STANDORTWETTBEWERB: DER IMPERIALISMUS UNSERER ZEIT - leonhard

 
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STANDORTWETTBEWERB:
DER IMPERIALISMUS
UNSERER ZEIT
von Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie am Management-
Department der Freien Universität Berlin und Nikolaus Kowall, wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf

Genau 100 Jahre nach dem Beginn                       2014) dabei helfen, Ideologien und Dyna-
des „Großen Krieges“ ist nicht nur ein                miken zu identifizieren, die ein respektvol-
Gedenkjahr, es ist auch ein Jahr der                  les und menschwürdiges Zusammenleben
Analogien. Und tatsächlich gibt es                    der Völker gefährden. Bei der herrschen-
eine Reihe von Parallelen zwischen                    den Konjunktur an Analogieschlüssen gibt
1914 und 2014. Wie Stefan Zweig in                    es erstaunlicherweise ein Themenfeld, das
„Die Welt von Gestern“ so eindrück-                   kaum Erwähnung findet, trotz dessen ent-
lich beschrieben hat, blickten Europas                scheidender Bedeutung für die Ereignisse
Intellektuelle 1914 auf eine lange, ver-              1914. Denn völlig unabhängig von der der-
gleichsweise friedliche Phase zurück                  zeit wieder einmal diskutierten Frage, ob
und waren von der Welle kriegeri-                     die europäischen Staaten als „Schlafwand-
schen Nationalismus zumindest über-                   ler“ (Christopher Clark; vgl. Clark 2012) in
rascht, so sie nicht von ihr erfasst und              den Krieg „geschlittert“ (Lloyd George)
mitgerissen wurden. War zuvor von                     waren oder vor allem der deutsche Griff
europäischer Einigung die Rede ge-                    nach der Weltmacht als ursächlich zu se-
wesen, lag der Kontinent wenige Jah-                  hen ist (Fritz Fischer; vgl. Fischer 1961),
re später in Trümmern und die natio-                  maßgeblich für die Katastrophe war jeden-
nalistische Saat ging auf.                            falls eine dominante imperialistische Ideo-
                                                      logie. Unsere These ist, dass wir es 2014
   2014 erwartet auch trotz Krim-Krise                mit einem vergleichbaren, allerdings weni-
niemand eine militärische Eskalation.                 ger militärisch und dafür stärker wirt-
Dennoch mag ein Blick zurück im Sinne                 schaftlich ausgeprägten Imperialismus zu
einer Reflexionsanalogie (vgl. Münkler                tun haben.

72   Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit Argumente 1/2014
Imperialismus als Wettbewerbs-                Imperialismus sogar in erster Linie mit
ideologie                                     dem ‚Primat der Innenpolitik‘ erklärt [hat]“

    Kern imperialistischer Ideologie vor          Ein Blick auf die herrschende (Wirt-
1914 war die Überzeugung, dass für Wohl-      schafts-)Ideologie des Jahres 2014 offen-
stand und Erfolg einer Großmacht Expan-       bart erstaunliche Parallelen. Der zentrale
sion in Form von Kolonien und die damit       Orientierungspunkt deutscher Politik ist
verbundene Erschließung ausländischer         jener der „Wettbewerbsfähigkeit“, wie sich
Bezugs- und Absatzmärkte erforderlich         schön anhand von Angela Merkels Rede
sind. Die imperialistische Ideologie war      beim Weltwirtschaftsforum in Davos
aber nie nur eine wirtschaftliche. Für die    201318 illustrieren lässt. Merkel forderte
Eliten der wilhelminischen Ära waren          dort „eine Wettbewerbsfähigkeit, die sich
Kolonien und Weltmachtstreben immer           daran bemisst, ob sie uns Zugang zu globa-
auch eine Frage „des Prestiges, der Ehre,     len Märkten ermöglicht.“ Der Blick richtet
der weltpolitischen Gleichberechtigung“       sich wie damals vor allem nach außen,
(Winkler 2008). Eine Einstellung, die in      zweimal warnt Merkel in ihrer Rede davor,
der Forderung des späteren deutschen          dass Wettbewerbsfähigkeit nicht „irgend-
Reichskanzler Bernhard von Bülow nach         wo im Mittelmaß“ oder „beim Durch-
einem „Platz an der Sonne“ für Deutsch-       schnitt aller europäischen Länder“ liegen
land besonders deutlich wurde. In seiner      dürfe. Indikator für Wettbewerbsfähigkeit
Reichstagsrede im Jahr 1897 erklärte es       seien „Überschüsse in den Leistungsbilan-
von Bülow zu „eine[r] unserer vornehm-        zen“, die „wir auf gar keinen Fall aufs Spiel
sten Aufgaben, gerade in Ostasien die In-     setzen“ dürften. Nur so könne man „ein
teressen unserer Schiffahrt, unseres Han-     wichtiger Spieler am Weltmarkt“ mit Un-
dels und unserer Industrie zu fördern und     ternehmen sein, „die als schlagkräftige Ak-
zu pflegen.“ Als roter Faden durch die gan-   teure auch weltweit agieren könn[t]e[n].“
ze Rede17 zieht sich die Überzeugung, dass    Wieder geht es um den Platz an der Sonne,
Deutschland im Wettbewerb mit den an-         wenn er auch nicht mit militärischen Mit-
deren „Großmächten“ steht. So sollte „der     teln, sondern durch die in der Rede an er-
deutsche Unternehmer, die deutschen Wa-       ster Stelle erwähnten Lohnzusatzkosten
ren, die deutsche Flagge […] geradeso ge-     und Lohnstückkosten erkämpft werden
achtet werden wie diejenigen anderer          soll.
Mächte.“ Der Blick über die Grenzen des
deutschen Reiches hinaus erlaubte außer-      Sozialdemokratie und Imperialismus
dem, von wachsenden sozialen Spannun-
gen im Inneren abzusehen, wenn nicht so-          Interessant ist in beiden Fällen das Ver-
gar abzulenken. So stellte der britische      halten der Sozialdemokratie. Auch vor
Imperialist Cecil Rhodes 1895 fest, dass,
wer den Bürgerkrieg vermeiden wolle, zum      17
                                                   Vgl. https://de.wikisource.org/w/index.php?tit-
Imperialisten werden müsse. Der britische          le=Deutschlands_Platz_an_der_Sonne&ol-
                                                   did=2058341
Historiker Hobsbawm ergänzt dazu, dass        18
                                                   Vgl. http://www.bundesregierung.de/ContentAr-
man „für manche Länder – insbesondere              chiv/DE/Archiv17/Reden/2013/01/2013-01-24-
Deutschland – […] das Aufkommen des                merkel-davos.html

                                                                                               73
1914 stand die SPD den imperialistischen              zialdemokratie in Deutschland geführt hat,
Abenteuern skeptisch gegenüber und be-                wird in Gerhard Schröders Plädoyer für
klagte die hohen Kosten der Kolonien. Der             eine Agenda 2020 deutlich: „Deutschland
internationalistische Anspruch der Partei             kann seinen Vorsprung gegenüber aufstre-
spielte eine größere Rolle als heute, die             benden Wirtschaftsmächten wie Brasilien
Ausrichtung der Sozialdemokratie war                  und China nur verteidigen, wenn wir hart
klassenkämpferischer. Noch am 25. Juli                an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbei-
1914 warnte der SPD-Parteivorstand im                 ten.“19
Vorwärts, dass „die herrschenden Klassen,
die euch in Frieden knechten, verachten,                   Die Gründe für sozialdemokratische
ausnutzen, euch als Kanonenfutter miß-                Zustimmung zu imperialistischen Politik-
brauchen [wollen]“, und ließ „die interna-            konzepten waren damals wie heute ähn-
tionale Völkerverbrüderung“ hochleben.                lich. Angesichts von äußerer Bedrohung –
Etwas mehr als eine Woche später begrün-              dem zaristischen Russland, dem vermeint-
dete der Parteivorsitzende Hugo Haase je-             lich wettbewerbsfähigeren China – gilt es
doch die Zustimmung der SPD-Fraktion                  das bisher Erreichte zu schützen und dafür
zu den Kriegskrediten im Reichstag damit,             Kompromisse zu machen. Bleibt die Frage,
„das eigene Vaterland in der Stunde der               ob diese Kalkulation aufgehen kann. Was
Gefahr nicht im Stich zu lassen.“ Der                 den militärischen Imperialismus betrifft,
Wunsch, nicht als vaterlandslose Gesellen             ist sie eindeutig beantwortet und der impe-
dazustehen, dominierte, die prinzipielle              rialistische Krieg geächtet. Der ökonomi-
Ablehnung des Imperialismus wurde im                  sche Imperialismus ist hingegen lebendiger
konkreten Fall den vermeintlich nationalen            denn je.
Interessen untergeordnet. Eine Spaltung
der Sozialdemokratie in MSPD und                      Imperialismus als ökonomisches
USPD war die Folge.                                   Null-Summen-Spiel

    Knapp 100 Jahre später lässt sich ein                 Eric Hobsbawm ist der Auffassung,
ähnliches Muster im Umgang der SPD mit                dass der überzeugendste allgemeine Be-
der herrschenden Wettbewerbsideologie                 weggrund für die koloniale Expansion die
beobachten. Zwar werden Unternehmen                   Suche nach neuen Märkten war. Dabei war
dafür kritisiert, Staaten gegeneinander aus-          schon vor 1914 umstritten, ob sich Impe-
zuspielen („Heuschrecken“), und die nega-             rialismus in Form von Kolonien überhaupt
tiven Auswirkungen des Standortwettbe-                rechnet. Hobsbawm ist beispielsweise der
werbs in Form von Lohn- und                           Meinung, es gebe „keine stichhaltigen An-
Steuersenkungswettläufen durchaus als                 haltspunkte, dass koloniale Eroberung als
solche erkannt. Im konkreten Krisenfall               solche einen besonderen Einfluss auf die
aber verfolgte die deutsche Sozialdemokra-            Beschäftigungsquote oder die Realein-
tie wieder eine nationalistische Steuersen-           kommen der meisten Arbeiter in den Mut-
kungs- und Lohnzurückhaltungspolitik.
Das neoimperialistische Denkmuster, das               19
                                                           Vgl. http://www.welt.de/wirtschaft/arti-
der deutschen Agenda 2010 zu Grunde lag                    cle114310644/Muessen-hart-an-der-Wettbe-
und zu einer neuerlichen Spaltung der So-                  werbsfaehigkeit-arbeiten.html

74   Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit Argumente 1/2014
terländern gehabt hätten (…) Weit bedeut-    Entwicklungstheorien, die die Rolle des
samer war die gängige Praxis, den Wählern    Außenhandels in den Vordergrund stellen.
Ruhm statt Reformen, die weit kostspieli-    Der Aufholprozess des deutschen Reichs
ger gewesen wären, anzubieten.“ (Hobs-       und der USA gegenüber der Kolonial-
bawm 2008, S. 94) Karl Kautsky, Chef-        macht England zur vorletzten Jahrhun-
ideologie der SPD um 1900 belegte mit        dertwende ist ein Indiz dafür, dass globale
statistischen Aufschlüsselungen über die     Präsenz wohl eher die Folge als die Ursache
Ausweitung der Eisenbahnkilometer, dass      wirtschaftlicher Dynamik ist. Diese Unter-
die Ausdehnung des Weltmarkts und der        scheidung ist von großer Bedeutung: Ist
Produktion nicht in den Kolonien, sondern    die wirtschaftliche Entwicklung endogen,
im Zentrum stattgefunden hat. Die Kosten     also von inneren Ursachen getrieben, dann
für die Überseekriege würden hingegen die    kann der Kuchen für alle wachsen. Ist Ent-
Erträge bei weitem übertreffen (vgl. Kaut-   wicklung hingegen im Rahmen eines han-
sky 1909, S. 76 f.). Ähnlich argumentierte   delsbasierten Nullsummenspiels zu verste-
Eduard Bernstein die britischen Kolonien     hen, dann kann A nur gewinnen, was B
betreffend: „Nun kann man es gewiß als       verliert. Die Entwicklung des einen ist hier
sehr zweifelhaft bezeichnen, ob das engli-   immer die Regression des anderen.
sche Volk in seiner Masse von der Herr-
schaft Englands über Indien wirtschaftli-    Die imperialistische Logik
chen Vorteil hat. Nach meiner Ansicht ist    des Standortwettbewerbs
das Gegenteil der Fall.“ (Bernstein 1907)
                                                 Die Rechtfertigung für das Primat der
    Die wirtschaftliche Rechtfertigung des   Wettbewerbsfähigkeit in der deutschen
Imperialismus beruhte auf der heute noch     Wirtschaftspolitik folgt der expansiven
unter vielen Ökonomen gängigen Fehlan-       Logik des Imperialismus. Wenn Deutsch-
nahme, die Triebfeder ökonomischer Ent-      lands Löhne stärker steigen und deshalb
wicklung beruhe auf der globalen Expansi-    die Wettbewerbsfähigkeit sinkt, bekommt
on des Handels. Der deutsche Imperialis-     es ein kleineres Stück des Kuchens und es
mus war getrieben von der Vorstellung, im    gibt weniger zu verteilen. Die Weltwirt-
Wettbewerb um die Aufteilung einer           schaft wird als Nullsummenspiel gesehen,
knappen Erde im Hintertreffen zu liegen      in dem Europa nur überleben kann, wenn
und dadurch langfristig ökonomisch zu        die europäischen ArbeitnehmerInnen im
unterliegen.20 In der Spätphase des Impe-    globalisierten Wirtschaftskrieg gegen Chi-
rialismus erschien 1912 J.A. Schumpeters     na und Brasilien auf Lohnerhöhungen ver-
„Theorie der wirtschaftlichen Entwick-       zichten. Obwohl das jährliche globale
lung“, die die kapitalistische Dynamik in    BIP-Wachstum augenscheinlich zeigt,
erster Linie in Innovationen und Produkti-   dass der chen für alle wachsen kann und es
vitätsfortschritten erkennt. Diese endoge-   vor allem darum gehen muss, dieses
ne Entwicklungstheorie erklärt ökonomi-      Wachstum ökologisch nachhaltig zu ge-
schen Fortschritt primär mit kapitalis-
tischen Dynamiken der „schöpferischen        20
                                                  http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-
Zerstörung“ und unterscheidet sich von            geschichte/kaiserreich/139653/aussenpolitik-und-
merkantilistischen oder imperialistischen         imperialismus

                                                                                              75
stalten, ist die Diskussion in Deutschland             Ohne deutschen Sinneswandel zer-
und Europa geprägt von Verlust- und Un-                bricht die Eurozone
tergangsängsten. Zur wichtigsten rhetori-
schen Figur des zeitgenössischen Neoim-                    Die Wirtschaftskrise 2008, die vor al-
perialismus wurde der Standardortwettbe-               lem in Europa auch eine drastische Krise
werb – ein Kampf um Direktinvestitionen                des Neoimperialismus darstellte, wurde
und Marktanteile am Welthandelsvolu-                   kaum als solche interpretiert. Um die ab-
men. Rainer Land und Ulrich Busch beto-                strakte Materie zu popularisieren, fehlte in
nen, dass beim Standortwettbewerb Moti-                der linken Mitte das politische Verständ-
ve der Umverteilung im Vordergrund                     nis. Stattdessen setzten sich Interpretatio-
stehen: „Hier versuchen die Marktteilneh-              nen durch, die konkrete Feindbilder anbie-
mer durch Wettbewerbsvorteile (Lohnni-                 ten konnten. Bildlich und plastisch ist das
veau, Steuerniveau, Regelungsdichte, Um-               Bild des faulen Griechen mit Sonnenbrille
welt- und Sozialstandards usw.) anderen                in der Hängematte, der auf unsere Kosten
Marktanteile wegzunehmen, also Effekte                 ein gemütliches Leben führt. Klischees er-
durch Umverteilung statt durch Produkti-               gossen sich über die südeuropäischen Län-
vitätssteigerungen zu erreichen.“ (Busch/              der. Niemand interessierte sich dafür, dass
Land 2010, S. 19)                                      Spaniens Exporte vor der Krise stärker
                                                       wuchsen als die deutschen, niemand be-
    Der Verweis darauf, dass das Ganze                 achtete, dass der Anteil der Löhne am ita-
mehr ist als die Summe seiner Teile, dass              lienischen Volkseinkommen vor der Krise
Kooperation Europa und die Weltwirt-                   rückläufig war. „Die Party im Süden ist zu
schaft voranbringen würde, ohne Deutsch-               Ende“, so der Vorurteile schürende Befund
land zu schaden, kommt führenden SPD-                  des Mainstream-Ökonomen Hans-Wer-
PolitikerInnen nicht über die Lippen. Von              ner Sinn an die Adresse der Krisenstaaten.
einer Öffentlichkeit, die angeblich nicht
weiter zu blicken bereit ist als um die näch-              Noch krasser als Südeuropa wurde aber
ste Ecke, würde ein solcher Vorstoß als                ein anderes Land in Deutschland Opfer ei-
wirtschaftsschädlich und unpatriotisch                 ner sagenhaften Propagandakampagne.
aufgefasst werden. Sigmar Gabriels Besuch              Seit Jahren ist die deutsche Berichterstat-
bei Frankreichs Wahlsieger Francois Hol-               tung über Frankreich geprägt von nationa-
lande wurde etwa von Cicero-Redakteur                  ler Überheblichkeit und Geringschätzung.
Wolfram Weimer in der ARD so kom-                      2011 warnte Der Spiegel: „Nun gerät auch
mentiert: „Wieso fällt der in dem Moment,              die europäische Wirtschaftsgroßmacht
wo die Kanzlerin einigermaßen tapfer für               Frankreich ins Wanken. Jahrzehntelang
deutsche Interessen kämpft, ihr in den                 hat das Land geprasst und seinen Konsum
Rücken bei dem ärgsten Widersacher?“                   auf Pump finanziert.“21 Und weiter: „Nei-
Wenn die SPD internationale Kooperation                disch blicken die Franzosen neuerdings auf
auch nur andenkt, wird sie mit dem Stigma              das >modèle allemande
bellen und Grafiken, in denen Deutsch-         handelt wie Deutschland, wäre Deutsch-
land immer vorn liegt.“ 2014 titelt Die Zeit   lands Vorsprung niemals zur Geltung ge-
schließlich wenig originell mit „Der kranke    kommen. In Anbetracht dieser Tatsache ist
Mann Europas“, fordert „Frankreich             es besonders perfide, der Grand Nation die
braucht Reformen“ und bedauert, dass           Verantwortung für Probleme mit der
„eine Reformagenda à la Schröder“ immer        Wettbewerbsfähigkeit umzuhängen. Über-
noch als nicht auf Frankreich übertragbar      haupt ermöglichte erst die Euroeinführung
angesehen wird. Auf die deutsche Sozial-       den Erfolg der deutschen Strategie – zu
demokratie ist aber in wirtschaftlich-natio-   Zeiten der DM-Mark hätten Aufwertun-
nalen Fragen Verlass und der diesbezügli-      gen die deutsche Kaufkraft im Ausland ge-
che Burgfriede bislang nicht in Gefahr: Im     stärkt und preisliche Vorsprünge wieder
Kern unterscheidet sich die Position der       zunichte gemacht. Damit es genau zu kei-
SPD nur wenig von der der Kanzlerin.           ner dramatischen Auseinanderentwicklung
Euro-Bonds, wie Hollande sie sich vor-         der Preisniveaus kommt, ist eine synchrone
stellt, haben in der SPD-Spitze wenig Für-     Entwicklung von Lohnstückkosten und
sprecher. Zudem hält die SPD Reformen          Preisen das eigentliche Geheimnis einer
in Frankreich genau wie die Kanzlerin für      Währungsunion. Im Gegensatz zu den we-
unumgänglich. „Die Franzosen sind in ei-       niger wichtigen Staatsschulden gibt es aber
nem Zustand, wie wir es 2001 waren“, sagt      für eine gemeinsame Inflationsentwick-
Steinmeier.22 Wenn Deutschland noch vor        lung keine europäische Steuerung.
zehn Jahren als kranker Mann Europas
galt, wie hat sich Frankreich innerhalb kur-       Wie überall, wo es keine Regeln gibt,
zer Zeit in diese unterlegene Position ma-     herrscht das Faustrecht. Die europäische
növriert?                                      Wirtschafts- und Finanzpolitik wird von
                                               jenen vorgegeben, die ökonomisch am we-
    Vor der Euroeinführung war es die          nigsten Rücksicht nehmen. In der Bundes-
deutsche Bundesbank, die durch ihre            republik wurde der Standortwettbewerb so
Geldpolitik den makroökonomischen              lange beschworen, bis sie ihn selbst lostrat.
Herzschlag in Europa vorgab. Die Wäh-          Deutschland hat mit seiner aggressiven
rungsunion war weniger ökonomisch mo-          Handelsstrategie in Europa eine Hegemo-
tiviert, als eher ein politischer Wunsch der   nialstellung erreicht wie seit 1945 nicht
französischen Regierung, diese Währungs-       mehr. Während deutsche Regierungen un-
vorherrschaft Deutschlands über Frank-         ter Helmut Schmidt oder Helmut Kohl
reich zu beenden. Aus heutiger Sicht ein       ihre wirtschaftliche Vorherrschaft im Gei-
Schuss ins Knie, denn das Konstrukt „ge-       ste des Nachkriegskonsens noch politisch
meinsame Währung – nationale Wirt-             abgemildert haben, fehlt der deutschen
schaftspolitik“ hatte fatale Folgen. Es war    Öffentlichkeit mittlerweile jegliche Sensi-
Deutschland, das Ende der 90er-Jahre ei-       bilität für herrisches Gehabe. Diese Roh-
nen Lohnwettbewerb startete, wodurch die       heit ist ein direktes Resultat von zwei Jahr-
heimische Nachfrage nach Exporten der          zehnten unter dem permanenten Eindruck
Partnerländer sank und die deutschen Aus-
fuhren günstiger wurden. Hätten Frank-         22
                                                    Der Spiegel, 18/2013 http://www.spiegel.de/
reich und die anderen damals gleich ge-             spiegel/print/d-93419360.html

                                                                                                  77
der martialischen Rhetorik des Standort-               in Europa geben, aber die Währungsunion
wettbewerbs. Aus ihm speist sich der neu               wird zerbersten und die europäische Inte-
erwachenden Wirtschaftsnationalismus in                gration wird um eine Generation zurück-
Deutschland. Das zeitgenössische Gesicht               geworfen werden. Es gibt natürlich einen
des Nationalismus heißt Standortwettbe-                anderen Weg – auf diesen haben aber die
werb. Durch das Fehlen einer europäischen              südeuropäischen Länder keinen Einfluss.
Autorität, in der europäische Interessen               Es könnte sein, dass sich in Deutschland
vermeintlichen nationalen Interessen über-             die Erkenntnis durchsetzt, dass man mit
geordnet sind, hat die Kombination aus                 den anderen europäischen Ländern in ei-
Standortwettbewerb und Währungsge-                     nem Boot sitzt und der kurzfristige Vorteil
fängnis den großmannssüchtigen Deut-                   Deutschlands ein langfristiger Nachteil
schen wieder seine Schatten über den Kon-              Europas ist, während ein kurzfristiger Vor-
tinent werfen lassen. Es läge vor allem an             teil Europas auch zu einem langfristigen
einer wieder zur Besinnung kommenden                   Vorteil Deutschlands werden könnte. Die
deutschen Sozialdemokratie, die zuneh-                 jüngste Anerkennung der dramatischen
menden Herrschaftsdiskurse in ihrem Hei-               deutschen Leistungsbilanzüberschüsse als
matland empört zurückzuweisen. Dazu                    eventuelles Problem durch das Bundes-
müsste sie aber jene ökonomischen Auffas-              wirtschaftsministerium ist in dieser Hin-
sungen hinter sich lassen, die Deutschland             sicht ein erster kleiner Lichtblick23. Der
als natürlichen Gewinner eines fairen                  Konsens der Eliten, das deutsche Heil im
Wettbewerbs erscheinen lassen. Der                     internationalen Wettbewerb zu suchen,
Schritt von einer einzelwirtschaftlichen               scheint jedoch 2014 nicht viel schwächer
hin zu einer gesamtwirtschaftlichen Be-                zu sein als 1914. l
trachtungsweise wird zur entscheidenden
Herausforderung für einen Wandel von
Deutschland als Führungsmacht hin zu
Deutschland als Partner.

     Wie 1914 bewegen wir uns auf eine po-
litische Eruption in Europa zu und wie
1914 ist das deutsche Streben nach Domi-
nanz eine wesentliche Ursache der Polari-
sierung. Noch erkennen die Regierungs-
chefs von Frankreich, Italien und Spanien
nicht, dass sie sich für ihr wirtschaftliches
Überleben entweder des Euros oder der
marktradikalen deutschen Vorherrschaft
auf europäischer Ebene entledigen müssen
(was wiederum auf einen Austritt
Deutschland aus dem Währungsverband
hinauslaufen würde). Wenn diese Erkennt-               23
                                                            http://www.handelsblatt.com/politik/deutschl-
nis jedoch reift, werden die politischen Fol-               and/aussenhandel-bundesregierung-sieht-export-
gen fatal sein. Wohl wird es keinen Krieg                   plus-als-problem/9570660.html

78   15 Jahre Bologna: ftw oder megafail? Argumente 1/2014
Quellen:

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Hobsbawm, E. (2008): Das imperiale Zeitalter.
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