THERAPIE AUF AUGENHÖHE - Jahrgang Mai 2020 - physiotherapeuten.de - Otto Bock

 
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THERAPIE AUF AUGENHÖHE - Jahrgang Mai 2020 - physiotherapeuten.de - Otto Bock
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        72. JAHRGANG MAI 2020                              THERAPIE AUF AUGENHÖHE   PT ZEITSCHRIFT FÜR PHYSIOTHERAPEUTEN
                                       AU
                                  TO
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                                            AUGENHÖHE
                                            THERAPIE AUF
                                                                                                                           Mai 2020
                                                                                                                           72. Jahrgang

     physiotherapeuten.de
THERAPIE AUF AUGENHÖHE - Jahrgang Mai 2020 - physiotherapeuten.de - Otto Bock
DIE ZIEHEN GUT.
     Kommende Schwerpunkte 2020

                                                   JUNI
                                                Return to ...

                                                                                        JULI
                                                                                     Therapie 4.0?

                                                                     AUGUST
                                                                   Chaos im Körper
     Foto: stockfour / shutterstock.com

                                                                    Flexible
                                                                 Abomodelle
                                                                und attraktive
                                                                Prämien finden
                                                                    Sie auf
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THERAPIE AUF AUGENHÖHE - Jahrgang Mai 2020 - physiotherapeuten.de - Otto Bock
„Hände weg!“

                                                      Liebe Leserinnen und Leser,

                                                             vor über einem Jahr haben wir im pt Team
                                                              die Schwerpunkte für 2020 entwickelt. Für
                                                               die aktuelle Maiausgabe fiel die Wahl auf
                                                               einen wichtigen Kerngedanken in der
                                                               Therapie: „Hände weg!“

                                                         Dabei hatten wir vor allem die Diskussion
                                                        um Hands-on und Hands-off im Sinn. Kom-
                                                      munikation, Assessments, aktivierende The-
                                                   rapien und die Stärkung der Eigenverantwortung
                                               eines jeden Patienten sind dabei wichtige Stichworte
                                      und daher Gegenstand vieler Beiträge in diesem Heft.

                                      Im Titelbeitrag geht es diesmal um die Kernfrage in jeder Thera-
                                      pie: Wer löst eigentlich das Problem? Oft sind wir Therapeuten in
                                      der Rolle des „Beschwerden- und Schmerzbeseitigers“ – und dafür
                                      sind wir auch sehr gut ausgebildet. Wenn jedoch Kompetenzen
                                      zur Lösung des Problems aufseiten der Patienten benötigt werden,
                                      sind weitere Fertigkeiten gefragt. Und aktivierende Therapien ste-
                                      hen nicht nur im Bereich muskuloskelettaler Beschwerden im Vor-
                                      dergrund. Auch in der Neurologie ist die Eigenverantwortung der
                                      Patienten gefragt. Therapeuten sind hierbei die professionellen
                                      Begleiter, beraten und stellen individuelle Trainingspläne auf. Wie
                                      das zum Beispiel bei Patienten mit Multipler Sklerose gelingen
                                      kann, zeigen unsere Experten im Beitrag ab Seite 41.

                                      Und jetzt, mitten in der Coronakrise, sind diese Themen wich-
                                      tiger denn je. Derzeit steht, wo immer es möglich ist, die The-
                                      rapie „auf Abstand“ im Vordergrund. Das führt zu enormen
                                      Einschnitten in unserem gewohnten Praxis-Setting. Im Beitrag
                                      ab Seite 16 stellen wir Ihnen den Verlauf der Krise bis Mitte
                                      April und die damit verbundenen Entwicklungen in der Phy-
                                      siotherapie im Überblick vor. Diese Situation ist bedrohlich, sie
                                      bietet aber auch Chancen, neue Angebotsformen aufzubauen
                                      und neue Technologien für sich und die Praxis zu nutzen. Und
                                      zwar nicht irgendwann, wenn Zeit ist, sondern jetzt.

                                      Bitte bleiben Sie gesund!
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                                      Dr. Tanja Boßmann, pt-Chefredakteurin
                                      tanja.bossmann@pflaum.de
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                                      Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der pt auf die gleichzeitige Verwendung
                                      männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personen­
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                                      bezeichnungen gelten gleichwohl für alle Geschlechter.
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     ptptZeitschrift für Physiotherapeuten Mai 2020
THERAPIE AUF AUGENHÖHE - Jahrgang Mai 2020 - physiotherapeuten.de - Otto Bock
POLITIK
                                               Corona – eine Chronik
                                               Jörg Stanko                            16
                                               „Evidenzbasierte ­Therapiekonzepte unter
                                               den Praktikern kaum bekannt“
                                               Im Gespräch mit Wolfgang Geidl          20

     DIALOG
     pt-Facebook-Highlights                    04
     Unter uns                                 06
                                                                                             THERAPIE
                                                                                             WER HAT DAS PROBLEM
                                                                                             UND WER LÖST ES?
                                                                                             Thomas Messner                                               24

                                                                                             Gross Motor Function Measure
                                                                                             Im Gespräch mit Ibrahim Duran
                                                                                             und Christina Stark                                          32
                                   FF

     FF                             FF
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                  FFFFFFFFFFFF
                                                                                             Die einfache Schulter
                                                                                             Jochen Schomacher                                            36
                                                                                             Training in Therapie und Alltag
                                                                                             bei Multipler Sklerose
                                                                                             Renata Horst und Thorsten Böing                              41
                                                                                             Die Messung psychosozialer Faktoren
                                                                                             gehört zum Screening
                                         NACHRICHTEN &                                       Im Gespräch mit Hannu Luomajoki                              48

                                         MENSCHEN                                            Fragebogen bei CMD-Patienten
                                                                                             Doreen Richter                                               51
                                         Über den Tellerrand          08
                                         Stankos Sprechstunde         10                    Reine Leistung statt Spritzensport
                                         Begleitet von afrikanischen                         Andrea Keplinger und Georg Hafner                            56
                                         Trommeln                      12
                                         … heute mal ernst!           15

                                                 SCHWERPUNKT
                                                   „Hände weg!“
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 INHALT
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                                                                                                                 ptptZeitschrift für Physiotherapeuten Mai 2020
THERAPIE AUF AUGENHÖHE - Jahrgang Mai 2020 - physiotherapeuten.de - Otto Bock
FORSCHUNG & EVIDENZ
           Cochrane-Update 5 2020                           62
           Evidenz-Update 5 2020                            66

                                    LEHRE
                                    Gemeinsam lernen reloaded: Mediziner
                                    und Therapeuten in einem Boot
                                    Andrea Schlicker                 78
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                                    SERVICE
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                                    Autorenhinweise                  82
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                                    Inserentenverzeichnis            83
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                                    G-Anzeigen/Kurse                 84
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                                    Vorschau                         88
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                                    Impressum                        88
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     ptptZeitschrift für Physiotherapeuten Mai 2020
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Training in Therapie und Alltag bei

                                                                                                                       T herapie
             Multipler Sklerose
                                                                                                                                                   T

                                      Ein Beitrag von Renata Horst und Thorsten Böing

       Patienten mit MS klagen häufig über verschwommenes Sehen, Doppelbilder, motorische Störungen
       beim Gehen, Sensibilitätsstörungen (Kribbeln, schmerzhafte Missempfindungen, Taubheitsgefühl),
     Unsicherheit beim Greifen, „verwaschenes“ Sprechen, imperativer Harndrang sowie Blasenentleerungs-
     störungen bis hin zu Inkontinenz. Weitere Aspekte sind eine abnorme, vorzeitige Erschöpfbarkeit (die
      sogenannte Fatigue), kognitive Störungen, Einschränkungen bei Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und
       Konzentration, depressive Verstimmungen und Depressionen, Schmerzen, Schwindel sowie sexuelle
        Funktionsstörungen. Im weiteren Verlauf kann es zudem zu spastischen Lähmungserscheinungen
                                    kommen, vor allem die Beine betreffend.

     Aktuell erkranken in Deutschland jedes Jahr etwa          Angesichts dieser Komplexität ist – neben der medi-
     12.600 neue Patienten an Multipler Sklerose, die          kamentösen Behandlung – ein umfassender, multi-
     Gesamthäufigkeit liegt bei zirka 224.000 Patien-          disziplinärer Rehabilitationsansatz vonnöten (8). So
     ten (1). Die signifikante Zunahme in Inzidenz und         wurde zum Beispiel in einer Studie mit 590 MS-Pa-
     Prävalenz bei gleichzeitiger Steigerung der „Disa-        tienten der Mehrwert einer multimodalen
     bility-Adjusted-Life-Years“ (DALY) führt zu einer         Rehabilitation und dem daraus resultie-               Für Eilige
     erhöhten Therapienachfrage, insbesondere aber             renden Umgang mit der Erkrankung
     auch zu einer Zunahme gesundheitsökonomi-                 beziehungsweise der Krankheits-               Der Krankheitsverlauf bei
     scher Kosten, die in Abhängigkeit vom Krank-              bewältigung eindrucksvoll                Patienten mit Multipler Sklerose
     heitsgrad überproportional zunehmen (2, 3).               nachgewiesen (9). Weiterhin                 ist variabel. Ein Großteil der
     Frauen sind deutlich häufiger von MS betroffen            können strukturierte, multi-              Betroffenen    leidet unter einem
     als Männer (4), wobei eine exakte Bestimmung              disziplinäre Rehabilitations-         schubförmigen      Verlauf. Ein wichtiger
     von Ursachen und Verlaufsformen bis heute nicht           programme mit gezielten              Eckpfeiler   in der  Therapie ist die multi-
     eindeutig ist (5).                                        Inhalten zu Bewegung und             modale   Rehabilitation,   dazu gehören vor
                                                               körperlicher Aktivität Mobi-         allem  aktivierende    Maßnahmen     wie ein
                                                                                                     pofessionell angeleitetes Gangtraining
     Eine ausgewiesene Besonderheit der Multiplen              lität, Muskelkraft, aerobe
                                                                                                    sowie Kraft- und Ausdauertraining. Für
     Sklerose ist das hohe Maß an inter- und intraindi-        Kapazität und die Lebensquali-
                                                                                                        die Leistungssteigerung im Alltag
     vidueller Variabilität im Krankheitsverlauf. Das          tät nachweislich verbessern, wie
                                                                                                            sind ausreichend intensive
     MS-Register der Deutschen Multiple Sklerose               in einem aktuellen Cochrane-Re-
                                                                                                                Trainingsreize nötig.
     Gesellschaft zeigt in einer aktuellen Erhebung (6)        view aufgezeigt wurde (10). Die pas-
     folgendes Bild:                                           senden Trainingsformen mit den
     • 74,7 Prozent der befragten MS-Erkrankten in             jeweiligen mobilitätsbezogenen Outcomes las-
       Deutschland hatten zum Zeitpunkt der                    sen sich dezidiert in der überarbeiteten und jüngst
       letzten Meldung für das MS-Register einen               publizierten S2e-Leitlinie der DGNR in Zusammen-
       schubförmigen Verlauf.                                  arbeit mit Physio Deutschland nachlesen (11). Die
                                                               wichtigsten Empfehlungen:
     • 15,6 Prozent hatten einen sekundär pro-
                                                               • Vorrangig sollte ein regelmäßiges, therapeutisch
       gredienten und 6,0 Prozent einen primär
                                                                 angeleitetes Gangtraining stattfinden.
       progredienten Verlauf.
                                                               • Unterstützend sollte ein systematisches Aus-
     • 2,0 Prozent wiesen ein klinisch isoliertes                dauertraining mittels Laufband, Ergometer,
       Syndrom (KIS) auf.                                        Gehen und gezieltes Krafttraining für Fußheber,
                                                                 Hüftbeuger, Wadenmuskulatur und Quadriceps
     • 1,7 Prozent konnten nicht eindeutig klassi-               durchgeführt werden.
       fiziert werden.
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                                                               • Für schwer Betroffene (EDSS>6) sollte roboter-
     • Patienten mit einem schubförmigen Verlauf                 assistiertes Gangtraining eingesetzt werden.
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       lagen beim Schweregrad der Erkrankung
       gemäß der EDSS-Klassifikation (7) bei durch-            • Regelmäßige Physiotherapie sollte immer
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       schnittlich 2,0 (Median).                                 funktionell, ziel- und alltagsorientiert auf die
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                                                                 bestehenden Beeinträchtigungen ausgerichtet
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     • Patienten mit einem sekundär progredienten                sein (ICF: International Classification of
               D

       Verlauf (SPMS) bei durchschnittlich 6,0.                  Functioning, Disability and Health).             �
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     ptptZeitschrift für Physiotherapeuten Mai 2020                                                                                      41
Ein ADL-spezifisches Ziel ist die regelmäßige kör-       die diese Nachteile reduzieren (22). Bei den

                       T herapie
                                   perliche Aktivität im Alltag, die sich in Dauer und      SCO-Systemen sorgt ein Umschaltmechanismus
                                   Intensität an den „Nationalen Bewegungsempfeh-           dafür, das Kniegelenk nur unter Belastung vollstän-
                                   lungen“ (150 min/Woche moderate Intensität oder          dig zu sperren und dann eine freie Schwungphase
                                   75 min/Woche hohe Intensität) unter Berücksich-          im Sinne einer Pendelbewegung zu ermöglichen.
                                   tigung der patientenspezifischen Beeinträchtigung        Funktionell limitierend ist jedoch, dass keine
                                   orientiert (12).                                         gedämpfte Knieflexion unter Belastung gegeben ist.

                                   Gehtraining im Alltag                                    Mit den Orthesen der neuesten Generation, den
                                                                                            sogenannten SSCO, steht dem Patienten inzwi-
                                   Beim ADL-spezifischen Training können beispiels-         schen ein Hilfsmittel zur Verfügung, mit dem auch
                                   weise Orthesen signifikant zur Verbesserung der          Treppen und Schrägen im Alltag bewältigt werden
                                   Gangsicherheit und der Lebensqualität beitra-            können: Eine mikroprozessorgesteuerte Hydraulik-
                                   gen (13), wobei Informationen zu Gebrauch und            einheit stellt dem Patienten für alle Bewegungsab-
                                   Handhabung sowie ästhetische Aspekte einiges an          läufe des Alltags optimierte Bewegungswiderstände
                                   Verbesserungspotenzial beinhalten (14). Sogenannte       für die Flexion und Extension des Kniegelenkes zur
         Neben den        ❐        „Passive or Powered Ankle-Foot Orthoses“ (PRAFO)         Verfügung. Ein weiterer funktioneller Zugewinn
 Orthesen stellt die               scheinen keinen deutlichen Mehrwert zu liefern (15).     resultiert aus der mikroprozessorgesteuerten
       funktionelle                Neben den Orthesen stellt die funktionelle Elektro-      Schwungphase, also der Bewegungsphase ohne
 Elektrostimulation                stimulation (FES) eine inzwischen etablierte Versor-     Bodenkontakt. Hier wird die Kniebewegung auch
     eine etablierte               gungsoption dar. Speziell bei Patienten mit Multipler    bei variablen Gehgeschwindigkeiten natürlich
        Option dar.                Sklerose konnte eine signifikante Reduktion der          angepasst, wodurch sich der Patient flexibel und
                                   wahrgenommenen Anstrengung beim Gehen sowie              „unauffälliger“ bewegen kann. Einen weiteren Nut-
                                   eine Verbesserung der Lebensqualität nachgewiesen        zen für den Patienten bringt das hohe Sicherheits-
                                   werden (16-18). Wichtig ist auch die Beurteilung des     potenzial. Kommt es zu unvorhergesehenen
                                   Hilfsmittels aus der Patientenperspektive im Hinblick    Situationen, zum Beispiel Stolpern, steht mithilfe
                                   auf die Alltagstauglichkeit und im Kontext der           der sensorbasierten Steuerung der Flexionswider-
                                   ICF-Domäne „Teilhabe“. Die FES hat in dieser Hin-        stand vollständig zur Verfügung, ein Sturz wird
                                   sicht Vorteile und bietet dafür geeigneten Patienten     vermieden. Der Einsatz einer SSCO führt in
                                   gegebenenfalls einen Mehrwert im Vergleich zum           Summe zu mehr Sicherheit, mehr ADL-relevante
                                   Versorgungsstandard mit Orthesen (19).                   Funktionen und mehr Mobilität (23). Ebenso zeigt
                                                                                            sich beim Patient Reported Outcome (PRO) in
                                   Wenn mehrere große Muskelgruppen der unteren             nahezu allen ADL-relevanten Items ein signifikan-
                                   Extremität betroffen sind, ist die Sicherheit des        ter Vorteil (24), der letztendlich in eine verbesserte
       Durch KFOs         ❐        Patienten beim Gehen gefährdet. Die Mobilität die-       Compliance und Hilfsmitteladhärenz mündet. Ob
 gewinnt der Patient               ser Patienten mit Gewährleistung der Sicherheit          und inwieweit diese Versorgungslösungen für
      an Sicherheit.               kann oftmals nur mit knieübergreifenden Orthe-           MS-Patienten geeignet sind, bleibt immer einem
                                   senversorgungen, sogenannten KAFOs (Knee                 individuellen Screening vorbehalten.
                                   Ankle Foot Orthosis), erreicht werden. Durch die
                                   komplette Versteifung des Beines sind solche Ver-        Rollstuhlversorgung
                                   sorgungen jedoch mit biomechanischen und meta-
                                   bolischen Nachteilen verbunden. Dazu zählen die          Ist eine Versorgung mit Orthesen, FES oder Rollato-
                                   Mehrbelastung des Bewegungsapparats sowie ein            ren aufgrund der patientenspezifischen Beeinträch-
                                   hoher metabolischer Energieverbrauch (20, 21). Seit      tigung nicht mehr indiziert, sollte über eine
                                   einigen Jahren stehen mit den sogenannten Stance         angemessene Rollstuhlversorgung nachgedacht wer-
                                   Control Orthosis (SCO) Hilfsmittel zur Verfügung,        den. Dabei kommt „dem Grad der Selbstständigkeit

                                   Tab. 1 Ursachen für die Gangstrategie des Patienten

                                     Hypothesen                                             Erläuterung
                                            1          Verlust der Sensibilität und/oder Tiefensensibilität.
                                           2           Vestibuläre Defizite und Beeinträchtigung der vestibulospinalen Reflexe.
                                                       Schwäche von Dorsalextensoren des Fußes, Plantarflexoren des oberen Sprung-
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                                           3           gelenkes, Zehen, Knieflexoren (Ischiis) sowie Flexoren und Extensoren, Abduktoren
                                                       und Aussenrotatoren der Hüfte.
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                                                       Eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit: Dorsalextension des oberen Sprunggelenkes
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                                           4           und der Zehengrundgelenke, Knieflexion, Hüftflexion, bedingt durch Steifigkeit und/
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                                                       oder Hypertonus der Plantarflexoren und des M. quadrizeps.
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                                                       Eingeschränkte kardiopulmonale Leistung.
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bei der Mobilität eine hohe Bedeutung für die prak-     sein Knie steif und um seinen Fuß vom Boden frei
     tische Realisierung der Selbstbestimmung bei der        zu bekommen, rotiert er das Becken in der Sagittal-
     Teilhabe zu, sodass auch das Antriebs­system (zum
     Beispiel elektrisch angetriebener ­Rollstuhl) einen     ebene nach dorsal. Den Kopf neigt er extrem nach                                   T
     wichtigen Aspekt der Rollstuhlversorgung darstellt“     dorsal, rudert mit seinem linken Arm und hebt den
     (25). Weiterhin definiert die Deutsche Vereinigung      Schultergürtel an, um sich Schwung für sein Bein        ❐   Das steife Gangver-
     für Rehabilitation e. V. (DVfR) in dieser Stellung-     zu holen. Das steife Gangverhalten ist äußerst              halten des Patienten
     nahme explizit Empfehlungen zur Verbesserung des        unökonomisch und wirkt sich ungünstig auf die               ist unökonomisch
     Versorgungsprozesses sowie Forderungen zur Ver-         Fatigue (schnelle Ermüdung) aus. Tabelle 1 zeigt            und wirkt sich
     änderung des Versorgungssystems.                        die Hypothesen und Parameter auf Körperstruktur-            ungünstig auf die
                                                             und Körperfunktionsebene.                                   Ermüdung aus.
     Fallbeispiel
                                                             Prüfung der Hypothesen
     Pathologie, Leitsymptome und primäres
     Defizit auf Aktivitäts-/Partizipations-                 Hypothesen 1 und 2
     ebene
                                                             Die ersten beiden Hypothesen bestätigten sich durch
                                                             die weiteren Untersuchungen nicht. Mit geschlosse-
     Im Alter von 56 Jahren wurde bei Herrn B. (heute        nen Augen kann Herr B. Berührungen lokalisieren
     71 Jahre alt) Multiple Sklerose diagnostiziert. Der     und die Lage seiner Extremitäten beschreiben. Er
     Verlauf seiner Erkrankung ist primär chronisch          kann sein Gleichgewicht sowohl auf stabiler als auch
     progredient. Er geht im häuslichen Umfeld ohne          auf labiler Unterstützungsfläche mit offenen und
     Hilfsmittel und draußen mit einem Gehstock. Er ist      geschlossenen Augen halten (Clinical Test for Sen-
     seit seinem 58. Lebensjahr nicht mehr berufstätig.      sory Interaction in Balance = CTSIB). Damit steht
     Er war Dozent für Informatik. Das lange Stehen an       ihm ein großes Potenzial zur Verfügung.
     der Tafel und gleichzeitige Schreiben und Sprechen
     bereitete ihm zunehmende Schwierigkeiten. Danach        Hypothese 3
     leistete er noch technischen Support für Betriebe,
     seit einem Jahr übt er auch diese Tätigkeit nicht       Für die Beurteilung der Kraft bei neurologischen
     mehr aus. Herr B. verreist viel und ist durch seine     Patienten wird häufig der Motricity Index (MI) ver-
     Enkelkinder ausgelastet.                                wendet (27). Dieser beurteilt lediglich die Beugesy­
                                                             nergie im Sitzen. Die Streckersynergie wird hier
     Ganganalyse                                             völlig außer Acht gelassen sowie die aller exzen­
                                                             trischen Muskelfunktionen, die relevant sind für die
     Herr B. kann mit einem Gehstock zehn Meter gehen        Fähigkeit, sich automatisch gegen die Schwerkraft
     bis er eine Pause benötigt. Er kommt schnell außer      aufrecht halten zu können, sprich die posturale
     Atem und fühlt sich erschöpft. Laut eigenen Anga-       K
                                                             ­ ontrolle.
     ben stolpert er häufig über seinen linken Fuß. Wenn
     er seine Unterschenkelorthese trägt, ist dieses Pro-    Um feststellen zu können, welche Körperstrukturen
     blem geringer. Trotzdem trägt Herr B. das Hilfsmit-     nicht ausreichend funktionieren, um Alltagsaktivi-
     tel nicht gerne, weil es ihm damit noch schwerer        täten ausführen zu können, müssen diese in ver-
     fällt, sein Bein beim Gehen anzuheben und über          schiedenen alltagsrelevanten Kontexten beurteilt
     Hindernisse zu steigen. Vor allem der Einstieg ins      werden. Herr B. kann sein linkes Bein im Stehen im      ❐   Die Aktivitäten
     Auto ist probematisch und beim Autofahren selbst        Seitenvergleich nur mit viel Mühe etwas anheben.            müssen in alltags-
     hat er wegen der starren Sohle weniger Gefühl beim      Dies ist beschwerlich für das Steigen über Hinder-          relevanten
     Gasgeben und Bremsen.                                   nisse sowie in seine Dusche und ins Auto. Auch das          Kontexten beurteilt
                                                             Anziehen ist hierdurch erschwert und erfolgt im             werden.
     Die Gehstrecke bleibt gleich, unabhängig davon, ob      Sitzen mit Einsatz seiner Hände, um das Bein anzu-
     er eine Orthese trägt oder nicht. In Menschenmen-       heben. Auch der Einstieg ins Bett fällt schwer, da er
     gen fühlt er sich allerdings ohne Orthese unsicherer    sein linkes Bein in Hüfte und Knie gegen die
     da er sich darauf konzentrieren muss mit seinem         Schwerkraft nicht beugen kann. Im Liegen fällt es
     Fuß nicht hängen zu bleiben. Dies hindert ihn daran     ihm auch sehr schwer, sein linkes Bein aufzustellen.
     gleichzeitig zu sprechen und/oder sich visuell in der   Ebenfalls problematisch ist das Anheben des Gesä-
     Umgebung zu orientieren. In der mittleren Stand-        ßes, um an die Bettkante zu rutschen. Der Zehen-
AU

     beinphase befindet sich sein linkes unteres Sprung-     stand links ist nicht möglich und im Stehen kann
TO

     gelenk in Eversion und er hyperextendiert sein Knie     Herr B. bei gestreckter Hüfte seine Ferse nicht in
     (Gangtyp 1B nach der N.A.P.-Gangklassifikation)         Richtung Gesäß anheben. Folge ist das kompensa-
     RE

     (26). Seine größte Schwierigkeit besteht jedoch         torische Anheben des Beckens, um Rückwärts-
      N

     im Übergang von der Standbeinphase in die Spiel-        schritte zu machen. Auch das Hochsetzen an die
          AB

     beinphase. Herr B. kann mit seinem linken Fuß, vor      Bettkante erfolgt mit komplett gestreckten Beinen,
               D

     allem den Zehen, nicht abstoßen. In der Folge bleibt    sodass Herr B. viel Energie aufwenden muss, um �
                   RU
                         CK

     ptptZeitschrift für Physiotherapeuten Mai 2020                                                                               43
den Rumpf aufzurichten. Hier zeigt sich, dass seine    Modified Ashworth Scale (MAS) zum Einsatz. Auch

                        T herapie
                                    Rumpfflexoren sehr kräftig sind.                       dieser Test wird unter Abnahme der Schwerkraft
                                                                                           (im Liegen oder Sitzen) vom Therapeuten passiv
                                    Somit hat sich die muskuläre Schwäche der Fle-         ausgeführt. Der Parameter ist der vom Therapeuten
                                    xionssynergie und vor allem der Extensorensy­          gespürter Widerstand auf die passive Gelenkbewe-
                                    nergie seiner linken unteren Extremität bestätigt.     gung (28). Ein Vergleich der Gelenkbeweglich-
                                                                                           keit – auch beim Gesunden – zwischen passiver
                                    Hypothese 4                                            Beweglichkeit und Beweglichkeit innerhalb einer
                                                                                           Aktivität (Aufstehen-Hinsetzen, Treppensteigen)
                                    Verschiedene manualtherapeutische Konzepte             zeigt auch hier meistens ein unterschiedliches
                                    beschreiben die Testung der aktiven und passiven       Ergebnis. Die MAS ist als Verlaufsparamter zur
                                    Gelenkbeweglichkeit in liegenden Positionen. Hier-     Beurteilung der Spastizität ungeeignet (29).
                                    durch kann es jedoch zu Fehlbeurteilungen kom-
                                    men, da die Ausgangsstellung einen Einfluss auf den    Schlussfolgerung
                                    Muskeltonus hat. Die Ruhestellung des oberen
                                    Sprunggelenkes in Rückenlage beträgt zirka zwan-       Wenn beim Gehen das Körpergewicht nicht über
                                    zig Grad Plantarflexion. Wenn eine passive Kraft       dem Vorfuß verlagert wird und das obere Sprung-
                                    (vom Untersucher) von der Plantarsohle aus auf die     gelenk in Plantarflexion steif bleibt, kann man
                                    Achillessehne einwirkt, dann kommt es zu einer         nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass der
                                    physiologischen Erhöhung des Muskelspindelrefle-       Tonus der Wadenmuskulatur erhöht ist. Wahr-
                                    xes. Der Gammatonus generiert dann eine Gegen-         scheinlicher ist, dass eine muskuläre Schwäche,
                                    spannung der Wadenmuskulatur, um die nicht             zum Beispiel der Mm. peronaeii und der intrinsi-
                                    kontraktile Struktur zu schützen und somit den         schen Fußmuskulatur zu Kompensationsstrate-
  Auf Dauer kann es        ❐        ursprünglichen Spannungszustand und die                gien führen. Auf Dauer und insbesondere wenn
 zu einer sekundären                ursprüngliche Sehnenlänge wiederherzustellen.          keine elastilizitätsfördernde Maßnahmen erfol-
    Muskelsteifigkeit               Beurteilt man die Beweglichkeit im Stehen kann ein     gen, kommt es zu einer sekundären Muskelsteifig-
            kommen.                 völlig anderes Maß festgestellt werden, denn in die-   keit, die häufig mit einem Verlust der Sarkomere
                                    ser Position muss die Wadenmuskulatur exzent-          einhergeht (30-32). In der Folge fehlt die Vorspan-
                                    risch arbeiten um den „Fall“ des Körpers zu            nung der Wadenmuskulatur, die für den explosi-
                                    verhindern (Abb. 1 und 2).                             ven Vorwärtsantrieb des Körpers benötigt wird.
                                                                                           Die Zehen stoßen ebenfalls nicht ab und das Knie
                                    Die Prüfung der Gelenkbeweglichkeit innerhalb          bleibt steif. Um das Bein nach vorne zu bringen,
                                    von Alltagsaktivitäten zeigte, dass alle Gelenke der   benutzt der Patient seine starken Rumpfflexoren.
                                    unteren Extremität frei beweglich sind. Somit konn-    Herr B. muss sich auf jeden Schritt konzentrieren
                                    ten sowohl eine muskuläre Steifigkeit als auch ein     und ist hierdurch in seiner Partizipation stark ein-
                                    Hypertonus ausgeschlossen werden. Standardmä-          geschränkt, weil er die Aufmerksamkeit nicht auf
                                    ßig kommt zur Beurteilung des Muskeltonus die          seine Umwelt fokussieren kann. Nicht zuletzt �

 ​Tab. 2 Therapieziele im Überblick

       Ebene                                                                     Ziele
                     • Training von Kraftausdauer der Hüftextensorensynergie, Vorfußstabilisatoren (Peronaen) und intrinsischer
                       Fußmuskulatur; Ziel ist die Reduzierung des genu recurvatum in der Standbeinphase.
                     • Elastizitätsförderung von langem Rückenstrecker und kurzem Nackenstrecker sowie Förderung der Gleitfähig-
                       keit der dorsalen nicht-kontraktilen Strukturen (Fascia thorakolumbalis und dura mater); Ziel ist es, das Bein
                       leichter anheben zu können.
  Körperstruktur-/
  Körperfunktions-   • Training von Kraftausdauer der Hüft- und Knieflexoren sowie Fußheber; Ziel ist es, das Bein leichter anheben
  ebene                zu können.
                     • Förderung beziehungsweise Erhalt von Elastizität der Zehenflexoren und Hüftflexoren sowie Knieextensoren;
                       Ziel ist es, die Abstoßaktivität der Zehen und in der Folge die Knieflexion zu ermöglichen, damit die Spielbein-
                       phase leichter automatisch initiiert werden kann.
                     • Steigerung der kardiopulmonalen Leistungsfähigkeit.
AU

                     • In größeren Menschenmengen sicher gehen können.
                     • Eine Gehstrecke von zehn Metern mit weniger Anstrengung und in schnellerem Tempo bewältigen können.
TO

  Aktivitäts-/       • In öffentlichen Gebäuden Treppen mit Geländer alternierend und ohne Geländer mit Nachstellschritt sicher
     RE

  Partizipations-
                       steigen können.
  ebene
          N

                     • Erleichterung des Einstiegs ins Auto und in die Dusche mit dem schwächeren linken Bein.
            AB

                     • Erleichterung des Einstiegs ins Bett sowie des Hinsetzens aus dem Liegen.
                    D
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T

     Abb. 1 Untersuchung der Dorsalextensions-        Abb. 2 Auf Aktivitätsebene zeigt sich eine
     beweglichkeit im oberen Sprunggelenk             Beweglichkeit von zirka 15° Dorsalextension

     Abb. 3 Anheben des Beckens                       Abb. 4 Übergang aus dem Stand auf die Knie

     Abb. 5 Hinlegen auf die Liege                    Abb. 6a Fersensitz
AU
TO

                                                                                                    Fotos: Renata Horst
     RE
      N
          AB
               D

     Abb. 6b Kniestand                                Abb. 7 Treppe rückwärts
                   RU
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     ptptZeitschrift für Physiotherapeuten Mai 2020                                                                       45
sinkt durch diese Anstrengung die kardiopulmo-           herab (exzentrische Funktion der ­Streckersynergie

                        T herapie
                                    nale Leistung. Die Tabelle 2 zeigt die Therapieziele     seines linken Beines) und ohne anzuhalten gleich
                                    im Überblick.                                            wieder hoch (konzentrische Funktion der Strecker-
                                                                                             synergie seines linken B
                                                                                                                    ­ eines) (Abb. 7).
                                    Therapeutische Vorgehensweise
                                                                                             Dosierung und Wiederholungszahl
                                    Folgende Übungen dienen sowohl der Befunderhe-
                                    bung der Muskelfunktionen als auch dem Training.         Es wird häufig noch angenommen, dass sich eine
                                    Der Therapeut soll prüfen, ob im Fußbereich ausrei-      Belastung bis an die Leistungsgrenze ungünstig auf
                                    chend Potenzial vorhanden ist, um die Spielbeinphase     den Krankheitsverlauf auswirkt. Dies trifft sicher-
                                    automatisch zu initiieren. Sind die Zehenflexoren        lich für die Ausführung von Alltagsaktivitäten zu.
                                    nicht elastisch genug und können sie nicht ausrei-       Auf Körperstruktur- und Körperfunktionsebene
                                    chend Schnellkraft für den Abstoß generieren, dann       müssen jedoch entsprechende Trainingsreize dafür
                                    ist ein Training von Knie- und Hüftflexoren wichtig,     sorgen, dass es zu einer Leistungssteigerung im
                                    um den Fuß vom Boden frei zu bekommen und somit          Alltag kommt.
                                    die Sturzgefahr zu minimieren.
                                                                                             Schon Anfang dieses Jahrtausends zeigten Studien,
                                    Erste Übung: In Rückenlage fordert der Therapeut         dass moderate Belastungen (40 bis 50 Prozent der
      Eine moderate        ❐        den Patienten auf, beide Füße aufzustellen (konzen-      maximalen Belastung) fünfmal pro Woche für eine
  Belastung fünfmal                 trische Funktion der Hüft- und Knieflexoren sowie        Dauer von 30 Minuten zu einer Verbesserung von
 pro Woche über 30                  der Peronaen). Herr B. soll im Anschluss versuchen,      dreizehn Prozent der Sauerstoffsättigung im
 Minuten verbessert                 das Gesäß anzuheben (konzentrisch stabilisierende        Blut führen. ADLs, wie Treppensteigen und Anzie-
      die Sauerstoff-               Funktion der Peronaen), um an die Bett- oder             hen verbesserten sich hierdurch um siebzehn Pro-
  sättigung im Blut.                Bankkante zu rutschen (Abb. 3).                          zent. Die subjektive Verbesserung der Vitalität lag
                                                                                             bei sechsundvierzig Prozent und die soziale Inter-
                                    Zweite Übung: Der Patient lässt sich im Stand mit        aktionsfähigkeit bei sechsunddreißig Prozent (33).
                                    aufgestützten Händen oder Unterarmen auf einem           Neuere Studien haben diese Trainingsbelastungen
                                    Tisch langsam auf die Knie zum Boden herab               mit einem hochintensiven Intervalltraining
                                    (exzentrische Funktion der Planatarflexoren, Knie-       (H.I.I.T.) verglichen (34). Es wurden hierbei Inter-
                                    extensoren und Hüftextensoren, Gleitfähigkeit der        valle von drei Minuten mit maximaler Belastung,
                                    Duramater). Kurz vor dem Absetzen fordert der            gefolgt von einminütigen Intervallen mit moderater
                                    Therapeut den Patienten auf, wieder hochzukom-           Belastung im Wechsel durchgeführt. Der Gesamt-
                                    men (konzentrische Funktion der Planatarflexoren,        umfang lag bei dreimal pro Woche je zwanzig
                                    Knieextensoren und Hüftextensoren) (Abb. 4).             Minuten.

                                    Dritte Übung: Herr B. soll aus der Rückenlage über       Der Verlauf war positiv
                                    den Seitstütz in den Sitz an die Bett- der Bankkante
                                    kommen (konzentrische Funktion der Rumpfflexo-           Die Übungen führte Herr B. unter verbaler Anwei-
                                    ren, Hüft- und Knieflexoren sowie Fußheber). Im          sung eines Therapeuten an drei Tagen innerhalb
                                    Anschluss soll der Patient sich wieder auf den           einer Woche nach den H.I.I.T.-Prinzipien durch. Am
                                    Rücken ins Bett oder auf die Liege ablegen (exzen-       ersten Tag benötigte er vor dem Training 0,33 m/s
                                    trische Funktion der Rumpfflexoren, Hüft- und            für den Zehn-Meter-Gehtest. Nach den drei Trai-
                                    Knieflexoren sowie Fußheber) (Abb. 5).                   ningseinheiten und einem Tag Trainingspause lag
                                                                                             der Wert zur gleichen Tageszeit bei 0,75 m/s. Es ist
                                    Vierte Übung: Der Patient setzt sich auf seine Fersen.   daher anzunehmen, dass Herr B. seine Gehstrecke
                                    Der Fußrücken ist hierbei auf dem Boden abgelegt         durch ein regelmäßiges Training erweitern kann.
                                    (exzentrische Funktion des M. tibiales anterior und
                                    M. quadriceps) und wird dazu aufgefordert, sich in       Die Übungen könnte Herr B. auch alleine zu Hause
                                    den Kniestand aufzurichten (konzentrisch stabilisie-     durchführen. Hierfür fehlt den meisten Menschen
                                    rende Funktion der Peronaen). Um das Gleichge-           jedoch die Motivation. In der Kleingruppe zusam-
                                    wicht nicht zu verlieren, hält Herr B. sich mit einer    men mit anderen Patienten und in Form eines Zir-
                                    oder beiden Händen am Stuhl fest. Im Kniestand soll      keltrainings lassen sie sich gegebenenfalls besser
                                    der Patient ein Bein nach vorne aufstellen. Hierbei      umsetzen. Auch ein gerätegestütztes Training in
  Ein Zirkeltraining       ❐        darf er sich ebenfalls festhalten. Hierbei wird der      einer entsprechenden Einrichtung kann motivie-
AU

    in Kleingruppen                 Dehnungs-Verkürzungs-Zyklus des M. tibiales ant.         rend sein und für Abwechslung sorgen. Da Herr B.
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   kann motivieren.                 und Zehenextensoren genutzt, um den Fußrücken            keine vestibuläre Defizite aufweist, kann er auch
                                    und die Zehen im Anschluß anzuheben (Abb. 6).            ohne Bedenken auf dem Laufband trainieren. Eine
     RE

                                    Fünfte Übung: Herr B. steht am rechten Treppenge-        Orthesenversorgung zur Aktivitätsförderung im
       N

                                    länder und steigt mit seinem rechten Fuß ­rückwärts      Alltag (auch draußen) ist zudem wichtig. ❐
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Literatur                                                                                                                                                    T
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     Renata Horst
     Sie ist Physiotherapeutin und hat einen Masterabschluss in Neurorehabilitation (M.Sc.) von
     der Donauuniversität Krems. Sie ist Head Instructor an der N.A.P.-Akademie und PNF-
     Instruktorin. Renata Horst hat Weiterbildungen unter anderem in den Bereichen motorisches
     Lernen und Orthopädische Manuelle Therapie (OMT).
     Kontakt: ​info@renatahorst.de ​

     Dr. Thorsten Böing
     Er studierte an der Deutschen Sporthochschule Köln und der Universität Konstanz. Thorsten
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     Böing ist Fachleiter für den Bereich Neurorehabilitation. Fortbildungen: DVGS-Sporttherapeut,
TO

     EFL-Therapeut, Rückenschullehrer, Walking- und Nordic-Walking-Instructor.
     Kontakt: thorsten.boeing@ottobock.com ​
     RE
          N
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                D
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     ptptZeitschrift für Physiotherapeuten Mai 2020                                                                                                          47
DIE TOPTHEMEN                                                                             06

      IM JUNI
                                                                                                                                                      72. Jahrgang
                                                                                                                                                      Juni 2020

                                                                                         PT ZEITSCHRIFT FÜR PHYSIOTHERAPEUTEN
 Hamstring Injury – eine der häufigsten
 ­Sportverletzung überhaupt
 Ein Beitrag von Hauke Mommsen
                                                                              Erscheint am

                                                                                         HAMSTRINGS: AN SEIDENER FASER
 Physiotherapie-Leitlinie zum Management                                 10.6.2020
 von Patienten mit COVID-19 im Krankenhaus

                                                                                                                                                                     Foto: Dinar Omarov / shutterstock.com
 Ein Beitrag von Tobias Braun und Anis Hamila
                                                                                                                                HAMSTRINGS:
 Patellaluxation beim Thaiboxen                                                                                                 AN SEIDENER
 Fallbericht zur Rehabilitation nach MPFL-Plastik                                                                                  FASER

                                                                                         71. JAHRGANG JUNI 2020
 und Knorpelzelltransplantation
 Ein Beitrag von Stefan Liebsch                                                                                                               physiotherapeuten.de

 Impressum
 pt Zeitschrift für Physiotherapeuten
 ISSN 1614-0397                                                          Mediavertrieb
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 Herausgeber
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 Redaktion
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 Doreen Richter, Dr. Julia Röder, Jörg Stanko                            Die Rubriken „Marktplatz“ sowie „Messe-Spezial“ enthalten
 pt.redaktion@pflaum.de                                                  Beiträge, die auf Unternehmensinformationen basieren.

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