Suizidalität im Kontext psychischer Erkrankungen

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Öffentliche Anhörung des Deutschen Ethikrates zur
         „Phänomenologie der Sterbe- und
              Selbsttötungswünsche“

   „Suizidalität im Kontext psychischer
              Erkrankungen“
                     Ulrich Hegerl

            Stiftung Deutsche Depressionshilfe

 Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie,
             Goethe Universität Frankfurt am Main
Anzahl der Suizide in Deutschland seit 1980
20000

18000

16000

14000

12000

10000

8000

6000

4000

2000

   0

                            Quelle: Todesursachenstatistik, Statistisches Bundesamt, www.gbe-bund.de, Zugriff 20.5.20
Berentung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
aufgrund psychischer Erkrankungen
  100

   90

   80

   70
                                                              Atmung
   60
                                                              Nerven/Sinne
   50
                                                              Skelett/ Muskel/
   40                                                         Bindegewebe
                                                              Herz/Kreislauf
   30                              42,7
                                                              Stoffwechsel/Verdauung
                 28,5
   20
                                                              Neubildungen
   10   8,6

    0
        1983     2002               2018

                        Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund (2019). Rentenversicherung in Zeitreihen.
Suizidalität und psychische Erkrankungen

Todeswunsch und Suizidgedanken sind in Allgemeinbevölkerung
häufig (Lebenszeitprävalenz > 20 % Castillejos et al 2020) und meist
nicht krankheitsbedingt

Jedoch: Suizidversuche und noch deutlicher Suizide erfolgen fast
immer im Rahmen von Depressionen und anderen psychischen
Erkrankungen
Suizidale Handlungen unterscheiden sich je
nach zugrunde liegender Diagnose, z.B.:

Depression: unerträgliches Leid und Hoffnungslosigkeit,
altruistische Motive, wahnhafte Verkennungen

Schizophrenie: raptusartige Handlungen, imperative Stimmen

Alkoholmissbrauch: Schwellensenkung bei suizidalen Impulsen;
Stimmungsschwankungen

Persönlichkeitsstörung: Kränkung bei narzisstischer
Persönlichkeitsstörung, Affektschwankungen und Leiden bei
Borderline Persönlichkeitsstörung

• Freiverantwortlichkeit der suizidalen Handlung eingeschränkt
• Suizidale Impulse fast immer vorübergehend
Anzahl der Suizide in Deutschland 2018
nach Alter und Geschlecht
900

800

700

600

500

400                                                                                 Männlich
300                                                                                 Weiblich
200

100

  0

                   Quelle: Todesursachenstatistik, Statistisches Bundesamt, www.gbe-bund.de, Zugriff 20.5.20
Suizidraten in Deutschland 2018
(je 100.000 Einwohner)
100
 90
 80
 70
 60
 50
 40                                                                                    Männlich
                                                                                       Weiblich
 30
 20
 10
  0

                   Quelle: Todesursachenstatistik, Statistisches Bundesamt, www.gbe-bund.de, Zugriff 20.5.20
Zusammenhang zwischen psychosozialen
Faktoren, psychischen Errkankungen und
suizidalem Verhalten?

   Psychosoziale Faktoren
 u.a. Stress, Arbeitslosigkeit,                                      Suizidales Verhalten
  körperliche Erkrankungen

                                  Depression
                              Sucht, Schizophrenie

                                  Quelle: Todesursachenstatistik, Statistisches Bundesamt, www.gbe-bund.de, Zugriff 20.5.20
Zusammenhang zwischen psychosozialen
Faktoren, psychischen Erkrankungen und
suizidalem Verhalten?

   Psychosoziale Faktoren
 u.a. Stress, Arbeitslosigkeit,                                      Suizidales Verhalten
  körperliche Erkrankungen

                                  Depression
                              Sucht, Schizophrenie

                                  Quelle: Todesursachenstatistik, Statistisches Bundesamt, www.gbe-bund.de, Zugriff 20.5.20
Suizid und schwere körperliche
Erkrankungen
Webb et al 2012, Arch Gen Psychiatry

•   Hausarztpraxen: n = 593 , Jahre 2001-2008
•   Vergleich von 873 Suizidopfern mit 17.460 Kontrollen
•   Vorliegen einer der folgenden Erkrankungen: Schlaganfall,
    Krebserkrankung, Asthma, kardiovaskuläre Erkrankung, Diabetes
    mellitus, Hypertonus, COPD, Epilepsie, chronischer
    Rückenschmerz, Osteoporose, Osteoarthritis

•   Vorliegen einer dieser Erkrankungen
     - bei Suizidopfern: 38,7 %
     - bei Kontrollen; 37 %

z.B. Karzinomerkrankung: bei 3,4 der Suizidopfer und 3,2 der
Kontrollen

Schwere körperliche Erkrankung meist keine suffiziente Erklärung
für Suizidwunsch
Suizidraten, gesundheitsbezogene und
psychosoziale Variablen bei Männern ≥ 65 Jahre
Dänemark (1990-2009)

Psychiatrische
 Erkrankung

 Komorbidität

 Einkommens
    niveau

Familienstand

                                       Suizidrate pro 100.000

                               Erlangsen et al 2015. Aging Ment Health.
BVerfG-Urteil vom 26. Februar 2020

Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt auch die Freiheit zum
Suizid ein und das Recht, hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter
zurückzugreifen
        Urteil stellt eine Normalisierung des Suizids dar mit Risiko
der Schwellensenkung
Suizide, ass. Suizide und Euthanasie,
Niederlande 2002 - 2018
9000

8000             Suizide
                 Suicide
7000

6000
                 Ass. suicide &
5000
                 euthanasie

4000

3000

2000

1000

   0
       2002   2003   2004   2005   2006   2007   2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014    2015    2016    2017   2018

                                                                                           Quelle: Centraal Bureau voor de Statistiek
Veränderungen der altersstandardisierten
Suizidraten (%) zwischen 2000 und 2012
                                      Greece
                                         Italy
                                          UK
                                       Spain
                                 Netherlands
                                    Portugal
                                     Norway
                                     Sweden
                                      Ireland
                                    Germany
                                    Danmark
                                    Bulgaria
                                Luxembourg
                                    Romania
                                    Slovakia
                              Czech Republic
                                     Austria
                                      France
                                      Poland
                                    Belgium
                                     Finland
                                    Slovenia
                                     Ukraine
                                       Latvia
                                    Hungary
                                     Estonia
                                     Belarus
                                      Russia
                                   Lithuania
-60   -50   -40   -30   -20   -10                0            10              20

                                    Quelle: WHO 2013. Preventing Suicide, A global imperative.
Fazit
Verständnis für Ängste der Menschen, beim Sterben dem Urteil von
Fachleuten oder der „Apparatemedizin“ ausgeliefert zu sein, jedoch

• tatsächlich erfolgen fast alle Suizide im Rahmen psychischer
  Erkrankung oder akuter Krisenreaktionen, d.h. der Entschluss ist
  weder freiverantwortlich getroffen, noch dauerhaft
• der Einfluss schwieriger Lebensumstände wird sowohl als
  Ursache der Depression als auch suizidaler Handlungen
  überschätzt (cave: Außen- versus Innenperspektive z.B. bei
  Krebsdiagnose oder Alzheimer-Demenz)
• Eine Depression kann leicht übersehen werden, deshalb
  Beurteilung durch einen erfahrenen Psychiater nötig
• Normalisierung (Enttabuisierung) des Suizids kann über
  Schwellensenkung zur Zunahme von nicht freiverantwortlich
  erfolgten Suiziden führen
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