Umschriebene Entwicklungsstörungen - Prof. Dr. med. Michael Günter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie - Klinikum Stuttgart

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Umschriebene Entwicklungsstörungen - Prof. Dr. med. Michael Günter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie - Klinikum Stuttgart
Umschriebene Entwicklungsstörungen

Prof. Dr. med. Michael Günter
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

 Sommersemester 2021
Umschriebene Entwicklungsstörungen - Prof. Dr. med. Michael Günter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie - Klinikum Stuttgart
Definition
  Umschriebene Entwicklungsstörungen

  Isolierte und umschriebene Funktionsstörungen, die zu einer erheblichen
  Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung führen,
  deren Grundlage im Wesentlichen eine Funktionsstörung des
  Zentralnervensystems ist, die zu einer Störung der Wahrnehmung und/oder
  Informationsverarbeitung führt, die nicht durch eine allgemeine
  Intelligenzminderung oder neurologische Störung bedingt sind.

  Teilleistungsstörungen

   „Leistungsminderungen einzelner Faktoren oder Glieder innerhalb eines
  größeren funktionellen Systems, das zur Bewältigung einer komplexen
  Anpassungsaufgabe erforderlich ist“ (Graichen 1973)
  (bezieht sich auf Vygotsky und Luria)

                                      © Prof. Dr. Michael Günter 2021
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Modelle von Funktionsschemata

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Modelle von Funktionsschemata
                                 Schematische
                                 Darstellung
                                 der an der
                                 Verarbeitung
                                 sprachlicher Elemente
                                 beteiligten
                                 Funktionsbereiche
                                 (nach Lempp)

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Teilleistungsbereiche nach Graichen

Sensomotorische Orientierung
- Aufmerksamkeit, Koordination, Diskrimination, Erregbarkeit/Alertness,
   Orientierung, Raumlage
Informationsaufnahme
- Leseverständnis, Hörverständnis, sozio-emotionales Verständnis,
   Figur-Hintergrund-Differenzierung
Gedächtnisprozesse (Kurzzeit, Langzeit, episodisch, deklarativ)
Integration und Verarbeitung
- Lautsynthese, Geschwindigkeit auditiver Wahrnehmung, visuelle
   Vorstellung (Gestaltassoziation und –integration)
Ausdruck (über Motorik)
- Affektäußerung, Gestik, Mimik, Sprechen, Schreiben, Zeichnen etc.

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Ursachen, neuropsychologische und
aufrechterhaltende Faktoren bei UE
Biologische      Neuropsychologische           Psychosoziale
Faktoren         Funktionsstörungen            Einflüsse
                 Sensomotorik                  Familiäre Belastung /
                                               Mangelnde Anregung
Genetische       Wahrnehmungs-
                                               Lehrer-Kind-
Prädisposition   organisation                  Beziehung / Didaktik
                 Integration
Schädigung des                                 Psychische Störung
ZNS              Gedächtnis
                                               Peer Group
                 Exekutive Funktion            Integration
Hirnreifung
                 Steuerung                     Frustration / Unlust

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Einteilung der UE

   Auditiv-sprachliche UE
   - ca. 7%, Schulalter
   - LRS (F81.0)
   - Dyskalkulie (F81.2)

   Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der
   Sprache
   - Rezeptive Sprachstörung (F 80.1)
   - Expressive Sprachstörung (F 80.2)
   - Sprechstörungen (Stottern, Poltern) (F98.5, F98.6)
   - Sprachentwicklungsstörungen (Dyslalie, Dysgrammatismus)
     (F80.0,)

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Einteilung der UE

  Visuo-motorische UE
  - ca. 5%, Kindergartenalter
  Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (F82)
  - spezifische sensomotorische Entwicklungsverzögerung/motorische
    Ungeschicklichkeit (häufig)     Gesamtkörperkoordination,
    Feinmotorik, Diadochokinese, sequentielle Muster
  - spezifische dyspraktische Störungen (Apraxie, Dyspraxie)
    ideomotorische: isolierte Bewegungsabläufe gestört,
    ideatorische: Bezug zum Objekt gestört (sehr selten) man erkennt
    das Objekt, aber weiß nicht, wie es praktisch verwendet wird
  nicht motorische UE:
  - Agnosie (selten) man erkennt das Objekt nicht

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Einteilung der UE

 Taktil-kinästhetische UE

 - Raumlagelabiliät

 - räumliche Orientierung (z.B. Rechts-Links)               Bedeutung für LRS

 - Tiefensensibilität

 - Körperschemastörung

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LRS - Legasthenie

   Definition

   - normale Intelligenz, IQ > 70 (keine relevante
   Beeinträchtigung)
   - Lese-/Rechtschreibleistung deutlich eingeschränkt
   gegen Klassennorm (Prozentrang = 1,5 SA unter
   Intelligenz)

   - ca. 4% der Kinder
   - Jungen: Mädchen ca. 2:1

                                   © Prof. Dr. Michael Günter 2021
LRS - Legasthenie
     Symptome Lesestörung

     - Auslassungen, Ersetzungen, Verdrehungen, Hinzufügungen von
       Worten oder Wortteilen

     - Vertauschen von Buchstaben oder von Wörtern im Satz

     - niedrige Lesegeschwindigkeit

     - Startschwierigkeiten beim Vorlesen

     - Verlieren der Zeile im Text

     - ungenaues Phrasieren

     - Schwierigkeiten im sinnentnehmenden Lesen

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LRS - Legasthenie

 Symptome Rechtschreibstörung
 Rechtschreibfehler

 - Verdrehungen von Buchstaben (b-d, p-q, u-n)
 - Reihenfolgefehler, Umstellung der
   Buchstabenfolge (z.B. Marsuk statt Markus)
 - Auslassen oder Einfügen von Buchstaben
 - Regelfehler (Dehnungsfehler,
   Groß-/Kleinschreibung)
 - Verwechslung von b-p, d-t, g-k
   (Wahrnehmungsfehler)
 - Schreiben nach Lautsprache
 - Fehlerinkonstanz!

             12jähriger Junge mit LRS, der wegen ADHS,
             oppositionellen und aggressiven Verhaltens
             in die Klinik eingewiesen wurde.

                                              © Prof. Dr. Michael Günter 2021
LRS - Legasthenie

   Ursachen - Ätiologie - Risikofaktoren
   - Auditive Verarbeitungsstörungen
   - Visuelle Verarbeitungsstörungen

   - Phonologische Bewusstheit, zentrale sprachliche Informationsverarbeitung
   - Augenfolgebewegungen?
   - zentrale Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen
   - ??Raumlagelabilität
   - Sprachentwicklungsverzögerung

   - soziales Mangelmilieu, Lesesozialisation
   - sekundäre Aversivreaktionen

   - Genetische Komponente
   - Hirnschädigung

                                       © Prof. Dr. Michael Günter 2021
Dyskalkulie

   Symptome

   - Probleme in den Grundrechenarten
   - Verständnis, Benennen mathematischer Begriffe, Operationen, Konzepte
   - Dekodieren von Textaufgaben in mathematische Fragestellungen/Symbole
   - Erkennen und Lesen von Zahlen, arithmetischen Zeichen
   - Aufmerksamkeit, „Flüchtigkeitsfehler“
   - Ausführen von mathematischen Schrittfolgen, Erlernen des Einmaleins

   2 Untertypen

   - primär ist die Zahlensemantik betroffen, d.h. die Fähigkeit, Zahlen- und
     Mengenrelationen zu visualisieren und mentale Schemata einfacher
     Rechenprozeduren zu erzeugen
   - primär Probleme im sprachlichen und/oder Symbolisierungscharakter
     (arabischer) Zahlen bzw. in der Merkfähigkeit für Zahlen

                                          © Prof. Dr. Michael Günter 2021
F95 Ticstörungen
Definition:
Ein Tic ist eine unwillkürliche, rasche, wiederholte, nichtrhythmische
Bewegung meist umschriebener Muskelgruppen oder eine Lautproduktion, die
plötzlich einsetzt und keinem erkennbaren Zweck dient.

- als nicht willkürlich beeinflussbar erlebt, sie können jedoch meist für
  unterschiedlich lange Zeiträume unterdrückt werden. Belastungen können
  sie verstärken
- während des Schlafens verschwinden sie
- Häufige einfache motorische Tics sind Blinzeln, Kopfwerfen, Schulterzucken
  und Grimassieren
- Häufige einfache vokale Tics sind z.B. Räuspern, Bellen, Schnüffeln und
  Zischen
- Komplexe Tics sind Sich-selbst-schlagen sowie Springen und Hüpfen.
  Komplexe vokale Tics sind die Wiederholung bestimmter Wörter und
  manchmal der Gebrauch sozial unangebrachter, oft obszöner Wörter
 (Koprolalie) und die Wiederholung eigener Laute oder Wörter
 (Palilalie).                                  © Prof. Dr. Michael Günter 2021
Phänomenologie der Ticstörungen

Einfache          Komplexe          Einfache vokale                   Komplexe vokale
motorische Tics   motorische Tics   Tics                              Tics

Naserümpfen       Schlagen          Nase hochziehen,                  Pfeifen
Grimassieren      Kniebeugen        Schniefen                         Echolalie
Kopfschütteln     Stampfen          Räuspern                          Schreien
Schulterrucken    Hüpfen            Hüsteln                           Singen
Augenblinzeln,    Springen          Rülpsen                           Koprolalie
Zwinkern          Kreisende         Grunzen
Stirnrunzeln      Bewegungen        Bellen
Zähneknirschen    Echopraxie        Schmatzen

                                    © Prof. Dr. Michael Günter 2021
Einteilung der Ticstörungen

                         Beginn      Dauer            Symptome                                Verlauf

Vorübergehende           Vor dem     Mind. 4 Wo bis   Einzelne oder komplexe muskuläre        Fluktuierend,
Ticstörung (F95.0)       18. LJ      max. 1 Jahr      und/oder vokale Tics                    Tägl. Auftreten, häufig

Chronisch-motorische     Vor dem     Länger als 1     Multiple motorische und/oder vokale     Tics treten mehrmals täglich
oder vokale Tic-         18. LJ      Jahr             Tics (getrennt oder gemeinsam           auf oder intermittierend über
Störung (F95.1)                                       auftretend                              mehr als 1 Jahr

Gilles-de-la-Tourette-   2.-18. LJ   Viele Jahre,     Multiple (motorische und) vokale Tics   Fluktuierend, in frühen
syndrom (F95.2)*                     häufig bis ins                                           Stadien nicht von chron.
                                     Erwachsenen-                                             Multiplen Tics
                                     alter                                                    unterscheidbar

* Heute werden oft schon vokale Tics als Tourette-Syndrom bezeichnet

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Komorbidität der Ticstörungen

                                          ca. %
     - ADHS                               60
     - Zwangsstörung                      30
     - Störung des Sozialverhaltens       15
     - umschriebene Entwicklungsstörungen 25
     - Depression                         20
     - Angststörungen                     20
     - Selbstverletzendes Verhalten       15
     - Stottern                           10
     - keine                              15!

                              © Prof. Dr. Michael Günter 2021
Prof. Dr. med. Michael Günter

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Klinikum Stuttgart

Zentrum für Seelische Gesundheit
Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin – Olgahospital (kooptiert)

Prießnitzweg 24
70374 Stuttgart

E-Mail: m.guenter@klinikum-stuttgart.de

© 2021 – Prof. Dr. med. Michael Günter
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