Konstruktion und empirische Überprüfung der Güte eines Beobach-tungsrasters zum Erkennen besonderer mathematischer Begabung im Grundschulalter im ...

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Konstruktion und empirische Überprüfung der Güte eines Beobach-
tungsrasters zum Erkennen besonderer mathematischer Begabung im
Grundschulalter im Rahmen eines Talentsucheprozesses

KIRSTEN PAMPERIEN, HAMBURG

Zusammenfassung: Als ein mögliches Hilfsmittel begabte Kinder mithilfe einer dreistufigen Talentsu-
zur Identifikation besonderer Begabung in Talentsu- che identifiziert (Nolte, 2004). Der erste Schritt ist
chen werden Checklisten kritisch diskutiert. Dieser ein Probeunterricht mit speziell entwickelten Prob-
Beitrag handelt von aufgabenspezifischen Checklis- lemstellungen (Progressive Forscheraufgaben, siehe
ten bzw. Beobachtungsrastern, die den Beobachte- Kapitel 3.1), die es möglich machen Heuristiken des
rinnen und Beobachtern Hinweise auf das Vorliegen Problemlösens (Groner & Groner, 1990; Mason, Bur-
einer besonderen mathematischen Begabung bei ton & Stacey, 1992; Polya, 1949) sowie weitere ma-
Grundschulkindern geben sollen. Nach einer theore- thematische Techniken wie Hypothesenbildung und
tischen Einführung in den Bereich der mathemati- deren Überprüfung zu nutzen. Im Anschluss an den
schen Begabung und Möglichkeiten der Identifika- Probeunterricht werden ein Intelligenztest sowie ein
tion im Grundschulalter wird ausgehend von Pro- spezifisch entwickelter Mathematiktest (siehe Kapi-
gressiven Forscheraufgaben die Entwicklung von tel 5.3.3) eingesetzt.
aufgabenspezifischen Beobachtungsrastern be-
 Die im Probeunterricht erzielten Arbeitsergebnisse
schrieben. Im Rahmen einer Talentsuche für Dritt-
 der Kinder werden mit Hilfe aufgabenspezifischer
klässler wird ihre Tauglichkeit überprüft. Es zeigt
 Kategoriensysteme ausgewertet (siehe Kapitel 3.2).
sich, dass ca. 90 % der teilnehmenden Kinder durch
 Zusätzlich werden während des Probeunterrichtes
diese Raster so eingeschätzt werden konnten, dass es
 Verlaufsprotokolle geschrieben. Diese Informatio-
den weiteren Ergebnissen der Talentsuche entsprach.
 nen werden in Expertengruppen analysiert, so dass zu
 jedem Kind bereits nach dem Probeunterricht detail-
Abstract: One possible tool for identifying promising lierte Eindrücke dokumentiert vorliegen. Um die
students are checklists. Critical discussions ask Vielfältigkeit der Beobachtungen sowohl für die Pro-
whether they are suitable for this task. For this re- tokollierenden als auch die Unterrichtenden auf Hin-
search task specific checklists are used with the aim weise für eine mögliche besondere mathematische
to give observers hints about heuristics used by math- Begabung zu fokussieren, werden aufgabenspezifi-
ematical promising students. Firstly, a theoretical in- sche Beobachtungsraster als Beobachtungshilfen
troduction into the field of mathematical giftedness während des Probeunterrichts eingesetzt (Nolte,
and questions about identification of mathematical 2004, 2012c; Nolte & Pamperien, 2017). Diese er-
giftedness at the age of primary grade students is wiesen sich als äußerst hilfreich für das Beobachten
given. Afterwards follows a description of the devel- von mathematischen Tätigkeiten, die ein hohes ma-
opment of checklists based on progressive research thematisches Potenzial bei Grundschulkindern ver-
problems. Within the framework of a talent search muten lassen. Aus diesem Grund wurden diese Raster
process for mathematical promising third grade stu- weiterentwickelt mit der Absicht, sie als ein weiteres
dents their suitability is proved. That about 90 % of Instrument in der Prozessdiagnostik der Talentsuche
the students are assessed appropriate supports the einzusetzen. Insbesondere könnte sich ein solches In-
assumption that the instrument is suitable as part of strument aber auch für einen Einsatz in der Schule
an identification process. eignen, wenn der Umgang mit Heuristiken von Ler-
 nenden in Problemlöseprozessen begleitet werden
1. Einleitung soll. Ein aufgabenspezifisches Beobachtungsraster
 könnte somit Lehrkräfte darin unterstützen, Potenzi-
In der Hochbegabtenforschung wird für die Talentsu-
 ale von Kindern besser zu erkennen. Mithilfe eines
che ein mehrstufiges Verfahren vorgeschlagen, um
 Aufgabensets, das über einen längeren Zeitraum ein-
Fehler bei der Diagnostik so gering wie möglich zu
 gesetzt wird, könnte das Instrument zur systemati-
halten (Heller, 2004). Im Rahmen der Maßnahme
 schen Erfassung der Problemlösefähigkeit von Kin-
PriMa1 an der Universität Hamburg, einem For-
 dern dienen.
schungs- und Förderprojekt für mathematisch be-
gabte Grundschulkinder, werden deshalb besonders

mathematica didactica 44(2021)1, online first 1
math.did. 44(2021)1
Ziel der vorliegenden Studie ist die Überprüfung der die Wechselwirkung zwischen Umweltfaktoren und
Eignung dieses Instruments. Es soll festgestellt wer- Aktivitäten des Individuums aufgenommen (z. B.
den, inwieweit dieses Instrument Hinweise auf eine Gagné, 2004; Heller, 2000; Mönks & Mason, 1993;
besondere mathematische Begabung geben kann. In Renzulli, 2012). Generell können deshalb die Mo-
diesem Artikel wird ein Schwerpunkt auf kognitive delle als Einflussfaktorenmodelle bezeichnet werden,
Aspekte gelegt. Des Weiteren soll die Objektivität die unterschiedlich differenziert die Wechselwirkung
des Instruments durch den Vergleich von Überein- verschiedener Faktoren beschreiben. Dazu zählen
stimmungen der Bewertungen von verschiedenen ebenfalls intrapersonale Faktoren wie Leistungsmo-
Personen im Sinne der Interrater-Reliabilität über- tivation und Ausdauer (siehe z. B. Stoeger,
prüft werden. Steinbach, Obergrießer & Matthes, 2014). Mit die-
 sem multidimensionalen Ansatz wird Intelligenz als
Nach einem kurzen Überblick über die theoretischen
 ein Faktor unter anderen betrachtet. Für einen positi-
Grundlagen bezogen auf Hochbegabung und insbe-
 ven Verlauf des Entwicklungsprozesses sind deshalb
sondere auf mathematische Begabung im Grund-
 passende Anregungen ebenso wichtig, wie das aktive
schulalter wird der Frage der Identifikation mathema-
 Aufgreifen dieser Anregungen.
tischer Begabung im Grundschulalter nachgegangen
und ein spezifisches Beobachtungsraster entwickelt. In der mathematikdidaktischen Diskussion wurde die
Basierend auf der Implementation des Instruments allgemeine Diskussion zur Entwicklung von Bega-
wird seine Güte analysiert und anhand von zwei aus- bung aufgegriffen und die Spezifik für die Entwick-
gewählten Aufgaben wird die Eignung des Instru- lung mathematischer Begabung herausgearbeitet. Al-
ments in einer Gruppe von mathematisch interessier- lerdings ist die Forschung zur besonderen mathema-
ten Kindern im Rahmen des Mathe-Treffs der Maß- tischen Begabung in den alten Bundesländern noch
nahme PriMa (des eingangs erwähnten Probeunter- relativ jung. In den 1970er Jahren entwickelte man in
richts) überprüft und diskutiert. den USA unter Julian Stanley an der Johns Hopkins
 University eine erste Talentsuche für Mittel- und
2. Zum theoretischen Rahmen OberstufenschülerInnen. In den 1980ern wurde die
 Forschung auf jüngere Schülerinnen und Schüler aus-
2.1 Besondere mathematische Begabung geweitet mit dem Ziel, besonders begabte Kinder in
 einem Akzelerationsprogramm zu fördern (Brody,
In der theoretischen Diskussion werden die Bezeich-
 2009). Mit der Weltkonferenz zur besonderen Bega-
nungen „besonders begabt“ und „hochbegabt“ ent-
 bung in Hamburg (1983) konnte die in Westdeutsch-
weder synonym verwendet oder als unterschiedlich
 land bis dahin weit verbreitete Ablehnung der Förde-
hohe Ausprägungsgrade betrachtet, wobei „beson-
 rung von Hochbegabten als Eliteförderung abgebaut
ders begabt“, „hochbegabt“ und sogar „höchstbe-
 werden (siehe z. B. Rost & Schilling, 2006). Die För-
gabt“ als Steigerungen anzutreffen sind (Feger &
 derung mathematisch begabter Schülerinnen und
Prado, 1998). Diskussionen um Begabung befassen
 Schüler der Sekundarstufen begann in Hamburg 1983
sich mit der Frage nach der Bedeutung von angebo-
 unter der Leitung von Karl Kießwetter (1985). Seine
renen Fähigkeiten, der Veränderbarkeit von Bega-
 Arbeitsgruppe stand in Diskussion mit der Johns
bungen und den Faktoren, die zu einer Entfaltung von
 Hopkins University. Heute ist die Förderung von be-
Begabungen beitragen. Wesentlich wird die aktuelle
 sonders begabten Schülerinnen und Schülern nicht
Diskussion davon beeinflusst, dass Begabungen und
 nur akzeptiert, sondern auch gefordert (siehe z. B.
das trifft auch auf mathematische Begabungen zu, als
 United Nations Convention on the Rights of the Child
Potenziale betrachtet werden, die entfaltet werden
 in Article 29, https://www.unicef.org/crc/fi-
müssen. Dazu bedarf es bestimmter Bedingungen
 les/Rights_overview.pdf).
von Seiten der Umwelt sowie entsprechender Aktivi-
täten aufseiten der Schülerinnen und Schüler. Der Fragen zur besonderen mathematischen Begabung
Ansatz, dass das, was als besondere Begabung be- im Grundschulalter wurden zunächst nicht unter-
zeichnet wird nicht statisch ist, sondern einem dyna- sucht, weil die Diagnostik mathematischer Hochbe-
mischen Prozess unterliegt, ist die heute gängige Po- gabung im Grundschulalter bedingt durch den gerin-
sition in der Begabungsforschung (Neubauer & geren Kenntnisstand mathematischer Inhalte sowie
Stern, 2009), die sich auch in der Entwicklung von die im Vergleich zu älteren Schülerinnen und Schü-
Modellierungen von Begabung findet. Ausgehend lern geringeren sprachlichen Kompetenzen als ausge-
vom Ansatz von (Renzulli, 1978), der Begabung als sprochen anspruchsvoll galt (siehe dazu z. B.
Resultat der Wechselwirkung zwischen überdurch- Käpnick, 1998). Eine Ausnahme stellen die Studien
schnittlichen Fähigkeiten, Task Commitment und von Krutetskii (1962, 1976) dar, die nach wie vor in-
Kreativität beschrieb und damit sich zunächst nur auf ternational als grundlegend für die Erforschung ma-
das Individuum bezog, wurde in späteren Modellen thematischer Begabung angesehen werden (siehe
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auch Fritzlar, 2013b). Wichtig ist der Gedanke eines Auf diese Weise entwickeln die Schülerinnen und
„mathematical cast of mind“, (Krutetskii, 1976), d. h. Schüler in einigen Problemfeldern sogar eigene
einem Hineinwachsen in eine fachspezifische Kultur. kleine mathematische Theorien.
Bereits sehr früh kann sich das Interesse an mathe-
 Kießwetter beobachtete, dass in solchen Prozessen
matischen Inhalten zu einer Fokussierung auf eben
 bestimmte Handlungsmuster (HM) günstig sind, die
solche Inhalte in der Umgebung richten. Krutetskii
 er später (auch für mathematisch besonders interes-
definiert mathematische Begabung wie folgt:
 sierte Grundschulkinder) beschrieb, diese können als
 Mathematical giftedness is characterized by general- Indikatoren für eine mathematische Begabung die-
 ized curtailed and flexible thinking in the realm of nen. Kießwetter (1988, 2006) bezeichnet diese als ei-
 mathematical relationships and number and letter sym- nen Katalog mathematischer Denkleistungen:
 bols and by a mathematical cast of mind. This peculi-
 arity of mathematical thinking results in an increased Organisieren von Material
 speed in processing mathematical information (which Sehen von Mustern und Gesetzen
 is related to a replacement of a large volume of infor-
 mation by a small volume, owing to generalization and Erkennen von Problemen, Finden von Anschlußprob-
 curtailment) […]. (Krutetskii, 1976, S. 352) lemen

An Einzelfallstudien zeigte er, dass bereits Wechseln der Repräsentationsebene (vorhandene Mus-
Grundschulkinder rasch zwischen Operationen ter/Gesetze in „neuen“ Bereichen erkennen und ver-
wechseln können, Inhalte verallgemeinern und eine wenden)
Verkürzung von Denkprozessen zeigen (ebd. Strukturen höheren Komplexitätsgrades erfassen und
S. 222 f.). darin arbeiten
Im deutschsprachigen Raum hat der Ansatz Prozesse umkehren (Kießwetter, 1988, S. 29)
Kießwetters die Forschung zur mathematischen Für diese Handlungsmuster finden sich teilweise
Begabung nachhaltig beeinflusst. Kießwetter geht Parallelen bei Krutetskii:
mit seinem Ansatz nicht von Charakteristika
mathematischer Begabung aus, sondern von der […] recognizing patterns and rules and finding related
 problems–corresponds with Krutetskii’s ability to gen-
Frage, auf welche Weise die Entwicklung
 eralize; changing the representation of the problem and
mathematischer Begabung angeregt werden kann. recognizing patterns and rules in this new area–corre-
Dazu entwickelte er einen Förderansatz, der sponds with Krutetskii’s flexibility of mental pro-
Schülerinnen und Schülern reichhaltige Angebote zu cesses; reversing process–corresponds with Kru-
mathematischen Tätigkeiten bietet und ebenfalls tetskii’s reversibility of mental processes (Vilkomir
motivationale Aspekte berücksichtigt. Im Unter- and O’Donoghue 2009, p. 192). (Nolte & Pamperien,
schied zu Krutetskii, der mathematische Begabung 2017, S. 122)
anhand kürzerer Aufgaben überprüfte, betont Der Bezug zu mathematischen Tätigkeiten wird
Kießwetter die Bedeutung der Komplexität der allgemein in der Forschung zur besonderen
Problemstellungen. In den achtziger Jahren mathematischen Begabung betont „success in
entwickelte er das Förderkonzept „Hamburger insight-based problem solving can serve as an
Modell“, in dem Schülerinnen und Schülern der indication of mathematical giftedness among
Sekundarstufe I und II Gelegenheiten zu schoolchildren“ (Leikin, Leikin, Paz-Bruch,
mathematischen Tätigkeiten in komplexen Waisman & Lev, 2017, S. 110).
Problemfeldern gegeben werden. Der mathematische
Hintergrund der angebotenen Fragestellungen ist so Wie in der Forschung zur allgemeinen
ausgewählt, dass die Schülerinnen und Schüler Hochbegabung wird auch im Grundschulbereich
möglichst selbstständig und am Kenntnisstand der mathematische Begabung vornehmlich unter einer
jeweiligen Klassenstufe orientiert die Aufgaben dynamischen Perspektive, der Perspektive des
bearbeiten können. Potenzials, betrachtet, so dass das amerikanische
 National Council of Teachers of Mathematics
 Im Zentrum unserer Bemühungen steht, Vorgaben,
 Anreize und Anregungen für mathematisches Tun zu
 (NCTM) von „promising children“ spricht (siehe
 liefern. Deshalb versuchen wir im elementarmathema- auch Sheffield, 1999a, 1999b; Singer, Sheffield,
 tischen Bereich, Situationen zu simulieren, wie sie in Freiman & Brandl, 2016). Wesentlichen Einfluss auf
 der mathematischen Forschung auftreten. So wird ins- die mathematikdidaktische Diskussion in
 besondere auch die kreative Komponente mathemati- Deutschland hat eine Studie von Käpnick (1998), in
 scher Begabung gefordert und gefördert. Forschungs- der er spezifische Merkmale von Dritt- und
 situationen sind offen. (Kießwetter, 1988, S. 33) Viertklässlern mit einer potenziellen mathematischen
 Begabung beschreibt, die neben

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begabungsstützenden Persönlichkeitseigenschaften beschrieben werden (siehe z. B. Aßmus, 2018;
u. a. ebenfalls Fähigkeiten zum Umkehren von Käpnick, 1998; Krutetskii, 1976), erfolgen. Um die
Gedankengängen, den Umgang mit Mustern und Fehlerrate so gering wie möglich zu halten, schlägt
Strukturen und den Wechsel der Heller (2000, S. 252, in Bardy, 2007, S. 99) ein
Repräsentationsebenen umfasst. In verschiedenen mehrstufiges Identifikationsverfahren vor, an dessen
Studien wird ebenfalls bestätigt, dass die von Anfang ein Screeningverfahren mit Checklisten
Kießwetter beschriebenen Handlungsmuster auch steht, gefolgt von Begabungstests. Sukzessive wird
bereits von jüngeren Kindern gezeigt werden können die Anzahl der ausgewählten Schülerinnen und
(z. B. Nolte & Pamperien, 2006; Aßmus, 2017). Schüler reduziert, bis am Ende des Verfahrens die
 Identifikation der besonders begabten Kinder steht.
Die Entwicklung dieser Fähigkeiten wird inzwischen
in den Bildungsstandards im Fach Mathematik für Ein mehrstufiges Verfahren wird deshalb auch in der
den Primarbereich (KMK, 2005) für alle Schülerin- Talentsuche des PriMa-Projekts vorgenommen. Im
nen und Schüler als Ziel formuliert, allerdings zeigen ersten Teil, dem Probeunterricht der Talentsuche (zu
die Beispiele, dass die Aufgaben eine deutlich gerin- dem unter dem Namen Mathe-Treff für Mathe-Fans
gere Komplexität als diejenigen, die in der Förderung eingeladen wird), werden immer wieder Kinder mit
für mathematisch besonders begabte Schülerinnen einem hohen Potenzial entdeckt, die später aufgrund
und Schüler genutzt werden. Deshalb verweist u. a. der beschränkten Anzahl der für die Förderung zur
Nolte (2012c) darauf, dass die Merkmale im Kontext Verfügung stehenden Plätze nicht in die universitäre
anspruchsvoller Aufgaben beobachtet werden sollen. Förderung aufgenommen werden können. In Ham-
Inzwischen hat sich die Forschungslage zur mathe- burg haben diese Kinder zwar die Möglichkeit an ei-
matischen Begabung im Grundschulalter deutlich er- nem der vielen schulischen Mathe-Zirkel teilzuneh-
weitert, so auch bezüglich eines multidimensionalen men, allerdings verweisen Beobachtungen aus der
und dynamischen Ansatzes, der sich in verschiede- Talentsuche darauf, dass neben der Förderung in spe-
nen Modellen zur mathematischen Begabung wider- ziell zusammengestellten Gruppen die Förderung im
spiegelt (vgl. Fritzlar, 2013a, S. 53; Fuchs, 2006, Rahmen des Schulunterrichts eine besondere Bedeu-
S. 67; Heinze, 2005, S. 39; Käpnick, 2006, 2014; tung gewinnt. Wie bereits in der Einleitung angespro-
Nolte, 2012c, S. 2 f.). Es kann festgestellt werden, chen, könnte hier den Beobachtungsrastern zur ge-
dass mathematische Begabung in der mathematikdi- zielten Beobachtung der mathematischen Tätigkeiten
daktischen Forschung gemeinhin als Potenzial be- der Kinder eine besondere Rolle zukommen. Insbe-
schrieben wird, welches zu seiner Entfaltung sowohl sondere unter der Perspektive eines breiten Inklusi-
auf günstige Umweltfaktoren als auch auf Aktivitäten onsbegriffs ist es für Lehrkräfte wichtig, besondere
von Seiten des Kindes angewiesen ist. Die Entfaltung Begabungen erkennen und darauf reagieren zu kön-
dieser Begabung lässt sich als ein Prozess bezeich- nen. Wie weit Lehrkräfte dazu in der Lage sind, wird
nen, für den ein Kind Interesse an mathematischen immer wieder diskutiert (Hany, 1998). In den letzten
Inhalten zeigen muss, der aber auch eine Umgebung Jahren werden allgemeine Dimensionen des professi-
braucht, in der dem Kind herausfordernde Angebote onellen Lehrerhandelns verstärkt diskutiert (Blö-
gemacht werden. In diesem Sinne folgen wir in unse- meke, Kaiser & Lehmann, 2008). Auch wenn es in-
rem Projekt der Definition Noltes (2012d): zwischen mehr Studien zum Lehrerprofessionswis-
 We define children as mathematically gifted when
 sen im Kontext besonderer mathematischer Bega-
 they are able to work on complex problems. In this bung gibt, sind für das Erkennen und Fördern beson-
 learning environment they recognize patterns and derer mathematischer Begabung viele Fragen noch
 structures. They are able to exploit these patterns and offen (siehe z. B. Singer, Sheffield, Freiman &
 structures while working the problem. They can work Brandl, 2016). Eine entscheidende Rolle spielt das
 on a high level of abstraction. They construct super- Wahrnehmen (Noticing) und das Deuten von Ereig-
 ordinate structures and grasp coherences. They are nissen im Unterricht (Es & Sherin, 2002), das im
 able to generalize their findings. So when children Kontext besonderer mathematischer Begabung u. a.
 show special patterns of action in challenging and eine hohe mathematische Kompetenz und eine Ba-
 complex fields of problems we suppose high mathe-
 lance zwischen dem verlangt, was in einer leistungs-
 matical talent. (Nolte, 2012d, S. 157)
 heterogenen Gruppe als angemessene Herausforde-
2.2 Fragen zur Identifikation mathemati- rung bezeichnet werden kann.
 scher Begabung Hier soll zunächst die Rolle von geeigneten Maßnah-
Im Sinne der bisherigen Ausführungen soll also eine men für das Erkennen einer Begabung diskutiert wer-
Identifikation besonderer mathematischer Begabung den. Einen ersten Ansatz stellen günstige substanzi-
anhand von Merkmalen, wie sie in der Literatur elle Aufgabenformate dar, die in der Grundschule

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auch unter der dem Stichwort „natürliche Differen- einem systematischen Training zu einer Verbesserung
zierung“ (siehe z. B. Krauthausen & Scherer, 2007) des Erkennens Hochbegabter beitragen. (Preckel &
zu finden sind und die sich u. a. dadurch auszeichnen, Vock, 2013, S. 135)
dass Kinder unterschiedlich tief in einen mathemati- Allerdings stimmen sie mit Heller et al. (2005) über-
schen Kontext eindringen können. Damit bieten diese ein, dass Checklisten eine „wertvolle Ergänzung“ in-
Aufgaben erste Möglichkeiten, Hinweise für ein be- nerhalb eines Verfahrens sein können (Preckel &
sonderes Potenzial zu finden. Vock, 2013, S. 135).
Wenn sich aber trotz differenzierender Angebote be- Preckel und Vock (2013) kritisieren, ebenso wie Ur-
sondere Begabungen nicht in den Leistungen der ban (1990), dass die in Checklisten aufgeführten
Schülerinnen und Schüler zeigen, fällt es Lehrkräften Merkmale in der Regel sehr allgemein gehalten sind
schwer, eine besondere mathematische Begabung im und die vagen Formulierungen keine eindeutigen
Unterricht zu erkennen. Preckel (2010) schlägt vor, Aussagen über besondere Begabungen zulassen,
weitere Daten zu erheben, z. B. Schulleistungsdaten. denn überwiegend gehen sie nicht differenziert genug
Es zeigt sich jedoch immer wieder, dass es problema- auf kognitive Komponenten des Problemlösens ein.
tisch ist, Schulleistungen als Ausgangspunkt für die In der Mathematikdidaktik finden sich interessante
Erfassung eines Potenzials zu nehmen. Dies machen Ansätze zur Kategorisierung anhand verschiedener
z. B. die Diskussionen um Underachiever deutlich Aufgaben (siehe z. B. Günther, 2018, S. 68 f.; Nolte
(siehe z. B. Hanses & Rost, 1998). & Pamperien, 2017). Wenn sie unter der Perspektive
 des Erkennens eines besonderen Potenzials einge-
Obwohl allgemein anerkannt ist, dass Intelligenztests setzt werden sollen, ist jedoch zu unterstreichen, dass
sich dazu eignen, den Schulerfolg zu prognostizieren sie zwar Hinweise geben können, aber keine Diag-
(Preckel, 2010; Rost, 2000), ist zu fragen, ob damit nose durch eine Expertin oder einen Experten erset-
eine besondere mathematische Begabung erfasst zen (Perleth, 2010). Für den Unterricht betonen Hel-
werden kann. ler et al. (2005) und Hany (1994) die besondere Funk-
Nolte (2011, 2012b) zum Beispiel konnte anhand von tion von Checklisten im Unterschied zu einer aus-
mehr als 1600 Schülerinnen und Schülern zeigen, führlichen Diagnostik unter Verwendung verschiede-
dass die Ergebnisse eines Intelligenztests während ner Tests:
der Talentsuche nur schwach mit den Ergebnissen ei- Die Identifizierung besonders befähigter Schülerinnen
nes Mathematiktests, der für die Talentsuche im Rah- und Schüler sollte vorrangig dazu dienen, die individu-
men von PriMa entwickelt wurde, korrelieren. Dies ellen Lernbedürfnisse zu erfassen, um darauf aufbau-
stimmt mit Aussagen von Preckel (2010) überein. end geeignete Fördermaßnahmen innerhalb und / oder
 außerhalb des Regelunterrichts ergreifen zu können.
 Intelligenztests alleine können damit lediglich nur ein, (Heller et al., 2005, S. 102)
 wenn auch zentraler Baustein in der Hochbegabungs-
 diagnostik sein. (Preckel, 2010, S. 40) Unter der oben beschriebenen Perspektive bieten be-
 reits Checklisten „Hinweise für die genaue Abstim-
Anhand von Checklisten wurde versucht, Lehrkräf-
 mung zwischen Entwicklungsverlauf und Umweltan-
ten und Eltern eine Hilfestellung zum Erkennen eines
 geboten“ (Hany, 1994, S. 4).
besonderen Potenzials zu geben. Um deren Einsatz
zur Nominierung von besonders begabten Kindern Checklisten, die im Sinne eines Screeningverfahrens
besteht bereits seit vielen Jahren eine breite Diskus- zum Erkennen mathematischer Begabung eingesetzt
sion (Cao, Jung & Lee, 2017; Feger & Prado, 1998). werden, sollten sich an dem orientieren, was beson-
Diskutiert wird der Nutzen von Checklisten als Er- dere mathematische Begabung kennzeichnet. Im
gänzung zu anderen Verfahren und zwar vor allem Umgang mit herausfordernden Problemstellungen
deshalb, weil sich für Checklisten zeigen die Kinder, wie sie mit abstrakten und kom-
 […] die prinzipielle Frage nach deren Gültigkeit (Va-
 plexen Inhalten umgehen können. Darüber hinaus ist
 lidität) und somit auch der Zuverlässigkeit dieser Ra- es notwendig, spezifischere Kompetenzen, die in an-
 tings im Vergleich zu objektiven Testurteilen stellt. spruchsvollen mathematischen Lernprozessen wirk-
 (Heller, Reimann & Senfter, 2005, S. 19) sam werden, zu betrachten. Allgemeine Checklisten
 zur Unterrichtsbeobachtung und auch zu spezifi-
Preckel und Vock (2013) sehen den alleinigen Ein- schem mathematischem Wissen wurden z. B. im Pro-
satz von Checklisten zum Erkennen von besonderer jekt PIKAS vom DZLM (2010) vorgeschlagen und
Begabung kritisch. finden sich auch in verschiedenen Schulbüchern oder
 Checklisten verbessern die Güte von Lehrer- oder El- Handreichungen wie „Beobachtung des Lösungswe-
 ternnominationen offensichtlich nicht, können jedoch ges beim Rechnen in der Grundschule“ (2003). Diese
 für Merkmale sensibilisieren und in Kombination mit Checklisten sind häufig sehr allgemein gehalten oder

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beziehen sich in der Regel nur auf Einzelbeobachtun- Begabtenförderung (Kießwetter, 1988). Dieser unter-
gen. Eine genaue Auseinandersetzung mit der Viel- scheidet sich von Ansätzen der systematischen Her-
fältigkeit von Checklisten würde den Rahmen dieses anführung an Problemlösekompetenzen (siehe z. B.
Artikels sprengen. Bruder, 2014), da er im Kießwetter`schen Sinne im-
 plizit durch die Bearbeitung der Problemfelder die
Diese Überlegungen verweisen auf die Problematik,
 Anwendung von Heurismen ermöglicht und Hand-
die mit der Identifikation einer besonderen Begabung
 lungsmuster gezeigt, ggf. erweitert aber auch erwor-
verbunden ist. Sie zeigen, dass eine Verknüpfung
 ben werden können. Fallstudien zeigen, dass Schüle-
verschiedener Maßnahmen notwendig ist. Da Anfor-
 rinnen und Schüler mit zunehmender Erfahrung in
derungen im Regelunterricht oft einen Deckeneffekt
 solchen Problemfeldern die Verfügbarkeit über Heu-
aufweisen, wenn es um das Zeigen eines hohen ma-
 rismen und Handlungsmuster weiterentwickeln
thematischen Potenzials geht, ist es sinnvoll, Schüle-
 (Nolte & Pamperien, 2014). Für die Grundschule
rinnen und Schülern Lernumgebungen anzubieten,
 muss es einige Eingrenzungen geben, aber die
die ein Arbeiten an komplexen Problemstellungen er-
 Grundidee des propädeutischen forschenden Lernens
möglichen (siehe z. B. Kießwetter, 1988, 2006). Auf
 wird auch hier verfolgt (Nolte & Pamperien, 2010).
diesem Ansatz basiert die Entwicklung des im Fol-
genden dargestellten Beobachtungsrasters. Im regulären Unterricht bieten ProFa eine Chance,
 erfolgreich und selbständig an einem innermathema-
3. Beschreibung des Beobachtungsras- tischen Problem zu arbeiten. Damit unterstützen sie
 ters die Entwicklung allgemeiner mathematischer Kom-
 petenzen, wie sie z. B. im Hamburger Bildungsplan
3.1 Progressive Forscheraufgaben Mathematik (2011) oder den Bildungsstandards
 (2005) aufgeführt werden, zu denen auch das Prob-
In Fallstudien wurde der Einsatz von komplexen
 lemlösen gehört. Die Forderung, derartige Aufgaben
Aufgabenstellungen, die sich für die Förderung ma-
 im Unterricht zu behandeln, ist nicht neu (Bauersfeld,
thematisch besonders begabter Grundschulkinder
 2000; Winter, 1984; Wittmann & Müller, 1990,
eignen und die sich an den Kießwetter`schen Hand-
 1992). Allerdings unterscheiden sich die ProFa hin-
lungsmustern orientieren, auch im Schulunterricht
 sichtlich ihrer Komplexität und der Möglichkeit, mit
bzw. in Einzelarbeit überprüft (Nolte & Kießwetter,
 weiterführenden Fragen tiefer in den mathematischen
1996; Nolte & Pamperien, 2006; Nolte & Pamperien,
 Kontext einzudringen. Das übergeordnete Lernziel
2017; Pamperien, 2008). Für die Förderung mathe-
 der Progressiven Forscheraufgaben ist nicht nur das
matisch besonders begabter Kinder wurden im
 Lösen eines bestimmten Problems, sondern vielmehr
PriMa-Projekt an der Universität Hamburg soge-
 liegt es in der langfristig zu erzeugenden Haltung des
nannte Progressive Forscheraufgaben (ProFa) entwi-
 eigenen mathematischen Denkens, welche als ein As-
ckelt. Diese Art von Aufgaben, an denen die Kinder
 pekt des „mathematical cast of mind“ nach Krutetskii
etwa zwei Schulstunden ein Problem bearbeiten, bie-
 (1976) aufgefasst werden kann.
ten die Möglichkeit, Muster und Strukturen zu erken-
nen, zu argumentieren, zu verallgemeinern, Analo- Die Bearbeitung von ProFa in Regelklassen ist ähn-
gien zu erkennen und Transfer vorzunehmen. Dies al- lich dem Einsatz von Lernumgebungen basierend auf
les sind Aspekte, die in mathematischen Problemlö- natürlicher Differenzierung (Krauthausen & Scherer,
seprozessen entscheidend zum Erfolg beitragen. 2014; Hengartner, Hirt & Wälti, 2006) auf unter-
Gleichzeitig erfordern die ProFa keine Vorkennt- schiedlichen Niveaus möglich. Damit können diese
nisse, die über die Klassenstufe hinausgehen und Art von Aufgaben auch von Kindern mit Lernstörun-
können auf sehr einfache Weise, z. B. durch Zählen, gen bearbeitet werden (Scherer 1995, 1996) und for-
aber auch durch anspruchsvollere mathematische dern gleichzeitig besonders interessierte und leis-
Denkweisen, wie das Nutzen von Mustern und Struk- tungsfähige Schülerinnen und Schüler heraus. Es hat
turen, bearbeitet werden. Wesentlich für den Erfolg sich gezeigt, dass auf diese Weise nicht nur die Ent-
der ProFa ist die Art des Umgangs damit, getragen wicklung von Problemlösekompetenzen gefördert
vom Spannungsfeld zwischen Selbständigkeit und wird, sondern dass Kinder auch Handlungsmuster
Unterstützung, aber auch in Verbindung mit dem ge- zeigen können, die auf ein besonderes mathemati-
meinsamen Austausch über Herangehensweisen und sches Potenzial hinweisen (Nolte & Pamperien,
Entdeckungen während der Plenumsphasen (Nolte & 2017; Pamperien, 2008).
Pamperien, 2010). Bedingt durch die Eigenschaft der ProFa unterschied-
Mit dem Einsatz dieser ProFa in seinen Fördergrup- liche Zugänge zu den Fragen zu ermöglichen und
pen folgt PriMa dem Ansatz des maßgeblich von Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben
Kießwetter entwickelten „Hamburger Modells“ zur unterschiedlich tief in den mathematischen Kontext

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einzudringen, kommt der gemeinsamen Besprechung starken Einfluss auf die Qualität des Unterrichts hat
von Vorgehensweisen und Ergebnissen eine beson- – insbesondere auf die Begleitung der Lösungspro-
dere Bedeutung zu. Sowohl im Regelunterricht als zesse.
auch in den Fördergruppen ist es deshalb wichtig zu Based on the description of the competence levels in
wissen, was die Kinder bereits herausgefunden ha- Sect. 3, it can be assumed that teachers with MCK at
ben, wie weit sie gekommen sind und welche Wege the lowest and average competence levels will not be
sie genommen haben. Es bietet sich an, den Problem- able to recognize or understand creative students’ solu-
bearbeitungsprozess durch ein Beobachtungsraster tions and will not be able to support these students’
zu begleiten (Nolte, 2012a). Dieses enthält Beschrei- mathematical learning processes. In addition, teachers
bungen spezifizierte Handlungsmuster nach Kieß- who reach only the lower competence level in MPCK
wetter sowie prozessbezogene Kompetenzen, wie will not be able to offer learning opportunities for high-
z. B. das Begründen. Im Sinne von möglichen kind- achieving and creative students, to develop different
 representations for a mathematical problem or choose
lichen Lösungsräumen (siehe dazu Leikin, 2007) be-
 different teaching strategies for their heterogeneous
nötigt man für die Entwicklung des Rasters ein Wis- student body. (Hoth, Kaiser, Busse, Döhrmann & Blö-
sen um verschiedene Vorgehensweisen, Lösungen meke, 2017, S. 115)
und deren Bewertung hinsichtlich einer effizienten
Arbeit im Sinne Krutetskiis und Kießwetters. Daher ist es wichtig, dass sich auch die Lehrenden
 des Mathe-Treffs intensiv mit den Aufgaben ausei-
3.2 Entwicklung des Beobachtungsrasters nandersetzen und Hilfestellungen erhalten, um die
 Qualität des Screeningverfahrens zu sichern. So wur-
3.2.1 Zu den Beobachtungen im Probeunter- den für die Auswertung der Arbeit der Kinder zum
 richt in der Talentsuche des PriMa- einen Auswertungsraster für die schriftlichen Doku-
 Projekts mente und zum anderen Beobachtungsleitfäden als
Im Probeunterricht werden die Kinder mit den oben Hilfsmittel für die Protokollantinnen und Protokol-
beschriebenen ProFa konfrontiert. Ziel ist es, durch lanten sowie die Unterrichtenden entwickelt, die ope-
eine prozessbegleitende und auf kognitive Kompo- rationalisiert die wesentlichen aufgabenspezifischen
nenten des Problemlösens fokussierte Beobachtung Komponenten in den Problemlöseprozessen erfassen.
der Kinder im Bearbeitungsprozess erste Hinweise Aus diesen Instrumenten wurden aufgabenspezifi-
auf ein besonderes mathematisches Potenzial zu er- sche Beobachtungsraster entwickelt, die als Check-
halten. listen während des Unterrichtsgeschehens eingesetzt
Die Leistungen der Kinder zu beurteilen, kann nicht werden.
allein ergebnisorientiert erfolgen, da für die Qualität Die Entwicklung der Raster erfolgte in einem
der Leistung die Problemlösestrategien der Kinder mehrschrittigen Verfahren und war theoriegeleitet. In
entscheidend sind. Vor allem die Berücksichtigung einem ersten Schritt wurde durch eine Experten-
der Vielfalt an möglichen Lösungswegen ist eine be- gruppe eine Kategorisierung theoretisch erwarteter
sondere Herausforderung für Lehrkräfte ebenso wie Denkleistungen, die in Form einer Sachanalyse
die damit verbundene prozessbezogene Bewertung durchgeführt wurde, vorgenommen. Mit dem so ent-
dieser Leistungen der Kinder. Anspruchsvoll wird standenen Kategoriensystem wurde zunächst im
diese Bewertung durch die Komplexität der Problem- Sinne der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz
stellungen und eben der daraus resultierenden Viel- (2016) anhand der schriftlichen Bearbeitungen der
falt an Herangehensweisen. Es ist nicht immer ein- Kinder überprüft, inwieweit das deduktiv hergeleitete
fach, die Verbalisierungen der Kinder zu verstehen Kategoriensystem induktiv erweitert werden musste.
und Fragen und Vorgehensweisen einordnen zu kön- Zeitgleich wurden die einzelnen Kategorien unter
nen. Die Begleitung der Kinder in diesem Prozess er- Rückgriff auf die Kriterien nach Kießwetter darauf-
fordert besondere Expertise, da diese auf dem Durch- hin untersucht, wieweit sie Hinweise auf eine beson-
dringen des kindlichen Lösungsraums basiert, der dere Begabung geben können. Die Ergebnisse dieser
nicht immer eindeutig zu interpretieren ist. Es ist zu- beiden Analyseschritte führten zu weiteren Anpas-
dem erforderlich, mit dem mathematischen Kontext, sungen des Kategorienschemas, so dass die ausge-
in dem die Aufgabe eingebettet ist, vertraut zu sein. wählten Kategorien sich daran orientieren, ob ihr
Da viele der ProFa sich für einen Einsatz über die Auftreten bei der Bearbeitung der ProFa Hinweise
Grundschule hinweg eignen (siehe z. B. Kießwetter, auf eine mathematische Begabung geben kann. Im
2006), geht auch der mathematische Hintergrund Hinblick auf die Anforderungsbereiche aus den Bil-
über den in der Grundschule üblichen hinaus. Im dungsstandards der KMK (2005) sind die Kategorien
Kontext der TEDS-FU Studie zeigte sich, dass die unterschiedlich gewichtet. So werden einfache An-
mathematische Kompetenz von Lehrkräften einen

 7
math.did. 44(2021)1
wendungen des Wissens anders gewichtet als Be- Das NIM-Spiel:
gründungen. Wesentlich ist, dass diese Kategorien
zum einen Hinweise auf ein besonderes mathemati-
sches Potenzial geben, zum anderen den Problemlö-
seprozess eines jeden Kindes beschreibbar machen
können. Weiterhin ist das Instrument nicht statisch,
sondern kann an bestimmte Fragestellungen der
Lehrkraft angepasst werden, z. B. ob Kinder zum
Transfer einer Idee in der Lage sind oder auch um
Verhaltensweisen wie Partizipation im Unterricht er-
gänzt werden. Am Beispiel der Dreiecksaufgabe
(Pamperien, 2004), die im Mathe-Treff der Talentsu-
che eingesetzt wurde und vielfältige Muster bei der
 Abb. 1: Aufgabenblatt zum NIM-Spiel in der Version von
Bearbeitung zulässt, wurden erste Vergleiche zwi- 2004
schen ausgesuchten Kriterien und den Ergebnissen
der weiteren Testungen (siehe Kapitel 5.3) durchge- • Das Spiel wird von zwei Personen gespielt
führt und daraus geschlossen, dass sich diese dazu (Schwarz/Weiß).
eignen, eine erste Prognose über ein mathematisches • Beide Personen verfolgen völlig konträre Interes-
Potenzial abzugeben. Diese Vermutungen wurden für sen (Nullsummenspiel), d. h. der Gewinn der ei-
weitere aufgabenspezifische Beobachtungen erhär- nen ist gleich dem Verlust der anderen Person.
tet. Allerdings ist die Beobachtung der Bearbeitung
einer Aufgabe allein nicht aussagekräftig genug. Erst • Endloses Spielen ist ausgeschlossen.
über ein Set von Aufgaben lässt sich eine Prognose • Es wird stets abwechselnd nach festen Spielre-
treffen. Im Mathe-Treff bearbeiten die Kinder insge- geln gezogen und es gibt keinen Zufallseinfluss.
samt drei Aufgaben. Die Ergebnisse dieser ersten Be-
obachtungen lassen erwarten, dass anhand bestimm- • Es liegen stets die vollständigen Informationen
ter Kriterien entwickelte Beobachtungsraster den Ta- über den aktuellen Spielstand vor, d. h. es gibt
lentsucheprozess ergänzen können und bei entspre- keine verborgenen Informationen.
chender Validität auch in anderen Settings wie z. B.
 • Durch die Aufgabenvorgabe ergibt sich, dass die
im Mathematikunterricht der Grundschule zur Iden-
 Positionen alle bestimmt sind, d. h.:
tifikation mathematisch begabter Schüler und Schü-
lerinnen erprobt werden könnten. Wieweit sich das • Schwarz kann unabhängig von den Zügen von
Instrument dazu eignet, valide Aussagen zu machen, Weiß gewinnen (Gewinnposition für Schwarz).
soll in dieser Studie zunächst anhand von zwei Auf-
gaben als erster Hinweis auf Validität überprüft wer- • Weiß kann unabhängig von den Zügen von
den. Schwarz gewinnen (Gewinnposition für Weiß).
 Somit müssen die Spieler einer bestimmten Strategie
3.2.2 Das Beobachtungsraster zum NIM-
 folgen, um sicher gewinnen zu können (vgl. Gnirk,
 Spiel
 Homann & Lubeseder, 1970, S. 50 ff.; Müller &
Wie oben beschrieben, ist es für die Entwicklung ei- Wittmann, 1977, S. 230 ff.; Scherer, 1999, S. 154).
nes Beobachtungsrasters für ProFa wesentlich, zu-
nächst eine Sachanalyse durchzuführen. Hieraus Diese Strategie bezieht sich hier auf das vorgegebene
ergibt sich ein zu erwartender kindlicher Lösungs- Intervall von 1-2, d. h. es dürfen ein oder zwei Felder
raum, der durch Beobachtungen im Bearbeitungspro- markiert werden und die Zielzahl = 10, d. h. das
zess ergänzt wird. Es werden daraus aufgabenspezi- zehnte Feld soll erreicht werden (vgl. Abb. 1). Der
fische Handlungsmuster abgeleitet, die im Beobach- Rest bei der Division von 10 durch 3 beträgt 1. Es
tungsraster festgehalten werden. sind 10 und 1 kongruent modulo 3. Daraus ergibt sich
 für Aufgabe eins die Notwendigkeit, mit einem Feld
Die Sachanalyse des NIM-Spiels (s. Abb. 1) in der zu beginnen und im weiteren Verlauf des Spiels stets
vorliegenden Form ergibt Folgendes: den Zug des Gegenspielers zu drei zu ergänzen. So-
Da es sich hierbei um eine vereinfachte Variante des mit ist das erste Spielfeld in diesem Fall auch das
bereits 1902 auf mögliche Gewinnstrategien von erste Siegerfeld. Der Abstand zwischen den Sieger-
Bouton untersuchten Problemfeldes handelt, ist feldern beträgt jeweils drei. Dies ergibt sich aus dem
bekannt, dass dies ein strategisches Spiel ist, d. h. es vorgegebenen Intervall (1-2). Die weiteren Siegerfel-
erfüllt u. a. folgende Eigenschaften (vgl. Berlekamp, der sind die Felder 4,7 und 10. Es wird also die Länge
Conway & Guy, 1985, S. 16 und S. 48): des Spielfeldes betrachtet und diese Zahl wird durch

8
K. Pamperien
die Summe der ersten und der letzten Zahl des Inter- • Erkennen von Siegerfeldern
valls dividiert, daraus ergibt sich das erste Siegerfeld.
Ist der Rest der Division 0, darf man nicht beginnen. • Belegen der Siegerfelder mit Zahlen
In allen Aufgaben wird im weiteren Verlauf zunächst • Begründung von Teilstrategien
nur eine Dimension verändert, um die Kinder zum
Erkennen weiterer Strategien oder zu Verallgemeine- • Vollständige Begründung des Lösungsweges
rungen zu führen. • Analogiebildungen
Als feste Vorgabe bleibt bei dieser Aufgabe zunächst • Betrachtung von Fallunterscheidungen
die Anzahl der möglichen Markierungen. Die Di-
mension der Veränderung ist die Länge des Spielfel- • Eigenständige Erweiterung des Suchraumes,
des. Je nach Anzahl der Felder insgesamt und nach z. B. längere Spielfelder
der Anzahl der bei einem Zug zu besetzenden Felder, • Zurückgreifen auf bisherige Informationen
die eine weitere Veränderung darstellen könnte, kann
die erste Strategie vollständig weiterverwendet oder • Nutzen von Tabellen
an die neue Situation angepasst werden. Die erste Beispiele für Beobachtungen, die sich auf die Mitar-
Frage bezieht sich auf mögliche Siegerfelder. Der beit im Unterricht und auf intrapersonale Variablen
Grad der Herausforderung dieser Aufgabenstellung beziehen, die zusätzlich notiert werden können:
ergibt sich vor allem daraus, ob und inwieweit die
Kinder in diesem Prozess angeleitet werden. Darüber • Aktive Mitarbeit im Plenum
hinaus ermöglichen Dimensionen der Veränderung
 • Bezugnahme auf die Äußerungen anderer
eine Hinführung zur Verallgemeinerung. Diese ist Kinder
nur möglich, wenn die Kinder bestimmte Strukturen,
in diesem Fall die Gruppierung von drei aufeinander- • Anregung durch Musterlösungen
folgenden Feldern, erkannt haben. Zudem spielt das
 • Motivation
Erkennen der Bedeutung des Anfangs eine Rolle. Da
1 das erste Siegerfeld ist, ist es notwendig zu begin- • Annahme von Hilfe
nen. Wäre hingegen die Länge des Feldes durch 3
ohne Rest teilbar, sollte man nicht beginnen. Weitere • Durchhaltevermögen
mögliche Dimensionen der Veränderung wären z. B. • Arbeitsverhalten
eine Veränderung des vorgegebenen Intervalls sowie
der Form des Spielfeldes. Daraus wird ersichtlich, Hieraus ergab sich ein anfänglich sehr komplexes
dass sich innerhalb einer Problemstellung verschie- Kategoriensystem, welches mittels Expertenberatung
dene Fragestellungen ergeben, die aus einer Aus- auf die wesentlichen Punkte reduziert wurde. Diese
gangssituation die Entwicklung eines Problemfeldes werden in Abgrenzung von Verhaltensbeobachtun-
ermöglichen. Dies ist ein besonderes Charakteristi- gen alle als Handlungsmuster (HM) bezeichnet. Sie
kum der ProFa. Verbunden mit der Möglichkeit im- wurden in Anlehnung an die Bildungsstandards
mer wieder Zwischenerfolge zu erfahren, stabilisiert (KMK, 2005) und entsprechend eines Experten-
sich so die Prozessmotivation. Dies ist wichtig, da die ratings unterschiedlich gewichtet. Handlungsmuster,
Aufgabenbearbeitung ein für die Schule ungewöhnli- die dem Anforderungsbereich II entsprechen, werden
ches Durchhaltevermögen erfordert (vgl. Pamperien, mit vier Punkten bewertet, hierzu gehört das Erken-
2008). nen von lokalen Mustern und Strukturen, so z. B. das
 Erkennen von Siegerfeldern und Gruppierungen. An-
Hier eine Auswahl der Beobachtungen, die an der forderungen aus dem Bereich III werden mit acht
Universität bei den Kindern in der Fördergruppe ge- Punkten bewertet. Weniger Punkte werden für Be-
macht werden konnten: obachtungen gegeben, die zu den höheren Anforde-
 • Rekursives Vorgehen rungsbereichen hinführen.
 Es ergab sich das in Abb. 2 dargestellte Beobach-
 • Organisation von Material, z. B. durch Spiel-
 tungsraster:
 feldverkürzung
 • Erkennen der Bedeutung des Anfangs
 • Nutzen von Mustern und Strukturen, z. B.
 Dreiergruppierungen
 • Bewusstes Ergänzen zu drei (Superzeichen-
 bildung)

 9
math.did. 44(2021)1
 ist aber nicht gleichbedeutend mit dem Erkennen ei-
 nes Superzeichens. Die Dreier-Gruppe fällt also in

 Name 1

 Name 2
 den Bereich Muster und Strukturen. Die Dreiergrup-
 pierung kann aber auch zufällig geschehen.
HM1: Arbeitet rekursiv (von hinten ab- HM 3: Superzeichen (3er Muster) (8P)
zählend) 1 P
 Superzeichen (übergeordnetes Muster)
HM2: Verwendet 3er Gruppierungen 1P
 Mögliche Vorgehensweisen: Die Ergänzung zu drei
HM3: Superzeichen (3er Muster) 8P wird explizit genannt, ist so markiert, dass diese In-
 terpretation wahrscheinlich ist oder es ist möglich zu
HM4: Erkennt die Bedeutung des An-
 erkennen, dass dieser Strategie folgend gespielt
fangs 4P
 wurde. Es wurde also bewusst zu drei ergänzt. Das
HM5: Erkennt Siegerfelder, jeweils 1P Erkennen eines Superzeichens ist ein deutlicher Hin-
HM6: Begründet Teilstrategie 4P weis auf ein mathematisches Potenzial. Superzeichen
 werden aus einzelnen Einheiten gebildet und bewusst
HM7: Kann seine richtige Lösungsstra- genutzt, um zur Lösung zu gelangen. In diesem Fall
tegie vollständig erklären 8P ist es die Ergänzung zu drei, die als Zug gemacht wer-
Abb. 2: Beobachtungsraster zum NIM-Spiel den muss, um das Spiel sicher zu gewinnen.
Im Folgenden werden die kognitiven Komponenten HM 4: Erkennt die Bedeutung des Anfangs (4P)
in Bezug zu den Merkmalen, die man für die
Identifikation von mathematisch potenziell begabten Muster und Strukturen
Kindern im Grundschulalter heranzieht, näher Mögliche Vorgehensweisen: Durch wiederholtes
erläutert. Diese Erläuterungen sollen das Erkennen Spielen kann den Kindern auffallen, dass der Spieler,
der spezifischen Handlungsmuster (HM) der beginnt, stets gewinnt. Wenn Kinder erkennen,
unterstützen. dass man anfangen muss, um zu gewinnen, heißt dies
HM 1: Arbeitet rekursiv (von hinten abzählend) (1P) noch nicht, dass sie auch die Bedeutung, d. h. den Be-
 zug zur Spielfeldlänge erkannt haben. Zur vollständi-
Prozesse umkehren gen Durchdringung der Gewinnstrategie ist es not-
Mögliche Vorgehensweisen: Zunächst spielen die wendig, die Bedeutung des Anfangs zu verstehen und
Kinder, d. h. sie versuchen, die Aufgabe von vorn zu dessen Abhängigkeit zur Spielfeldlänge herzustellen.
lösen. Diese Vorgehensweise kann sich im Bearbei- Eine besondere Leistung stellt es dar, wenn die Kin-
tungsprozess verändern. Zu beobachten, dass sich die der über den Bezug zum 10er-Feld die Bedeutung des
Strategie verändert, kann für eine detaillierte Pro- Anfangs erkannt haben.
zessanalyse relevant sein, aber zunächst geht es nur HM 5: Erkennt Siegerfelder (max. 4P)
um die Beobachtung, ob das Kind zu irgendeinem
Zeitpunkt eine rekursive Herangehensweise zeigt. Muster und Strukturen
HM 2: Verwendet Dreier-Gruppierungen (1P) Mögliche Vorgehensweisen: Nach einigen Spielen
 erkennen die meisten Kinder, dass man das siebte
Muster und Strukturen Feld besetzen muss, um zu gewinnen. Diese partielle
Mögliche Vorgehensweisen: Um sich das Feld zu Einsicht führt noch nicht automatisch zum Erkennen
strukturieren, kann man sich Teilbereiche des Spiel- der weiteren Siegerfelder. Durch Strukturierungen o-
feldes ansehen. Diese Einteilungen können den Be- der auch das Belegen der Felder mit Zahlen kann es
obachtern zunächst nicht zielgerichtet oder zufällig gelingen, das vierte Feld als Siegerfeld zu erkennen
erscheinen, z. B. die Teilung des Spielfeldes in zwei und evtl. auch die gesamte Struktur zu erfassen.
Hälften. Auch hier verändert sich häufig die Vorge- HM 6: Richtige Begründung für eine Teilstrategie
hensweise. Mit dem Erkennen des dritten Siegerfel- (4P)
des betrachten die Kinder häufig die letzten vier Fel-
der, markieren diese als Einheit und versuchen, diese Muster und Strukturen, Kommunizieren und Argu-
Struktur auf das 10er-Feld zu übertragen. Nach wei- mentieren
teren Spielzügen kann man häufig beobachten, dass
das Feld in Dreiergruppierungen unterteilt wird, z. B.
weil man ein oder zwei Felder besetzen darf. Diese
Beobachtung kann zur Superzeichenbildung führen,

10
K. Pamperien
Erklärungen auf der beschreibenden Ebene können
Begründungen für Teilstrategien sein. Es fällt Kin-
dern dieser Altersgruppe häufig noch schwer, ihre
Gedanken gut nachvollziehbar zu formulieren. Der
Versuch des Kommunizierens und des Argumentie-
rens in für sie komplexen Problemstellungen sollte
auf jeden Fall positiv bewertet werden. Es genügt
nicht, wenn das Kind die Beobachtung nennt, dass
man die drei letzten Felder genau betrachten muss. In
diesem Beispiel wäre zur Begründung eine Fallunter-
scheidung notwendig. Die Erklärung der Vorgehens-
weise an sich ist für ein Grundschulkind schon eine
besondere Leistung. Die richtige, vollständige Erklä-
rung der Gewinnstrategie ist ein wichtiger Hinweis
auf eine mathematische Begabung. Aber auch der
Ansatz, etwa im Sinne eines Strategiekeimes (Stein,
1996), kann einen Hinweis auf ein besonderes mathe-
matisches Potenzial geben, da Grundschulkinder,
insbesondere auch aus Risikogruppen, nicht immer in
der Lage sind, ihre Gedanken verständlich zu ver-
sprachlichen.
HM 7: Formuliert richtige Begründung für die Lö- Abb. 3: Aufgabenblatt zur Zahlenzauberei (Haken) in der
 Version von 1999, nach Fielker, 1997, S. 86
sungsstrategie (8P)
 Die erste Frage auf dem Aufgabenblatt bezieht sich
Vgl. HM 6 auf eine beliebige Lösung. Im weiteren Verlauf sol-
Die anderen Beobachtungskriterien wurden vernach- len die Kinder so viele verschiedene Summen wie
lässigt, weil das Raster zunächst nur auf die für ma- möglich finden und der Fokus der Fragestellung liegt
thematische Begabung wesentlichen kognitiven bewusst nicht auf der Eckzahl. Dies wäre schon eine
Komponenten des Problemlösens abzielen sollte, da Hinführung zur allgemeinen Lösung. Es geht also um
in einem Screeningverfahren nur begrenzte Anzahlen das Finden einer günstigen Strategie zur Lösung der
von Informationen zu verarbeiten sind. Zusätzliche Aufgabe. Häufig werden Strategien wie das Bilden
Informationen zur Mitarbeit oder zu intrapersonalen von Paaren oder auch das ausgleichende Arbeiten be-
Variablen (Käpnick, 1998) werden frei notiert. obachtet. Das Bilden von Paaren ist für das Finden
 unterschiedlicher Lösungen zielführend, insbeson-
3.2.3 Das Beobachtungsraster zur Zahlen-
 dere dann, wenn sich das Kind vom 10er-Paar bei der
 zauberei
 Eckzahl fünf lösen kann. Ausgleichend zu arbeiten,
Das folgende Problemfeld orientiert sich an einer bedeutet ebenfalls, Paare zu bilden, nur mit einem an-
Aufgabenstellung von Fielker (1997), welches er deren Fokus. Diese Vorgehensweisen können zum
„Puzzles and Problems“ nennt (Fielker, 1997, einen zu mehreren Lösungen und zum anderen im
S. 86 ff.). Es geht darum, die Zahlen von 1 bis 9 in Prozess zu der Einsicht führen, dass die Eckzahl im-
einen Haken einzutragen, so dass die Summe der ein- mer ungerade sein muss. Diese Erkenntnis kann zur
zelnen Reihen gleich ist2 (vgl. Abb. 3): Gesamtsummenbildung führen. Einige Kinder begin-
 nen jedoch sofort ohne eine Probierphase, aus der Ge-
Bildet man die Gesamtsumme der Zahlen 1 bis 9, so
 samtsumme die Notwendigkeit der ungeraden Eck-
erhält man 45. Da die Zahl in der Ecke in die beiden
 zahl abzuleiten und dann die Schenkel probierend o-
Summen beider Reihen eingeht, müssen die Summen
 der basierend auf ausgleichendem Arbeiten oder
beider Reihen ohne die Eckzahl gleich sein. Der Wert
 Paarbildungen auszufüllen. Das Bilden der Gesamt-
ist jeweils die Hälfte von (45 minus Eckzahl)3.
 summe zur Lösungsfindung ist ein sehr strukturiertes
Hieraus folgt, dass die Eckzahl ungerade sein muss.
 übergeordnetes Vorgehen, das zumindest die impli-
1, 3, 5, 7 und 9 sind also die möglichen Eckzahlen,
 zite Durchdringung der Struktur des Hakens voraus-
woraus sich die möglichen Summen: 23, 24, 25, 26,
 setzt.
27 ergeben.
 Diese ProFa lässt sich durch die Veränderung der
 Figur oder des Zahlenraumes ebenfalls zum
 Problemfeld erweitern.

 11
math.did. 44(2021)1
Wieder konnten bei der Bearbeitung dieser Aufgabe Vielfältigkeit dieser Kategorie gerecht zu werden, er-
mehr kognitive Komponenten beobachtet werden, als hält das Kind pro richtigem Haken zwei Punkte,
im eingesetzten Raster dokumentiert werden wenn eine dieser Strategien beobachtet wird.
konnten, s. Abb. 4.
 HM 4: Gesamtsummenbildung zur Lösungsfindung

 Name 1

 Name 2
 genutzt (8P)
 Muster und Strukturen/Wechsel der Repräsentations-
 ebene
HM1: Richtiger Haken 5P
 Diese Lösungsstrategie ist, auf einer anderen Ebene,
HM2: Sinnvoller Austausch von Zahlen als die zuvor beschriebenen HM zu betrachten. Das
(nach fertigem falschen Haken) 1P Kind löst sich von der probierenden Haltung und ver-
 knüpft die Vorgabe der Figur mit der arithmetischen
HM3: Ausgleichend gearbeitet 10P Vorgehensweise. Dies ist eine besondere Denkleis-
HM4: Gesamtsummenbildung zur tung. Durch die Gesamtsummenbildung ist es mög-
 lich, die Bedeutung der Eckzahl zu erkennen, aber al-
Lösungsfindung genutzt 8P
 lein der Ansatz, die Gesamtsumme zu bilden, ist
HM5: Richtige Begründung für schon eine weiterführende Herangehensweise. Das
 Kind bewegt sich nicht wirklich auf einer anderen
Vorgehensweise 4P
 Repräsentationsebene, arbeitet aber in einem anderen
HM6: Beginnt immer mit Komplexitätsgrad. Dieses Vorgehen kann zu einer
 allgemeinen Lösung des Problems führen.
ungerader Eckzahl 8P
Abb.4: Beobachtungsraster zur Zahlenzauberei HM 5: Richtige Begründung für Vorgehensweise
HM 1: Richtiger Haken (max. 5P) (4P)

Richtige Lösungen Wie auch beim NIM-Spiel ist die Versprachlichung
 von Begründungen für Kinder schwierig, aber die
Auch wenn diese Beobachtung noch keine qualitative Durchdringung des Problems kann zu einer Ver-
Aussage zulässt, hat sich aber in den Gruppen ge- sprachlichung führen, die sich nicht in ausgefeilten
zeigt, dass das Finden einer richtigen Lösung vielen Formulierungen zeigen muss (vgl. NIM-Spiel –
Kindern bereits Probleme bereitet. Daher ist es bei HM 7).
dieser Aufgabe wichtig, auch die Anzahl der richti-
gen Haken mit einzubeziehen, da der richtigen Lö- HM 6: Beginnt immer mit ungerader Eckzahl (8 P)
sung implizit eine richtige Idee zugrunde liegen kann. Muster und Strukturen
HM 2: Sinnvoller Austausch von Zahlen (nach ferti-
gem falschen Haken) (1P) Diese Vorgehensweise kann zunächst zufällig sein.
 Wenn das Kind jedoch im weiteren Verlauf der Be-
Organisation von Material arbeitung immer eine ungerade Zahl in die Ecke setzt,
 kann davon ausgegangen werden, dass es eine rich-
Nach einer Probierphase sind die Kinder meistens in tige Strategie zur Lösungsfindung nutzt.
der Lage, sich in ihrem Haken so zu orientieren, dass
sie zu einer richtigen Lösung gelangen – dies kann 4. Forschungsfragen
als Organisation von Material verstanden werden und
ist damit ein wichtiger Schritt zur Strategiefindung. Erste Erfahrungen mit dem Beobachtungsraster las-
 sen vermuten, dass dieses Instrument eine Unterstüt-
HM 3: Ausgleichend gearbeitet (max. 10P) zung für die Identifikation eines besonderen mathe-
Muster und Strukturen matischen Potenzials sein kann. Daher befasst sich
 diese Studie mit den Fragen:
Unter „ausgleichend gearbeitet“ fassen wir sowohl Ist das Beobachtungsraster im Sinne einer operatio-
die Paarbildung, z. B. Zehnerpaare, als auch das ge- nalisierten Checkliste ein geeignetes Instrument, um
gensinnige Verändern zusammen. Diese Vorgehens- Kinder mit einer besonderen mathematischen Bega-
weise ist, besonders schwer zu beobachten, weil eine bung zu identifizieren? Inwieweit ist die inhaltliche
Bewertung nur im Prozess möglich ist. Einzelne Validität gegeben?
Paare können auch als Superzeichen benutzt werden,
z. B. an gegenüberliegenden Schenkeln. Um der Kommen unterschiedliche Beobachter und Beobach-
 terinnen zu übereinstimmenden Ergebnissen? Inwie-
 weit liegt eine hohe Interrater-Reliabilität vor?
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