Mitgliedermagazin des BVF - GUT, BESSER, AM BESTEN - QUALITÄTSRAHMEN
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Mitgliedermagazin des BVF NR. 102 – OKTOBER 2020 SCHWERPUNKT GUT, BESSER, AM BESTEN – QUALITÄTSRAHMEN SEITE 8 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
2 Inhaltsverzeichnis Was wir diesmal zum Thema machen: Editorial............................................................................................... 3 Aktuelles aus dem BVF...................................................................... 4 gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen Was weisst du über die Qualitätsrichtlinien? Teste dich! ............... 8 Qualität – aber wie in der Heilpädagogischen Früherziehung?................................................. 10 Überlegungen zum Thema Qualität in der HFE............................... 16 Blick in die Praxis............................................................................... 18 Autismus............................................................................................. 24 Aktuelle Berufspolitik......................................................................... 32 Hinweis: Informationen zur frühen Kindheit auf einen Klick ......... 40 Rezension........................................................................................... 44 Abkürzungsverzeichnis...................................................................... 46 Vorstand.............................................................................................. 48 Geschäftsstelle/Vorschau.................................................................. 49 Rätselauflösung.................................................................................. 51 Impressum.......................................................................................... 52 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
Editorial 3 Liebe Leserinnen und Leser Tanja Alther «Eine Quantität ruht auf der Fläche – von der Gründung der «Allianz Kindheit» und eine Qualität steigt in die Höhe». ihren Zielen. Wir freuen uns auch besonders, euch wieder einen spannenden Einblick in ein Dieses Zitat des deutschen Verlegers Ernst gelungenes Projekt aus der Praxis geben zu Siegfried Mittler (1785 – 1870) gefällt mir. Wir können. Eva-Maria Lütolf berichtet von einer möchten euch in dieser Ausgabe gerne auf inklusiven Spielgruppe mit Kindern mit ASS eine Reise in die Höhen und Tiefen der Qua- am Früherziehungsdienst in Thun. Des Wei- litätsentwicklung in der HFE mitnehmen. teren haben wir euch nochmals unsere Stel- lungnahme zu Covid-19 Erwerbsausfällen und Wir im Vorstand beschäftigen uns nun schon die Pressemitteilung des Verbandes Heilpäd- seit rund zwei Jahren mit dem Thema «Qua- agogische Früherziehungsdienste Zürich zum lität» in der HFE. Zunächst haben wir 2018 die selben Thema abgedruckt. Zum Abschluss «Qualitätsstandards in der HFE» herausgege- erfahren wir, wie die AOZ die Eltern kleiner ben und 2019 folgte eine überarbeitete Versi- Kinder während des Lockdowns, und auch on der «Qualitätsrichtlinien für die HFE». jetzt noch, via Facebook erreichen. Es erwar- tet euch also eine Fülle an Themen und Ein- Die HFE wird in Zukunft voraussichtlich immer drücken. genauer aufzeigen müssen, was der Nutzen unserer Arbeit ist und inwiefern wir evidenz- Ich wünsche allen Leser*innen eine spannen- basiert arbeiten. Die Berufsfrauen und -män- de Lektüre und weiterhin gute Gesundheit. ner werden sich in den nächsten Jahren mit dem Thema «Qualität» und «Qualitätsentwick- lung» vertiefter auseinandersetzen müssen. Mit herzlichen Grüssen Im Leitartikel gibt uns Prof. Dr. Manfred Pretis einen Einblick in seine Arbeit über die «Ergebnisqualität» und zeigt Baustellen bei der Qualitätssicherung in der HFE auf. Drei Frü- herzieherinnen teilen mit uns ihre Gedanken zum Thema Qualität in der HFE. Natürlich bleibt auch das Thema Corona weiterhin ein wichtiger Faktor in der HFE. Studierende der FHNW geben uns daher in der Rubrik «Blick in die Praxis» einen Einblick in die Arbeit ihrer Praxislehrpersonen unter Corona. Im «Aktu- ellen aus der Berufspolitik» erfahren wir mehr Tanja Alther FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
4 Aktuelles Aktuelles aus dem BVF Franziska Brüngger und Sarah Wabnitz glieder? Was könnte hilfreich und unterstüt- zend für die Praxis sein? Wie können wir die Plattform gestalten, um einen Austausch und Transfer von der Praxis für die Praxis herzu- stellen? Unsere erarbeiteten Visionen werden wir im kommenden Verbandsjahr umsetzen. Schon jetzt ist neues im internen und externen Be- reich der BVF Homepage zu entdecken, wir freuen uns, wenn du vorbeischaust. Nach unserer Sommerpause sind wir frisch in Wir positionieren uns! die zweite Hälfte des Verbandsjahres 2020 gestartet mit einem grossen Paket vor der Tür – darin: unsere neuen Karten im Kleid der Stellungnahme zur Entschädigung neuen Homepage! Wir freuen uns, euch eine der durch Corona entstandenen Karte mit dem vorliegenden Forum zukom- Verdienstausfälle men zu lassen. Das Projekt des Kommunika- Seit Ausbruch der Corona Pandemie ist vieles tionsauftrittes wird uns weiterhin beschäfti- nicht mehr so, wie es war. Erst Homeoffice, gen. Momentan wird an der Ausgestaltung dann Schutzkonzepte mit Masken tragen, Di- eines neuen Flyers gearbeitet. stanz halten, Desinfizieren, usw. – viele neue Nach einer langen Zeit mit digitalen Vor- Regeln bestimmen aktuell den Arbeitsalltag in standssitzungen konnte sich der BVF Vor- der Heilpädagogischen Früherziehung. Ob- stand und die Geschäftsstelle zur Retraite in wohl mittlerweile etwas mehr über das neue «realer»-Form zusammenfinden. Virus bekannt ist, wissen wir vieles noch im- Als Schwerpunktthema wurde auch hier mer nicht und bleibt weiterhin ungewiss. Zu- nochmals der neue Kommunikationsauftritt sätzlich zu dieser Ungewissheit, die das Virus gewählt. Mit der neuen Homepage möchten selbst auslöst, bestimmt auch die Ungewiss- wir gerne eine Plattform bieten, die sowohl heit über die zum Teil durch das Virus entstan- Information als auch Austausch ermöglicht. denen ausgefallenen Stunden und den da- Haben wir uns im letzten Jahr eher mit tech- durch verursachten Verdienstausfall den Ar- nischen Fragen der Homepage beschäftigt, beitsalltag vieler Fachpersonen Heilpädago- stellten sich uns dieses Jahr vor allem inhalt- gische Früherziehung. Im Kanton Zürich hat liche Fragen. Intensiv auseinander gesetzt sich eine Arbeitsgruppe HFE (bestehend aus haben wir uns insbesondere mit dem internen IGFF ZH und VHFZ) im Rahmen eines Antrags Mitgliederbereich «Mitten im Praxisalltag». an den Regierungsrat gerichtet, um für die Hier haben wir folgende Fragen bearbeitet: ausgefallen Stunden eine finanzielle Entschä- Welche Inhalte sind wichtig für unsere Mit- digung zu erhalten. Der BVF unterstützt dieses FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
Aktuelles 5 Anliegen und hat zusammen mit dem VHDS neuen Allianz. Der BVF wird der Allianz Kind- in einer öffentlichen Stellungnahme Position heit beitreten, das Netzwerk Kinderbetreuung bezogen, damit nicht nur vergangene, son- wird voraussichtlich im Herbst aufgelöst. dern auch weitere durch Covid-19 oder ähn- lich verursachte Verdienstausfälle vergütet Held*innen 21 – Welt-Down-Syndrom-Tag werden. In der Stellungnahme vom 25.08.2020 21.3.21 haben wir die Kantone aufgefordert, ihr bis- Der BVF spendet diesem Projekt einen klei- heriges Vorgehen zu prüfen, als auch Vorkeh- nen Beitrag. Am 21.3.21 wird insieme21 einen rungen für die Zukunft zu treffen, um die Heil- besonderen Anlass im Le Théâtre in Emmen pädagogischen Früherziehung als Teil des organisieren. Damit wollen sie zeigen «wel- sonderpädagogischen Grundangebotes zu ches Potential Menschen mit Trisomie 21 ha- sichern. Beide Papiere finden sich auf der BVF ben. Er soll die Öffentlichkeit auf die Anliegen Homepage. und das Potential von Menschen mit Trisomie 21 aufmerksam machen.» (Auszug aus dem Kinder gestalten die Zukunft Projektbeschrieb Insieme21). Der BVF hat sich im Positionspapier: «Kinder gestalten die Zukunft», für Partizipation und Wir plaudern gerne mit dir! Inklusion von Kindern mit Behinderung ab Geburt ausgesprochen. Es wurde auf man- gelnde Konzepte und finanzielle Ressourcen in Kitas und Spielgruppen aufmerksam ge- macht, um Partizipation zu ermöglichen und Inklusion gelingen zu lassen. Da sind wir dabei! Schweizerischer Fachverband Mütter- Vä- terberatung Fachtagung Luzern Unter dem Titel «Erziehung: Früher brauchte es ein ganzes Dorf – und heute?» fand am 27./28. August 2020 die Fachtagung in den Kongressräumen in Luzern statt. Der BVF Zwei Zooméros wurden bereits online durch- stellte das Berufsfeld der Heilpädagogischen geführt. Es wurde bei Zoom in kleinen Grup- Früherziehung an einem Stand vor. Die Ta- pen (breakout rooms) während einer Stunde gung konnte trotz hoher Coronaauflagen über Fachliches und weniger Fachliches durchgeführt werden. ausgetauscht. Dies in einem ungezwungenen Setting, bei Tee, Wein oder Abendbrot. Die Gründung Allianz Kindheit Mitglieder haben die familiäre Atmosphäre Die Allianz Kindheit wurde am 20. August fei- und den überkantonalen Austausch genossen. erlich im Kornhausforum in Bern gegründet. Der Vorstand sieht dies als einen Gewinn Auf den anschliessenden Apéro musste leider einen einfachen Austausch zwischen und aus gegebenem Anlass verzichtet werden. zu den Mitgliedern zu generieren. Wir Thomas Jaun verrät uns in dieser Ausgabe freuen uns, wenn du das nächste Mal dabei mehr über die Hintergründe und Visionen der bist! FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
6 Aktuelles Unser Aus- und Weiterbildungstag wird die- Interessierte können sich gerne unter ses Jahr in einer neuen Form durchgeführt. www.frueherziehung.ch anmelden. Der Vor- Der Vortrag von Prof. Dr. Klaus Fröhlich- trag wird für einen gewissen Zeitraum digital Gildhoff wird online zur Verfügung gestellt. zur Verfügung stehen. Wir suchen dich! Neue Revisorinnen gesucht Wie an der MV informiert, stehen Elisabeth Aus diesem Grund suchen wir auf die näch- Gubler als auch Denise Eng nur noch für die- ste MV zwei neue Revisorinnen oder Reviso- ses Vereinsjahr als Revisorinnen zur Verfü- ren. Bei Interesse oder Hinweisen auf mög- gung. An diesem Punkt nochmals ein herzli- liche Anwärter*innen dürft ihr euch gerne ches Dankeschön an die beiden! bei uns melden! FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
Aktuelles 7 Qualität im Berufsfeld der Heilpädagogischen Früherziehung , Seite 16 , Seite 8 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
8 gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen Was weisst du über die Qualitätsrichtlinien? Teste dich! Sarah Wabnitz Eine Tasse Kaffee, ein Stift, 5 Minuten Pause und los geht’s. Wir wün- schen dir viel Spass beim Rätseln – und Spicken in den Qualitätsricht- linien ist natürlich erlaubt! Qualitätsrichtlinien in der Heilpädagogischen Früherziehung Lösungshinweise: Horizontal Vertikal (2) Zur Sicherstellung des Schutzes der (1) Was ist ein wichtiger Eckpfeiler der Privatsphäre der Kinder und Familien Personalführung? wird auf Einhaltung des ... geachtet? (3) Gemeinsame Zielerreichung und (4) Die individuelle Situation jedes Kindes Kooperation ist durch ... möglich? und deren Familie wird immer in Bezug auf ... betrachtet? (5) Durch mich kann man hindurchschauen und ich bin auf allen Ebenen der HFE (6) Welche Formen der Sicherstellung der entscheidend Qualität im Team werden häufig genutzt? (7) Was bietet die Grundlage für die (9) Ich bin das wichtigste Utensil der HFE Standortbestimmung? (8) An welchen Leitlinien orientiert sich die HFE Rätselauflösung auf Seite 51 FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen 9 Qualitätsrichtlinien in der Heilpädagogischen Früherziehung 8 9 ▶ T ▼ S E D 3 5 4 ▶ I C ▼ F ▼ 1 ▼ 7 M A ▼7 N 2 ▶ D T N S T E R F 6 ▶ S R I O N K T FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
10 gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen Qualität – aber wie in der Heilpädagogischen Früherziehung? Manfred Pretis 1) Einführung bislang bewusst oder unbewusst vernachläs- Wir gehen davon aus, dass es eine Zeit nach sigt wurde, mag an methodischen Herausfor- COVID-19 geben wird, in der die Heilpädago- derungen liegen, gische Früherziehung (HFE) wieder ähnlich – wie Reifungs- bzw. generell Anpassungs- funktionieren wird und Leistungen face-to- aspekte von Fördereffekten unterschieden face erbracht werden. Ob es sich dabei um werden können eine vergleichbare Betreuung handeln wird – wie das Erreichen von Zielen methodisch oder ob es als Auseinandersetzung mit der sauber gemessen werden kann Krise (Schuchardt, 2003) zu einer Weiterent- – wie einzelne methodische Ansätze mit wicklung auf unterschiedlichsten Ebenen Wirkfaktoren im Zusammenhang stehen. kommt, wird sich noch weisen. Die Qualitäts- diskussion nahm jedoch bereits vor COVID 19 Gemeint damit sind im Rahmen der Ergebnis- ihren Anfang und darüber handelt dieser qualität nicht so sehr Elternzufriedenheitser- Artikel. hebungen (diese ergeben im Regelfall sehr hohe Zufriedenheitswerte) sondern der Fokus 2) Von welcher Qualität sprechen wir? auf beobachtbare und auf die Förderung Der Fokus dieses Artikels liegt auf der Ergeb- zurückführbare Effekte beim Kind bzw. im nisqualität, d.h. wie die Wirkung der HFE ge- Familiensystem. messen werden kann, da gemutmasst werden Kritischerweise muss eingeräumt werden, kann, dass bislang überwiegend Aspekte der dass die Ergebnisorientierung auch mit einer Struktur- und Prozessqualität (Donabidian, steigenden Ökonomisierung des Sozialen 1988) im Diskurs behandelt wurden. Im Sinne (Speck, 1999) in Zusammenhang gebracht eines Wirksamkeitstrialogs (Meinhold, 2007) wird. Einige Begrifflichkeiten, wie «smarte Zie- darf angenommen werden, dass die meisten le» (Schäfer, 2015), sind der Wirtschaft ent- Beteiligten primär am Ergebnis, d.h. der Prä- lehnt. Andere Begriffe kommen aus dem neu- vention von Behinderung bzw. der evi- en Verständnis im Rahmen der ICF (WHO, denz-orientiert wirksamsten Entwicklungsför- 2007), welche Behinderung als bedeutsame derung in Richtung grösstmöglicher Teilhabe Interaktion zwischen einem Menschen mit und Selbstbefähigung der Eltern interessiert Gesundheitsproblemen und seiner relevanten sind (Pretis, 2020a). Dass die Ergebnisqualität Umwelt beschreibt. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen 11 3) Ergebnis-Orientierung in der Pretis (2020a) schlägt beispielsweise den ver- Frühförderung stärkten Einsatz von Einzelfall-Designs vor, in Es geht darum, wie beobachtbare Verände- denen durch Baseline-Erhebungen, Zielfor- rungsprozesse der Entwicklungsförderung mulierungen und Effektmessung auch aufge- und des Empowerments der Eltern oder an- zeigt werden kann, welche zugeschriebenen dere Zielperspektiven kausal auf die durchge- Mehrwerteffekte einer Förderung zu beob- führten Interventionen zurückgeführt werden achten waren. Wohl bewusst ist dem Autor, können und sich bedeutsam von Reifungs- dass die Durchführung auf wissenschaftlicher oder anderen Zufallsprozessen unterscheiden Basis mit einem klaren Vorher-/Nachher-De- (Pretis, 2020a). Dies stellt nicht nur ein öko- sign sowie notwendigen Förderpausen zum nomisches Ziel dar, sondern darf vonseiten Herausfiltern möglicher Reifungsprozesse (die der NutzniesserInnen als legitimer Anspruch Pause als individuelle «Kontrollgruppe») prak- an eine qualitätsvolle, psychosoziale Leistung tisch kaum umsetzbar ist. Die Hinwendung angesehen werden. zum Outcome muss somit den Limitationen der Praxis folgen. Das bedeutet, dass sich die Worin kann somit der Outcome bestehen? Fachkraft am Beginn der Förderung gemein- – Aus dem Erreichen alterstypischer Entwick- sam mit den Eltern sehr klar überlegt, welche lung (und somit Prävention von Behinde- Zielparameter verändert oder (im Bereich fort- rung), schreitender Erkrankungen) beibehalten wer- – aus dem Erreichen von definierten Teilha- den sollten, wie diese gemessen oder ge- bezielen, schätzt werden, um genau diese Indikatoren – aus dem Erreichen definierter Selbstbefähi- am Ende der Förderung nochmals messen zu gungsziele für die Eltern, können. Dieser individuelle Grad der Zieler- – aus dem Beibehalten von Teilhabeniveaus reichung kann in einem weiteren Schritt ano- z.B. bei progressiven Erkrankungen. nymisiert öffentlich dargestellt werden. Warum ist dies wichtig? Frühförderung kenn- Outcome in der HFE scheint generell wenig zeichnet sich durch Schlüsselbegriffe wie Fa- publik gemacht zu werden. Eine kurze Analy- milienorientierung, Ganzheitlichkeit, Entwick- se von Internetseiten im deutschsprachigen lungsförderung, Empowerment, Personenzen- Raum verdeutlicht eklatant, wie wenig eviden- triertheit, Alltagsorientierung ... aus. Diese zorientiert die unterschiedlichen Outcomes erscheinen zwar in hohem Masse sozial ak- beschrieben werden. Kaum eine Frühförder- zeptiert, sind jedoch im Regelfall schwer zu stelle veröffentlicht erreichte Präventionser- messen und häufig Prozessparameter. Erfor- gebnisse (z.B. anonymisiert) auf ihrer Home- derlich ist somit am Beginn das genaue Erhe- page. Unwidersprochen bleibt, dass es sich ben von gewünschten Ergebnisparametern, natürlich immer um hochindividuelle Inter- um daraus Teilhabeziele zu formulieren und ventionen mit Familien und Kindern handelt. mittels geeigneter Beobachtungs- und Mess- Dies entschuldigt jedoch keineswegs, dass instrumente eine Veränderung zu erheben, diese individuelle Zielerreichung nicht auch und zwar gemeinsam mit der Familie. Dass abstrakt dargestellt werden kann. kindliche Entwicklungsparameter einfacher zu FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
12 gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen messen sind als die «Selbstbefähigung» der mag es darin bestehen, selbstständig einen Eltern ist evident, da häufig entsprechende Löffel zum Mund zu führen, um essen zu kön- Entwicklungstests zur Verfügung stehen. Aber nen. Für ein 3-jähriges Kind kann es darin auch Ergebnisskalen zur Feinfühligkeit der bestehen, mittels einfacher verständlicher Sät- Eltern oder den Transfer der fachlichen Infor- ze mit Peers zu kommunizieren, um sich mit mation in den Alltag betreffend sind verfügbar, diesen auszutauschen. Der relevante Aspekt wenn auch wenig angewandt. bei all diesen Beispielen, die in Pretis (2020b) Anzudenken sind auch individuelle Einschät- detailliert beschrieben werden, besteht aus zungsskalen basierend auf vorher-/nach- dem erkennbaren, finalen (sinn- und zwecko- her-(Video)Aufzeichnungen. Einiges kann rientierten) Aspekt, dass ein Kind – oder im auch augenscheinlich validiert werden: Wich- weiteren Sinne auch die Familie – das tun tig dabei ist, «Äpfel mit Äpfeln» zu vergleichen kann, was andere Menschen ohne Gesund- und gleiche Fragen nochmals zu stellen. Je heitsprobleme im Regelfall tun können. klarer ein «Status Quo» (also der Ausgangs- punkt) und die Ziele sind, desto eindeutiger Teilhabeziele kennzeichnen sich durch kann auch der Output gemessen und mit den a) das Hervorheben des aktiven Subjekts fachlichen Interventionen in Zusammenhang (im besten Fall als Name des Kindes), gebracht werden. Diese Hypothese ebnet den b) ein Aktivitätsverb und Weg in Richtung neuer Konzeptualisierungen c) eine Spezifikation des Kontexts der Zielformulierung. «Jan drückt sich in der Kita mit einfachen 4) Teilhabeziele und smarte Ziele Wörtern aus, um deutlich zu machen, was «Teilhabe» ist nicht nur seit der ICF und in er will bzw. was er nicht will.» Teilhabeziele weiterer Folge im Rahmen vieler Gesetzeswer- sind per se zwar nicht in der ICF als solche ke (siehe Bundesteilhabegesetz, BMAS 2016) formuliert, lassen sich jedoch aus den bewer- präsent, sondern vermittelt auch einen Para- teten (Teilhabe)Beeinträchtigungen ableiten. digmenwechsel in der Betreuung von Men- Es geht dabei nicht primär um die Entwick- schen mit langfristigen Gesundheitsproble- lungsabweichung, die z. B. mittels eines Tests men. Sie fokussiert auf das sinnhafte Tun in gemessen wird, sondern um die damit asso- sozialen Kontexten, was im Regelfall für alle ziierte Teilhabebeeinträchtigung in den Berei- Menschen einer bestimmten Altersgruppe chen der ICF, die das Erreichen von Gegen- bzw. eines bestimmten sozioökonomischen ständen betrifft, um diese explorieren zu kön- Hintergrundes gilt. Teilhabe bezieht sich auf nen. Daraus lässt sich als Teilhabeziel ablei- das aktive Eingebundensein eines Menschen ten: Sepp (3 Jahre, G8, 1, Hemiplegie) greift zu in statistisch vorhersehbare Erwartungswerte Hause im Pinzettengriff nach kleinen Gegen- (woran er/sie teilhaben sollte). Für ein Klein- ständen, um diese zu explorieren. kind mit 17–18 Monaten betrifft dies z.B. in der Teilhabeziele sind dabei solche Ziele, die im Mobilität, dass es sich selbstständig in (un) Rahmen einer Förderung in Übereinstimmung bekannten Räumen bewegen kann, um Dinge mit den Eltern erreicht werden können und zu erreichen. Für ein 20 Monate altes Kind somit Aktivitäten des Kindes beinhalten. Da- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen 13 mit ist die Brücke zu einem weiteren Konzept te Ziele repräsentieren viel mehr beobachtba- gebaut, welches immer stärker Einzug findet, re Aktivitäten des Kindes oder, falls es sich und zwar zu jenem der «smarten Ziele» (die um Umweltziele handelt, der Bezugspersonen, aus dem Konzept der ICF nicht direkt ableit- was die Transparenz komplexer psychosozi- bar sind). Teilhabeziele kennzeichnen im Re- aler Interventionen erhöht. Es geht hier letzt- gelfall ein mittlerer Abstraktionsgrad, sodass endlich nicht um das Üben, sondern um das diese im Rahmen des Förderzeitraumes, z. B. klare Fokussieren der individuellen Förderung innerhalb eines Jahres, realistischerweise (als des Kindes in seinem Familienverband auf Performanz des Kindes) erreicht werden kön- jene vereinbarten Teilhabeaspekte, die er- nen. Da sich das Vorhersagen mit zunehmen- reicht werden sollen (und im Regelfall mit den dem Alter der Kinder schwieriger gestaltet, Erwartungen u.a. der Eltern in Zusammenhang können smarte Ziele als Hilfsmittel verwendet stehen). werden, um Teilhabeziele in einzelne Zwi- Für welchen Zeitraum smarte Ziele formuliert schenschritte herunterzubrechen, die das werden sollen, kann nicht allgemeinverbind- Kind zu bestimmten Zeitpunkten erreicht. Teil- lich definiert werden: Praktisch werden diese habeziele sind dabei nicht nur kindorientiert, häufig im 3-Monats-Takt erstellt. Das jeweili- sondern können auch Umweltziele darstellen. ge Erreichen stellt dann einen outcome-ori- Vieles im Rahmen der frühkindlichen Förde- entierten Zwischenschritt in Richtung Teilha- rung basiert letztendlich auf der orchestrierten beziel dar und darf auch als Frühwarnsystem Umweltgestaltung durch Eltern (Guralnick, angesehen werden, falls sich Anpassungen 2004). Umweltziele sind dann sinnvoll, wenn ergeben sollten (sobald smarte Ziele nicht er- die Veränderung des Verhaltens oder der Ein- reicht werden). Viele smarte Ziele können stellung der Eltern den Rahmen bilden, damit auch «augenscheinlich» validiert und gemes- das Kind selbst Neues erlernen oder auspro- sen werden: bieren kann. Carmen (19 Monate, Q90, Down Syndrom) zieht sich bis Dezember 2020 an Gegenstän- Die Eltern von Susanna beschäftigen sich täg- den hoch (410), was augenscheinlich beob- lich 20 Minuten zu Hause mit ihrer Tochter, achtet werden kann. um gemeinsame, lustvolle Interaktionen zu Smarte Ziele machen die familienorientierte, ermöglichen. Dieses Ziel ist auch relativ leicht ganzheitliche Arbeit nicht obsolet. Wenn es messbar, indem die Eltern z. B. einen «Spiel- darum geht, dass ein Kleinkind nach einem kalender» führen. kleinen Gegenstand greift (betrifft die Teilhabe an der Mobilität), wird die Fachkraft im Re- Smarte Ziele stellen somit Zwischenschritte gelfall diesen Gegenstand bezeichnen (Kom- zur Erreichung eines Teilhabezieles dar. Eine munikation und Lernen), möglicherweise häufige Verwechslung findet sich, dass Fach- auch gemeinsam mit dem Kleinkind verwen- kräfte ihr methodisches Vorgehen (Aufmerk- den (=Teilhabebereich der Anforderung und samkeitssteigerung) und Interventionen (Vi- Aufgaben) und die Eltern einbeziehen (=Um- deofeedback an die Eltern) als solche formu- welt). Smarte Zielformulierung steht somit lieren. Das ist damit aber nicht gemeint. Smar- nicht im Widerspruch zu Grundkonzepten der FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
14 gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen HFE, sondern verleiht eine stärkere Ergebnis- tern und Familiensysteme mit vielen För- perspektive, was den Diskurs mit den Eltern derfaktoren weniger Hilfe bekommen fördert. könnten als Familien, die sehr viele Barri- eren aufweisen. Erstere könnten ihre för- 5) Gemeinsame Sprache und Inklusion derlichen Bemühungen durchaus als «Be- Der inklusive Aspekt der ICF darf als Überbe- strafung» interpretieren. Dazu kommt, griff des Qualitätsthemas gesehen werden, da dass eine solche Dynamisierung des Be- Behinderung als Interaktion zwischen einer hindertenbegriffs die Grenzen zwischen Person mit einem Gesundheitsproblem und behinderungs- und sozialassoziierten seiner Umwelt verstanden wird. Die Umwelt Teilhabebeeinträchtigungen auflöst und bietet somit einen möglichen förderlichen die Kinder- und Jugendhilfe durch die oder hemmenden Rahmen. Zu bewerten Hintertür ein Teil des übergeordneten bleibt, a) wie inklusiv Frühförderung selbst als ICF-Hilfssystems wird. System arbeitet und b) diesem neuen Ver- ständnis folgt. Wie inklusiv ist somit die HFE anzusehen? Denkt man in Systemen von Bronfenbrenner a) Mit Ausnahme einiger weniger Beispiele (1981), dann fokussiert HFE vor allem auf das beruht Frühförderung in vielen Ländern Mikrosystem Familie und zeigt relativ wenig auf einer Etikettierung als «behindert oder Bezug zu weiteren relevanten Systemen (z.B. von Behinderung bedroht. Dies ist legis- den Sozialraum). Grössere Diversität und tisch stigmatisierend. Dazu kommt, dass Durchlässigkeit wäre durchaus wünschens- die klassische Unterteilung in die Behin- wert (z.B. Spielgruppen gemeinsam mit ty- dertenhilfe und die Kinder- und Jugend- pisch entwickelten Kindern etc.). Möglicher- hilfe im Rahmen der Inklusion obsolet weise kontrastiert dies diametral mit Versu- wird, da Unterstützung für alle Kinder chen, z. B. spezifische Kompetenzzentren für bzw. Familien, die diese benötigen, zu- einzelne Diagnosen zu eröffnen (siehe Autis- gänglich sein sollte. UNICEF und WHO mus-Spektrum-Störungen). Dass Eltern dies sprechen von einem universell progressi- teilweise als hilfreich erleben und befürwor- ven Modell (WHO, 2018), bei dem man ten, ist jedoch ein anderer Aspekt, da es aus davon ausgeht, dass Hilfe graduell diskur- Elternsicht keine «Pflicht» zur Inklusion gibt siv anzupassen sei. (Pretis, 2012). b) So banal diese Aussagen klingen, so viel Sprengstoff bergen sie langfristig sozial- 6) Ausblick politisch: Hiesse dies doch, dass nicht COVID-19 wird die HFE auch noch in den jedes Kind bzw. jede Familie dieselbe nächsten Monaten beschäftigen. Anekdoti- Leistung erhält, sondern dass der Bedarf sche Befunde mancher Eltern, dass aus Grün- in hohem Masse vom Vorhandensein von den des Gesundheitsschutzes nach Öffnung Förderfaktoren oder Barrieren abhängt. des jeweiligen Lockdowns auf eine Leistung Dies führt im Regelfall zu einem Aufschrei, verzichtet worden sei, werden auch Wege in da damit verbunden sein könnte, dass El- Richtung neuer Methoden offenhalten: On- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen 15 line-Beratung, Telehealth, virtuelle Frühförde- beneffekt) einen neuen Stellenwert, da über rung mittels sozialer Medien. Die von Spitzer digitale Wege die Eltern verstärkt Hauptakteu- (2012) verteufelte digitale Demenz im Kindes- re werden, indem sie dazu befähigt werden, alter wird durch die Herausforderungen sicher unterstützt die Be- und Erziehung zu ihren relativiert werden. Wir werden uns verstärkt Kindern in einem Höchstmass selbst zu über- überlegen müssen, wie wir Kinder erreichen, nehmen, was sich als grosse Herausforde- wenn dies nicht immer «face to face» und rung und auch als Chance erweisen könnte, «hands on» möglich ist. Damit erhält die ge- Frühförderung outcome-orientierter zu gestal- meinsame Arbeit mit Eltern (als positiver Ne- ten. Literatur BMAS (2016). Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG). Bundesgesetzblatt Jahrgang 2016 Teil I Nr. 66, Bonn. Bronfenbrenner, U. (1981). Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart: Clett-Kotta. Donabidian, A. (1988). The Quality of Care. How Can It Be Assessed? JAMA 260 (12), 1743-1748. Guralnick, M. (Hrsg.) (2004). The Developmental Systems Approach to Early Intervention. Baltimore: Brookes, 3—29. Meinhold, M. (2007): «Wirksamkeitstrialog» – Sozialarbeit zwischen Budget-Politik, professionellen Ansprüchen. Linz: edition pro mente. Pretis, M. 2012). «Vom Umschalten im Kopf» Von der Integration zur Inklusion in Kinder Bildungs- und Betreuungseinrichtungen. Präsentation im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung, 12.6.2012 Steiermark. Pretis, M. (2016). ICF-basiertes Arbeiten in der Frühförderung. München: Reinhardt. Pretis, M. (2002). Was ist «gute» Arbeit in der Frühförderung? 10 Thesen zur Qualität und Qualitätsentwicklung. Frühförderung interdisziplinär 21, 29—41. Pretis, M. (2020a). Frühförderung – Frühe Hilfen. München: Reinhardt. Pretis, M. (2020b). Teilhabeziele planen, formulieren und überprüfen. ICF leicht gemacht. München: Reinhardt. Schäfer, I. (2015). Leitfaden Goal Attainment Scaling. Zielerreichungsskalen. Universität Bielefeld https://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag4/GAS_ Leitfaden.pdf aufgerufen am 23.10.2019. Schuchardt, E. (2003). Krisen-Management und Integration. Biographische Erfahrung und wissenschaftliche Theorie. 8. Aufl. Bielefeld. Speck, O. (1999). Die Ökonomisierung sozialer Qualität. Zur Qualitätsdiskussion in Behindertenhilfe und Sozialer Arbeit. München, Reinhardt. Spitzer, M. (2012). Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München: Droemer. WHO (2007). International Classification of Functioning, Disability and Health. Children and Youth Version. WHO. WHO (2018). Nurturing Care for Early Childhood Development. New York, WHO. Prof. Dr. Manfred Pretis office@sinn-evaluation.at FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
16 gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen Überlegungen zum Thema Qualität in der HFE Stimmen aus dem Feld der Heilpädagogischen Früherziehung Grundvoraussetzung für qualitativ hochwerti- Was ist für mich Qualität in der Heilpädago- ges und wirkungsvolles Arbeiten ist der Auf- gischen Früherziehung? bau einer vertrauensvollen Beziehung zum Wenn es mir gelingt … Kind und seinen Eltern, welche sich durch … den Anliegen und Fragen der Eltern an gegenseitigen Respekt, Akzeptanz, Interesse mich, und damit unserer Arbeit für das Kind, und Wohlwollen auszeichnet. den nötigen Raum, das nötige Gewicht zu ge- ben. Diagnostik und darauf basierende, gemein- … Raum und Ruhe für Gespräche und Spiel zu sam mit den Eltern formulierte, Zielvereinba- schaffen. rungen, welche regelmässig evaluiert werden, … die vorhandenen Ressourcen sowie auch bilden einen fortlaufenden Kreislauf in einem schwierige Themen anzusprechen. Das setzt Förderprozess mit guter Qualität, welche sich eine vertrauensvolle Beziehung, gutes Zuhö- ausweisen lässt. ren und Authentizität voraus. Die Reflexion des Förderprozesses, die … mich der Situation hier und jetzt anzupas- Selbstreflexion und fachliche Aus – und Wei- sen. Ich nehme mich zurück, bleibe offen in terbildung unterstützen die berufliche und wohlwollender Empathie, habe Geduld und persönliche Entwicklung. Was sich massgeb- eine gewisse Hartnäckigkeit. lich auf die Qualität der Arbeit auswirkt. Leitungspersonen, welche den HFE-Fachper- Karin Z‘graggen sonen im Alltag wertschätzend begegnen, die beschriebenen Prozesse mit Interesse wahr- nehmen, in anspruchsvollen Situationen ein verlässliches, stärkendes Gegenüber sind und eine konstruktive Kommunikationskultur pfle- gen, fördern qualitativ gute Arbeit in ihrer In- stitution. Claudia Althaus FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
gut, besser, am besten – Qualitätsrahmen 17 Damit Qualität in der HFE gewährleistet ist, braucht es: – Ein breites Wissen über alle The- menschwerpunkte der HFE, ein vernetztes Denken, den Einbezug von neuen wissen- schaftlichen Erkenntnissen und die Bereit- schaft zur interdisziplinären Zusammenar- beit. – Eine hohe Präsenz, welche das Wahrneh- men von kleinen aber bedeutsamen Mik- roprozessen ermöglicht. – Akzeptanz und Verständnis für alles was gerade ist, beim Kind, bei den Eltern, bei den Geschwistern und im Umfeld. – Die Gestaltung einer gleichgestellten, ver- ständigungsorientierten Zusammenarbeit mit den Eltern. – Die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge den Eltern mit Berücksichtigung ihres Hin- tergrundes darzulegen und zu erklären und dem eigenen Standpunkt Deutlichkeit zu verleihen. – Eine regelmässige Reflexion der eigenen professionellen Haltung und der Arbeit. – Freude am Beruf, eine Prise Humor, Gelas- senheit in schwierigen Situationen und Sorge zu sich selber. Sabine Vogel FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
18 Blick in die Praxis Arbeiten in der HFE in Coronazeiten – Studierende befragen Praktikumsleitende Claudia Ermert und Sarah Wabnitz Im Frühlingssemester (FS) 2020 machten anderen Fachpersonen und im Team wurde acht Studierende ihr zweites Praktikum in eingegangen. Stolpersteine der Zusammenar- der Heilpädagogischen Früherziehung beit, der persönliche Umgang mit Corona und (HFE). Die Praktika wurden teilweise das notwendige Rüstzeug sowie die Frage aufgrund des Lockdowns unterbrochen nach der Lockerung der Massnahmen runde- und auch die Lehre im Reflexionsseminar, ten die Fragen ab. die von Claudia Ermert und Sarah Wabnitz durchgeführt wurde, erfolgte nach einigen Ziel der Befragung war es, die speziellen Be- Präsenzterminen via Internet. dingungen und Anpassungen in der HFE zu dokumentieren, die Studierenden in die Be- Im Zuge dieses Reflexionsseminars wurden fragung einzuführen sowie eine Reflexion über die Studierenden gebeten, ihre Praxislehrper- Arbeiten unter diesen speziellen Umständen sonen nach ihrer Arbeit während (und nach) vertieft zu ermöglichen. Im Folgenden findet dem Lockdown in der HFE zu befragen und sich eine Zusammenstellung interessanter As- die Antworten der acht Praxislehrpersonen zu pekte aus der Befragung. dokumentieren. Die Fragen und ein Auswer- tungsschema wurden von den Studierenden Zusammenarbeit mit der Familie unter Anleitung vorbereitet. Die Befragungen Allgemein fand die Zusammenarbeit mit den wurden durchgeführt, die Inhalte notiert und Familien teilweise weniger häufig statt. Es gab die Studiengruppe wertete insgesamt die Aus- – den Hygienemassnahmen geschuldet – kei- sagen thematisch aus. nen physischen Kontakt zwischen der Heilpä- dagogischen Früherzieherin und der Familie. Fragen, die gestellt wurden, betrafen die Zu- Die Zusammenarbeit wurde teilweise per Vi- sammenarbeit mit der Familie, den Zugang zu deokonferenz gestaltet. den Familien, die Erreichbarkeit und die An- liegen der Familie. Des Weiteren wurden die Mehrheitlich gab es einen wöchentlichen Anliegen der Heilpädagogischen Früherzie- oder allenfalls zweiwöchentlichen Kontakt. her*innen und sich stellende Herausforderun- Eine Früherzieherin berichtet, dass sich die gen in dieser Zeit, sowie positive Aspekte der Familien nie von sich aus gemeldet haben, neuen Situation befragt. Auch auf allfällige eine weitere berichtete ebenfalls, dass die Abklärungen, die bei Kindern durchgeführt Kontaktaufnahme mehrheitlich durch sie er- wurden und auf Neuaufnahmen von Familien folgte. Neben Telefonaten wurde Videotelefo- mit ihrem Kind sowie die Zusammenarbeit mit nie, Skype, WhatsApp und E-Mail als Kom- FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
Blick in die Praxis 19 munikationsmittel genutzt. Der grösste Teil der acht befragten Früherzieherinnen als heraus- Früherzieherinnen verschickte nach eigener fordernd. Als Herausforderungen wurden von Auskunft Fördermaterialien und Förderideen drei Personen die begrenzten Deutschkennt- an die Familien per Post oder per Mail. Zwei nisse der Eltern genannt, weitere drei Perso- der acht Heilpädagogischen Früherzieherin- nen fanden, laute Kinder im Hintergrund er- nen brachten Materialien zu den Familien. schwerten die Kommunikation. Probleme bei der Terminfindung und -vereinbarung und Anliegen der Eltern technische Schwierigkeiten wurden von je- Von Seiten der Früherzieherinnen wurden un- weils zwei Personen genannt und drei Perso- terschiedliche Anliegen der Eltern genannt. nen wiesen darauf hin, dass der Austausch Bei der Hälfte der Befragten Früherzieherin- auf Distanz nicht vergleichbar mit dem direk- nen wurde bei deren Familien Sorgen und ten, persönlichen Gespräch und der Förde- Unsicherheiten bezüglich des Coronavirus rung vor Ort sei. geäussert. Bei drei der Familien waren wich- tige Themen die Bewältigung des Alltags so- wie der Wunsch nach Fördervorschlägen. Ein weiteres Thema, das genannt wurde, betraf administrative Belange wie Einschulung und Arzttermine. Anliegen der HFE und Herausforderungen Das Anliegen in der Arbeit mit den Familien, das von fast allen befragten Früherzieherinnen genannt wurde, war, den Kontakt mit den Familien zu halten und darüber auf dem Lau- fenden zu bleiben, wie es der Familie in dieser Zeit geht. «Alltagsnahe» Beratung bei Entwick- lungsfragen und in Form von «Hilfe bei beste- henden Anliegen» war den Früherzieherinnen wichtig, in zwei Fällen war auch das Thema Positive Aspekte und Abklärungen/ Gewalt in der Familie sowie eine mögliche Neuaufnahmen Kindswohlgefährdung präsent. Daneben ging Ein wichtiger positiver Aspekt, der von fünf es fünf der acht befragten Frühzieherinnen Interviewpartner*innen genannt wurde, war ebenfalls darum, den Eltern Ideen für die Be- die vermehrte Beschäftigung der Eltern mit schäftigung ihrer Kinder zu liefern oder selbst ihren Kindern und dadurch der verstärkte Ein- den Kindern Spass zu vermitteln, wobei die bezug der elterlichen Kompetenz in die För- konkrete Förderung der Kinder nur von drei derung. In zwei Fällen wurde der intensivere Früherzieherinnen erwähnt wurde. Kontakt mit den Familien und dadurch die Die Kommunikation mit den Eltern via Telefon Stärkung der Beziehung als positiv gewertet. oder Videotelefonie empfanden sieben der Mehrere Befragte erwähnten neu entdeckte FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
20 Blick in die Praxis Möglichkeiten zur Kommunikation wie die Stolpersteine in der Heilpädagogischen Online-Beratung sowie den WhatsApp-Status Früherziehung während der Coronazeit oder -chat. Während des Corona-Lockdowns waren alle An den beteiligten Früherziehungsdiensten Heilpädagogischen Früherzieherinnen der Be- wurde die Durchführung von Abklärungen fragung mit ähnlichen Themen konfrontiert. und Neuaufnahmen sehr unterschiedlich ge- Es liessen sich drei Hauptstolpersteine fest- handhabt. An drei Orten fand während der stellen: Die Technik, die Kommunikation und Corona-Zeit keine Abklärung statt. An einem die Materialbeschaffung. Ein grosses Hinder- Ort hat die Früherzieherin Anamnesedaten nis waren Verbindungsprobleme, und Mikro- und den Entwicklungsstand mittels Telefon, fone sowie Kameras und Akkus, die plötzlich Fragebogen oder Befragung einer Spielgrup- ausfielen. Eine Früherzieherin berichtete da- penleiterin, Lehrpersonen, Schulleitung und von, dass sie es sehr ermüdend für beide Sei- Psychologin erhoben. An mehreren Standor- ten fand, via digitale Medien zu arbeiten. Es ten gab es während des Lockdowns keine wurde auch erwähnt, dass die meisten Kinder Neuaufnahmen. In einem Fall gab es Neuan- zu jung seien oder einen zu tiefen Entwick- meldungen von 2 – 3 Kindern. Da es wichtig lungsstand hätten, um über digitale Medien war, dass sofort mit der Förderung gestartet effizient gefördert zu werden. Um die Elektro- werden konnte, lief der Kontakt und es wurde nik zu umgehen traf sich eine Praxisleiterin zu Material geschickt oder vorbeigebracht. Eine einem Austausch im Treppenhaus. Interviewpartnerin nahm Ende Februar / An- Als weiterer Stolperstein wurden lange Liefer- fang März noch sechs weitere Familien auf. zeiten und geschlossene Geschäfte genannt, die eine Materialbeschaffung erheblich er- Zusammenarbeit im Team und mit schwerten. Die beiden Praxislehrpersonen, anderen Fachpersonen die dies erwähnten, griffen dann auf Gegen- Innerhalb des Teams fanden Telefon- sowie stände aus dem Haushalt und der Natur zu- Videokonferenzen statt. Einerseits wurde der rück. Videoaustausch als effizient erlebt, da kein Fahrweg benötigt wurde und es keine Pausen Persönlicher Umgang mit Corona gab, andererseits kosteten technische Hürden Zu diesem Aspekt nahm nur eine befragte (z.B. schlechte Internetverbindung, schlechte Person Stellung. Sie beschrieb, dass sie wäh- Akustik) während der Videokonferenz Zeit. rend des Lockdowns nicht besonders besorgt Inhalte an den Sitzungen waren Besprechung gewesen sei, nun aber während der Locke- von Infos und Fragen zur aktuellen Situation rungen die Unsicherheit in Bezug auf den sowie der Austausch zu Spiel- und Bastelide- richtigen Umgang mit den Familien vorhanden en. Fünf der acht Befragten äusserten sich sei. nicht zum Thema. Mit anderen Fachpersonen wurde per Telefon, Die Antworten zum Rüstzeug liessen sich ver- per Mail oder online per Videokonferenz zu- schiedenen Kategorien zuordnen: sammengearbeitet. Der Videoaustausch mit – Das Vorhandensein von technischen Hilfs- den Fachpersonen wurde als effizient erlebt. mitteln wie Mobiltelefonen, Laptops und FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
Blick in die Praxis 21 guten Internetverbindungen sowie die tech- worden sei. Drei weitere Teilnehmerinnen nischen Fähigkeiten der HFEs freuten sich darauf, die Arbeit mit den Fami- – das Vorhandensein von vorfrankierten Cou- lien wieder aufnehmen zu können. verts und flachem Bastelmaterial für den Die Befragung konnte aufzeigen, dass die Versand Heilpädagogische Früherziehung im Lock- – die eigenen Kommunikationskompetenz down ihre Tätigkeit auch im Homeoffice wahr- – eine gute Fähigkeit zur Einschätzung der nehmen konnte, trotz Stolpersteinen und er- familiären Situation schwerter Bedingungen. Neue Chancen sind – Dinge rund um die Hygienevorschriften wie aus dem Lockdown entstanden, die auch für Desinfektionsmitteln, Schutzmasken, ein- die weitere Arbeit nach dem Lockdown als fach zu reinigendes Spielmaterial und ab- wertvoller Wissenszuwachs betrachtet wer- schliessbare Plastikboxen. den können. Die Digitalisierung, die hier be- schrieben wird, kann ein erster Anstoss für Lockerungen der Massnahmen einen beginnenden Wandel in der Heilpäda- Im Hinblick auf die Lockerung der Massnah- gogischen Früherziehung darstellen. Für die men beschrieb knapp die Hälfte der Früher- Studierenden war dies ein interessanter Aus- zieherinnen, dass sie bei den Lockerungs- tausch über das Arbeiten in Coronazeiten an massnahmen ein mulmiges Gefühl hätten und den verschiedenen Standorten und ein nütz- dass vor allem das Einhalten der Abstandsre- licher Ausflug in die Methode der Befragung. gel schwierig umzusetzen sei. Eine Teilneh- Wir danken allen Befragerinnen und Befrag- merin fragte sich, ob eventuell überreagiert ten. Autorinnen Co-Autorinnen Verena Becker Natalie de Groot Claudia Ermert Sarah Wabnitz Donata Gentinetta Dr. phil., Dozentin, Lehrbeauftragte Antje Linn Professur für Berufs- Professur für soziales Michelle Plüss praktische Studien und Lernen unter erschwerten Stephanie Riss Professionalisierung Bedingungen Cassandra Schneider Claudia.ermert@fhnw.ch Sarah.wabnitz@fhnw.ch Fabienne Strebel FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
22 Blick in die Praxis #hfeinzeitenvoncorona Wir haben für die Familien, die das ge- le, Ball, Perlen zum Auffädeln, Regelspiele, wünscht haben (insbesondere Familien, Hämmerlispiel, Briobahn, Duplo etc. Je die selber zu Hause nur wenig Spielmateri- nach dem, was dem Entwicklungsstand al haben oder froh waren um ganz konkre- des Kindes entsprach (inkl. Mitdenken der te «Spielideen»), je eine IKEA Tasche mit Geschwister) und was direkt, ohne grosse unterschiedlichem Spielmaterial gepackt Erklärungen, von der Familie umgesetzt – Knete, Bücher, Stift/Leim/Schere, Puzz- werden konnte. FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
Blick in die Praxis 23 Die Taschen haben wir den Familien nach haben mir Videos geschickt, wie die Kinder Hause gebracht. Während dem Lockdown mit dem Material spielen. Ich fand es sehr habe ich mich dann oft mit Videotelefonge- bereichernd und spannend zu sehen, wie ein- sprächen mit den Eltern ausgetauscht, wie das zig durch das Material, ohne meine direkte für sie geht oder was sie noch bräuchten. Anwesenheit, gewisse Familien viel mehr ins Handeln und selber ausprobieren gelangten, Zum Teil habe ich via Videotelefonie dann als wenn ich vor Ort bin. Ich konnte zum Teil zum Beispiel auch Bilderbücher mit den Kin- ganz neue Kompetenzen in den Familien ent- dern direkt angeschaut. Oder aber die Eltern decken! FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
24 Autismus «Projektaufbau und Durchführung einer inklusiven Spielgruppe am Früherziehungsdienst des Kantons Bern Regionalstelle Thun» in Anlehnung an das von Frau Prof. Ph. D. Pamela Wolfberg entwickelten IPG-Modell («Integrated Play Groups») Eva-Maria Lütolf Kinder mit ASS kommunizieren, gehalten werden. Dies geschieht u.a. aus ei- interagieren mit neurotypischen Kindern. nem Unverständnis für eine adäquate Unter- stützung. «Das IPG-Modell zeichnet sich Das IPG-Modell ist ein evidenzbasiertes durch ein umfassendes, kompetenzbasiertes Vorgehen, welches Kindern mit ASS in Curriculum aus, das auf aktueller, evidenzge- ihrer sozialen Entwicklung unterstützt. stützter Theorie und Forschung basiert.» Durch das gemeinsame Spiel mit neuroty- (Wolfberg, 2003; 2009; Wolfberg et al., 2015). pischen Kindern (d.h. Kinder, die sich der «Die Wurzeln dieses Modells liegen in der Norm entsprechend entwickeln) in einer soziokulturellen Theorie. Vygotsky (russischer inklusiven Umgebung wird ein Lernpro- Psychologe) betont die Bedeutung des Spiels, zess beiderseits initiiert. Gerade für Ge- das die kindliche Entwicklung sowohl wider- schwisterkinder von Kindern mit ASS bie- spiegelt als auch vorantreibt. Lernen findet tet die Spielerfahrung im Rahmen der IPG immer in sozialer Interaktion und im Bereich eine grosse Bereicherung im Umgang und des nächsten Entwicklungsschrittes (sog. «Zo- gemeinsamen Austausch. ne der nächsten Entwicklung», ZNE) statt. Diese definiert er als «die Distanz zwischen Bereits in den späten Achtzigerjahren führten dem momentanen Entwicklungsstand, der Adriana Schuler (1947 – 2011) und Pamela über eigenes Problemlösen bestimmt wird Wolfberg ein Forschungsprojekt an der San und dem Stand der potentiellen Entwicklung, Francisco State University durch, das zu der der über das Problemlösen mithilfe Erwach- Entwicklung von Integrierten Spielgruppen sener oder in Kollaboration mit fortgeschrit- führte. Es ist eine Methode, die für die beson- tenen Gleichaltrigen erreicht wird» (Wolfberg deren Bedürfnisse von Kindern mit ASS ent- 2019, S. 25, zitiert nach Vygotsky, 1978, S. 86). wickelt wurde. Das IPG-Modell entstand aus Rogoff baut darauf auf und betont das Kon- Sorge um alle Kinder, die wichtige Spielerfah- zept der geführten Teilnahme: «Hiernach ler- rungen verpassen, aus der Folge sozialer De- nen und entwickeln sich Kinder durch die privation, da sie häufig von Gruppen Gleich- Herausforderung und Hilfe anderer Kinder mit altriger und zugehörigen Spielkulturen fern- unterschiedlichen Fähigkeiten während sie FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
Autismus 25 sich mit einer kulturell geschätzten Aktivität und damit Fähigkeiten für Beziehungen, (in diesem Fall Spiel oder andere kreative Be- Kommunikation, Spiel und Fantasie fördert. schäftigung) beschäftigen. Anfänger und Ex- perten lernen und profitieren also voneinan- Grundvoraussetzung zur Inklusion in eine der, während sie sich mit ihren selbstgewähl- Gruppe sind neurotypische Kinder (Spielex- ten Aktivitäten beschäftigen». (Wolfberg, 2019, perten) und Kinder mit Autismus (Spielanfän- S. 26). ger) Ziele des IPG-Modells Methoden der Intervention im IPG-Modell – Entwicklung einer optionalen Motivation Zentrum des Geschehens ist die geführte Teil- von Kindern mit Autismus inklusiv mit nahme, welche eine Integration in die Gruppe Gleichaltrigen zu spielen und Beziehungen ermöglicht durch: aufzubauen – Fördern der Spielinitiative – Erweiterung der Fähigkeiten: Kommunika- – Scaffolding im Spiel tion, Spiel und Fantasie sowie Beziehungs- – Führen der sozialen Kommunikation aufbau bei Kindern mit ASS – Führen des Spiels in die ZNE – Neurotypische Kinder: Entwicklung der (Zone der nächsten Entwicklung) Empathie, des Verständnisses und Akzep- tanz Fördern der Spielinitiative: – Spielexperten (neurotypische Kinder) und Die Spielinitiative wird insbesondere geför- Spielanfänger (Kinder mit ASS) sollen ins dert, in dem wir beobachten, welche Vorlie- gemeinsame Spiel kommen, um voneinan- ben das jeweilige Kind zeigt. Dies ist unser der zu lernen ohne oder nur mit wenig Un- Ausgangspunkt / Sprungbrett für interaktive terstützung des Erwachsenen Spielereignisse. Das bedeutet ein Erkennen, – Der Erwachsene hat die Position des Beob- Interpretieren und Reagieren auf jeden Ver- achters. Er geht auf die individuellen Be- such. dürfnisse des Einzelnen und der Gruppe ein und bietet Verständnishilfe in Vermittlung Scaffolding im Spiel: und Kommunikation (sogen. Scaffolding). Hier geht es zu jeder Zeit um das genaue Er- kennen der besonderen Interessen, Fähigkei- Struktur der IPG ten und Bedürfnisse der einzelnen Teilnehmer. – Die Gruppe wird von einem qualifizierten «Die Kunst des Scaffoldings» besteht darin, Erwachsenen geleitet und moderiert genau zu wissen, wann es nötig ist sich ein- – Jede IPG wird individuell für das Kind mit zumischen oder zurückzuziehen. Es bedarf Autismus geplant und stellt einen Teil seines einer Balance, die zu lockeres und zu auf- Erziehungs- und Therapieprogramms dar. dringliches Verhalten vermeidet, so dass sich Die Aktivitäten variieren mit dem Alter und das Spiel so natürlich wie möglich entfalten den Interessen der Kinder und verlaufen kann». (Wolfberg, 2019). Der – Die geführte Teilnahme ist eine intensive Leiter übernimmt sozusagen die Rolle des Re- Intervention, die wechselseitige Interaktion gisseurs/Coach/Translators und zieht sich in FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
26 Autismus dem Augenblick wieder zurück, sobald die «Durch die langjährige Erfahrung der Durch- Kinder in den Spielablauf finden. führung von Spielgruppen am Früherzie- hungsdienst sowie spezifischer Ausbildungen Führen der sozialen Kommunikation: zur ASS-Thematik und Kompetenzerwerb der Diese Methode richtet sich sowohl an Spie- unterschiedlichen Methoden (IS, Affolter, lexperten als auch an Spielanfänger. Das Ziel TEACCH, Marte Meo) entschlossen wir uns, dieser Methode ist das Wahrnehmen von ver- nach der Teilnahme eines Autismus Kongres- baler und nonverbaler Sprache, diese zu in- ses in Karlsruhe DE eine speziell ausgerichte- terpretieren und aufeinander zu reagieren. te integrative Spielgruppe beim Früherzie- Unterstützungshilfen bieten hier vor allem hungsdienst des Kantons Bern, Regionalstelle Piktogramme, Fotos oder UK (unterstützende Thun als Projekt durchzuführen. Dabei wur- Kommunikation = Gebärden). den wir im Verlauf des Kongresses aufmerk- sam auf das Buch von Pamela Wolfberg «Ler- Führen in die nächste Zone nen von Spiel und Beziehungen zu Gleichalt- der Entwicklung (ZNE): rigen: Integrierte Spielgruppen», dessen Inhalt Ziel dieser Methode ist, Spiel und soziale Ent- uns Leitfaden bei der Planung und Umsetzung wicklung von Kindern mit Autismus zu maxi- des Projekts war. Bei der Realisierung unseres mieren. Dies ist eine Notwendigkeit, um sich Vorhabens wurden wir sehr unterstützt durch in ein gemeinsames Spiel zu vertiefen. Esther Koller Stuber (Geschäftsleiterin) sowie Anfänglich stehen hier die Proximität und das die Regionalleitung des FED Thun, Kerstin Aushalten einer weiteren Person im Raum. Olshausen Urech.» Blickverhalten und beobachten anderer Per- sonen ist die nächste Stufe der Entwicklung. Planungsphase Es folgen parallele Aktivitäten (das Spiel ne- Konzepterstellung: beneinander), soziale Reaktionen (das Spiel Die IPG fördert den Austausch zwischen Kin- aufeinander) teilen und Kooperation (das Spiel dern mit ASS und deren Geschwistern im Al- miteinander), die soziale Initiative, das Ab- ter von 3,0 – 5,0 Jahren mit den Zielen der wechseln und Einhalten von Regeln. Förderung der Spielinitiative, der sozialen «Dem Kind soll auf seinem Entwicklungsni- Kommunikation sowie der Interaktion. veau begegnet werden, um es dann ein wenig Damit jedes Kind in seiner aktuellen Entwick- über seinem Niveau – also in der «ZNE» zu lungszone angesprochen wird und eine indi- fördern» (Wolfberg, 2019, S. 71). viduell darauffolgende Zone erreicht werden kann, sind Videoaufnahmen während des Projektumsetzung einer integrierten Spiel- Spielgeschehens sowie Vorbereitung und gruppe des Früherziehungsdienstes des Kan- Nachbereitung mit individueller Planung in tons Bern, Regionalstelle Thun nach dem einer zunächst reizarmen Umgebung von IPG-Modell in Zusammenarbeit mit Eva-Ma- grosser Bedeutung. ria Lütolf und Barbara Jaegle, Früherzieherin- Teilnehmer einer IPG sind 2 Spielanfänger nen am Früherziehungsdienst des Kantons (betreute Kinder des Früherziehungsdienst), Bern Zweigstelle Thun: 2 Spielexperten (Geschwisterkinder der FORUM Mitgliedermagazin des BVF, 3/2020
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