Die Gründung des Goethe-Instituts in Vilnius und die deutsch-litauischen Kulturbeziehungen

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             Die Gründung des Goethe-Instituts in Vilnius
            und die deutsch-litauischen Kulturbeziehungen

Martin Wälde

Polnische Vorgeschichten
Mein Weg nach Litauen führte zunächst über Polen. Das hat mein Bewußtsein von
dieser Region Europas entscheidend vorgeprägt und auch die Inhalte meiner sehr
viel später aufgenommenen Arbeit mit dem Goethe-Institut in Litauen beeinflußt.
Anfang der 90er Jahre hatte ich in München im Fernsehen den mutigen
Unabhängigkeitskampf Litauens verfolgt, Landsbergis und Prunskienė blieben mir im
Gedächtnis. Aber bald nach den blutigen Ereignissen am Fernsehturm und vor dem
Parlament konzentrierten sich die deutschen Medien wieder auf andere Ereignisse
und Litauen entrückte schnell unserer und meiner Aufmerksamkeit. Über die reiche
und komplizierte Geschichte der Stadt Vilnius hatte ich aber schon 1986 gelesen. Ich
war damals für einige Monate Gastdozent für Philosophie an der Universität
Warschau und einer der wenigen westdeutschen Besucher in Polen mit längerem
Aufenthalt. Meine große Neugier für die Menschen in Polen, die bitteren Kriegsjahre,
die schwierige deutsch-polnische Geschichte und das so ganz andere Leben in einer
sozialistischen Republik haben mich damals sehr bewegt und neugierig gemacht.
„Reichtum“, „Freiheit“ und „Entbehrung“, diese Worte hatten in Polen plötzlich eine
ganz andere Bedeutung, einen anderen Klang als bei uns im Westen. Meine
polnischen Erfahrungen, so kann ich heute rückblickend sagen, haben mein Leben
verändert. Ich war doch ein eher verwöhnter Zögling der alten Bundesrepublik, in den
Zeiten des Wirtschaftswunders geboren, und hatte zehn Jahre in meiner
Studierstube in Konstanz philosophische Texte gelesen und analysiert. Etwas
weltfremd war ich durchaus. Die Realitäten im Polen der achtziger Jahre, mit den
bekannten Widrigkeiten und den enormen Anstrengungen in der Alltagsbewältigung,
der politische Kampf der SOLIDARNOŚĆ, die intellektuelle Präsenz vieler Polen und
ihr großes Wissen über die europäische Kultur beeindruckten mich nachhaltig und
beschämten mich zugleich, weil mir bewußt wurde, wie wenig wir jungen Deutschen
über den so genannten „Osten“ wußten, obwohl wir alle ein zumindest abstraktes
Bewußtsein von der deutsch-deutschen Teilung hatten. Es war die Lektüre von
Cesław Miłosz‘ Buch „West und Östliches Gelände“, die mir die Augen öffnete.

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Miłosz gab mir in seinem Buch zumindest eine Ahnung von der magischen Schönheit
und der Tragik einer Stadt mit den Namen Vilnius, Wilna, Wilno, Vilné. Auch damals,
1986, paßten die Worte Cesław Miłosz‘ über Vilnius noch ins gegenwärtige Bild vom
geteilten Europa: „Ausländer reisen selten zu diesen fernen Grenzen des Westens.
….Enge Straßen, mit Katzenköpfen gepflastert, Rausch des Barock; beinahe wie
eine Jesuitenstadt irgendwo im Herzen Lateinamerikas.“ Das hörte sich verlockend
an, aber es war damals noch sehr schwierig, wenn nicht unmöglich für uns „aus dem
Westen“, in die Sowjetunion mit dem eigenen Auto zu fahren. Ich erinnere mich an
meine lange und 1987 noch sehr einsame Reise durch Masuren und an eine Straße
bei Punsk, die an der Grenze zur Sowjetunion unvermittelt an einem Schlagbaum
endete. Man sah den kleinen Ort Radiškė auf der anderen Seite: Das war meine
erste „Begegnung“ mit Litauen – so nah, aber damals doch auch so unerreichbar
fern. Bis ich das erste Mal nach Litauen reiste, sollten noch 11 Jahre vergehen.

Ankunft in Litauen
Meine Familie und ich hatten gerade vier bewegte, ja abenteuerliche Jahre in der
Islamischen Republik Pakistan hinter uns, als wir an einem recht verregneten, grauen
1. April 1998 in Vilnius eintrafen. Hinter uns lagen die Hitze, der Staub und
bürgerkriegsähnliche Zustände in der 12 Millionen-Metropole Karachi und vor uns ein
Kulturschock: der etwas kühlere Nordosten Europas auf dem westlichen Terrain der
ehemaligen Sowjetunion. Am Flughafengebäude, das uns eher an einen kleinen
Bahnhof erinnerte, holten uns Carsten Schneider als Vertreter der Deutschen
Botschaft und Džoalita Zalieckaitė, unsere erste Mitarbeiterin, ab und begleiteten uns
zum Hotel „Narutis“ in der Altstadt von Vilnius. Eine Privatwohnung oder gar ein
Institutsgebäude hatten wir noch nicht. Im Foyer des Hotels, in den kommenden
Wochen mein „Arbeitsplatz“, feierten wir noch ganz unter uns diesen ersten Tag
eines nun zu gründenden Goethe-Instituts in Litauen. Zu feiern gab es eigentlich
noch nichts; die ganze Arbeit lag ja noch vor uns – mit all ihren Unwägbarkeiten und
Überraschungen: die Suche nach einem Büro, die Sondierung möglicher Aktivitäten
und bürokratischer Fallstricke, die Klärung rechtlicher Fragen für die Institutsarbeit
und am allerwichtigsten: Kontakte zu Personen in Vilnius, die Interesse an einer
Zusammenarbeit mit uns haben könnten. Es sollte bis November 1998 dauern, bis
wir endlich in unser Institutsgebäude in der Nähe der Kathedrale von Vilnius, in der

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Tilto-Straße, einziehen konnten und noch weitere zwei Jahre, bis das Institut am 14.
September 2000 offiziell eingeweiht wurde.

Ungünstige Rahmenbedingungen
Ich wußte nicht, wie man ein Goethe-Institut gründet, ich wußte aber wie man ein
Goethe-Institut schließt. Wenige Monate vor meiner Ankunft mußte ich eines der
beiden Goethe-Institute, das ich in Pakistan leitete, in Lahore 40 Jahre nach seiner
Eröffnung zumachen. Die Gründung eines Goethe-Instituts in Litauen, vereinbart im
September 1997, ging damals mit einer massiven Schließungswelle einher. Das
Goethe-Institut war aufgrund von Mittelkürzungen in den öffentlichen Kassen
gezwungen, neun Filialen weltweit aufzugeben. Aus heutiger Sicht war es eine
bemerkenswerte und keineswegs selbstverständliche kulturpolitische Entscheidung,
daß das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut München trotz der erheblichen
Sparzwänge die Gründung eines Goethe-Instituts in Litauen (zeitgleich mit Tallinn)
befürworteten. Damit wurden die schon kurz nach der Unabhängigkeit Litauens
geschmiedeten und dann mit der Gründung des Goethe-Instituts Riga verschobenen
Pläne   doch    noch    verwirklicht.   Das   1993    vereinbarte   deutsch-litauische
Kulturabkommen bildete schon recht früh eine rechtliche Grundlage für die Präsenz
eines deutschen Kulturinstituts. Warum hatte es so lange gedauert? Zunächst ging
die Münchener Zentrale des Goethe-Instituts davon aus, daß ein gut ausgestattetes
Institut in Riga alle drei baltischen Länder, die ja vergleichsweise klein sind, in der
Sprach- und Kulturarbeit mitbetreuen könnte. Man übersah damals, daß die
Bezeichnung „Baltikum“ eine Einheit suggeriert, die faktisch und historisch nicht
existiert. Erst eine differenzierte Betrachtung der drei Länder zeigt, daß sie in ihrem
außenpolitischen Verhältnis zu ihren Nachbarn, mit ihren historischen Wurzeln und
kulturell-sprachlich mit ihren Traditionen durchaus recht verschieden sind. Die
Gründung von drei Goethe-Instituten in Lettland, Estland und Litauen ist auch
kulturpolitisch eine Anerkennung dieser Unterschiede im Blick auf eine gemeinsame
Zukunftsregion in Europa.

Es war für mich zu Beginn meiner Tätigkeit in Litauen überhaupt nicht absehbar, daß
das Goethe-Institut sehr bald eine solche Erfolgsgeschichte in Litauen entwickeln
würde, wie wir das heute rückblickend auf die ersten drei Jahre schon feststellen
können. Zunächst hatte die Münchener Zentrale vor dem Hintergrund ihrer massiven

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Sparzwänge ein sehr bescheidenes Büroinstitut mit einem Institutsleiter und zwei
halben Assistentenstellen vorgesehen. Mehr war auch für die Zukunft nicht geplant.
Also ein Sparinstitut für Litauen? Schon nach wenigen Monaten in Vilnius war mir
klar, daß wir dem enormen Bedarf in der Lehrerfortbildung, dem Interesse an
Deutsch als Fremdsprache und dem reichen Kulturleben in diesem Land überhaupt
nicht adäquat begegnen konnten, wenn wir aufgrund unserer Sparzwänge sehr oft
„nein“ und nur selten „ja“ sagen konnten. Es ist den Litauern nicht gerade leicht zu
vermitteln, daß auch die „reiche“ Bundesrepublik sparen muß. Rückblickend ist es für
mich der vielleicht wichtigste Erfolg unserer Gründungsgeschichte, daß wir unsere
Kollegen in München davon überzeugen konnten, daß es gerechtfertigt ist, in dieses
Institut mehr zu investieren als ursprünglich vorgesehen war. Heute hat das Goethe-
Institut Vilnius mit acht Mitarbeitern eine solide personelle Grundlage für die Zukunft.

Wie gründet man ein Institut?
Meine Hauptbeschäftigung in den ersten Wochen waren erste Treffen mit litauischen
Kulturveranstaltern, Künstlern und Bürokraten. Ich wollte so schnell wie möglich
herausfinden, was sich in der Kulturszene von Vilnius abspielt und die Akteure
kennenlernen: Welche Ideen haben sie, was planen sie und was erwarten sie
konkret von uns? Schon in den ersten Tagen gab es zahlreiche Gespräche, die zügig
zu konkreten Ergebnissen führten. Dieser erste Monat April war vielleicht einer der
kreativsten Arbeitsmonate überhaupt – unbeschwert von dem “Apparat” eines
Instituts, nur ausgestattet mit dem Fax des Hotels, organisierten wir in den ersten vier
Aprilwochen mehrere Kulturveranstaltungen des noch virtuellen Goethe-Instituts
Vilnius für die Monate September bis November 1998. So kam Anfang September
das erste Monatsprogramm mit einer bescheidenen Auflage von 700 Exemplaren auf
deutsch und litauisch heraus. Warum diese Eile? Als ich in Litauen ankam, war mir
sehr schnell klar geworden, daß wir es nicht zu lange beim Gesprächeführen
belassen sollten. Erst durch die Präsenz als Veranstalter und in der konkreten
Zusammenarbeit mit litauischen Partnern wurde das Goethe-Institut Vilnius
anerkannt und als zukünftiger Partner der litauischen Kulturszene Ernst genommen
und was besonders wichtig war: nur so konnte es in der Öffentlichkeit zu einem
frühen Zeitpunkt überhaupt wahrgenommen werden. Dieser schnelle Start hat uns
dann in der Aufbauphase sehr geholfen, neue Kontakte zu knüpfen und weitere
Aktivitäten zu planen und durchzuführen. Ohne die große Offenheit, das Interesse

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und die Hilfsbereitschaft litauischer Künstler und Kulturveranstalter wäre dieser
gelungene Anfang unmöglich gewesen.

Als wir das Goethe-Institut in Litauen gründeten, geschah dies freilich nicht in einem
luftleeren Raum deutsch-litauischer Kulturbeziehungen. In den Jahren seit der
erneuten     Unabhängigkeit     Litauens   haben      zahlreiche    Persönlichkeiten   aus
Deutschland und Litauen und deutsch-litauische Kultureinrichtungen sehr viel für
diesen seit Jahrzehnten unterbrochenen Kulturaustausch geleistet: Das Simon-Dach-
Haus in Klaipėda, das Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida, die deutschen Lesesäle
in Kaunas und Vilnius (ausgestattet vom Goethe-Institut) und die deutsch-litauischen
Kulturvereine in zahlreichen litauischen Städten, die sich auch erstmals um die
deutschen Minderheiten kümmerten und natürlich das Goethe-Institut Riga, das vor
allem     litauische   Deutschlehrer   schon   seit   Jahren   in    Fortbildungsseminare
miteinbezogen hatte. Insbesondere die deutsche Botschaft Wilna hatte in den Jahren
vor der Gründung des Goethe-Instituts zahlreiche Kontakte geknüpft und Kulturver-
anstaltungen durchgeführt, und es war das Engagement der Botschaft, das auch auf
Drängen litauischer Partner letztlich zur Gründung eines Goethe-Instituts in Litauen
führte.

Schon in den ersten Monaten wurde mir klar, wie richtig diese Gründungs-
entscheidung im Blick auf die Stärkung der litauisch-deutschen Zusammenarbeit war:
Die skandinavischen Länder und vor allem Frankreich hatten seit Jahren erheblich
mehr in die kulturelle Zusammenarbeit investiert als Deutschland. Und dies, obwohl
die litauische Kulturszene generell sehr genau die künstlerischen und kulturellen
Entwicklungen in der Bundesrepublik verfolgt und an ihr interessiert ist. Berlin ist für
viele Litauer auch kulturell näher als Paris oder London. Im Musikbereich waren (und
sind) die Kontakte Litauens nach Deutschland am stärksten ausgeprägt, nicht aber
im für Litauen so wichtigen Theaterbereich oder in der zeitgenössischen Kunst, von
Kontakten zur deutschen Literaturszene ganz zu schweigen. Auch spielt die
deutsche Sprache in Litauen, trotz der Dominanz des Englischen als Weltsprache,
eine immer noch bedeutende Rolle an den Schulen, Universitäten und im
Wirtschaftsleben.

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Der “Verein” Goethe-Institut Inter Nationes
Sehr viel schwerer als die Planung und Durchführung von Aktivitäten ist für uns bis
heute die rechtliche Verankerung des Goethe-Instituts in Litauen, da es im
litauischen Rechtssystem derzeit noch keine wirklich passende Rechtsform für das
Goethe-Institut Vilnius gibt. Das Goethe-Institut Inter Nationes (wie sein voller Name
seit Anfang 2001 lautet) ist als in München eingetragener Verein die von der
Bundesrepublik Deutschland beauftragte wichtigste Mittlerorganisation (mit ihren
derzeit 127 Kulturinstituten in über 70 Ländern). Die im Rahmen der auswärtigen
Kulturpolitik wahrzunehmenden Aufgaben sind die Pflege der deutschen Sprache
(vor   allem    Fortbildung    von     Deutschlehrern,     Lehrwerkzeugentwicklung,
Zusammenarbeit mit den Bildungsministerien der Gastländer, Durchführung von
Sprachkursen), die internationale kulturelle Zusammenarbeit sowie die Vermittlung
von     Informationen      über       Deutschland,       Besucherprogramme        und
Übersetzungsförderung. Geregelt wird dieser Auftrag durch einen Rahmenvertrag
des Goethe-Instituts mit dem Auswärtigen Amt. Finanziert wird das Institut im
Ausland durch öffentliche Mittel, die ihm über das Auswärtige Amt zukommen. Das
Goethe-Institut hat also einen sehr eigenartigen Status; es hat einen öffentlichen
Auftrag, wird öffentlich finanziert und wird auch durch die öffentlichen Einrichtungen
(wie Botschaften, seine Zentrale und den Bundesrechnungshof) in seiner
Haushaltsführung streng kontrolliert. Es hat aber nicht wie die Botschaften und
Konsulate einen diplomatischen Status, operiert mithin als eigenständige Institution
in den Gastländern, entscheidet z.B. autonom über die Inhalte der Arbeit an den
Kulturinstituten und hat eine selbständige Personalpolitik. Ich gehe auf diese
institutionellen Rahmenbedingungen so ausführlich ein, weil sie für unsere
Gastländer nur schwer durchschaubar sind und die Trennung von Goethe-Institut
und diplomatischer Vertretung oft nicht verstanden wird. In seiner Rechtsform ist das
Goethe-Institut am ehesten dem British Council vergleichbar. Historisch hat diese
institutionelle Eigenständigkeit des Goethe-Instituts, das in diesen Wochen vor genau
50 Jahren gegründet wurde, vor allem damit zu tun, daß die überaus negativen
Erfahrungen     der     politischen    Instrumentalisierung     von    “Kultur”    zu
Propagandazwecken in der Nazizeit die Glaubwürdigkeit auch der Künstler und
Intellektuellen im Ausland enorm beschädigte. Auswärtige deutsche Kulturpolitik und
internationale kulturelle Zusammenarbeit sollten nach dem Krieg nicht mehr
einseitigen, zuweilen kurzlebigen Interessen der politischen Eliten untergeordnet

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werden. Statt dessen sollte eine eher von der Regierung politisch unabhängige
Kultureinrichtung den Dialog von Bürgergesellschaften initiieren. Nach 50 Jahren
Goethe-Institut kann man sagen, daß sich diese eigenartige Konstruktion sehr
bewährt hat. Eine von unseren Partnern nicht als reine Selbstdarstellung (im Sinne
von “Imagepolishing”) und tagespolitisch instrumentalisierte Kulturarbeit gerade mit
Deutschland wirkte vertrauensbildend und beförderte einen gleichberechtigten,
ehrlichen und auch stark an Partnerinteressen orientierten Dialog. Gleichwohl ist das
Goethe-Institut in seiner Grundwerteorientierung kein Verein der Beliebigkeit:
Menschenrechte, eine offene Bürgergesellschaft und demokratische Ideale sind auch
für   das     Goethe-Institut      unverrückbare     Grundvoraussetzungen         seines
Selbstverständnisses und Tuns.

Prinzipien internationaler kultureller Zusammenarbeit
So sind es vor allem die zahlreichen von Goethe-Instituten ermöglichten und
sorgfältig vorbereiteten Begegnungen von Individuen aus den unterschiedlichsten
Kulturen, die in einem dialogischen Prozess versuchen, Kreativität zu entfalten und
dabei im Idealfall Vorurteile, Mißverständnisse und Unkenntnis voneinander
abbauen. Oder sie entdecken, daß sich in der kulturellen Zusammenarbeit plötzlich –
metaphorisch gesprochen - der Spaten zurückbiegt und die deutsche Weise ein
Stück von Lessing, Brecht oder Shakespeare zu inszenieren, völlig dem Verständnis
der Theaterleute aus unserem Gastland zuwiderläuft. Schier unüberwindbare Gräben
tun sich da manchmal auf, kulturelle Differenzen werden kreativ dechiffriert – auch
das ist der Kulturdialog der Goethe-Institute im Ausland. Es gibt nicht nur
Verständigung und Dialog, sondern immer wieder auch Abwehr und Insistenz aufs
Eigene bei allen Beteiligten.

In der Ermöglichung solcher im Einzelfall sehr komplexen Erfahrungen und
Ausdrucksformen      liegt   die   eigentliche   „Wirkung“   internationaler   kultureller
Zusammenarbeit. Sie ist notorisch am Provinzialismus nicht interessiert und sucht
ganz bewußt die Verwicklung der Akteure in einem gemeinsamen Prozeß, der etwas
nicht vorher Erahntes, Erfahrenes oder Kalkulierbares neu schafft – in einer vielleicht
ganz neuen Sprache, die die Beteiligten gemeinsam gefunden, erfunden haben – sei
es in Workshops von zeitgenössischen Komponisten, Gastregien, gemeinsamen
Filmproduktionen, künstlerischen Begegnungen, in öffentlichen Diskussionen und

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Symposien oder aber auch in der Präsentation herausragender kultureller
Ausdrucksformen. Das Scheitern ist immer inbegriffen – ohne Risiko gibt es keine
kulturelle Kreativität. Schon Goethe hatte ein recht präzises Verständnis von
interkultureller Begegnung im Blick auf seine „Weltliteratur“, wenn er weitsichtig
meinte, „daß nicht die Rede sein könne, die Nationen sollen überein denken,
sondern sie sollen nur einander gewahr werden, sich begreifen, und wenn sie sich
wechselseitig nicht lieben mögen, sich einander wenigstens dulden lernen.“
Auswärtige Kulturpolitik hat ganz wesentlich die Befreiung von intellektueller und
künstlerischer Selbstbefangenheit und Routine zur Aufgabe, indem sie die
Begegnung mit den „Anderen“, dem uns „Fremden“ immer wieder ermöglicht.

In unserer seit 1998 in Angriff genommenen Gründungsarbeit für ein neues Goethe-
Institut in Vilnius läßt sich sehr deutlich ablesen, wie unverzichtbar die geradezu
physische Präsenz eines Kulturmittlers im Ausland ist. Die in Deutschland
gelegentlich zu vernehmende Behauptung, das Interesse an deutscher Kultur lasse
nach und der Nachholbedarf „im Osten“ sei nach zehn Jahren „vielleicht“ schon
gedeckt, entspricht mitnichten der Situation in den Ländern der ehemaligen
Sowjetunion. Dort wird es wohl noch sehr lange dauern, bis die mentalen, sozialen
und kulturellen Schädigungen einer zuweilen über 50 Jahre währenden Isolation
unter anderem durch die internationale kulturelle Zusammenarbeit überwunden
werden. Vilnius ist auch insofern ein gutes Beispiel einer Neugründung, weil gerade
die Deutschen in der Regel die Existenz dieser in der Ostseeregion wichtigen
Hauptstadt gar nicht kennen. Vilnius, einst Zentrum des osteuropäischen Judentums,
von den Nazis und Stalins Terrorkommandos immer wieder instrumentalisiert und
okkupiert, ist heute fast unser Nachbar in der Mitte Europas auf dem Weg in die EU,
und es ist bis heute ein weißer Fleck im historischen und kulturellen Bewußtsein
vieler Westeuropäer. Das Goethe-Institut hat also hier auch die wichtige Aufgabe,
beidseitig überhaupt erst einmal ein Sichkennenlernen über die kulturelle Begegnung
zu ermöglichen und neue Brücken zu bauen. Es ist ein großes Glück für die so
hoffnungsvoll stimmenden Kulturbeziehungen zwischen Litauen und Deutschland,
daß Litauen im Jahr 2002 Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein wird. Für
Litauen bedeutet diese Einladung eine große Chance, in Deutschland mit seinen
Kulturleistungen (von den deutschen Medien sicher aufmerksam beachtet) bekannter

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zu werden und damit auch den Kulturdialog zwischen unseren beiden Ländern in
Richtung Deutschland wesentlich zu stärken.

Über die Zukunft deutsch-litauischer Kulturbeziehungen
Noch sehr viel wichtiger als die bisherigen Aktivitäten deutscher Einrichtungen auf
dem Feld des Kulturaustausches (siehe oben) sind für das Goethe-Institut die
litauischen Rahmenbedingungen für kulturelle Aktivitäten und Einrichtungen in den
Städten, Kommunen und Regionen. Es hat mich seit Beginn meiner Tätigkeit
beeindruckt, mit welchem Engagement und hohen Qualitätsstandards, vor allem in
der litauischen Hauptstadt, zahlreiche Festivals und Kulturereignisse organisiert
werden, die vor allem im Bereich Theater aus ganz Europa sehr bekannte
Theaterfestivalorganisatoren zu den litauischen Premieren eines Nekrosius, Tuminas
oder Korsunovas anlocken. Oder wie auch ziemlich auf sich allein gestellte
Individuen mit geringer staatlicher Unterstützung, Jazz-, Tanz- oder Musikfestivals
organisieren. Dasselbe kann man bei den Präsentationen zeitgenössischer Kunst in
der litauischen Metropole durch das Contemporary Art Center beobachten. Nicht zu
vergessen das großartige litauische Publikum bei diesen Veranstaltungen, die (für
westliche Verhältnisse) überaus gut besucht werden. Es gibt kaum einen
Lebensbereich in Litauen, der schon so stark “europäisch” handelt und denkt, wie der
Kulturbereich! Das ist vor allem den mutigen litauischen Organisatoren und
Kuratoren, aber auch der Mitwirkung mittlerweile zahlreicher ausländischer
Kultureinrichtungen zu verdanken. Und dies findet alles statt, obwohl die finanziellen
Resourcen immer noch äußerst bescheiden sind und die Kulturförderung angesichts
anderer Prioritäten (Sozial- und Wirtschaftspolitik) politisch eher ein Schattendasein
fristet. Das zeigt sich vor allem in den ländlichen Gebieten oder auch in den anderen
Städten Litauens, wo viel zu geringe Mittel zur Verfügung stehen und sehr viel
weniger Kulturereignisse stattfinden. Eine radikale Reform der noch weitgehend
zentralistischen litauischen Kulturpolitik steht noch aus; die Städte und Gemeinden
haben hier nur geringe Selbständigkeit. Eine “städtische Kulturpolitik” gibt es nur in
Ansätzen. Auch das Goethe-Institut konzentriert sich derzeit (in seiner Kulturarbeit)
mit seinen Aktivitäten noch stark auf die Hauptstadt Vilnius - ein klares Defizit
unserer Arbeit in Litauen.

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Die hier beschriebenen Parameter der litauischen Situation bestimmen auch in
anderer Hinsicht entscheidend die Arbeit des Goethe-Instituts, das die fehlenden
staatlichen Subventionen im Kulturbereich nicht im Entferntesten ersetzen kann;
entsprechend viele bei uns gestellte Anträge müssen leider mangels eigener knapper
Resourcen abgelehnt werden. Es kann auch nicht die Hauptaufgabe des Goethe-
Instituts sein, die zahllosen Festivals mit deutschen Beteiligungen zu beschicken.
Nachhaltigkeit und Kontinuität sind für uns ein wichtiges Kriterium. Die intensive
Auseinandersetzung von deutschen Künstlern und Intellektuellen in Litauen mit den
litauischen Verhältnissen erscheint uns kreativer als die bloße Präsentation von
Ereigniskultur. Diese sollte zwar auch stattfinden (siehe das Gastspiel des
Tanztheaters Wuppertal mit seiner weltbekannten Choreographin Pina Bausch im
September 2001 in Vilnius), aber eben nicht ausschließlich. Deshalb war und sind für
das Goethe-Institut öffentliche Diskussionsreihen zu Themen, die uns “auf den
Nägeln brennen”, Koproduktionen im künstlerischen Bereich oder der Schwerpunkt
zur Kulturförderung/Kulturpolitik letztlich mindestens genauso wichtige und vielleicht
innovativere Kulturveranstaltungen, weil sie sehr genau auf den lokalen Kontext und
d.h. auf Litauen Bezug nehmen. Das Goethe-Institut ist in seiner Arbeit stark an der
Nachfrage orientiert und möchte nicht nur Anbieter von “Fertigprodukten” sein.

Für das Kulturleben in allen Ländern der Welt besteht die Gefahr, daß die
zunehmend kommerzialisierte “Ereigniskultur”, die “Festivalitis”, eine an Qualität,
Avantgarde und unbequemen Fragen interessierte kulturelle Begegnung von
Publikum und Künstler ablösen wird. Das leicht und schnell Konsumierbare, das
auch die Produktwerbung vermarkten kann, gewinnt die Oberhand. Schließlich
wollen auch die Sponsoren von den Kulturereignissen “profitieren”. Hier muß die
öffentlich finanzierte Kultur, also die Kulturpolitik und auch das Goethe-Institut
gegensteuern. Denn die kulturellen Ausdrucksformen unserer Künstler und
Intellektuellen sind ein zu förderndes Potential, die Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft kritisch und selbstkritisch zu begreifen (auch “subversiv” im positiven Sinne)
und so etwas wie eine kulturelle Identität überhaupt erst zu schaffen – jenseits des
globalen Supermarkts. Kultur ist Zukunftsdenken und –handeln. Folklore muß und
darf auch sein, aber für das Zukunftsdenken ist sie kein kulturelles “Kraftwerk”.
Gerade für kleine Länder wie Litauen scheint mir die massive Unterstützung des
innovativen Kulturbereichs überlebenswichtig – intern zur Schaffung gemeinsamer

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gesellschaftlicher Diskurse und eines wichtigen Selbstverständnisses einer “Nation”
und extern zur Partizipation an der kulturellen Identität Europas, die nicht statisch,
sondern ständig in Bewegung ist. Vor allem mit seinen reichen und mannigfaltigen
kulturellen Diskursen hat die Idee von Europa überhaupt eine Zukunft und eine
Hoffnung auf die Akzeptanz bei seinen Bürgern. So versteht auch das Goethe-Institut
in Litauen seinen Beitrag zur kulturellen Dimension Europas; die wirtschaftliche,
soziale, politische sind letztlich in ihr aufgehoben.

In diesem Sinne waren für mich die vielfältigen Kooperationen in der Veranstaltungs-
planung und Durchführung (vor allem in den beiden letzten Jahren) gemeinsam mit
dem polnischen, französischen, italienischen und britischen Kulturinstitut in Litauen
mit das überzeugendste Moment unserer Arbeit in Litauen. Nicht mehr nur “deutsch-
litauisch”, sondern “multilateral”, oder ganz einfach “europäisch”, und dies nicht nur
programmatisch, sondern auch im Tun. Darin liegt die Zukunft der deutsch-
litauischen Kulturbeziehungen. Diese Zukunft liegt wesentlich auch in der Erinnerung
an die kaum vorstellbaren Greueltaten der Deutschen in Litauen, die das jüdische
Leben im “Jerusalem des Nordens” für immer auslöschten. Auch dies konstitutiert
unausweichlich unseren Kulturdialog.

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