Texte zum Wettbewerb: Wo bleibt das Positive?

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Texte zum Wettbewerb:
Wo bleibt das Positive?
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TEXT 1: MÄDELS, HALTET DEN BALL FLACH                  2
TEXT 2: WO BLEIBT DAS POSITIVE …AUF DEM JAKOBSWEG? 5
TEXT 3: TÜTENTAG                                       9
TEXT 4: ALS DIE NOTEN WANDERTEN …                     13
TEXT 5: DAS POSITIVE UND DAS NEGATIVE                 17
TEXT 6: WATT DAT WATT?                                21
Text 1: Mädels, haltet den Ball flach

Tante Martha ist rund. Die Erde ist rund. Manchmal wird eine Sache
rund. Alles das sind Näherungen, Metaphern, Beschönigungen, die
geflissentlich Arme, Beine, Alpen, Gletscherspalten und Differenzen
im Detail übersehen.
Nichts ist rund. Noch nicht einmal Fußbälle sind es. Sie sind aus vie-
len kleinen Vielecken – genauer: Fünf- und Sechsecken – zusam-
mengesetzte Vielecke. Was dann damit getrieben wird, ist ein der-
maßen konfliktträchtiger, hochdramatischer Prozess mit Höhen und
Tiefen, dass die Würdigung eines Spiels als „runde Sache“ selten
passend ist. Wenn es sich um ein äußerst spannungsloses Ereignis
handeln sollte, ist diese Bezeichnung erst recht kontraindiziert.
Das vollständige Zitat zu dieser Binsenweisheit, Sepp Herbergers
legendärer Satz, lautete: „Der Ball ist rund, und das Spiel dauert 90
Minuten.“ Der zweite Teil dieser Aussage offenbart noch augenfälli-
ger, dass es sich auch hier allenfalls um einen Näherungswert han-
delt. Welches Spiel dauert schon exakt 90 Minuten? Das Augenzwin-
kern hinter der Aussage ist unübersehbar. So spricht jemand, der in
Wirklichkeit nichts sagen will. Oder zumindest nichts, auf das man
ihn anschließend festnageln könnte. Wir wissen alle, dass das so
stimmt und doch wieder nicht stimmt. Es handelt sich gewisserma-
ßen um eine Prophezeiung: Gehen wir mal davon aus, dass es un-
gefähr so eintreten wird. Wir können es auch als eine Art Abwehr auf-
fassen: Genauer lässt sich nun mal nichts sagen. Also frag nicht wei-
ter.
Wenn mein Liebster sagt, er will Fußball gucken, dann ist dies ein
Anliegen, das viele Implikationen birgt, die der Spruch mit dem run-
den Ball ebenfalls nahelegt. Natürlich wird nicht der Ball selbst be-

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guckt, sondern das, was die zweiundzwanzig Menschen auf dem
Spielfeld mit ihm machen. Es handelt sich nicht um einen Gegen-
stand, sondern um einen Prozess. Allerdings ist dieser Prozess, das
Fußballspiel, selbst wieder nur ein Teil der Wahrheit: Neben dem ei-
gentlichen Spiel schließt der Wunsch Fußball zu gucken ebenso ein:
Interviews, Kommentare, Reportagen und nicht zuletzt Werbung rund
um das Thema, kurz, alles, was diverse Fernsehsender davon und
dazu zu bieten haben. Ebenso unspezifisch wie das Objekt der Be-
gierde ist aber auch der Zeitraum. Nicht nur, dass die neunzig Minu-
ten Spiel erheblich variieren können, – wobei man sagen muss, dass
die Wahrscheinlichkeit einer Unterschreitung dieser Angabe fast völ-
lig zu vernachlässigen ist –, das, was sich daran an-, bzw. das, was
es einschließt, entzieht sich jeglicher Vorhersage. Welche wichtigen
Menschen welche wesentlichen Worte zu dem betreffenden Spiel,
zur Verfassung der einzelnen Spieler, zur Wetterlage und zum Reife-
grad des Grasbewuchses in dem jeweiligen Stadion zu sagen haben,
wird nicht allein durch die Sender entschieden, sondern natürlich in
ganz entscheidendem Maße durch den Ausgang des Spiels und die
damit korrespondierende Stimmungslage meines Liebsten. Ein wei-
terer Umstand, der nicht unerheblich dazu beiträgt, die Ich-will-Fuß-
ball-gucken-Ansage zu einem unkalkulierbaren zeitlichen Risiko wer-
den zu lassen, ist die Tatsache, dass es sich dabei in der Regel um
ein Gruppen-, wenn nicht gar ein Hordenereignis handelt. Spätestens
mit dem Anpfiff haben sich ein bis mehrere befreundete Y-Chromo-
somenträger in unserem Domizil eingefunden und wollen mit Ner-
vennahrung in fester und flüssiger Form versorgt werden. Auch de-
ren emotionale Betroffenheit durch den Verlauf und Ausgang des
Spiels ist zu berücksichtigen, ebenso die gruppendynamischen Pro-
zesse zwischen den Fußballguckern, die zwar aller Erfahrung nach
gewissen rituellen Standards folgen, aber doch immer wieder zu un-
                                                                        3
erwarteten Eskalationen führen können, die nicht nur den Zeitplan
des jeweiligen Events gefährden, sondern auch noch weit in die Zu-
kunft hinein Folgen zeitigen können. Je nach dem Pegel der Flüssig-
keitsaufnahme dauern die dem Fußballgucken folgenden Euphorie-
bekundungen bzw. Ausschreitungen bis tief in die Nacht hinein. Da-
bei mag es durchaus auch zu einer Verlagerung des Standortes in
außerhäusige Lokalitäten kommen. Mit anderen Worten: Es kann
ganz schön rund gehen, wobei auch hier der metaphorische Anklang
an das geometrische Merkmal eher an den Haaren herbeigezogen
anmutet. Der Tagesablauf des darauffolgenden Restwochenendes
gestaltet sich entsprechend.
All das sind Grundsatzüberlegungen. Konkrete Fragen zu Massen-
veranstaltungen in Zeiten der Pandemie, Korruption, Menschen-
rechtsverletzungen?
Wo bliebe das Positive!
Korrespondierend zu der Antwort des erfahrenen Lebensabschnitts-
begleiters auf den Einwurf der Dame seines Herzens „Ich muss mich
nur noch schminken“, die da lautet „Dann kann ich ja noch den Ra-
sen mähen“, müsste auf die Ansage besagten männlichen Parts „Am
Samstag will ich Fußball gucken“ die Antwort erfolgen: „Dann kann
ich ja ein Wellness-Weekend einlegen!“ So und nicht anders, lautet
der Rat, sollte unter dem Aspekt einer realistischen Aufwands-Er-
trags-Erwägung, in Hinsicht auf eine integrative Interessenberück-
sichtigung und vor allem mit dem Ziel einer maximalen beidseitigen
Bedürfnisbefriedigung die Reaktion auf eine derartige Ankündigung
aussehen. Wenn eine runde Sache daraus werden soll.

Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar. Wellstness-Time.
Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Wellstness-Time.

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Text 2: Wo bleibt das Positive …Auf dem Jakobsweg?

Irgendwie habe ich mir das doch anders vorgestellt, dachte ich, als ich
nach der dritten Etappe meines Jakobsweges auf dem Marktplatz von
Ponferrada stand. Heute war es zwar nach zwei Etappen Regen end-
lich trockener geworden, aber so richtig kam bei mir diese vielbe-
schworene Pilgerstimmung nicht auf.
Und heute dann auch noch dieser peinliche Fauxpas. Da traue ich
mich einmal mit einer Tasse Kaffee an den Tisch eines Pilgerehepaars
zu setzen, um einen Smalltalk zu versuchen, da stellte sich heraus, die
beiden waren aus Belgien und sprachen neben ihrer Muttersprache
nur Englisch. Was tat ich? Ich versuchte es mit meinem übriggebliebe-
nen Schulenglisch. Der Anfang war noch okay, aber als mich die Frau
fragte, wie alt denn meine Tochter sei, antwortete ich „Eighty Years
old!“ Die Frau schaute daraufhin verwirrt ihren Mann an, der ihr augen-
zwinkernd „Eighteen!“ zuflüsterte. Als ich merkte, was für einen Stuss
ich erzählt hatte, verabschiedete ich mich schnell und flüchtete aus
dem Café. Glücklicherweise hatte ich den Kaffee schon vorher bezahlt.
Ja, ich war jetzt so weit, hier in dieser Stadt mit der alten Templerburg,
etwa 200 Kilometer vom meinem Ziel entfernt, meine Pilgertour abzu-
brechen und nach Santiago mit dem Zug zu fahren. Aber was sollte ich
knapp 14 Tage dort machen. Denn früher wollte ich auf keinem Fall zu-
rückfliegen. Was würde dann meine Frau sagen, wenn ich fast zwei
Wochen früher von der Pilgerreise zurückkommen würde, von der ich
ihr fast ein Jahr vorgeschwärmt hatte.
Wo, verdammt noch mal, bleibt das Positive an diesem Weg? Ja natür-
lich der Weg, der „Weg sei das Ziel“ hieß es. Und dann die vielen Mit-
pilger aus allen Herren Ländern, die alle vereint nur ein Ziel haben.

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Aber die alle viel besser Englisch sprachen als ich, natürlich von den
Deutschen mal abgesehen. Und dann diese angeblich unbeschreibli-
che Atmosphäre in den Pilgerherbergen…
Ich wurde nachdenklich. Sollte ich es doch noch mal versuchen, statt
in einem Hotel in einer Pilgerherberge übernachten? Bisher hatte ich
das vermieden, zumal ich doch vorher Hape Kerkelings Buch über sei-
ne Pilgertour nach Santiago gelesen hatte. Aber die Nächte alleine in
diesen billigen Hotels, die teureren waren von den Luxuspilgern be-
setzt, waren alles andere als angenehm. Nein, ich musste einen letz-
ten Versuch unternehmen. Morgen, ja wirklich morgen werde ich in
meinem nächsten Etappenziel Villafranca del Bierzo in die erste Pil-
gerherberge einkehren!
Mit diesem festen Vorsatz machte ich mich am nächsten Morgen nach
meiner (wahrscheinlich) letzten Hotelübernachtung auf den Weg. Es
war die erste Etappe, an dem tatsächlich schon am Morgen die Sonne
schien. Ein gutes Omen? Hatte der heilige Jakobus etwa meine gestri-
gen Gedanken erraten und wollte mir Mut machen? So ging ich frohen
Mutes über steinige Wege vorbei an blühende Wiesen und Heiden
Richtung meines nächsten Zieles Villafranca entgegen. Ab und zu
überholten mich Mitpilger, immer mit einem freundlichen „Bon Camino“
auf den Lippen.
Und irgendwann näherte ich mich meinem Etappenziel Villafranca. Die
alte Feldsteinkirche, in denen erschöpfte Pilger im Mittelalter schon
hier ihren Pilgersegen bekommen konnten, war schon von weitem zu
sehen. Mir wurde mulmig im Bauch. Wie war das noch, in Villafranca
gab es drei Hotels…
Nein, verdammt, Augen zu und durch! Die erste Herberge!
Und die ließ nicht lange auf sich warten. Gleich am Ortseingang er-
kannte ich ein Hinweisschild, der mir den Weg zu einer „Albergue Je-
sus“ wies. Nach etwa 200 Metern erkannte ich ein kleines, äußerlich
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sehr heruntergekommenes Gebäude mit einem überdimensionalen
Schild auf dem Dach: „Albergue Jesus“. Vor dieser Herberge saß ein
älterer Mann mit Bart und abgetragener Kleidung, der in jedem Holly-
woodklassiker die Titelfigur des Jesus von Nazareth hätte spielen kön-
nen. Als er mich sah, stand er auf und kam mir entgegen. Er sprach
mich an und als er merkte, dass ich eigentlich nur eine Sprache ver-
stand, lächelte er und erzählte mir in gebrochenem Deutsch, dass ihm
deutsche Pilgergäste immer am liebsten seien, denn sie lassen immer
das meiste Trinkgeld da. Dabei zwinkerte er mich an, nahm meine
Hand und führte mich in einen schwach beleuchteten Gastraum, an
deren Tisch bereits einige Pilger saßen.
„Nun haben wir heute Abend auch noch einen lustigen Deutschen in
der Runde.“, rief mein Empfang, worauf hin alle Gäste jubelten und für
mich auf der langen Holzbank einen Platz freimachten.
Links neben mir ein Spanier, rechts ein Engländer, mir gegenüber eine
sehr attraktive Italienerin. Auch ein paar Deutsche saßen mit am Tisch.
Jesus, ja so hieß wirklich der Herbergsvater, reichte mir eine Schüssel
mit sehr schmackhafter Gemüsesuppe und ein Glas Rotwein, worauf-
hin alle anderen Tischgäste mir zuprosteten.
War das nun die berühmte Pilgeratmosphäre, die nur so einzigartig auf
dem Jakobsweg nach Santiago war? Es dauerte nicht lange, bis die
ersten Pilger am Tisch begannen, Lieder zu singen. Und nach dem
dritten Glas Rotwein stimmte auch ich in den Gesang mit ein. Es war
einfach ein fantastisches Gefühl, hier in der Runde Teil dieser Pilger-
gemeinschaft zu sein. Und so war es spät am Abend, als ich endlich
zusammen mit gefühlten fünfzig anderen Gästen in einem der Doppel-
betten im Schlafraum der Herberge meine Ruhe fand. Obwohl von
Ruhe konnte eigentlich kaum die Rede sein, denn die vermutlich nie
müde werdenden Südeuropäer wollten einfach nicht aufhören, ihre un-
zähligen Volkslieder zu singen. Trotzdem schlief ich, auch dank der
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drei Gläser Rotwein, sofort ein und wachte erst sieben Stunden später,
als bereits die ersten Sonnenstrahlen durch die ungeputzten Fenster
des Schlafraumes drangen, wieder auf. Neben mir saß auf ihrem Bett
die attraktive Italienerin, die gerade dabei war, ihren Rucksack zu pa-
cken und lächelte mich an. „Guten Morgen. Geschlafen gut? Aber war-
um müssen Tedesco immer laut durch Nase atmen?“
„Sie meint schnarchen“ belehrte mich mein deutscher Schlafgenosse
im Obergeschoss meines Doppelbettes zu mir herunterblickend. Ich
lachte nur kurz und entgegnete schlagfertig: „Nun, nicht einmal wir
Deutschen sind perfekt.“
Als ich mich wenig später nach kurzem Frühstück, das ich mit einigen
meiner Sangesbrüder vom gestrigen Abend zu mir nahm, auf dem
Weg zu meinem nächsten Etappenort machte, war mir endlich klar:
Ich hatte endlich das Positive auf diesem Weg gefunden.
Bis nach Santiago schlief ich von da an nur noch in Herbergen, lernte
noch viele andere Pilger kennen und durfte in Portomarin sogar in ei-
ner Pilgermesse den deutschen Segen sprechen. Und in Santiago an-
gekommen, traf ich auch meine italienische Bettnachbarin von Vil-
lafranca wieder, die mir auf eine so charmante Art mein Schnarchen
umschrieben hatte. Seitdem habe ich noch dreimal das Positive auf
den verschiedenen Wegen zum Grab des heiligen Jakobus gefunden.
Ob er beim ersten Mal mir wirklich Hilfestellung geleistet hatte, habe
ich allerdings nie erfahren.

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Text 3: Tütentag
Ich hab’ mir eine Tüte geben lassen im Hofladen. Tüte. Umweltver-
schmutzung. Ich bin ein Täter. Tütentäter. Tüte gleich Plastik gleich
Umweltsau. Einkaufen im Hofladen kann das nicht wieder wettmachen.
Wahrscheinlich haben mich die Farben geblendet. Frisches regionales
Obst und Gemüse ist grüner, gelber und roter; erdiger und ehrlicher als
das zigfach verpackte aus dem Supermarkt.
Zu Hause brauche ich gegen die Aufregung erstmal einen starken Kaf-
fee. Mich beruhigt das. Am Küchentisch sitzen und den selbst aufge-
brühten genießen. Ah, wie der schmeckt. - Scheiße! Meine CO2-Bi-
lanz. In der Zeitung stand, ich solle einen Kaffee am Tag weniger trin-
ken. Das war’s für diese Woche. Ich schwitze vor Überreizung. Der
Schluck Mineralwasser aus dem Kühlschrank tut gut. Mineralwasser?
Man soll Leitungswasser trinken. Reicht dem Körper vollkommen. Die
Umwelt dankt es dir.
Halbzehn morgens habe ich schon wie viele Tierleben auf dem Gewis-
sen? Ich sehe Vögel an verschmutzten Stränden Plastik aufpicken und
verrecken.
Strand!? Habe ich grade Strand gedacht? Oh mein Gott, ich war im
Urlaub. Ich bin geflogen. Und als sei das nicht schlimm genug, lag ich
auch noch am Sandstrand. Dabei weiß inzwischen jedes Baby, dass
der Sand knapp wird. Hab’ ich nicht sogar Muscheln und Steine mitge-
hen lassen?
Schweißausbruch. Nicht vergleichbar mit dem Schwitzen in den
Wechseljahren. Ich muss mich beruhigen. Nur Wein ist
da. Bio. Zum Glück. Ein großes Glas auf Ex auf den Schreck. Her-
kunftsland Australien. Oh nein. Wie viele Flugkilometer sind es von

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dort bis Deutschland? Und wer fällt schon wieder auf die Bio-Lüge
rein? Ich. Versager. Wegen mir wird die Welt untergehen. Bestimmt.
Um mich abzulenken, sehe ich aus dem Fenster. Sehe einen Mann,
wie er sich die Nase schnäuzt und das Taschentuch achtlos auf die
Straße schmeißt. Ein Kind wirft Schokoladenpapier dazu. Eine Rentne-
rin kontrolliert ihren Einkaufszettel, nickt, zerknüllt ihn und weg damit.
Erledigt. Ein Hund kackt auf den Gehweg. Erledigt. Was für ein Elend.
Die Welt ist so dreckig.
Apropos dreckig: der hastige Schluck Wein. Ich habe gekleckert. Mei-
ne Bluse – das aufdringliche Blumenmuster ist längst verblasst - sie
riecht. Schweiß und Wein haben sich vereint. Pfui. „Willst du was ver-
ändern, fange bei dir an“, sagt Opa Hermann immer. Bedeutet: erst
das saubere Ich, dann die saubere Umwelt. Ähnlich wie Mens sana in
corpore sano. Zum Glück hat die Waschmaschine ein Expresspro-
gramm. Ein schnelles sauberes Ich bedeutet, ich kann mich schneller
um eine saubere Umwelt kümmern. Aber. Schnell bedeutet höherer
Energieverbrauch.
Kopfschüttelnd über mich und die Welt sehe ich wieder aus dem Fens-
ter. Besser als in den Spiegel. Das Taschentuch, das Schokoladenpa-
pier und der Einkaufszettel haben sich in der Hundekacke verfangen.
Ein Dreckhaufen. Die Welt. Wir Menschen.
Früher war das einfach. Der Russe war böse. Punkt. Heute? Kann
man dem Russen so einiges in die Schuhe schieben. Hineintun. „Put
in“ auf Englisch. Putin. Aber mit meiner Umweltverschmutzung hat Pu-
tin leider nichts zu tun. Sündenbock Fehlanzeige. Wo wir wieder beim
Thema sind. Ich muss bei mir anfangen.
Mit Musik geht alles besser. Radio an. Jepp, mein Lieblingssong. Ich
drehe lauter. Meine Laune steigt. Und sinkt. Lärm. Eine Umweltver-
schmutzung. Radio aus. Laune runter. Meine. Ist unwichtig. Verglichen
mit der Welt, die aufgrund meiner Umweltverschmutzung zerstört wird.
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Pause. Ich muss nachdenken. Dazu braucht mein Körper Zucker. Ich
liebe Schokolade. Liebe es, wenn die braunen Brocken auf der Zunge
schmelzen und ich sie auf den Geschmacksnerven hin- und herschie-
be, um die Würze zu verändern. Regional? Fehlanzeige. Glutenfrei
oder irgendsowas. Im Bioladen gibt’s ja nichts anderes mehr. Und
schon denkt man, man hat was Gutes getan. Gegessen. Macht trotz-
dem dick. Dick ist gleich Gefahr für die Gesundheit ist gleich Kosten
verursachen, weil Diabetes, Infarkt. Was wiederum Intensivstation be-
deutet. Viel Technik. Viel Strom. Ich muss auf die Couch. Mittagsschlaf.
Wer schläft, sündigt nicht.

Ich schlafe mehrere Stunden. Wahrscheinlich aus Angst, im Wachzu-
stand meiner Umwelt Schaden zuzufügen.
Ginge mir doch endlich ein Licht auf, wie ich Fehler vermeiden kann.
Es ist schon Abend und ich mache einen nach dem anderen. Längst ist
die Sonne untergegangen. Wie oft sie wieder aufgeht, hängt auch von
meinem Verhalten ab. Da mir kein Licht aufgeht, schalte ich das künst-
liche ein. Möge es meinen Geist erhellen. Künstliches Licht? Lichtver-
schmutzung sagt eine Stimme im erhellten Geist. Licht aus.
Es hilft nur noch eines: ins Bett legen. Ein- und ausatmen, keinen
Schaden anrichten. Fang bei dir selbst an. Ich kann es drehen und
wenden, wie ich will. Dass ich auf der Welt bin, ist einfach nicht gut für
sie. Suizid. Die Lösung.
Nein! Stopp!! Jetzt geht’s zu weit! Und überhaupt - wenn ich mich um-
bringe, muss meine Leiche entsorgt werden. Ich will verbrannt werden.
So steht es in meinem Testament. Garantiert belastet Feuer die Um-
welt.
Wieder raus aus dem Bett, nochmal Umweltsau sein. Licht an, Compu-
ter hochfahren. Energie verbrauchen. Egal, ich muss das wissen. Der
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Tag hat mit dem Besuch im Hofladen so gut angefangen. Ich wollte ja.
Bitte, diese Chance noch, dann mach’ ich alles besser.
Wikipedia weiß es: „Die durch das Feuer entstehenden Emissionen
und Verbrennungsrückstände haben keinesfalls zu einer nachweisli-
chen Belastung der Umwelt geführt, da Pflanzen die Kohlenstoffdioxid-
Emissionen nutzen, um Fotosynthese zu betreiben.“ *
Ich lese. Ich verstehe. Ziehe Konsequenzen.
Ich habe Tiere auf dem Gewissen, vielleicht sogar Menschen. Dann
helfe ich jetzt wenigstens den Pflanzen.
Ein letztes Mal stehe ich auf. In der Küche steht der Korb mit der fri-
schen Ware aus dem Hofladen. Die roten Radieschen, die gelben Mi-
rabellen, die dunkel-, hell- und mittelgrünen Wildkräuter – ich schenke
ihnen mein letztes Lächeln. Die Blau- und Himbeeren, sie strafe ich ab.
Sie wurden mit einer Tüte umhüllt. Vorsichtshalber. Damit auf dem
Heimweg keine Beere davonkullert. Mir kullern die Tränen und ich
stopfe strafend die Beeren in mich hinein, meine Henkersmahlzeit.
Dann nehme ich die Tüte und stülpe sie mir über den Kopf. Tief ein-
und ausatmen. Am eigenen CO2-Ausstoß ersticken. Für eine bessere
Welt.
„Tüten Tag.“

*Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Umweltverschmutzung

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Text 4: Als die Noten wanderten …

Gernot Hübenstreich saß mit gekrümmten Rücken vor seinem Klavier.
Schaute missvergnügt auf das Notenblatt. Außer dem Violinen- und
Bassschlüssel ziert es gerade mal zwei hingehauchte Noten.
Er war verzweifelt. Zum ersten Mal hatte er den Auftrag bekommen,
die Musik für ein neues Musical zu schreiben. Einzige Bedingung: Mit-
reißende Melodien. Das Honorar würde mit einem Schlag seine finan-
zielle Misere beenden. Der Abgabetermin rückte unaufhörlich näher,
nur noch 10 Tage. Außer den beiden hingehauchten Noten, die ihn wie
glühende Kohlen anstarrten, hatte er nichts zustande gebracht. Sein
Kopf war leer. Sein sonst übliches vor sich hin Summen, wenn er am
Klavier saß, war verstummt.
„Ich kann nicht, ich kann nicht, ich kann nicht“ schrie er und hämmer-
te dabei wie wild in die Tasten. Tränen schossen ihn in die Augen. Ich
bin ein Versager, der Rücken krümmte sich noch mehr.
Ich muss hier raus. Ein Blick in die schäbige Geldbörse, zu einem
Whisky in der Eckkneipe würde es gerade reichen. Er verschloss sorg-
fältig die Tür.
Während Gernot seinen Kummer im Whisky zu ertränken versuchte,
geschah Geheimnisvolles.

„Ist er fort?“
„Wir müssen dem armen Gernot unter die Arme greifen“, flötete die
erste Note des Notenblattes.
„Und wie stellst Du Dir das vor?“ fragte die zweite. Wir sind doch nur
zwei kümmerliche Noten“
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Genau das, wir schreiben uns fort!“
„Was???!!“
„Du und ich, waren doch schon häufig die Zierde und der Beginn
großartiger Musikstücke. Lass uns überlegen, welcher Komponist mit
unserem Beginn hinreißende Musik geschrieben hat.“
„Willst Du den kopieren, das geht nicht!“
„Nein, wir werden unsere Notenschwestern und -brüder aufsuchen
und sie bitten, das Werk für den armen Gernot zusammen zu setzen“.
„Ich denke da an einen ganz bestimmten Komponisten, er wohnt im
gleichen Viertel, jedoch auf der Sonnenseite, in einer vornehmen Villa.“
Leise schlichen die beiden Noten davon.
Vor der Villa des berühmten Komponisten angelangt, befiel die erste
Note ein Unbehagen. Sie verharrte, drehte sich hin und her, beugte
sich nach vorn, nach hinten.
„Übst Du einen neuen Tanz?“
„Mich hat der Mut verlassen, ich weiss nicht, wie wir das anstellen
sollen. Eben klang es überzeugend.“
Die zweite Note schluckte, wurde auch unsicher. Streckte ihren No-
tenkopf. Ein Glanz schien sie plötzlich zu umgeben.
„Schau mal zum dritten Fenster, in der zweiten Etage. Was siehst
Du?“
„Noten“.
„Ob die uns bemerkt haben? Vielleicht sind sie auch viel zu hochnä-
sig, erfolgsverwöhnt. Warum sollten die uns helfen!“
Am dritten Fenster in der zweiten Etage schaute die kleine C-Note ge-
langweilt aus dem Fenster, sah die beiden unten winken. Wurde neu-
gierig. Graziös hüpfte sie die Treppen herunter, schlüpfte durch die
Seitentür und starrte ihre unbekannten Verwandten an.
Die zweite Note erklärte in ergreifenden Tönen die missliche Lage.

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„Wollt ihr mitmachen?“
„Du meinst, wir schreiben ganz allein alle zusammen die Musik zum
Musical?“
„‘türlich, nur darf es keiner erfahren, Ruhm und Ehre heimst ihr nicht
ein, doch abgesehen von der wundervollen Aufgabe, helft ihr einem
armen, noch unbekannten Tonsetzer. Er hat das Zeug, einmal sehr be-
kannt zu werden“.
Die kleine C-Note wackelte bedenklich, zögerte, verschwand blitz-
schnell. Die Zeit verstrich. Gerade als unsere beiden Noten mit hän-
genden Köpfen den Heimweg antreten wollten, öffnete sich das große
Tor. Heraus quollen Noten im Übermaß und allen Tonlagen.
Schnell war man sich einig, Gernot aus der Patsche zu helfen. Geord-
net schloss sich der gesammelte Notenverband hinter der führenden
F-Dur-Note.

„Bitte einen Whisky“, bestellte Gernot mit tonloser Stimme. „Habe ich
Whisky verstanden?“, fragte der Wirt, während er das Glas füllte, „es
muss Sie ja ganz schön erwischt haben!“.
„Hat es auch, es gibt keine Melodien mehr, alles ist schon komponiert.
Und das trotz der achtundachtzig Tasten meines Klaviers.“
“Achtundachtzig Tasten und jede darf man mit jeder kombinieren?“,
mischte sich ein älterer Mann mit ungepflegtem Bart ein, der am an-
deren Ende der Bar saß. In dem gedämpften Licht und den dichten
Rauchschwaden hatte er ihn gar nicht wahrgenommen.
„Ich bin Mathematiker, vergesse aber immer meine Formeln. Achtund-
achtzig Tasten, mit halben und viertel Noten, ganz einfach, das haben
wir gleich.“
Er kritzelte etwas auf seinen Bierdeckel, lächelte in sich hinein, hob
den Kopf und schenkte Gernot ein breites Grinsen.

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„Es gibt mehr Melodien als Sterne am Himmeln, unendlich viele.“
„Sie haben sich nicht verrechnet?“
„Nein, aber die Formel habe ich schon wieder vergessen“.
Gernot Hübenstreit sah den Unbekannten ungläubig an. Etwas regte
sich in ihm. Der getrübte, verzweifelte Ausblick in seine nahe Zukunft
wich einer Beschwingtheit, die er lange nicht mehr verspürt hatte. Im
Laufschritt erklomm er die vier Treppen zu seiner Mansarde.
Stutzte. Die Tür war einen kleinen Spalt offen. Er hatte doch sorgfältig
abgeschlossen.
Lautlos trat er über die Türschwelle, den Wohnungsschlüssel wie ein
Messer umklammert und blieb wie angewurzelt stehen. Vor dem Kla-
vier lagen fächerförmig angeordnet viele beschriebene Notenblätter.
Hastig sammelte er sie ein und spielte jede Note, erst zögerlich, dann
immer schwungvoller.

Den Abgabetermin konnte er einhalten.

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Text 5: Das Positive und das Negative
Es war einmal vor langer Zeit, da lebten das Positive und das Negative
einträchtig nebeneinander. Eines Tages sprach das Negative: "Im
Grunde bin ich viel wichtiger für die Menschen. Ich lenke den Blick auf
die Gefahren, die überall lauern, Unwetter und Dürren, Erdbeben und
Stürme, Hass und Krieg. Das Leben ist ein ewiger Kampf. Der Sorglo-
se geht zugrunde. Ich sollte mehr Macht haben als Du."

Das Positive staunte über diese Worte und erwiderte: "Wir sind beide
wichtig für die Menschen. Ich schenke Ihnen Freude an der Welt und
Hoffnung auf eine gute Zukunft und du gibst Ihnen die Vorsicht, damit
sie nicht unbedacht ins Unheil stolpern.“

Das Negative schwieg. Das war typisch für diesen Hallodri, sah immer
nur das Positive. Wie naiv konnte man sein?

Was hat das Negative nur in letzter Zeit, dachte das Positive. Eigent-
lich sind wir ein gutes Team. Ob ich mich sorgen sollte? Aber dann
schien die Sonne so warm und golden und es beschloss ein wenig
spazieren zu gehen. Die Sache würde sich schon wieder einrenken.
Als das Positive fort war, rief das Negative seine Verbündeten zusam-
men: Die Angst und den Neid, die Gier und den Hass und es sprach zu
Ihnen: "Die Welt ist schlecht und wenn die Menschen das nicht verste-
hen, werden sie untergehen. Wir müssen Ihnen die Augen öffnen."
Und so geschah es. Wenn ein Bauer fortan sein Feld betrachtete, auf
dem das Getreide in der Abendsonne glänzte, empfand er keine Freu-
de, sondern fürchtete, ein Sturm würde aufziehen und es vernichten.
Wenn er die Ernte unbeschädigt eingefahren hatte, fiel sein Blick auf

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den vollen Speicher und es ärgerte ihn, dass er nicht überquoll. Und
wenn ein Fremder in das Dorf kam, war man sicher, es müsse sich um
einen Dieb handeln und jagte ihn fort.
Abends, wenn die Menschen in ihren Stuben saßen, erschöpft und
leer, da dachte so mancher: Früher war mehr Freude. Da hing ein
Glanz über den Dingen und nicht nur eine Sorge. Aber dann drückte
man den Rücken durch und sagte zu sich selbst: Sei ein Realist. Sieh
die Welt, wie sie wirklich ist.

Das Positive blieb lange fort. Die Wüsten waren weit und still, die Ber-
ge berührten den Himmel und das Meer gab ihm Nahrung. Wie groß
und schön ist die Welt, dachte es und konnte sich nicht sattsehen. Es
traf eine Frau, deren einziges Kind gestorben war. Ihr Herz war gebro-
chen und es brauchte viele Tage und Nächte und jede Menge positives
Denken, bis sie wieder einen Sinn in ihrem Leben erkannte.
Als das Positive endlich zurückkehrte in die Städte, sah es, was ge-
schehen war. Das Negative hatte sich überall ausgebreitet. Der Ängst-
liche galt als klug und der Mutige als töricht. Nur wer das Elend der
Welt beklagte, wurde für weise gehalten, und die Zukunft erschien den
Menschen dunkel und ungewiss.
Ich war zu lange fort, dachte das Positive, aber jetzt bin ich zurück.
"Seht doch", rief es, "die Welt ist prall und prächtig und ihr seid es
auch."
Viele Menschen schüttelten die Köpfe, aber einige blieben stehen. Ihre
Gesichter wurden weich und sie erinnerten sich. Richtig, das Leben
konnte schön sein.

Das Negative hatte gerade die Nachrichten verlesen und fühlte sich
herrlich schlecht gelaunt, als es von der Rückkehr des Positiven erfuhr.
Es eilte zum Marktplatz, um nach dem Rechten zu sehen. Menschen
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standen zusammen und plauderten ganz ohne Hast. Beinah sorglos
sahen sie aus, vereinzelt erklang sogar Lachen. Die Lage war kurz da-
vor außer Kontrolle zu geraten.
Das Negative drängelte sich durch die Menge und baute sich vor den
Menschen auf. Es war groß und schwarz und schaute sehr grimmig.
"Hört nicht auf diesen Schönschwätzer", dröhnte es und zeigte mit ei-
nem langen, krummen Finger auf das Positive, das lächelnd auf einer
Bank saß. "Es will euch Sand in die Augen streuen. Seht das Elend
überall. Die Viren toben, die Meere steigen, die Menschen streiten.
Wer kann da fröhlich sein?" Die Zuhörer schwiegen und ließen die
Schultern sinken. Furchen gruben sich in ihre Gesichter.
"Das Positive hat gut reden. Sein Leben mag schön sein, aber eures
ist es nicht. Es stolziert durch die Welt und ihr müsst euch plagen.
Seht, wie es da hockt und lächelt. Ich frage euch: Was gibt es da zu
lächeln?" Das Negative hielt inne und sah sich um. Alle hatten sich ihm
zugewandt. Die Sorge war zurück in den Gesichtern. Das Negative
spürte, wie seine Macht wuchs.
"Ich kann euch sagen, warum das Positive so fröhlich ist. Es lacht über
euch, es verspottet euch. Nein, mehr noch, es verachtet euch." Wieder
schwieg das Negative. Jetzt zeigte sich Zorn auf den Gesichtern. Dann
fuhr es mit leiser, aber fester Stimme fort: "Das Positive ist keiner von
uns. Es gehört nicht hier her."
"Richtig", rief einer aus der Menge. "Das Positive hat uns verraten" und
erhob drohend die Faust. "Jagt es fort", schrie ein anderer. Sie wand-
ten sich um und wollten es aus der Stadt werfen, aber die Bank, auf
der das Positive gesessen hatte, war leer.

Das Positive ist nicht verschwunden, es hat sich nur unsichtbar ge-
macht. Es ist geworden wie der Wind, man erkennt es an seinen Ta-
ten. Wir spüren es, wenn Kinder miteinander spielen oder einer seinem
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Nachbarn hilft. Wir hören es, wenn ein Lied gesungen oder eine Ge-
schichte vorgelesen wird. Es wohnt jetzt in den kleinen Dingen.
Das Positive gibt nicht auf. Es kann nicht anders. Es wartet und hofft,
es ist so verdammt zuversichtlich. Meine Zeit wird kommen, denkt es.
Am Ende wird alles gut. Daran glaubt es ganz fest und wir sollten es
auch.

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Text 6: Watt dat watt?
Ole sitzt zum ersten Mal in seinem Leben alleine auf dem Dachboden.
Es war immer Käthes Aufgabe, sich um Adventsschmuck, Weih-
nachtskugeln und all die schönen Dinge zu kümmern. Kurz zuckt es
ihm in den Fingern, den ganzen Krempel einfach mit Schwung die
Treppe hinab zu befördern. Tief durchatmend stützt sich Ole mit einer
Hand auf Käthes altem Webstuhl ab und steht langsam auf. Beim Run-
terklettern wirft er noch kopfschüttelnd einen Blick aus der Luke im
Dach. Von der Trauerweide am Deich kann er nur Umrisse erkennen,
Nebelsuppe hat die Welt verschluckt. Schon beim morgendlichen Ha-
fengang war kein Luftzug zu spüren, nichts hat die trüben Gedanken
davongeweht.
Mit Beginn der Adventszeit hatte Käthe immer all die Weihnachtssa-
chen vom Boden herabgeräumt, den Adventskranz aufgehängt und am
Dreiundzwanzigsten wurde gemeinsam der Baum geschmückt. Als
ihre drei Jungs noch klein waren, so heimlich wie möglich. Aber jedes
Jahr fanden die Racker einen Weg, den Baum auszuspionieren. Daher
war es bald Männersache, während Käthe sich ums Festessen küm-
merte und nur ab und an ein „Waat dat watt?“ rief. Nun sind die Söhne
seit knapp zwei Jahren außer Haus, einer in Neuseeland, einer in
München und einer verheiratet auf dem Nachbarhof. Käthe starb im
September, einfach so.

Noch zwei Wochen bis Heiligabend und das Wetter fühlt sich kein
bisschen winterlich an. Beständige Winde, die Nasen zum Laufen
bringen, gibt es im Norden immer. Ole hält mit einem schnellen Griff
die Schmidtmütze fest, bevor eine Böe sie in die Pfützen des Hofes

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treiben kann. Mit hochgezogenen Schultern stemmt er sich gegen die
heftigen Stöße. Gerade sechzehn Uhr und schon wieder stockfinster.
Gefühlt hat die Radiowerbung recht, die da was von einer norddeut-
schen Jahreszeit plappert, wo gleich nach dem Sonnenaufgang der
Sonnenuntergang käme. Laura, seine Schwiegertochter, steigt aus
dem Auto und kommt lächelnd auf ihn zu. „Moin, moin, Ole!“
Ole nickt und gibt ein „Moin“ zurück.
„Du, wegen Weihnachten ...“, sagt Laura, während Ole ihr die fünf oder
sechs Einkaufstüten aus dem Auto hebt. „Bescherung ist um drei, ich
habe einen Weihnachtsmann besorgt. Das ist echt teuer, also sei
pünktlich!“
Ole öffnet den Mund, doch Laura redet schon weiter. „Du kannst noch
zum Abendbrot bleiben. Sag mir einfach Bescheid, ob du willst.“ Sie
greift ihre Einkäufe und will Richtung Hintertür davoneilen.
Ole holt tief Luft und sagt: „Äh, das machen wir doch aber ganz anders
…“ Der Sturm reißt an seinem Schal und verweht die Wörter.
Laura schaut über ihre Schulter und ruft: „Jetzt mach’s nicht kompli-
ziert, wir nehmen dich Weihnachten.“
Sie ist schon in ihrer Küche verschwunden, als Ole noch überlegt, wie
er nett formulieren könnte, was ihm durch den Kopf geht. Der ange-
kündigte Sturm ist da, eisige Winde schieben Ole hin und her, während
er seine Fäuste öffnet und schließt. Warum fällt ihm nur nicht so
schnell eine Antwort ein, wenn er sie braucht? Den Schal enger zie-
hend, stapft Ole in Richtung Kneipe. „Dat waat nix“, murmelt er vor
sich hin.

Ole muss kräftig an der Tür der „Einsamen Möwe“ ziehen und bringt
einige Graupelkörner mit hinein. Während er die nasse Jacke auf-
hängt, nickt er zum Stammtisch. Karl und Manfred haben jeder einen
Pott Kakao vor sich und das Skatspiel sieht bereits gemischt aus. Ole
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wischt mit dem Hemdsärmel einen Tropfen von der roten Nase und
hebt fragend eine Augenbraue.
„Wir haben Deichwache“, knurrt Karl.
„Wat fünn Schietwetter“, sagt Ole verständnisvoll, „dat waat nich
lustig.“
„Weißt doch, es regnet nich, is nur feuchte Luft“, sagt der dürre Man-
fred und schaut seinen Kakao skeptisch an.
„Ja, ja, Regen is erst, wenn die Heringe in Augenhöhe schwimmen. Ich
kenn deinen Schnack“, kontert Ole. „Ist aber echt eklig da draußen.
Kommst kaum gegen an. So ist es mir gerade auch aufm Hof ergan-
gen. Meine Schwiegertochter hat einfach mal angesagt, wie Heilig-
abend ablaufen wird."
„Ach, bei Dir auch? Ich hab zu hören gekriegt, dass dieses Jahr mal
meine Tochter dran wäre, mich zu nehmen“, sagt Karl und zieht das
Wort „nehmen“ in die Länge.
„Na, was ‘n Glück, das ich keinen mehr hab, der Opa abschieben
kann“, grinst Manfred und fragt: „Was haste denn geantwortet, Ole?“
„Ich kau noch auf der Antwort rum, bin nich zu Wort gekommen. Aber,
bei 'Wer nimmt Opa' spiel ich nicht mit.“
Karl legt prompt die Skatkarten weg. „Jo, dann lasst mal schnacken,
wie wir gegenholen können?“

Allmählich werden aus verirrten Flöckchen waagerecht fliegende Ge-
schosse. Ole jongliert auf seinem Fahrrad den leeren Jutesack, ein gu-
tes Dutzend Tupper-Dosen und zwei Flaschen Glühwein. Das Weih-
nachtsmannkostüm macht es nicht einfacher. In seinem Haus ange-
kommen, legt er rasch Holz nach und fängt an, den ‘Weihnachtsmann-
lohn‘ auf dem Tisch aufzubauen. Das sieht nach einem üppigen Mahl
aus. Sie waren sich alle einig, Selbstgemachtes schmeckt am besten
und sollte ihr Bezahlung sein. Schon klappert die Gartenpforte und er
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hört Karl sagen: “De Lütte vom Schlachter nuckelte die ganze Zeit und
die Tränen standen kurz vorm Schwappen. Doch als die Eltern mich
wegschicken wollten, nuschelte sie ein ‘Erst Geschenke‘ und griente
vorsichtig.“
„Kommt rein, ihr bärtigen Kerle, der Glühwein ist heiß“, ruft Ole.
„Und das Essen reicht für mehr als eine prächtige Nacht“, schwärmt
Karl, während er ihre Schätze auspackt.
Manfred zuckt leicht mit den Schultern, als Ole fragend auf den Gitar-
renkasten blickt. „Naja, vielleicht ist uns ja nachher 'n bisschen da-
nach, aber ich spiel nur Shanty und Rock“, setzt er noch schnell nach.

Was für ein Weihnachtsmorgen! Ole schiebt den Weg zur Trauerweide
frei und nickt seiner Schwiegertochter freundlich zu.
„Frohe Weihnachten, Ole! Schade, dass du nicht da warst. War was
Wichtiges …?“, fragt Laura. „Aber es war toll, ganz viele Geschenke
für die Kleine und das Essen war lecker und der Baum war ganz in Sil-
ber und Hellblau, mal was anderes. Nur der Weihnachtsmann …“,
sprudelt es aus Laura, während sie mit Ole über den Deich auf die
Elbe schaut.
„Wieso?“ fragt dieser.
„Ach, ich weiß auch nicht, der war total jung, so ein schmaler Student.
Hat sich verhaspelt, ist ganz rot geworden und hat alles vom Zettel ab-
gelesen. Und das für fünfzig Euro. Meine Mädels haben heute ganz
was anderes erzählt.“
„Watt denn!“, kommt es von Ole, während sie unter der Trauerweide
den Deich herabsteigen.
„Die hatten total coole Weihnachtsmänner, wie echt. So richtig mit Lo-
ben und Meckern und Bösegucken und auf die Knie-Setzen, beim Ge-
dichtaufsagen. Annes Großer hat nicht schlecht geguckt, als der Weih-
nachtsmann ihm was zum Schwarzangeln und Fischeklauen erzählt
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hat. Und die haben noch nicht mal was gekostet, nur ein bisschen was
zu essen.“

Ein Windstoß bringt die langen Äste der Weide zum Schwingen und
ein kleines Schneegestöber fällt direkt auf Laura. Während sie noch
prustet, greift Ole in seine Tasche und hält ihr einen der Abrisszettel
aus dem Supermarkt hin. „Frag mich halt nächstes Jahr … Dann waat
dat watt“, und rückt ihr die Mütze zurecht.

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