über die mit dem Klimawandel
                                           verbundenen Risiken.

                                           Wir danken allen Autor*innen für ihre Beteiligung an dieser Ausgabe und
                                           wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

                                           Das Redaktionsteam

                                                                                       HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
StadtpunkteTHEMA - Nachhaltige Gesundheitsförderung und Prävention in Zeiten des Klimawandels - Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für ...
4             | VORSORGEORIENTIERTES POSTWACHSTUM

              Gesundheit und Wirtschaftswachstum
              Warum unser Wirtschaftssystem uns krank macht
              Wolfgang Lührsen

              „Corpus sanum in terra sana“, so möchte man in             um den Nitratgehalt des Trinkwassers innerhalb der
              Anlehnung an „mens sana in corpore sano“ ausru-            gesetzlichen Grenzen zu halten. Teilweise müssen Brun-
              fen! Einen gesunden Körper kann es nur auf einem           nen wegen zu hohen Nitratgehalts stillgelegt werden.
              gesunden Planeten geben. Aber unser Planet – die           Hauptgrund für diese hohen Werte sind hoher Eintrag von
              Luft, das Wasser, der Boden – ist nicht gesund.            Dünger und Gülle in den Boden.
              Warum das so ist und was wir ändern müssen, in
              Denken und Handeln, beschreibt dieser Beitrag.             Warum lassen wir diese Handlungsweisen zu? Auf der
                                                                         psychologischen Ebene sind wir daran gewöhnt, dass die
              Laut Umweltbundesamt gibt es allein in Deutschland         Erde ein unerschöpfliches Reservoir an Rohstoffen besitzt
              mehr als 40.000 vorzeitige Todesfälle pro Jahr durch       und dass die Erde uns eine unendliche große Müllhalde
              Feinstaub, der wiederum vor allem durch menschliches       zur Verfügung stellt. Das war in der Frühzeit der Mensch-
              Handeln erzeugt wird wie Verbrennen fossiler Kraft-        heit richtig. Seit etwa 50 Jahren ist es das aber nicht
              stoffe, Abrieb von Bremsen und Reifen und indirekt durch   mehr. In den Einheiten des ökologischen Fußabdrucks
              Ammoniakemissionen bei der Tierhaltung.                    übernutzen wir die Erde um 70 %, in Deutschland ver-
              Wasserwerke müssen immer größeren Aufwand treiben,         brauchen wir seitdem sogar „3 Erden“. Obwohl dies weithin

HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
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Perspektivwechsel:
                                                                                                Wir müssen
Um dem Klimawandel zu
begegnen, sind neue                                                                             offen für neue
                                                                                                Ansätze des
Denkmodelle notwendig

                                                                                                Wirtschaftens
                                                                                                sein.
                    bekannt ist, werden keinerlei Maßnahmen getroffen, die       Schon vom „Erfinder“ des BIP, Simon Kuznets, wurde
                    diesen Trend umkehren würden. Die Gründe dafür sind          mehrfach darauf hingewiesen, dass das BIP kein guter
                    weitgehend psychologischer Natur, unser Gehirn ist –         Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft ist.
                    was zu Zeiten der Säbelzahntiger überlebenswichtig war       Obwohl diese Schwächen bekannt sind, haben Politik und
                    – darauf trainiert, auf direkt wahrnehmbare Gefahren zu      Wirtschaft weltweit die stetige Steigerung des BIP als
                    reagieren. Von Jahr zu Jahr dringlicher werdende Appelle     oberstes Ziel.
                    der Klimaforscher:innen werden nicht als unmittelbare        Erwartungsgemäß hat die Konzentration auf die Ent-
                    Gefahr wahrgenommen, auch wenn diese darauf hinwei-          wicklung dieses einen Parameters – neben einer stetig
                    sen, dass es Kipppunkte und Irreversibilitäten im Klima-     steigenden Verschmutzung der Umwelt – zu einer Ver-
                    system gibt, die – einmal in Gang gesetzt – nicht mehr       größerung der Schere zwischen Arm und Reich geführt.
                    angehalten werden können und uns potenziell in eine          Die gesundheitlichen Auswirkungen sind gravierend:
                    Welt bringen, die mit der aktuell vorhandenen Zivilisation   Ein knappes Fünftel der deutschen Bevölkerung lebt in
                    nichts mehr zu tun hat.                                      relativer Armut und hat (bei Geburt) eine um 10 Jahre
                                                                                 niedrigere Lebenserwartung als Menschen an der Spitze
                    Primat der Wirtschaft                                        der Einkommenspyramide.
                    Die Wirtschaft hat einen sehr großen Einfluss auf die        Niemand hat diese Situation prägnanter formuliert als
                    Politik, das kann man an vielen Entscheidungen der           Papst Franziskus 2013 in seinem Schreiben „Evangelii
                    Bundesregierung ablesen, wenn es beispielsweise um           Gaudium“: „Diese Wirtschaft tötet.“
                    die Aufrechterhaltung einer Landwirtschaft geht, die
                    mit großen Mengen von Dünger und Giften operiert, mit
                                                                                 Systemimmanente Gesundheitsgefährdung
                    entsprechenden Auswirkungen auf die Gesundheit der           Wir leben in einem System, in dem Gesundheit wenig
                    Bevölkerung; oder bei der Lebensmittelindustrie, die         und Geld alles zählt. Wenn wir der Gesundheitsförderung
                    die Menge des zugesetzten Zuckers mit vielerlei Namen        und Prävention mehr Raum geben wollen, dann genügt es
                    verschleiert und sich mit Erfolg gegen die „Lebens-          nicht, an einigen Stellrädern zu drehen und Symptome zu
                    mittelampel“ wehrt.                                          kurieren, sondern wir müssen das System grundsätzlich
                                                                                 infrage stellen.
                    Gemessen wird die Wirtschaftsleistung mit dem Brutto-        In der Wissenschaft werden hierzu zwei Ansätze disku-
                    inlandsprodukt, kurz BIP. Das BIP ist definiert als der in   tiert. Zum einen das grüne Wachstum, auch qualitati-
                    Geld gemessene Wert der über den Markt vermittelten          ves Wachstum genannt. Die Idee ist, dass wir unseren
                    Produkte und Dienstleistungen, meist um Inflation berei-     Lebensstil im Wesentlichen beibehalten können. Dies
                    nigt und als prozentuale Veränderung zu einem vorher-        soll durch die sogenannte Entkopplung möglich sein,
                    gehenden Zeitraum angegeben. Damit bildet das BIP aber       d.h. technische Innovationen, die dafür sorgen sollen,
                    nur einen kleinen Teil der Welt ab, nicht berücksichtigt     dass auch bei steigendem BIP die Umweltauswirkungen
                    werden z.B. unentgeltliche Leistungen in der Pflege oder     geringer werden. Dies ist unter anderem die Position der
                    im Ehrenamt. Gänzlich unberücksichtigt bleiben die Schä-     Europäischen Kommission (European Green Deal).
                    den an Ökosystemen, abgebildet werden nur die bezahl-
                    ten „Reparaturmaßnahmen“, wie das Aufräumen nach der         Die Gegenposition dazu ist das Postwachstum (engl.
                    Explosion einer Bohrplattform. Schließlich interessiert      degrowth). Postwachstum bedeutet die Zeit nach dem
                    sich das BIP nicht dafür, ob die Einkommen in der Gesell-    Wachstum, d.h. eine Zeit, in der BIP-Wachstum entwe-
                    schaft gleichmäßig verteilt sind oder ob wenige Personen     der nicht mehr stattfindet oder nicht mehr beachtet
                    sehr viel bekommen und die meisten sehr wenig.               wird. Postwachstum wird in der Zivilgesellschaft

                                                                                                     HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
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6             | VORSORGEORIENTIERTES POSTWACHSTUM

              intensiv diskutiert, hat aber nur einen überschaubaren         heraus darf daher nicht damit geplant werden, dass diese
              Einfluss an den Universitäten und praktisch keine Wir-         Entkopplung möglich ist.
              kung im Regierungshandeln, wo man aus den Entschei-
              dungen, die dort getroffen werden, einen impliziten            Die Gruppe richtet gemeinsam drei Forderungen an die
              „Wachstumsvorbehalt“ ablesen kann, wie etwa bei der            Politik:
              konstanten Weigerung, umweltschädliche Subventionen
              abzubauen.                                                     1.   „Die Einhaltung der planetaren Grenzen erfordert
              Tatsächlich wird das Paradigma des ewigen Wachstums            eine Anpassung der ökonomischen Rahmenbedingun-
              immer noch von einer großen Zahl von Ökonom:innen              gen, insbesondere durch den entschlossenen Einsatz
              vertreten. Diese sind häufig auch nicht bereit, mit den        von (marktbasierten) Instrumenten zur Internalisierung
              Anhänger:innen des Postwachstums auch nur zu disku-            umweltschädlicher externer Effekte“, d.h., Preise müssen
              tieren.                                                        – soweit möglich – die ökologische Wahrheit sagen.

              In dieser Situation hat das Umweltbundesamt vor einigen        2.  „Durch partizipative Suchprozesse, Experimentier-
              Jahren einen gemeinsamen Forschungsauftrag an zwei             räume und neue innovations- und forschungspolitische
              Wirtschaftsforschungsinstitute vergeben, ein der herr-         Ansätze sollten neue Pfade der gesellschaftlichen Ent-
              schenden Lehre folgendes und ein ökologisch orientiertes       wicklung ausgelotet und erschlossen werden“, d.h., wir
              Institut. Durch diese Konstellation sind die Ergebnisse        müssen offen für neue Ansätze des Wirtschaftens sein.
              besonders vertrauenswürdig.
                                                                             3.    „Potenziale für eine wachstumsunabhängigere
              Vorsorgeorientiertes Postwachstum                              Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen sollten iden-
              Die Arbeitsgruppe hat eine umfangreiche Literatur-             tifiziert und nutzbar gemacht werden“, d.h., gesellschaft-
              analyse durchgeführt und hat damit die Positionen der          liche Institutionen müssen so umgebaut werden, dass sie
              beiden Lager (grünes Wachstum [GW], Postwachstum               dauerndes Wachstum nicht voraussetzen und dass es bei
              [PW]) konkretisiert. Es geht um zwei Fragestellungen, bei      Aussetzen von Wachstum nicht zu krisenhaften Situationen
              denen unterschiedliche Einstellungen bzgl. zukünftiger         kommt.
              Entwicklungen bestehen:
                                                                             Schlussfolgerungen aus dem Gutachten
              1.
                  Eine hinreichende (d.h. mit den planetaren Grenzen         Was folgt aus alledem? Wenn wir ein gesundes Leben für
              kompatible) Entkopplung zwischen Wirtschaftsleistung           uns und unsere Nachkommen sichern wollen, dann ist
              und Ressourcenverbrauch wird gelingen.                         es mit kleinen Reformen nicht getan. Wir müssen radikal
              GW: ja; PW: nein                                               denken, d.h. auf die Wurzeln der Probleme eingehen und
                                                                             Lösungen suchen, die der Größe der Herausforderung
              2.
                  Höhere Lebensqualität ist auch bei geringerem BIP          angemessen sind. Wir werden unvoreingenommen sein
              möglich.                                                       müssen und viele eingeübte Praktiken und Routinen
              GW: nein; PW: ja                                               aufgeben müssen. Wir werden „unsere Welt neu denken“
                                                                             müssen (Maja Göpel). Wir benötigen nicht weniger als
              Die Analyse ergab, dass sich keine der Positionen aus der      eine sozialökologische Transformation!
              vorhandenen Literatur empirisch belegen lässt. Die Grup-
              pe hat daraufhin eine gemeinsame Position erarbeitet,          Eine sehr gute Illustration, wie eine zukünftige Welt
              die sogenannte vorsorgeorientierte Postwachstumsposi-          geplant werden könnte, ist der Donut nach Kate Raworth.
              tion, die besagt, dass es ungewiss ist, ob eine ausreichende   Nach außen sind die planetaren Grenzen eingezeichnet,
              Entkopplung möglich sein wird. Aus Vorsorgeerwägungen          die wir als Weltgemeinschaft keinesfalls auf Dauer

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Quelle: Kate Raworth, Donut-Ökonomie plus eigene Darstellung
https://doughnuteconomics.org/tools-and-stories/65

                überschreiten dürfen, und zwar keine davon! Anmerkung:         Fazit
                Der rote Ring, der diese absolute Grenze symbolisieren         Wir werden nicht umhinkommen, uns von der Idee zu
                soll, ist nicht Teil der Originalgrafik. Nach innen sind die   verabschieden, dass es eine Trennung zwischen Mensch
                sozialen Grundbedürfnisse eingezeichnet, die weltweit          und Natur gibt und dass der Mensch die Natur beliebig
                für jedes Individuum zu garantieren sind. Klar ist, dass       ausbeuten kann. Der Mensch ist der Teil der Mitwelt und
                sich die Definition der sozialen Grundbedürfnisse an dem       kann ohne Beachtung der Belastungsgrenzen der Mitwelt
                orientieren muss, was für die Menschheit hochgerechnet         nicht gesund leben und im Extremfall gar nicht mehr exis-
                noch innerhalb der planetaren Grenzen bleibt.                  tieren. Das wusste schon Johann Wolfgang von Goethe
                                                                               („Die Natur hat immer recht“) und wurde von Harald
                Ein gutes Beispiel für die Anwendung des Donuts ist die        Lesch („Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln“) noch
                Ernährung. Für ein gutes Leben benötigen Menschen –            einmal verstärkt. Entweder wir erkennen und beachten
                je nach körperlichem Aktivitätslevel – etwa 2.000 bis          die Grenzen der Mitwelt oder – wie von Wolfgang
                3.000 kcal pro Tag an gesunder Nahrung. Gleichzeitig           Schäuble in einem anderen Zusammenhang formuliert –
                wissen wir, dass das weltweite Ernährungssystem in             „Isch over!“. Aber es gibt noch keinen Anlass zu Defätis-
                erheblichem Umfang zur Überschreitung der planetaren           mus. Wir müssen nur den Willen, den wir zur Rettung der
                Grenzen beiträgt. Die Lösung dieses Problems kann              Wirtschaft aufbringen, auch zur Rettung der natürlichen
                – neben einem Abbau der Lebensmittelverschwendung –            Lebensgrundlagen aufbringen. Frei nach Mario Draghi:
                nur darin bestehen, den Anteil der besonders ressourcen-       We are ready to do whatever it takes to preserve a good
                intensiven Fleischerzeugung so weit zu senken, bis das         life for all in the future!
                gesamte Ernährungssystem innerhalb der planetaren
                Grenzen bleibt.                                                Autor und Literatur: Dr. Wolfgang Lührsen,
                                                                               wolfgang.luehrsen@bund-hamburg.de, www.bund-hamburg.de

                                                                                                   HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
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8             | PLANETARE GESUNDHEIT

              Planetary Health
              Ein nachhaltiges Gesundheitskonzept für Gegenwart und Zukunft
              Sophie Gepp, Laura Jung

              Pandemie, Hitzesommer, Flutkatastrophen: Unsere             dem Planetary-Health-Prinzip steht dagegen im Einklang
              Umwelt gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht               mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der
              – und das hat ganz reale Folgen für unsere Gesund-          Vereinten Nationen (UN).
              heit. Planetary Health bietet eine ganzheitliche
              Perspektive auf die Herausforderungen unserer               Ein transdisziplinäres Feld mit Zukunftspotenzial
              Zeit und zeigt auf, wie nachhaltige Lösungen aus-           Planetary Health als wertebasiertes und an Nachhaltig-
              sehen können. Denn eins ist sicher: Gesunde Men-            keit orientiertes Gesundheitsnarrativ steht für eine
              schen gibt es nur auf einem gesunden Planeten.              inter- und transdisziplinäre Auseinandersetzung mit den
                                                                          Beziehungen zwischen und innerhalb von Ökosystemen
              Planetare Grenzen achten                                    und damit für ein menschliches Leben innerhalb der
              Wie stark Umwelt- und Klimaveränderung auch in              planetaren Grenzen.
              Deutschland Gesundheit und Wohlergehen einer*s jeden
              Einzelnen beeinflusst, lässt sich mittlerweile nicht mehr   Das ist notwendig, denn einseitige Betrachtungen von
              wegdiskutieren. Nach Dürre- und Hitzesommern kämpften       Umweltveränderungen führen immer wieder zu unange-
              in diesem Jahr weite Teile des Landes mit den Wasser-       nehmen Überraschungen. So gibt es neben den direkten,
              massen. Dazu kommen Waldsterben, Grundwasser-               oft leicht verständlichen Gesundheitsfolgen, wie etwa
              verschmutzung und neue Infektionserkrankungen wie           Dehydrierung älterer Menschen während Hitzewellen,
              das West-Nil-Fieber in Ostdeutschland. Die Diagnose ist     auch häufig indirekte Folgen, welche zeitlich oder räum-
              offensichtlich: Unsere Umwelt leidet, und wir leiden mit.   lich getrennt von der Ursache auftreten. Der Komplexität
              Höchste Zeit, unser Verständnis von Gesundheit zu hin-      der interagierenden Systeme kann daher nur durch eine
              terfragen und die oft gelebte Trennung von Mensch und       inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen
              Umwelt zu überdenken. Planetary Health oder planetare       Expert*innen aus Bereichen wie Gesundheit, Umwelt,
              Gesundheit beschreibt ein Konzept, welches menschliche      Soziologie, Stadtplanung und vielem mehr gegenüber-
              Gesundheit in Zusammenhang mit den politischen, öko-        getreten werden. Im kontinuierlichen Austausch kann so
              nomischen und sozialen Systemen sowie den natürlichen       eine holistische Perspektive auf menschliche Gesundheit
              Systemen unseres Planeten stellt. Es erkennt die tief-      im Einklang mit unserer Umwelt entwickelt werden.
              greifenden Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten,       Beispielhaft für ein solches Herangehen sind indigene
              vor allem seit der Industrialisierung, auf unsere Umwelt    Völker überall auf der Welt, die seit Hunderten von Jahren
              an und fordert uns auf, Verantwortung zu übernehmen         gemeinsam mit der Natur leben und unter deren Schutz
              und planetare Grenzen anzuerkennen. Denn die stetig         bis zu 80 % der noch erhaltenen Biodiversität unseres
              steigende Konzentration an Treibhausgasen in unserer        Planeten steht. Doch auch direkt vor unserer Haustür gibt
              Atmosphäre, die zunehmende Nutzung der verfügbaren          es ein großes Potenzial für Planetary Health.
              Fläche und der ungebremste Abbau natürlicher Rohstoffe
              führen immer mehr dazu, dass die natürlichen Grenzen
                                                                          Planetare Gesundheit in der Stadt
              unserer Ökosysteme überschritten werden – beispiels-        Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt bereits heute
              weise in Form des Klimawandels, aber auch der Biodiver-     in Städten, Tendenz steigend. So prägt die zunehmende
              sitätskrise. Eine Achtung dieser planetaren Grenzen nach    Verstädterung entscheidend das Gesicht unserer Umwelt

HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
StadtpunkteTHEMA - Nachhaltige Gesundheitsförderung und Prävention in Zeiten des Klimawandels - Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für ...
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                                                            Der Klimawandel schadet
                                                            der Gesundheit von Mensch
                                                            und Planeten

und nimmt eine zentrale Rolle im Planetary-Health-          Es geht aber auch anders – aufgrund ihrer dynamischen
Konzept ein.                                                Struktur haben Städte das Potenzial, ihren ökologischen
Urbane Lebensräume stehen oft für Beton statt Biodiver-     Fußabdruck erheblich zu verringern, klimaresilienter zu
sität, dazu kommen schlechte Luftqualität, erhöhtes         werden und gleichzeitig Gesundheit zu verbessern. Durch
Müllaufkommen und ein Großteil der klimaschädlichen         gezielte sektorübergreifende Maßnahmen können sie so
Emissionen. Dabei setzen die Folgen der Klimaveränderun-    zu Vorreitern für Planetary Health werden. Ausbau von
gen Städten auch besonders zu. Im Sommer verwandeln         ÖPNV, Rad- und Fußwegen etwa, trägt zur Reduktion von
sie sich zunehmend in sogenannte Hitzeinseln,               Emissionen, Lärm und Luftverschmutzung bei und fördert
welche sich stärker erwärmen als das Umland. In             gleichzeitig aktive Mobilität im Alltag. Gründächer, Park-
Hamburg nahmen in den letzten Jahrzehnten sowohl            und Wasseranlagen können der zu starken Erhitzung im
die Anzahl der heißen Tage als auch der Tropennächte        Sommer entgegenwirken. Netzwerke wie C40 Cities oder
deutlich zu. Daraus folgt oft eine erhöhte Morbidität und   100 Resilient Cities bieten dabei Austausch- und Entwick-
Mortalität – vor allem in Risikogruppen mit Vorerkran-      lungsplattformen auf dem Weg zu nachhaltigen Städten.
kungen oder hohem Alter. Zudem richten Extremwetter-
ereignisse wie Stürme und Überflutungen in Städten
                                                            Hoffnung durch Handeln
häufig große Zerstörung an. Dies besorgt immer mehr         Nachhaltige Planung in Städten ist dabei ein Beispiel für
auch die Bewohner*innen. So nahmen 2021 fast drei           die vielen Bereiche, in denen transformatives Handeln für
Viertel der befragten Hamburger*innen den Klimawandel       eine gesunde Zukunft möglich ist. Denn trotz Flutkatas-
als eine starke Bedrohung wahr.                             trophen, Hitzesommern und Artensterben – Planetary

                                                                                  HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
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10            | PLANETARE GESUNDHEIT

              Aufgrund ihrer
              dynamischen
              Struktur haben                Health will Lösungswege aufzeigen. Und Hoffnung ist

              Städte das Potenzial,         nicht unberechtigt: Menschen weltweit mobilisieren für
                                            eine lebenswerte Zukunft, ganze Industrien orientieren

              ihren ökologischen
                                            sich um und Gerichte sprechen wegweisende Urteile für
                                            den Planeten.

              Fußabdruck                    Auch Mitarbeitende im Gesundheitssektor und in der
                                            öffentlichen Gesundheit spielen für die gesellschaftliche

              erheblich zu                  Transformation eine zentrale Rolle. Sie erleben nicht nur
                                            zunehmend die gesundheitlichen Folgen der Klimakrise

              verringern,                   hautnah an ihren Patient*innen, sondern können sich
                                            durch gute Kommunikation, Prävention und Gestaltung
                                            von nachhaltigen Lebensräumen auch aktiv für Planetary
              klimaresilienter zu           Health einsetzen.

              werden und                    Seit 2017 widmet sich daher die Deutsche Allianz
                                            Klimawandel und Gesundheit (KLUG), ein Zusammen-

              gleichzeitig                  schluss von Organisationen und Einzelpersonen aus dem
                                            Gesundheitsbereich, der Sicherung von Gesundheit und
                                            Lebensgrundlagen gegenwärtiger und künftiger Genera-
              Gesundheit zu                 tionen. Dabei unterstreicht sie nicht nur die Folgen der
                                            Klimakrise für die Gesundheit, sondern betont auch die

              verbessern.                   gesundheitlichen Chancen, die sich durch Klimaschutz-
                                            maßnahmen ergeben. Mit Health for Future gründete sich
                                            2019 zudem eine Aktionsplattform für Gesundheits-
                                            berufe, die in Form von über 60 Lokalgruppen an Klima-
                                            streiks teilnimmt, Austausch vor Ort ermöglicht und
                                            erfolgreich lokale Entscheidungsprozesse beeinflusst.

                                            Gesunde Menschen auf einem gesunden Planeten –
                                            so lässt sich die Vision von Planetary Health zusammen-
                                            fassen. Sie will Hoffnung geben, zum Handeln anregen
                                            und macht auf die Verantwortung aufmerksam, die wir
                                            für unsere Umwelt tragen. Wer eine gesunde Zukunft will,
                                            sollte schon heute nach den Planetary-Health-Prinzipien
                                            handeln.

                                            Autor*innen und Literatur (Quellen auf Nachfrage): Sophie Gepp
                                            und Laura Jung, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit
                                            (KLUG), sophie.gepp@klimawandel-gesundheit.de,
                                            laura.jung@klimawandel-gesundheit.de,
                                            www.klimawandel-gesundheit.de

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Klimawandel und Gesundheit
Zentrale Ergebnisse aus dem Versorgungs-Report
„Klima und Gesundheit“
Caroline Schmuker

Die zu beobachtenden Klimaveränderungen haben          Fachbeiträge reichen von der Darstellung der globalen
erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesundheit          Bedeutung des Klimawandels für die Gesundheit bis
und unser Wohlbefinden. Eine direkte gesundheitli-     hin zu konkreten gesundheitlichen Auswirkungen und
che Gefährdung stellen zunehmende Extremwetter-        den damit einhergehenden Herausforderungen und
eignisse wie Hitze oder Unwetter dar. Andere           Handlungsbedarfen für die medizinische Versorgung in
Gesundheitsgefahren sind weniger sichtbar. Bei-        Deutschland.
spielsweise wenn mit dem Klimawandel Belastun-         Im Folgenden werden exemplarisch zwei Forschungs-
gen durch Luftschadstoffe, UV-Strahlung, Allergene     arbeiten aus dem Versorgungs-Report vorgestellt, die
oder Infektionserkrankungen zunehmen. Es ist           sich datenbasiert mit den gesundheitlichen Folgen des
mehr Aufklärung zu den gesundheitlichen Risiken        Klimawandels befassen:
des Klimawandels in der Bevölkerung notwendig.
                                                       Hitzebedingte Krankenhauseinweisungen
Planetare Grenzen achten                               Am Beispiel der zunehmenden Hitzeperioden hat das
Der Versorgungs-Report „Klima und Gesundheit“ des      Klimaforschungsinstitut Mercator Research Institute on
Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) nimmt die   Global Commons and Climate Change (MCC) untersucht,
Gesundheitsfolgen des Klimawandels in den Blick. Die   wie viele Krankenhauseinweisungen in den Jahren 2008
                                                       bis 2018 auf die Hitze zurückzuführen waren (Klauber
                                                       und Koch 2021). Den Modellrechnungen nach ist jede*r
                                                       vierte AOK-Versicherte über 65 Jahre überdurchschnitt-
                                                       lich gefährdet, an heißen Tagen gesundheitliche Pro-
                                                       bleme zu bekommen und deshalb ins Krankenhaus zu
                                                       müssen. An Tagen mit über 30 Grad Celsius kam es
                                                       hitzebedingt zu drei Prozent mehr Krankenhauseinwei-
                                                       sungen in dieser Altersgruppe. Wenn die Erderwärmung
                                                       ungebremst voranschreitet, dann könnte sich bis zum

                                                       Zum Versorgungs-Report
                                                       Kostenloser Download:
                                                       https://www.wido.de/publikationen-produkte/buch
                                                       reihen/versorgungs-report/

                                                       Hitzekarten
                                                       Unter https://mcc-berlin.shinyapps.io/Hitze_Hospitalisie
                                                       rung/ können interaktive Hitzekarten aufgerufen werden.

                                                       Hitze in der Stadt: Gewässer
                                                       und Grünflächen helfen,
                                                       Temperaturen zu senken

                                                                               HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
12            | VERSORGUNGSREPORT

              Jahr 2100 die Zahl der hitzebedingten Klinikeinweisun-                    geeignete Schutzmaßnahmen im Alltag ist. Hierfür wur-
              gen versechsfachen. Die Studie zeigt zudem, dass es                       den 3006 Personen zwischen 18 und 86 Jahren über ein
              große Unterschiede in der regionalen Anfälligkeit gegen-                  Onlinepanel zu ihrem Erleben von Gesundheitsbelastun-
              über gesundheitlichen Hitzeschäden gibt, was im Rahmen                    gen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und ihrem
              von lokalen Anpassungsstrategien und Schutzprogrammen                     Schutzverhalten im Alltag befragt.
              berücksichtigt werden muss. Zur Veranschaulichung der
              regionalen Betroffenheit stehen interaktive Hitzekarten
                                                                                        Mehr Aufklärung zu gesundheitlichen Risiken
              für Deutschland zur Verfügung (siehe Infokasten). Die
                                                                                        des Klimawandels notwendig
              Karten zeigen, welche Landkreise besonders von Kranken-                   Die Befragungsergebnisse machten deutlich, dass die
              hauseinweisungen in der älteren Bevölkerung bei Hitze                     gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels vielen
              betroffen sind und wie sich die regionale Betroffenheit                   Menschen erhebliche Sorgen bereiten. Mehr als die
              in Zukunft weiterentwickelt, wenn keine Maßnahmen zur                     Hälfte der Befragten (52 Prozent) zeigte sich mit Blick auf
              Reduktion der CO₂-Emissionen greifen.                                     die eigene Gesundheit „ziemlich“ oder „sehr“ besorgt
                                                                                        wegen der zunehmenden Hitzeperioden. Andere Risiken,
              Bewusstsein für die gesundheitlichen Risiken                              wie zunehmende Belastungen durch UV-Strahlung oder
              des Klimawandels in der Bevölkerung stärken                               Luftverschmutzung wurden allerdings von den Befragten
              Die zweite Studie – eine Befragung des Wissenschaft                       als weniger besorgniserregend eingestuft. Möglicher-
              lichen Institut der AOK (WIdO) – hat sich tiefergehend                    weise werden hier die Gesundheitsgefahren durch den
              mit der Wahrnehmung des Themas „Klimawandel und                           Klimawandel noch unterschätzt.
              Gesundheit“ in der Öffentlichkeit befasst (Schmuker et                    Viele Befragte fühlten sich zudem nicht ausreichend
              al. 2021). Ziel der Befragung war zu untersuchen, welche                  über die gesundheitlichen Auswirkungen des Klima-
              Bedeutung der Klimawandel im Gesundheitsbewusstsein                       wandels informiert. Bei Umweltereignissen wie Hitze
              der Menschen hat und wie verbreitet das Wissen um                         oder Unwettern signalisierte immerhin ein Drittel der

                  Klimawandel und Gesundheit: Informationsstand in der Bevölkerung

                     Wie gut fühlen Sie sich über den Klimawandel und seine
                                                                                                                                             69
                               Auswirkungen auf die Gesundheit informiert?

                  Informationsstand nach Einzelthemen

                                                                  Hitzeperioden                                                               72

                                               Unwetter und Überschwemmungen                                                                  71

                                                                   UV-Strahlung                                                          66

                                            Insekten (z. B. Zecken, Stechmücken),
                                                                                                                                        65
                                                die Krankheitserreger übertragen

                             Schadstoffe (z.B. Feinstaub, Ozon) in der Atemluft                                                    59

                                                                       Pollenflug                                             53

                           Belastung von Lebensmiteln mit Krankheiterregern                                              50

                             Belastung von Gewässern mit Krankheitserregern                                         47

                                                                                    0     10     20     30     40             50        60        70     80      90     100
                                                                                    Anteil (%)

                                                                                         ich weiß                                                  ich weiß
                                                                                         umfassend darüber Bescheid                                kaum etwas darüber
              Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK
                                                                                         ich weiß einiges darüber                                  ich weiß nichts darüber

HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
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Befragten klaren Informationsbedarf (Abbildung). Noch        besteht. Kenntnisse über gesundheitliche Risiken und
deutlicher zeigen sich Informationsdefizite bei indirekten   geeignete Schutzmaßnahmen müssen noch stärker
Folgen des Klimawandels, wie erhöhte Belastungen durch       Verbreitung finden, gerade auch mit Blick auf ältere
Luftverschmutzung, Pollenallergene oder durch Wasser         Menschen und vulnerable Gruppen (z.B. Menschen mit
und Lebensmittel übertragene Krankheitserreger. 40 bis       Vorerkrankungen), die besonders gefährdet sind.
50 Prozent der Befragten fühlen sich über diese Themen
nicht ausreichend informiert.
                                                             Konsequenzen für Gesundheitsversorgung
Bei Betrachtung des individuellen Anpassungsverhal-
                                                             und Prävention
tens kam die Befragung zu unterschiedlichen Ergebnis-        Die Auswirkungen des Klimawandels erfordern konkrete
sen: Während die meisten Befragten ihr Verhalten bei         Anpassungsstrategien im Bereich der gesundheitliche
hoher Hitzebelastung anpassen und beispielsweise auf         Vorsorge und Prävention (Bundesregierung 2020).
ausreichend Flüssigkeit achten (87 Prozent), werden          Vor dem Hintergrund des weiteren Fortschreitens des
Schutzmaßnahmen bei erhöhter UV-Strahlung oder Luft-         Klimawandels scheint dies umso mehr geboten. Es sind
verschmutzung vergleichsweise seltener umgesetzt. Ein        gleichzeitig Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und des
gutes Sonnenschutzmittel verwenden weniger als die           Klimas notwendig, wie auch Präventionsmaßnahmen zum
Hälfte der Befragten (46 Prozent) zum UV-Schutz. Noch        Schutz vor Erkrankungen und Todesfällen im Zusammen-
weniger (32 Prozent) schützen sich mit hautbedecken-         hang mit dem Klimawandel.
der Kleidung. Weniger als ein Drittel der Befragten
(29 Prozent) achtet darauf, bei erhöhter Belastung der
Atemluft (z.B. mit Feinstaub oder Ozon) körperliche
Belastungen und Sport zu vermeiden.
In der Zusammenfassung zeigen die Befragungsergebnisse,      Autorin und Literatur: Caroline Schmuker, Wissenschaftliches
das noch deutlicher Informationsbedarf zu den gesund-        Institut der AOK, caroline.schmuker@wido.bv.aok.de,
heitlichen Risiken des Klimawandels in der Gesellschaft      https://www.wido.de/

                                                                                    HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
14            | PSYCHISCHE GESUNDHEIT

              Klimaschutz ist Gesundheitsschutz
              Warum der Erhalt von Natur auch der Psyche dient
              Gerhard Reese

              Die Klimakrise hat auch Europa erreicht. Wälder              unser Alltagshandeln und unsere Konsumgewohnheiten
              brennen, Überschwemmungen entziehen Menschen                 haben wir oft selbst in der Hand. Natürlich nicht immer,
              ihre Lebensgrundlage und Stürme verwüsten Natur              denn wirtschaftliche oder politische Rahmenbedingungen
              und urbane Räume. So abgedroschen es klingt: Es              leiten unser Verhalten. So ist es in vielen Lebensbereichen
              wirkt, als sägten wir am eigenen Überlebensast.              (z.B. Ernährung, Mobilität) aufgrund fehlgeleiteter
              Neben solchen existenziellen Gründen für Klima-              Subventionen weiterhin einfacher und günstiger, sich
              und Naturschutz sind naturnahe Umgebungen aber               klimaschädlich zu verhalten.
              auch für unser Wohlbefinden enorm wichtig. Natur
              hilft uns, uns zu erholen und besser mit körper-             Es gibt viele Wege, uns zu Klimaschutz zu motivieren,
              lichen und mentalen Stresszuständen umzugehen.               doch es gibt keine „Eine für alle“-Lösung. Da ist eine der
              Liegt hier vielleicht ein weiterer Schlüssel,                schönsten Seiten der Menschheit – ihre Vielfalt – gleich-
              Menschen zu mehr Klimaschutz zu motivieren?                  zeitig ein Hemmnis. Ein Schlüssel könnte tatsächlich eine
                                                                           eher egoistische Motivation sein: Wenn wir wissen und
              Klimaschutz ist Gesundheitsschutz                            erleben, wie wichtig eine intakte Natur für unser eigenes
              Es ist nicht erst seit den Hitzesommern, Überschwem-         Wohlbefinden ist, vielleicht sind wir dann auch eher
              mungen und Dürreperioden der letzten Jahre offen-            bereit, sie zu bewahren?
              sichtlich, dass die Klimakrise mehr und mehr unseren
              Alltag bestimmen wird. Ja, natürlich: Diese Phäno-
                                                                           Natur ist gut für die Psyche
              mene hat es schon immer gegeben, aber nahezu alle            Den meisten Leser*innen wird es trivial vorkommen:
              Klimawissenschaftler*innen weltweit kommen zu der            Ein Aufenthalt im Wald oder ein Spaziergang im Stadt-
              drastischen Annahme, dass der menschgemachte Klima-          park sind erholsam, sie reduzieren unseren Stresslevel,
              wandel in Zukunft solche Extremereignisse in ihrer           Puls und Blutdruck sinken. Das liegt einmal daran, dass
              Häufigkeit und Stärke befeuern wird – weltweit. Als          wir – vermutlich evolutionär bedingt – Natur als etwas
              Verursacher*innen für diesen Schlamassel müssen wir          Positives erleben und diese daraus entstehende positive
              auf vielen Ebenen aktiv werden: Jede und jeder Einzelne      Stimmung unser Wohlbefinden steigert. Zudem scheint
              kann etwas beitragen, aber das alleine genügt nicht. Wir     es daran zu liegen, dass Natur für uns einfacher und
              brauchen eine Politik, die Klimaschutz fördert und von       flüssiger zu verarbeiten ist – die Wahrnehmung von Natur
              Unternehmen und Bürger*innen einfordert. Wir brauchen        gleicht also einer Art Flow, der unsere Stimmung und
              einen gesellschaftlichen Wandel – eine Transformation –      damit unser Wohlbefinden steigert. Schließlich nehmen
              hin zu einem Wirtschaftssystem, das Klimaschutz als Kern     Theorien der Naturerholung an, dass unser naturferner
              politischen Handelns begreift und sozial gerecht gestaltet   Alltag Stress auslöst und unsere Aufmerksamkeitsspanne
              wird.                                                        senkt – ein Aufenthalt in der Natur wirkt dann als „Lade-
                                                                           vorgang“, um die leeren Aufmerksamkeitsspeicher wieder
              Das ist natürlich alles nicht einfach. Geschweige denn       aufzufüllen (für einen Überblick siehe Menzel & Reese,
              wünschenswert für jene, die am Status quo nichts ändern      2021). So lösen bestimmte Umgebungen – Berge, Seen,
              möchten. Folglich bedarf es Anstrengungen auf vielerlei      aber auch Wiesen oder im Wind wehende Blätter – ein
              Ebenen unserer Gesellschaft – auf politischer Ebene          Gefühl von Faszination oder auch „being away“ – sich
              genauso wie auf der Ebene des Wirtschaftens als auch         gehen lassen – aus.
              auf individueller Ebene. Die politische Ebene können wir
              als Wähler*innen verändern. Diese Ebene wiederum kann        Empirische Belege für die gesundheitsfördernde Natur
              der Wirtschaft klare Rahmen für Klimaschutz setzen. Und      gibt es viele. So zeigen Menschen nach einem Spaziergang

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                                                            Naturerleben stärkt das
                                                            persönliche Wohlbefinden
                                                            und kann motivieren,
                                                            Umwelt und Natur zu
                                                            schützen

oder Aufenthalt im Wald messbar geringere Cortisol-Level    umweltbewusster zu verhalten. Dies lässt sich dadurch
im Blut – ein Indikator für verringerten Stress. Andere     erklären, dass stärkere Naturerfahrungen mit einer
Studien zeigen, dass Naturaufenthalte gegen Depres-         höheren Naturverbundenheit einhergehen (Pensini et al.,
sionen und andere psychische Dysfunktionen helfen           2016) – und diese Naturverbundenheit scheint einer der
können, unser Arbeitsgedächtnis verbessern, Symptome        stärksten Prädiktoren für Umweltverhalten zu sein (Tam,
von ADHS verringern oder unser Immunsystem stärken          2013). Daraus folgt, dass Menschen konkrete Naturerfah-
(für Übersichten siehe Bratman et al., 2012; Frumkin        rungen ermöglicht werden sollten – sowohl als Teil von
et al., 2017). Studien aus Melbourne (Lim et al., 2018)     Krankheitsprävention und Rehabilitation, aber auch um
oder auch New York (Plunz et al., 2019) zeigten, dass       klarzumachen, was es zu bewahren gilt. Dann wird die
Menschen mehr positive und weniger negativ gestimmte        zunächst egoistische Motivation, die eigene Gesundheit
Tweets absetzen, wenn sie sich in Parks befanden, im        zu schützen, zu einer intergenerationalen Motivation. Der
Vergleich zu Menschen, die sich in bebauten Stadt-          Wunsch, den Nachkommen eine intakte Welt zu hinter-
bereichen aufhielten. Damit ist Naturerleben gerade im      lassen, ist dann vielleicht doch stärker als der Wunsch,
urbanen Bereich auch eine Gerechtigkeitsfrage, sind es      mit dem Flieger oder dem 2,5-Tonnen-SUV in den nächsten
doch meistens die hochpreisigen Wohngegenden, die sich      Urlaub zu düsen.
nahe an ruhigen Stadtparks oder kühlenden Grünflächen
befinden.

Naturerleben gleich Klimaschutz?
Wenn Natur derart wichtig für unser Wohlbefinden
ist – sollte das uns dann nicht motivieren, Natur und
Umwelt zu schützen, allein schon um unser selbst willen?
Tatsächlich gibt es hierzu wenig belastbare Forschung,      Autor und Literatur: Prof. Dr. Gerhard Reese,
aber doch einige Hinweise. Menschen, die viel Zeit in der   Universität Koblenz-Landau, reese@uni-landau.de,
Natur verbringen, berichten eine stärkere Tendenz, sich     https://www.uni-koblenz-landau.de

                                                                                  HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
16            | HITZESTRESS

              Gesundheitliche Auswirkungen
              von Hitzestress in der Stadt
              Vulnerable Gruppen und Lösungsansätze
              Antje Katzschner

              Hitzewellen sind eine der am meisten erfahrbaren            Diese wiederum ist besonders in den Städten relevant.
              Auswirkungen des Klimawandels. In den letzten               Angesichts einer erwarteten deutlichen Zunahme von
              Jahren gab es einen erheblichen Anstieg von Hitze-          extremen Hitzeperioden im Sommer wird insbesondere in
              Extremen während der Sommermonate. Laut dem                 Städten der Hitzestress für Menschen ansteigen, intensiver
              Deutschen Wetterdienst (DWD) waren die drei                 werden und länger andauern. Ausschlaggebend dafür
              heißesten Sommer der Messgeschichte sämtlich in             sind zusätzlich zu den Auswirkungen des Klimawandels
              den 2000er-Jahren: In Deutschland die Sommer                die Phänomene des Stadtklimas, die sich unter dem
              2003, 2018 und 2019.                                        Begriff der urbanen Wärmeinsel zusammenfassen lassen.
                                                                          Damit Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden und vor allem
              Für die Gesundheit der Menschen besonders relevant sind     die Gesundheit von Menschen in Städten auch zukünftig
              dabei die Dauer und Häufigkeit der Hitzewellen und die      gesichert sind, muss die Stadtplanung schon heute städte-
              damit verbundene geringere Abkühlung in den Nächten.        bauliche Planungen so optimieren, dass die durch Hitze
                                                                          ausgelösten Belastungen auch unter extremen Hitzebe-
                                                                          dingungen sowohl im Freien als auch in den Innenräumen
                                                                          auf ein erträgliches Maß reduziert werden.

                                                                          Soziale Unterschiede in der Exposition
                                                                          Um vor allem dem Kontext der Städte gerecht zu werden,
                                                                          müssen hier soziale Unterschiede in der Exposition
                                                                          und Betroffenheit mit einbezogen werden. Basierend
                                                                          auf dieser Aussage lassen sich die Gruppe der älteren
                                                                          Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen und chro-
                                                                          nisch Kranke als eine Risikogruppe definieren, da sie
                                                                          z.B. körperlich nicht mehr auf extreme Hitze reagieren
                                                                          können und möglicherweise auf Hilfe angewiesen sind,
                                                                          jedoch nicht notwendigerweise auf diese zurückgreifen
                                                                          können. Zum Beispiel wohnen ältere Menschen häufig in
                                                                          den innenstadtnahen Risikogebieten, sind aufgrund ihrer
                                                                          eingeschränkten Mobilität jedoch nicht in der Lage, sich
                                                                          während einer Hitzewelle entsprechend zu versorgen,
                                                                          indem sie beispielsweise eine entsprechende Kühlung
                                                                          ihrer Wohnung veranlassen. Häufig ist das aufgrund der
                                                                          bestehenden baulichen Struktur auch gar nicht möglich.

                                                                        Fassadenbegrünungen sind
                                                                        eine natürliche Klimaanlage
                                                                        und tragen zu einem gesün-
                                                                        deren Gebäudeumfeld bei

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Warnsysteme                                                  gesetzliche Verpflichtung, sich an die stadtklimatischen
In einigen Bundesländern wurden bereits, ausgehend           Empfehlungen bei der Planung zu halten.
vom DWD, Hitzewarnsysteme eingerichtet. Dies erfolgte
zum Beispiel in Hessen und Niedersachsen. Das hessi-
                                                             Das Projekt ZURES II
sche Sozialministerium (HSM) hat in Zusammenarbeit           Mit diesem Thema beschäftigt sich zum Beispiel das vom
mit dem DWD, der Heimaufsicht, dem Medizinischen             Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Dienst der Krankenversicherung sowie den Kostenträgern       geförderte Forschungsprojekt „Anwendung und Versteti-
gemeinsam mit Akteuren aus der Praxis dieses Hitze-          gung der zukunftsorientierten Klima- und Vulnerabilitäts-
warnsystem entwickelt. Mit Erlass des HSM vom 22. Juni       szenarien in ausgewählten Instrumenten und Planungs-
2004 wurde dies in Hessen eingeführt (Regierungsprä-         prozessen – Modellstadt Ludwigsburg“ (ZURES II) unter
sidium Gießen 2007). Diese sprechen gezielt Pflege-          Leitung der Universität Stuttgart und der Beteiligung
einrichtungen an und wenden sich bei längerer Dauer          weiterer sechs Partner, davon drei Forschungseinrich-
an die Gesundheitsämter und die Öffentlichkeit. Dies         tungen, zwei Planungsbüros und der Stadt Ludwigsburg
ist insofern problematisch, als es nicht beachtet, dass      (www.zures.de).
es Bevölkerungsgruppen gibt, die über die gebräuch-
lichen Medien von den bestehenden Warnsystemen des           Durch eine Erfassung und Bewertung des klimatischen
Deutschen Wetterdienstes möglicherweise nicht erreicht       Wandels mittels klimatischer Modellierungen und der
werden, da sie deutschsprachiges Radio oder Fernsehen        zukünftigen Veränderungen sozialer Verwundbarkeit der
nicht nutzen. Darüber hinaus können ältere Menschen,         Stadt Ludwigsburg wurde erreicht, dass die bisher nicht
die alleine leben trotz der Warnungen möglicherweise         gemeinsam betrachteten Belange einer klimaorientierten
nicht entsprechend reagieren.                                und sozialen Stadtentwicklung verknüpft werden. Die An-
                                                             wendung der zukunftsorientierten Klima- und Vulnerabili-
Stadtentwicklung: Präventiv planen                           tätsszenarien zeigte insbesondere, dass die Betrachtung
Hier kommt die Stadtplanung ins Spiel, die mit ihren Pla-    der sozioökonomischen Belange als sehr herausfordernd
nungsprozessen die Möglichkeit hat, frühzeitig das Klima     für die Praxis empfunden wird, während die Ergebnisse
mit einzubeziehen. Die Erfahrung zeigt, dass im komple-      der Klimaanalysen direkt angewendet werden konnten.
xen Prozess der Stadtplanung das Klima meist eine sehr       Im Dialog mit den Vertreter:innen der Stadt Ludwigsburg
geringe Rolle spielt und häufig anderen, meist ökonomi-      konnte unter anderem das Instrument der Stadt(teil)-
schen Interessen untergeordnet wird (Katzschner, 2008:       entwicklungspläne als Schlüsselinstrument für ein
Proceedings of the Workshop, Feb. 20th and 21st 2008,        Zusammenbringen der beiden Belange erkannt werden.
Kassel, Germany). Jedoch besteht hier die Möglichkeit,
schon im Flächennutzungsplan Gebiete, die nachweislich       Das Projekt ZURES II begleitet daher den Prozess der Ent-
dem Stadtklima zuträglich sind, als solche auszuzeichnen     wicklung und Fortführung eines Stadtentwicklungsplans
und gegebenenfalls nicht oder nur begrenzt für Bauvor-       auf gesamtstädtischer sowie Stadtteilebene. Das bedeutet,
haben zur Verfügung zu stellen. Somit kann die Stadt-        dass eine Integration sozialer Belange sowohl in die
planung präventiv eingreifen.                                Bestandsaufnahme und die derzeitige Zielentwicklung als
                                                             auch bei konkreten Maßnahmen und Handlungsfeldern
Anhand von Klimafunktionskarten, welche für einige           beachtet werden.
Städte Deutschlands bereits vorliegen, können hitzebe-
dingte Risikogebiete frühzeitig erkannt und gekennzeich-     Das Ziel der Implementierungsphase bis Juni 2022 ist es
net werden. Klimafunktionskarten bilden die thermischen      somit, im Dialog mit der Stadt und Bürger:innenbeteili-
Bedingungen eines Stadtgebietes, seine Kaltluftströmun-      gungsmaßnahmen eine Anpassung an Hitzestress unter
gen und -entstehungsgebiete sowie die bioklimatischen        der Berücksichtigung verschiedener Vulnerabilitäten zu
Bedingungen ab. Um Risikogebiete bezogen auf Hitze so-       erreichen.
zialdifferenziert zu betrachten, können diese mit sozialen
Daten verschnitten werden. Da Klimafunktionskarten für       Autorin und Literatur: Antje Katzschner, Ludwig-Maximilians-
Städte bisher nicht verpflichtend sind, bestehen lediglich   Universität München, Lehr- und Forschungseinheit Mensch-
Richtlinien, wie mit diesen umzugehen ist. Es gibt keine     Umwelt-Beziehungen, a.katzschner@lmu.de

                                                                                    HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
18            | ERNÄHRUNGSPOLITIK

              Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und
              faire Ernährungsumgebungen gestalten
              Das WBAE-Gutachten
              Ulrike Arens-Azevêdo

              Der folgende Beitrag bezieht sich auf das umfang-             (siehe Abb. 1). „Nachhaltiger“ wird die Ernährung defi-
              reiche Gutachten des wissenschaftlichen Beirats               niert, weil dieser Zustand sich kontinuierlich an aktuelle
              für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen              Gegebenheiten anpassen und neue wissenschaftliche
              Verbraucherschutz (WBAE) beim Bundesministerium               Erkenntnisse aufgreifen muss.
              für Ernährung und Landwirtschaft.
              19 Expert*innen aus unterschiedlichen Disziplinen             Die vier Dimensionen im Einzelnen
              haben hierin die Grundsätze von nachhaltiger Ent-             Gesundheit ist ein hohes Gut. Eine nachhaltigere
              wicklung und nachhaltigerer Ernährung bearbeitet,             Ernährung soll die Gesundheit fördern und erhalten, die
              vertiefende Recherchen zu Einflussfaktoren und                Lebenserwartung und Lebensqualität steigern. Von einer
              möglichen Bewertungen durchgeführt und Empfeh-                nachhaltigeren Ernährung müssen alle profitieren, unge-
              lungen zu einer Transformation abgeleitet.                    achtet ihres jeweiligen sozioökonomischen Hintergrunds.
                                                                            In armutsgefährdeten Haushalten, die heute schon
              Ein Grundstein der Nachhaltigkeit wurde 2015 in der           zwischen 16 und 18 % aller Haushalte ausmachen, kann
              Agenda 2030 gelegt, indem die Generalversammlung              es zu Einschränkungen bei der Lebensmittelauswahl kom-
              der Vereinten Nationen 17 Ziele, „Sustainable Develop-        men und die Aufnahme von wenig gesundheitsfördernden
              ment Goals (SDGs)“, formulierte, denen 169 Kriterien          Lebensmitteln überwiegen. Häufig sind ein schlechterer
              zur Zielerreichung zugeordnet wurden. Die Europäische         Gesundheitszustand, Übergewicht, Adipositas und asso-
              Union hat 2017 die Agenda 2030 zur Grundlage einer            ziierte Erkrankungen die Folge. Dieser Zusammenhang
              gemeinsamen Erklärung des Rates, des Europäischen             konnte im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS)
              Parlaments und der Kommission gemacht und sich darauf         und in den Studien zur Gesundheit Erwachsener (DEGS)
              verständigt, dass nachhaltige Entwicklung einen transfor-     nachgewiesen werden.
              mativen politischen Rahmen bildet, die Armut weltweit
              zu beseitigen und wirtschaftliche, soziale und ökolo-         Umwelt einschließlich Klima beeinflusst unser Leben in
              gische Dimensionen einschließlich zentraler Aspekte von       vielfältiger Weise. In Bezug auf die Ernährung ist hier
              Governance und der Schaffung friedlicher und inklusiver       der CO2-Fußabdruck der gesamten Wertschöpfungs-
              Gesellschaften zur Zielerreichung zu berücksichtigen.         kette – von der Produktion bis hin zum Verzehr und
              Deutschland hat sich ebenfalls zur Umsetzung der              Entsorgung – von Bedeutung. Eine gesundheitsfördernde
              Agenda 2030 verpflichtet und eine eigene Nachhaltig-          Ernährung, die überwiegend aus Gemüse, Obst, Nüssen
              keitsstrategie entwickelt, die alle zwei Jahre aktualisiert   und Hülsenfrüchten besteht und nur kleine Anteile an
              und deren Zielerreichung regelmäßig überprüft wird.           Milchprodukten, Fleisch und Fisch integriert, hat einen
                                                                            deutlich niedrigeren CO2-Fußabdruck als die aktuell
              Eine nachhaltigere Ernährung ist Teil einer nachhaltigen      übliche Ernährungsweise in Deutschland. Daneben spielt
              Entwicklung, denn die „Art und Weise, wie wir uns ernäh-      aber auch die Qualität der Produkte eine wichtige Rolle.
              ren, beeinflusst wesentlich unsere individuelle Gesund-       So fördert der Bio-Landbau die Arten- und Sortenvielfalt,
              heit, unsere Lebensqualität und unser Wohlbefinden“           die Biodiversität und wirkt sich positiv auf die Nitrat- und
              (WBAE 2020). Folgerichtig werden in diesem Kontext vier       Phosphorbilanz aus. Darüber hinaus wird – ein geschlos-
              zentrale Zieldimensionen näher beleuchtet: Gesundheit,        sener Wirtschaftskreislauf vorausgesetzt – das Tierwohl
              Soziales, Umwelt einschließlich Klima und Tierwohl            gefördert. Regionalität kann positive Auswirkungen

HAG StadtpunkteTHEMA | 02 | November 2021
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