SWR2 Musikstunde Frau mit Eigenschaften - Das Leben der Ethel Smyth (1-5)

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SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Frau mit Eigenschaften -
Das Leben der Ethel Smyth (1-5)
Folge 5: Unter Suffragetten
Mit Katharina Eickhoff

Sendung:    25. Juni 2021 (Erstsendung: 10. März 2017)
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR 2017

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Das Jahr 1908 ist eine entscheidende Zäsur im Leben der Ethel Smyth.
Während sie wie immer furchtbar beschäftigt durch Europa tingelt, Freunde treffend,
komponierend, ihre Musik anpreisend, Dirigenten und Orchester mit ihrem Dickkopf zum
Wahnsinn treibend – während Ethel also ihr typisches Ethel-Leben verfolgt, erreichen sie
immer öfter beunruhigende Briefe aus Rom: Harry, Harry Brewster, Mann und Mensch ihres
Lebens, hat sich ja in dieser ausgesprochen glücklichen Liebe auf Distanz in seiner geistigen
Heimat Italien eingerichtet, während Ethel in ihrem Cottage in Surrey wohnt. Getroffen haben
sie sich mal hier, mal dort und mal ganz woanders, zu gemeinsamen Urlauben oder
Arbeitsphasen, haben sich dazwischen lange Briefe über Gott und die Welt, Musik, Literatur
und Pilosophie geschrieben...aber jetzt ist Harry krank. Leberkrebs. Er versucht, es vor Ethel
geheimzuhalten, macht Scherze über sich selbst und die Ärzte, und rafft sich dann, schon
extrem geschwächt, auf, um die lange vorbereitete konzertante Aufführung von „The
Wreckers“ in London zu hören, der Oper, die er zusammen mit Ethel geschrieben hat und
die sich gerade zum absoluten Erfolgsstück entwickelt. Als Ethel ihn in London am Bahnhof
abholt, wird ihr schlagartig klar, dass sie ihn verlieren wird.
Harry, ein wirklicher Philosoph, findet das nicht so schlimm, Sterben, sagt er, sei doch nur „a
slight shifting of the caleidoscope“. Henry Brewster stirbt dann tatsächlich leise und
irgendwie heldenhaft im Juni 1908, seine Hand in Ethels.
Es ist Ethels wohl größte Lebenskatastrophe – Harry ist alles für sie gewesen, niemand
kannte sie besser, keiner war nachsichtiger und gleichzeitig fordernder als er, die Höhen und
Tiefen ihres Komponistinnenlebens hat er klaglos mitgelebt, ihr Verrücktheiten, ihre Unruhe
ertragen und Ethel einfach als den liebenswerten Menschen gesehen, der sie hinter dem
Wind, den sie machte, war. Mehr als dreißig Jahre später wird sie an Virginia Woolf
schreiben, nachdem sie in alten Briefen Harrys gelesen hat:

„Brief auf Brief macht mir klar, dass keine Frau jemals so verstanden wurde, keine ist so
umsorgt worden und hatte einen solchen Schatz an Hilfe und Weisheit und Freundlichkeit
und Wärme zur Verfügung. Und mit dieser Erkenntnis kommt das Gefühl: Habe ich genug
zurückgegeben?“

Musik 1
12 – 66551                     T. 6                                                   bis 3’50
Ethel Smyth: Concerto for Violin, Horn and Orchestra, Elegy
Sophie Langdon (Violine)
Richard Watkins (Horn)
BBC Philharmonic
Leitung: Osaline de la Martinez
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Aus dem Jahr 1926 stammt eins von Ethel Smyths schönsten Stücken, das Konzert für Horn,
Violine und Orchester, der Mittelsatz, Elegy, hat den Untertitel „in memoriam...“ – Ethel hat
nie öffentlich gemacht, an wen sie sich da erinnert, aber so, wie diese Musik klingt, kann es
eigentlich nur Henry Brewster gewesen sein...

Gut, dass ihr Harry zumindest noch die Anfänge von Ethels Komponistenruhm in England
miterlebt hat – sie kommt dort nämlich tatsächlich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg
richtig in Mode. Vor allem ihre „Wreckers“-Ouvertüren sind ziemlich viel gespielte Stücke,
und das liegt neben Ethels unermüdlicher Agitation auch an zwei Dirigenten, und zwar den
zweien, die das englische Musikleben in der ersten Jahrhunderthälfte dominiert haben:
Henry Wood und Thomas Beecham.
Mit Henry Wood hat Ethel sich gleich ganz dick angefreundet, und die beiden waren dann
enge Freunde bis zu ihrem Tod – Wood hat sie in seinen „Proms“-Konzerten in der Queen’s
Hall dirigieren lassen und immer gern die Geschichte erzählt, wie er ihr feierlich seinen
Taktstock überreichte, wie Ethel den misstrauisch beäugt und dann, weil er ihr zu lang war,
einfach in zwei Teile gebrochen und mit der einen Hälfte losgelegt hat. Etwas komplizierter
ist die Sache mit Thomas Beecham.
Ethel hat ja mit ihrem Näschen für gute Musiker schon ziemlich früh erkannt, dass dieser
junge, etwas verzogene Fabrikantensohn, der sich das Dirigieren selbst beigebracht hat,
DER kommende Musik-Mann für England ist. Als sie den da noch unbekannten Beecham
zum ersten mal dirigieren hört und sieht, vor einem von ihm zusammengestellten
Telefonorchester, ist sie beeindruckt – so viel natürliches Dirigentengenie hat sie zuletzt bei
Gustav Mahler in Wien gesehen.
Sie sucht seine Freundschaft und bekommt sie auch, wobei das für beide nicht immer
einfach ist. Beecham, der von sich sagt, er könne keine Frau im Orchester ertragen, denn
wenn sie schön sei, würde ihn das ablenken, und wenn sie hässlich sei, auch, - Beecham,
der Macho-Maestro mit dem Gigolo-Schnurrbart also, war ihr immer viel zu Beecham-
bezogen. Und seinen Ehrgeiz, als der Dirigent mit den wenigsten Proben pro Stück in die
Geschichte einzugehen, hat sie natürlich auch kritisch gesehen. Und da sie nun mal Ethel
war, hat sie ihm immer ordentlich die Meinung gegeigt, wenn ihr seine Nonchalance zu weit
ging. Oder sie ist einfach in den Orchestergraben geklettert und hat den Musikern
irgendwelche Spielanweisungen in die Noten geschrieben, oder gleich ganze Passagen mit
einer neuen Version überklebt. Kein Wunder, dass Beecham sie meistens unglaublich
anstrengend fand: „Sie war eine geborene Kämpferin“, seufzt er, „und ihre ständigen
Einmischungen, ob im Theater oder im Konzertsaal, verhinderten eher das Ziel, als dass sie
es beförderten...“. Trotzdem, so Thomas Beecham, Ethel war für ihn „ohne Frage die
bemerkenswerteste Musikerin, die kennenzulernen ich die Ehre hatte.“
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Nachdem sie sich ein paar Jahre lang gestritten haben, werden Ethel und er ziemlich gute
Freunde, und Beecham bleibt ein Leben lang ein Fan ihrer sturmdurchwehten Musik zu „The
Wreckers“.

Musik 2
19 – 050299           Disc 2, T. 1   ab 4’23 einblenden                                   3’30
Ethel Smyth: The Wreckers, Prelude II, On the Cliffs of Cornwall
BBC Philharmonic
Leitung: Odaline de la Martinez

Im Jahr 1910, dem Jahr 2 nach Harrys Tod, hat Ethel zwar ihre alte Kreativität noch nicht
wieder gefunden, aber sie ist so langsam eine richtig prominente Figur im englischen
Kulturleben.
Und das, nicht ihre schöne Musik, ist auch der Grund, wieso sie eines Tages von ein paar
Mitgliedern der WSPU angesprochen wird, der Women’s Social and Political Union, die für
das Wahlrecht der Frauen und überhaupt die Aufwertung der Frau in der Gesellschaft
kämpft.
Emmeline Pankhurst hat die Organisation im Jahr 1903 gegründet und führt sie seitdem
zusammen mit ihrer Tochter Christabel mit straffer Hand: Purpur, Weiß und Grün, die Farben
der Suffragetten-Bewegung, haben mittlerweile eine steigende Menge englischer Frauen an
ihre Revers geheftet, und viele Frauen haben sich damals auch gleich Emmeline Pankhursts
Bild als Medaillon mit angesteckt:
Die Frau war wirklich eine lebende Ikone – ein Popstar. Sie muss eine enorm charismatische
Persönlichkeit gehabt haben, total fokussiert auf ihre Ziele, kompromisslos in ihren Mitteln,
eine flammende, mitreißende Rednerin, die mit der Kraft eines Baptistenpredigers jeden
Saal innerhalb von Minuten auf Temperatur gebracht hat – eine echte Demagogin,
eigentlich. Aber Mrs Pankhurst ist immerhin eine der an einer Hand abzuzählenden Frauen
der Weltgeschichte, die eine große politische Bewegung angeführt haben.
Die Pankhurst-Damen sind echte Netzwerk- und PR-Genies, ihre Aktionen sind fabelhaft
orchestriert – und sie schaffen es bei alledem noch, immer glamourös auszusehen:
Emmeline Pankhurst hat eine entschiedene Schwäche für todschicke Kleider und
atemberaubende      Hüte.    Für     uns   heute    in    der   angeblich    gleichberechtigten
Gegenwartsgesellschaft ist das ja, glauben wir zumindest, eine inzwischen schon ganz ferne
Welt, diese Welt, in der Frauen grundsätzlich über den Mann definiert wurden: Verheiratete
Frauen waren Besitz ihres Gatten, für Verwitwete oder Ledige gab es kaum
Rechtssicherheit, eine Frau ohne Mann war schlichtweg ein rechtloses Nichts. Das war
natürlich vor allem für die ein existenzielles Problem, die sowieso nichts hatten, die Millionen
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von Frauen, die sich seit ihren Kindertagen in den Fabriken krummarbeiten mussten, die
dafür halb soviel Lohn kriegten wie die Männer und die dann noch, wenn sie Pech hatten,
mal eben im Vorbeigehen vom Vorarbeiter          vergewaltigt wurden. Aber die Suffragetten-
Bewegung ging, und das hat sie so stark gemacht, quer durch alle sozialen Schichten, denn
natürlich war die Rechtlosigkeit auch gerade für gebildete und privilegierte Frauen ein
unhaltbarer Zustand.
Und vor diesem Hintergrund wird ja auch noch deutlicher, was für ein ganz und gar
außergewöhnliches Leben Ethel Smyth geführt hat für eine Frau ihrer Zeit – sie hat sich von
Anfang an einfach nicht um die Regeln geschert und hat ein in jeder Hinsicht freies,
selbstbestimmtes Leben geführt.
Insofern kann man nachvollziehen, dass Ethel erst mal gar keine Lust hat, sich groß mit den
Suffragetten zu beschäftigen – das, wofür da, inzwischen auch durchaus gewalttätig,
gestritten wird, hat sie ja die ganze Zeit schon ziemlich selbstverständlich gelebt. Als also die
Einladung von der Frauenunion kommt, wehrt sie sich erst mal mit Händen und Füßen und
erklärt, sie müsse schon genug für sich selber kämpfen und habe für gute Taten keine Zeit.
Aber irgendwie lässt sie sich dann doch überreden, zu dieser Kundgebung zu gehen, wo die
Pankhurst eine ihrer legendären Reden halten wird. Ethel sieht Emmeline, hört ihr zu – und
es ist ein klassischer Fall von „Oh my god, what a woman!“: Ethel ist auf den ersten Blick
verliebt, daheim setzt sie sich sofort hin und schreibt einen flammenden Fan-Brief, die
Pankhursts reagieren begeistert, und auch wenn ihr gesamtes Umfeld, darunter Lady
Ponsonby und Kaiserin Eugenie, sie im Chor davor warnt, sich mit diesen Hysterikerinnen
einzulassen – Ethel hat ihre Entscheidung getroffen. Sie fragt noch kurz Harrys Geist um
Erlaubnis, dann teilt sie Emmeline Pankhurst mit, dass sie für zwei Jahre ihre Musik
hintanstellen und sich mit aller Kraft dem Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen
widmen will!

Musik 3
736-2880                      T. 2                                                     auf Zeit
Ethel Smyth: Quartett e-Moll, Allegro molto leggiero
Mannheimer Streichquartett

Dieses höchst eigenwillige Allegro gehört zu Ethel Smyths Streichquartett e-moll, seit 1902
hat sie daran komponiert, fertiggeworden ist es erst zehn Jahre später und wird dann mitten
in ihrer wildesten Suffragetten-Phase mit viel Erfolg uraufgeführt.

Ethel wird also zu Emmeline Pankhursts entschlossener Husarin, sie leiert einer reichen
Freundin das Geld für ein großes Auto aus den Rippen, mit dem Emmeline, der Popstar,
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über Land tourt und Kundgebungen abhält oder Bücher verteilt; sie päppelt die große
Führerin bei sich daheim im Cottage wieder auf, wenn Emmeline völlig geschwächt nach
einem ihrer vielen Hungerstreiks aus dem Gefängnis entlassen wird – derweil draußen
unterm Holderbusch, freudig begrüßt von Ethels Hund, die Polizei kampiert, die gehalten ist,
Mrs Pankhurst sofort wieder ins Gefängnis zu stecken, sobald sie sich erholt hat.
Von der Verhaftungsaktion an Ethels Gartenpforte, bei der Emmeline ohnmächtig in Ethels
Arme sinkt, hat jemand geistesgegenwärtig ein Foto geschossen. Das wird dann in Umlauf
gebracht und beschert den verzweifelt an ihren Privilegien festhaltenden Männern in
Englands Regierung sehr schlechte Presse...Außerdem, nun hat man schon mal eine
Komponistin mit an Bord, wird Ethel zur offiziellen Bardin der Bewegung: Sie komponiert
einen Kampfgesang, der dann tatsächlich innerhalb kürzester Zeit die Hymne der
Frauenrechtsbewegung wird.
Auf jeder Kundgebung, bei jeder Demo singen die Frauen jetzt Ethel Smyths „March of the
Women“ – am Ende sogar im Gefängnis. Es ist ja nämlich so, dass die Damen inzwischen,
nach jahrelangem friedlichem Protest, die Geduld verloren haben und vermehrt zu
drastischen Maßnahmen greifen, gemäß dem Wahlspruch, den Emmeline Pankhurst
ausgerufen hat: Deeds not words - Taten statt Worte. Später gibt es auch jede Menge
Sprengstoff-Attentate, nicht auf Menschen, aber auf Briefkästen oder Politiker-Häuser, aber
zu Anfang sind die Waffen der Wahl vor allem Steine.
Steine, die in Fenster geworfen werden sollen. Dafür muss aber auch die Chefin erst mal
üben, und so findet vor dem geplanten Kollektivangriff in London ein konspiratives
Steinewerfenüben in Ethels Garten statt, bei dem die sportliche Ethel schier an ihrer
Schülerin verzweifelt:
„Ich nehme an, Mrs Pankhurst hat in ihrer Jugend keine Ballspiele gespielt, der erste Stein
flog jedenfalls rückwärts aus ihrer Hand und verfehlte knapp meinen Hund.“ – Sie kommen
dann aber noch zu Potte, und der großangelegte Angriff von steinewerfenden Frauen
zwischen Piccadilly, Oxford Street und Haymarket wird ein ungeheurer Aufruhr:
Berstende Scheiben, wütende Ladenbesitzer, Massen von Polizei, die immer wieder ganze
Bataillone von Frauen abführen, und im ganzen Getümmel schafft es die Pankhurst noch,
mit einem Taxi zu Downing Street Nr.10 zu fahren und auch dort ein paar Scheiben zu Bruch
gehen zu lassen.
Ethel nimmt sich das Haus eines Regierungssekretärs vor.
Nach einem wohlplatzierten Wurf lässt sie sich dann von der Polizeiwache, die fast daneben
steht, abführen, und wird kurz darauf zu einer einmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt,
abzusitzen im berüchtigten Frauengefängnis Holloway, das vor Suffragetten inzwischen aus
allen Nähten platzt. Und zumindest für die Damen der oberen Schichten ist es dort sogar
einigermaßen erträglich. Thomas Beecham jedenfalls, der Ethel im Gefängnis besucht, trifft
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da keine demoralisierten Büßerinnen an, im Gegenteil – als er ankommt, singen die Damen
gerade aus vollem Hals Ethels Suffragettenhymne:
„Ich kam in den Hof des Gefängnisses und traf auf die noble Runde der Märtyrerinnen, wie
sie im Kreis marschierten und beherzt ihr Kriegslied sangen, derweil die Komponistin,
beifällig aus einem oberen Fenster lächelnd, in beinahe bacchantischer Ekstase mit einer
Zahnbürste den Takt schlug.“

Musik 4
19 – 021421                  T. 9                                                       3’22
Ethel Smyth: The March of the Women
Eiddwen Harrhy (Sopran)
The Plymouth Music Series
Leitung: Philip Brunelle

DAS Suffragetten-Kampflied, mit dem Ethel sich letztlich wohl keinen Gefallen getan hat – es
ist ihr vermutlich bekanntestes Musikstück, und das ist natürlich angesichts ihres restlichen,
viel bedeutenderen Werks ziemlich dumm gelaufen...

Ethel hält doppelt Wort: Sie engagiert sich mit allen Kräften zwei Jahre lang für die
Frauenunion, und dann wendet sie sich, wie angekündigt, wieder ihrer Musik zu – aber alles,
was sie auf rastlosen Vorspielreisen quer durch Europa an Aufführungen anleiert, unter
anderem eine Produktion von „The Wreckers“ mit Bruno Walter in München, löst sich dann
1914 mit Kriegsbeginn in Wohlgefallen auf.
Und der Erste Weltkrieg erstickt auch Ethels Kreativität im Keim:
Die meiste Zeit, von 1915 bis Kriegsende, verbringt sie in Frankreich, als Assistentin in der
Radiologie eines Krankenhauses in Vichy.
Dort werden ständig Massen von verletzten Soldaten aus dem Norden angeliefert, und
denen die Geschosse aus den Körpern zu operieren war, schreibt Ethel später, „no music
inspiring job“. Weil sie nun also keine Musik schreiben kann, und weil die verwundeten
Soldaten irgendwie unterhalten werden müssen, fängt sie dort im Krankenhausdienst in
Frankreich an, ihre Memoiren zu schreiben.
Die englische Kindheit, Leipzig, Brahms, die Herzogenbergs – die ganze aufregende
Geschichte ihres Wegs ins Komponistenleben bringt sie da zu Papier und liest es den
Verwundeten vor...später hat sie mal jemand dabei aufgenommen, wie sie aus ihren
Erinnerungen vorliest, und das klingt genau so, wie man sich Ethel als schon ältere,
schwerhörige Dame immer vorgestellt hat...
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Ethel Smyth liest

Die Memoiren, die Ethel da in Vichy schreibt, kommen zuerst bei den Soldaten gut an und
dann, 1919 nach Veröffentlichung, beim Rest der Welt. Ethels erster Band Erinnerungen wird
ein Riesenerfolg.
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wird Ethel Smyth, die Schriftstellerin, erfolgreicher,
als es die Komponistin je gewesen ist.
Alle sind hin und weg von ihrem trockenen Witz und ihrer klugen Art, zu erzählen und
bekannte Persönlichkeiten zu portraitieren, sie hat ja auch wirklich Krethi und Plethi
getroffen, und ihr literarischer Ruhm hat dann schon auch einen Anteil daran, dass sie 1929
zu ihrer allergrößten Befriedigung zur „Dame of the British Empire“ ernannt wird – jetzt hat
sie mit Sir Thomas Beecham und Sir Henry Wood gleichgezogen, und das ist für eine
Musikerin ihrer Generation tatsächlich eine ziemliche Sensation.
In die 20-er Jahre fällt auch eine ihrer letzten musikalischen Großtaten, das Konzert für Horn,
Violine und Orchester, in dem sie, die Wurzeln tief in Brahms’scher Spätromantik, noch mal
einen ganz eigenen, teilweise erstaunlich modernen Ton für die Form eines großen
Orchesterkonzerts findet. Ihr lieber Freund Henry Wood leitet dann die Uraufführung des
Konzerts im Jahr 1927 in der Queen’s Hall, und zwar mit einer ziemlich edlen Besetzung:
Das Horn spielt Thomas Beechams Lieblingshornist Aubrey Brain, Vater des später noch
berühmteren Dennis Brain, der wiederum dann Karajans Lieblingshornist war. Aubrey Brain
hat für Arthur Nikisch, Beecham und Sir Henry Wood geblasen und war ein großer Künstler,
der immer nur auf den sanften französischen, niemals auf deutschen Hörnern gespielt hat.
Ethels Konzert hat er damals zusammen mit einer sehr prominenten Geigerin uraufgeführt,
der ungarischen Virtuosin Jelly d’Aranyi, der Großnichte Joseph Joachims. Jelly d’Aranyi hat
Maurice Ravel zu seiner „Tsigane“ inspiriert und mit Bela Bartok Duo gespielt.
Ethel darf also mit knapp siebzig Jahren endlich erleben, dass ihre Werke von den besten
verfügbaren Musikern aufgeführt werden.
Weil sie das nicht zuletzt ihrem Freund Sir Henry Wood verdankt, hat sie das Konzert ihm
gewidmet, dem, wie sie schreibt, „besten Freund der englischen Musik.“

Musik 5
12 – 66551                   T. 7                                                ausbl. ab 3’29
Ethel Smyth: Concerto for Violin, Horn and Orchestra, Finale
Sophie Langdon (Violine)
Richard Watkins (Horn)
BBC Philharmonic
Leitung: Osaline de la Martinez
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Um 1930 liest Ethel dann Virginia Woolfs „A Room of One’s Own“ – einen später in der
Frauenbewegung legendären Essay über die Voraussetzungen, die es für Frauen braucht,
um etwas schaffen zu können. In Woolfs Fall natürlich Literatur, aber Ihre Gedanken sind auf
alle kreativen Frauen übertragbar – die brauchen, so Woolf, neben einem gewissen Betrag
zum Leben vor allem: ein eigenes Zimmer.
Etwas, das für Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein überhaupt nicht selbstverständlich war.
Zu der Zeit ist Virginia Woolf schon eine rfolgsschriftstellerin, „Mrs Dalloway“ und „To the
Lighthouse“ sind erschienen und auch „Orlando“, in dem sie die flamboyante, zwischen den
Geschlechtern changierende Persönlichkeit ihrer Freundin Vita Sackville-West portraitiert
hat, mit der sie ein paar Jahre lang eine Liebesbeziehung hatte, geduldet von den jeweiligen
Ehemännern.
Ethel also liest Virginia Woolfs klugen und witzigen Essay und beschließt, dass sie diese
Frau unbedingt treffen muss. „You might quite like me“, schreibt sie ihr in ihrem Kennenlern-
Brief, und Virginia Woolf antwortet, dass sie schon seit Jahren Ethel Smyth kennenlernen
wollte, und endet mit „...and you might like me.“
Und so beginnt also Ethels letzte große Liebe ihres Lebens.

Ethel Smyth ist inzwischen eine ältere Dame Anfang Siebzig, - Virginia Woolf ist Ende
Vierzig, und eine richtige Beziehung mit Ethel kommt für sie überhaupt nicht in Frage, aber
damit kann Ethel gut leben: „Für mich“, schreibt sie, „liegt Liebe sowieso in der Region der
Imagination“. Die zwei flirten in Briefen was das Zeug hält, wehklagen, dass sie sich nicht
früher kennengelernt haben, ab und zu treffen sie sich, sprechen über Musik, Literatur, die
Liebe... – aber mit direktem Kontakt zu Ethel ist Virginia Woolf vorsichtig. Sie ist seelisch
instabil, hat schon mehrere psychotische Phasen hinter sich und lebt in ständiger Angst vor
der nächsten, und mit ihren schwachen Nerven hat sie oft Schwierigkeiten, die überbordende
Präsenz ihrer neuen Freundin Ethel auszuhalten. „Mein Kopf dröhnt: Meine Ohren
schmerzen: Ethel war hier“, schreibt sie an Vita Sackville-West.
Überhaupt, wenn man Virginia Woolfs Ethel-Berichte an ihre Freunde so liest, tut einem
Ethel wirklich leid, denn sie erscheint da als groteske Figur, über die Virginia sich eigentlich
permanent und oft ziemlich bösartig lustig macht: „Eine alte Frau hat sich in mich verliebt“,
schreibt sie, „es ist abscheulich und ekelhaft und gleichzeitig traurig-melancholisch. Es ist,
als ob man von einer gigantischen Krabbe gefangen wurde.“ Oder sie nennt Ethel ein „von
Wurzelkrebsen verkrustetes altes Seemonster“. Oder sie schreibt in ihr Tagebuch über
Ethels Begeisterung: „Im allgemeinen bekomme ich zwei Briefe pro Tag. Ich wage zu
behaupten, die alten Feuer des Sapphismus lodern zum letzten Mal...“. – Nein, man kann
nicht sagen, dass Virginia Woolf in diesen Mitteilungen über ihre Freundin Ethel besonders
liebenswert wirkt. Ethel hat sehr wohl gespürt, dass ihre geliebte Virginia sich oft über sie
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mokiert hat, und es hat sie verletzt. Aber es gibt ja eben auch noch die andere Seite, das,
was sie an Ethel selbst schreibt, wenn sie mal wieder von einem Treffen mit ihr kommt, da
klingt die Sache nämlich schon sehr anders: „Gott! Wie ich Dich mochte! Wie ich mich an
Deiner Existenz freute! Du bist, glaube ich, eine der gütigsten, ausbalanciertesten Frauen die
ich kenne.“
Und auch anderen gegenüber ist Virginia Woolf nicht nur ironisch, wenn sie von Ethel erzählt
– aus ihrer Feder stammen ein paar der schönsten Beschreibungen des Menschen Ethel
Smyth: „Da ist etwas Feines und Kampferprobtes und Erfahrenes in ihr hinter all dem
Schwadronieren und Krawall.“ „Ich kann sie gar nicht beschreiben, diese Weite und den
Raum, die Lebensart und den Charakter, die sie ausstrahlt“...Ethel, das seien „no
impediments,    no   inhibitions“,   schreibt   sie   bewundernd:     Keine   Hemmungen    oder
Deformationen. Alles echt, offen und geradeheraus.
Darüber, ob Ethel bedeutende Musik komponiert hat, wird sich Virginia Woolf nie so ganz
klar. Als in London Ethels „Anakreontische Ode“ von 1907 aufgeführt wird, kann Virginia
wegen akuter Schwächezustände nicht kommen, aber sie und ihr Mann Leonard kleben am
Radio bei der Live-Übertragung und sind sich einig, dass Ethels Musik genau wie Ethel ist:
„Robust und zugleich durch Mark und Bein gehend.“

Musik 6
19 – 039276                   T. 4                                                        5’07
Ethel Smyth: Ode Anacréontique
Melinda Paulsen (Mezzosopran) und Ensemble
Leitung: Johannes Schmeller

Die Freundschaft zwischen Ethel und Virginia Woolf bleibt schwierig, aber intensiv, und sie
hält, elf Jahre lang gehört Ethels Herz und Sorge ganz Virginia – aber auch das kann Virginia
Woolf nicht vor den eigenen Dämonen retten: All die Hilfe und Liebe, mit der auch ihr Mann
Leonard sie umsorgt und beschützt hat, kann nicht verhindern, dass Virginia Woolf sich im
Frühjahr 1941 einen schweren Stein in die Manteltasche steckt und sich im Fluss nahe bei
ihrem Haus das Leben nimmt.
Ihr Tod versetzt auch Ethels immer so unerschöpflich scheinender Lebenskraft einen Schlag.
Mit körperlichen Problemen aller Art hat sie schon lange zu kämpfen, das Schrecklichste ist
aber die Taubheit, die ab 1930 immer schlimmer geworden ist – 1934 organisiert ihr Freund
Thomas Beecham zu ihren Ehren nochmal eine große Aufführung ihrer Messe für Soli, Chor
und Orchester, Ethel sitzt im Publikum, wird gefeiert - und leidet.
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Wem die Ohren versagen, der hört ja nicht nichts, von Beethoven gibt es diese
erschütternden Aussagen über seine Ohren, die Tag und Nacht sausen und brausen, alles
wird zu Lärm... So ist es auch Ethel ergangen, und in den letzten Jahren hat sie gar keine
Musik mehr anhören können. Was sie da noch hört, sagt sie, klingt in ihren Ohren wie
„vergiftete Ratten hinter der Wandvertäfelung“. Konversation geht, siehe Beethoven, nur
noch mit Papier und Bleistift. Ethel, the stormy petrel, der Sturmvogel, hat sich
müdegestürmt. Als Sir Henry Wood sie besuchen will, schreibt sie ihm: „Erwarten Sie nicht,
auch nur einen Hauch der alten Ethel anzutreffen, höchstens in der Freude, die Ihr
Erscheinen ihr bereiten wird.“

Aber ihr Geist bleibt klar bis zuletzt: Der Zweite Weltkrieg schockiert sie tief, und wie sie da
im Bett liegt, schmiedet sie Pläne für die Zeit danach und die „United States of Europe“. Sie
stirbt am 8. Mai 1944, mit 86 Jahren.

Ethel Smyth hat sich und den anderen nichts geschenkt, sie konnte entsetzlich anstrengend
und enervierend ehrlich sein, und sehr hartnäckig, wenn es darum ging, ihre Musik in einer
unbarmherzigen Männerwelt zu verteidigen. Trotzdem ist sie von vielen Menschen sehr
geliebt worden, - für ihre Aufrichtigkeit und ihren Witz, für ihre Streitlust und ihre Güte und
ihre nie endende Begeisterungsfähigkeit, die so ansteckend gewesen sein muss.
Ethel war ein bewundernswert freier Geist. Aber natürlich hat sie ihr Leben lang mit den
Beschränkungen gekämpft, die für Frauen ihrer Zeit gegolten haben – und er war ja nicht
umsonst, dieser Kampf: Sie wäre sicher stolz, wenn sie sehen könnte, wie viele
Komponistinnen inzwischen die Konzert- und Festivalprogramme für zeitgenössische Musik
beliefern – auch wenn ihr diese Art von Musik in den seltensten Fällen gefallen würde.

Sie selber hat ja nie auch nur mit einem Auge daran gedacht, bei der musikalischen
Moderne mitzumischen, und das hat man ihrer Musik natürlich vorgeworfen – aber wieso soll
jemand, der mit Johannes Brahms Kaffee getrunken und mit Tschaikowsky Orchestrierung
diskutiert hat, nicht auch im Stil dieser Zeit komponieren dürfen?
Zumal Ethel bei allem diesen eigenwilligen Ethel-Stil an den Tag gelegt hat, manchmal etwas
eckig, manchmal ein bisschen unkonzentriert, aber oft wunderschön, voller Gefühl, einfach
originell – Virginia Woolf hatte ja recht: Ethels Musik war wie Ethel.
Und dass das zu ihren Lebzeiten doch gar nicht so wenig Leute erkannt haben, hat sie am
Ende dann doch beruhigt.
„After all“, schreibt sie zum Schluss an ihren Freund Henry Wood, „I’ve had a good life.“
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Musik 7
12 – 66551                  T. 6 ab 3’50                      3’40
Ethel Smyth: Concerto for Violin, Horn and Orchestra, Elegy
Sophie Langdon (Violine)
Richard Watkins (Horn)
BBC Philharmonic
Leitung: Osaline de la Martinez
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