UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...

 
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UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
20/2021
UNERHÖRT   Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern
UNBEACHTET   Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf
UNGLAUBLICH   Inklusive TanzKompanie zeigt, wie Inklusion gelingen kann
UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
Der gute Samariter
Rembrandt Harmenszoon van Rijn, nach 1633

Dann kam ein Mann aus
Samarien, der auf der Reise
war. Als er ihn sah, hatte er
Mitleid, ging zu ihm hin,
goss Öl und Wein auf seine
Wunden und verband sie
Lukas 10, 33/34
UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
EDITORIAL

                        Liebe Leserinnen und Leser,
wieder ein Magazin. Und wieder in der Corona-Pande-           Worte vorbei rauschen lassen, ist das eine. Nicht hören
mie. Dennoch wieder kein Corona-Magazin. Obwohl               können als Teilhabe-Hürde ist etwas ganz anderes. Wun-
es da viel zu sagen gäbe. Kolleg:innen, die jetzt fast 20     derschön auch die Reportage aus der „Leichte-Sprache-
Monate im Ausnahmezustand arbeiten und so viel dafür          Werkstatt“ der Samariterstiftung (→ S. 10) und die
tun, dass trotzdem Normalität spürbar wird im Leben           Weihnachtsgeschichte in leichter Sprache (→ S. 25). Ein
der Klient:innen und Bewohner:innen. Haufenweise              wirklich berührendes Beispiel, wie Sprache mitnehmen
Sehnsucht nach Normalität. Es muss ja nicht alles wieder      (oder eben auch ausschließen) kann. Vielleicht ist ja
sein wie vor der Pandemie, aber die Rückkehr der so-          gerade die Weihnachtsgeschichte eine sehr besondere
zialen Kontakte, der unbeschwerten Begegnungen, der           Synthese von Hören (oder Lesen) und (innerem) Sehen.
Kultur, der gemeinsamen Feste, diese Normalität des           Innere Bilder entstehen aus Worten, die vertraut sind
Zwischen-Menschlichen, diese Normalität unbedingt             oder hörend berühren und sich vertraut machen. Die
schon. In diesem Sinne wird dann natürlich auch in            Erzählung malt das Bild sozusagen in mich hinein, das
einem Magazin ohne den Schwerpunkt Corona sichtbar            Kind in der Krippe wird Teil meines Lebens-Bildes. So
und hörbar werden, was in der Samariterstiftung und in        wie (nur) ich es sehe.
der Gesellschaft getan wurde, um die pandemische Zeit
gut oder zumindest doch menschlich zu durchmessen.            Dazu kommt ein Interview mit Herbert Rösch. Gesehen
                                                              wurde die Not, in Ostfildern bezahlbaren Wohnraum für
In diesem Magazin wird es um „Sehen und Hören“                Kolleg:nnen zu finden, die dort in den beiden Samariter­
gehen. Um „Sehen und Hören“, das Resonanz erzeugt             stiften arbeiten. Der Wahrnehmung folgte das Nach-
und durch dieses „Resonanzgeschehen“ zum Handeln              denken und schließlich schritt die Gradmann-Stiftung
führt. Für mich ist da Betroffenheit immer noch ein           zur Tat: Gebaut wurde ein Wohnhaus für Pflegekräfte
guter Begriff. Der Weg vom Sehen (oder Hören) zum             mitten in Ruit, das „Haus Liselotte“ (→ S. 12)! Im Hospiz
Tun führt über die Betroffenheit, über die (kognitive         in Münsingen entsteht ein Raum der Stille. Ins Werk
oder emotionale) Erkenntnis: Das geht mich (jetzt und         gesetzt wird er von Martin Burchardt aus Tübingen.
hier) etwas an. Das ist auch einer der Kernpunkte un-         Ein Raum, der still ist und still macht. Ein Raum der
serer namensgebenden Geschichte, des Gleichnisses             Besinnung, des Über-sich-hinaus-Denkens. Ein Raum,
vom Barmherzigen Samariter. Einer braucht Hilfe, ein          der behütet und der etwas zu sagen hat auf dem Weg
fremder Mensch. Zwei sehen (!) und gehen weiter. Einer        des Sterbens (→ S. 20).
sieht und ist betroffen und handelt. Zwei sehr grund-
sätzliche Möglichkeiten, die wir Menschen sehr, sehr oft      Es gibt ein schönes italienisches Sprichwort: „Zwischen
haben. Wegsehen oder hinsehen. Sagen, das geht mich           Reden und Tun liegt das Meer“. Vielleicht gilt das ja auch
nichts an oder sagen, das geht mich was an. Handeln           für das Sehen (und das Hören): „Zwischen dem Sehen
oder weitergehen. Jesus positioniert sich im Gleichnis        und dem Tun liegt das Meer“. In diesem Sinne wünsche
eindeutig. Hinsehen, wahrnehmen und wahr sein lassen,         ich uns einen guten Kompass und mit Leidenschaft für
handeln – das ist zukunftsfähig. Einfach ist es eher nicht.   das Leben gefüllte Segel. Damit wir handlungsfähig
                                                              bleiben. Damit uns Hören und Sehen nicht vergehen.
Dieses Magazin erzählt vom Sehen, vom Hören, vom Tun.         Damit wir die vielfältigen Möglichkeiten unseres Lebens
Wie wichtig das Hören ist, zeigt das Interview mit Andrea     allenthalben und allerorten erspähen und erlauschen!
Gurr zu Schwerhörigkeit im Alter (→ S. 6). Weghören,          Viel Freude beim Lesen. Lassen Sie sich inspirieren!

                               Frank Wößner                   Sabine von Varendorff
                               Vorstandsvorsitzender          Redaktionsleitung

          SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
Hör mir zu
                                   Im Alter schwer zu hören,
                                   kann einsam machen.
                                   Die Folgen von Presbyakusis
                                   Seite 6

Farbe gibt Sicherheit
und Identität
Beim Umbau des Samariterstiftes
Gärtringen wird ganz gezielt auf
ein differenziertes Farbkonzept
gesetzt
Seite 15

                                       Eine schönere Welt
                                       Inklusive TanzKompanie stellt
                                      „Renaissance“ vor und zeigt
                                       mit dem Stück, wie vielfältig
                                       Leben sein kann
                                       Seite 22
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INHALT

6   ZU GAST                                      31 MENSCHEN
    HÖR MIR ZU                                      MIT DURCHBLICK GELINGT
    Im Alter schwer zu hören, kann einsam           ALLES BESSER
    machen. Die Folgen von Presbyakusis             Mobile Optiker-Tage helfen den
                                                    Menschen in Pflegeeinrichtungen
10 WIR
   DEUTSCHE SPRACHE SCHWERE SPRACHE              33 MENSCHEN
   Das Übersetzungsbüro für Leichte                 IST ES NOCH HELL?
   Sprache macht die traditionelle                  Ein Gespräch mit der Theologin
   Weihnachtsgeschichte für alle verständlich       Susanne Krahe über sehende Blinde
                                                    und blinde Sehende
12 HELFEN
   „WIR HABEN EINFACH GEHANDELT“                 35 WIR BEWEGEN
   Gradmann-Stiftung schafft mit Haus               Die Stiftung findet gute Wege
   „Liselotte“ neuen Wohnraum für Pflegekräfte      in Krisenzeiten

14 HELFEN                                        37 TERMINE
   EINE GUTE BEZIEHUNG
   Rebecca Gruel wohnt im Haus „Liselotte“
   und liebt dessen Kanten

15 THEMA                                                  DIE STIFTUNG
   FARBE GIBT SICHERHEIT UND IDENTITÄT                    ZEIT FÜR MENSCHEN
   Beim Umbau des Samariterstiftes Gärtringen             PRÄSENTIERT:
   wird ganz gezielt auf ein differenziertes
                                                          Einblick
   Farbkonzept gesetzt
                                                          Ausstellung in Münsingen klärt auf
18 THEMA
                                                          Ausblick
   FARBWAHL LÄSST SICH LERNEN
                                                          Andreas Schlegel ist neuer
   Andrea Schäfer, Farbdesignerin,
                                                          ZfM-Geschäftsführer
   über die stärkende Kraft von Farben

20 HELFEN
   EINE PREDIGT FÜR DIE AUGEN
   Martin Burchard gestaltet Räume mit Kunst,
   die christliche Botschaften sichtbar macht
                                                                                                                                      20/202 1

22 MENSCHEN                                                            AUSBL ICK
                                                                                      EINBL ICK Ausstellung
                                                                                   Andreas Schlegel ist
                                                                                                             in Münsingen klärt auf
                                                                                                        neuer ZfM-Geschäf tsführ
                                                                                                                                 er

   EINE SCHÖNERE WELT
   Inklusive TanzKompanie stellt „Renaissance“
   vor und zeigt mit dem Stück, wie vielfältig
   Leben sein kann

25 DIE WEIHNACHTS-GESCHICHTE
   IN LEICHTER SPRACHE
   Zum Heraustrennen im Innenteil

29 ZU GAST
   HINSEHEN UND HANDELN
   Professor Christopher Osterhaus
   über die Dimensionen von Mitgefühl

    SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
Im Alter schwer zu hören,
 kann einsam machen.
 Die Folgen von Presbyakusis

Hör mir zu
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ZU GAST

                                                           Ist Schwerhörigkeit im Alter zwangs­läufig oder
                                                           lässt sich das verhindern?
                                                           AG: Zunächst muss ich klar feststellen, dass Alters-
                                                           schwerhörigkeit keine Erkrankung, sondern ein ganz
                                                           normaler Alterungsprozess ist. Unterschiedliche Grün-
                                                           de kommen als Ursache in Frage, doch dazu gibt es noch
                                                           wenige Forschungen. Bekannt ist, dass Männer erstens
                                                           früher und zweitens öfter davon betroffen sind. Das
                                                           kann daran liegen, dass sie häufiger in Arbeitsumge-
                                                           bungen tätig sind und waren, wo es sehr laut zugeht.
                                                           Außerdem leben Frauen häufig gesünder als Männer,
                                                           essen regelmässiger und achten besser auf sich. Das
                                                           Altern aufhalten zu wollen, ist eine Sisyphusaufgabe.
                                                           Nur prophylaktisch kann ich Vorsorge treffen und
                                                           mein Ohr schützen. Der Mensch hört üblicherweise            7
DIE FRAGEN STELLTE Sabine von Varendorff                   Geräusche von dumpfem Gepolter bis hin zu hohen

W
                                                           Pfeiftönen und Lautstärken von 0 bis 120 Dezibel (dB).
            ir hören bevor wir sehen, und wenn wir         Töne im Bereich bei 0 bis 20 dB sind sehr leise Töne, wie
            nicht mehr sehen können, hören wir immer       etwa Flüstern oder Blätterrauschen. 20 bis 40 dB sind
            noch – der Hörsinn ist der differenzierteste   bereits gut zu hören, wie das Weckerticken. Die normale
all unserer fünf Sinne. Das Ohr verarbeitet mehr als       Gesprächslautstärke liegt bei etwa 40 bis 60 dB. Das
doppelt so viele Sinneseindrücke wie das Auge. Die         Fluggeräusch eines Düsenjets am Himmel liegt bei rund
Hörschnecke kann 7.000 verschiedene Tonhöhen               120 dB. Für Menschen mit einem guten Gehör liegt die
auseinanderhalten. Manche Menschen können bis auf          Schmerzgrenze bei etwa 130 dB. Wird es lauter, sollten
zwei Grad genau die Richtung bestimmen, aus der ein        wir uns die Ohren zuhalten.
kurzes Schallsignal kommt. Gutes Hören ist von gro-
ßer Bedeutung für eine hohe Lebensqualität: Sich mit
Freunden und der Familie austauschen, Musik genießen,
die Klänge der Natur erleben oder bei einem Fernseh­
                                                             „Wie kostbar der Hörsinn ist,
abend entspannen – all das sind Momente im Leben,             wird uns erst bewusst, wenn
die untrennbar mit gutem Hören verbunden sind. Der
Hörsinn dient Menschen außerdem zur Orientierung
                                                              mit ihm etwas nicht stimmt.“
und alarmiert uns bei Gefahren, beispielsweise bei Hu-
pen im Straßenverkehr. Was passiert, wenn Menschen         Wir haben jetzt über den „biologischen“ Vorgang
am Leben teilhaben möchten, aber nicht mehr gut            gesprochen. Was bedeutet jedoch Hören?
hören können? Das magazin hat darüber mit Andrea           AG: Die menschliche Orientierung läuft auch über
Gurr, Sozialpädagogin und Erzieherin, gesprochen,          das Hören. Mit dem Gehör verbinden wir uns mit der
denn als Autorin des Buches Altersschwerhörigkeit als      Außenwelt. Für unsere Sprache brauchen wir das Hö-
besondere Herausforderung der Sozialen Arbeit, ist sie     ren. Ohne Sprache können wir nicht denken. Wenn
Expertin mit Zusatzwissen aus der praktischen Arbeit.      wir nicht hören, was das Gegenüber sagt, können
                                                           wir mit ihm nicht in Kontakt treten. Der Hörsinn ist
Magazin: Was war Ihr erster Eindruck, als Sie 2009         die scheinbar natürlichste Selbstverständlichkeit der
anfingen, sich mit dem Thema „Hören im Alter“ zu           Welt. Dank ihm können wir mit anderen Menschen
beschäftigen?                                              interagieren, das Leben genießen und sicher durch
Andrea Gurr (AG): Ich war erschüttert, wie wenig Be-       den Alltag navigieren. Wie kostbar der Hörsinn ist,
achtung und Bedeutung dem Hören beigemessen wird.          wird uns erst bewusst, wenn mit ihm etwas nicht
Wir trauen eher unseren Augen als unseren Ohren. Und       stimmt. Dabei ist deutlich zwischen Menschen zu
es gab damals sehr wenige Forschungsarbeiten, die sich     unterscheiden, die von Geburt an hörgeschädigt oder
mit den Folgen von Presbyakusis, also der Altersschwer-    gar gehörlos sind und jenen, die die Hörminderung
hörigkeit, befasst haben.                                  erst im Alter erwerben.

         SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
Viele Menschen, die von Geburt an gehörlos sind,           vorzugehen. Es bedarf aber einer guten Aufklärung und
    erlernen die Gebärdensprache und machen sich so            Begleitung, weil es mit einem Hörgerät nicht wie mit
    verständlich. Ist das eine Alternative für schwer­         einer Brille ist, die aufgesetzt wird und alles ist wieder
    hörige Menschen im Alter?                                  gut. Wer ein Hörgerät tragen möchte, der muss es sehr
    AG: Nein, denn die Deutsche Gebärdensprache (DGS)          gut angepasst bekommen. Zudem ist es wichtig, dass
    ist eine ganz eigene, sehr komplexe Sprache mit einer      das Hören mit einem Hörgerät trainiert wird. Denn es
    eigenen Grammatik. Zudem müsste auch das Umfeld            hört sich anders an, als Hören ohne technische Hilfe.
    DGS können. Umgekehrt entscheiden sich Menschen,           Früher war das Tragen eines Hörgerätes das sichere
    die noch nie gehört haben, auch immer häufiger, sich       Zeichen dafür, dass jemand alt war. Heute bekennen sich
    nicht mehr in die Lautsprache zwingen zu lassen. Diese     immer mehr Menschen ganz frei und offen dazu, dass
    zu erlernen, ist für sie eine Qual.                        sie ein Hörgerät tragen. Auch jüngere. Außerdem sind
                                                               die Geräte heutzutage technisch sehr viel versierter und
    Wie ist festzustellen, dass eine vermin­derte Hör­         filtern Störgeräusche gut weg. Trotzdem, ich höre mit
    leistung vorliegt?                                         Hörgerät völlig anders als ohne – und das muss mein
8   AG: Das können die Betroffenen oft nicht selbst fest-      Gehirn erst lernen.
    stellen, weil der Prozess schleichend ist. Sie können
    zum Beispiel das Vogelgezwitscher nicht mehr hö-           Was bedeutet es für Menschen, schlecht zu hören,
    ren, denn meist verlieren die Menschen die hohen           wenn sie sowieso schon kognitiv abgebaut haben?
    Frequenzen zuerst. Dazu zählen auch Frauen- oder           AG: Sie sprechen von demenziell erkrankten Menschen.
    Kinderstimmen. Sie haben dann häufig das Gefühl,           Nun, wir wissen, dass gerade Menschen mit fortge-
    dass die Menschen um sie herum nuscheln. Angehörige        schrittener Demenz oft durch vertraute Kirchenlieder
    können, wenn sie aufmerksam sind, früher feststellen,      oder ähnliches aus ihrem Entrücktsein geholt werden
    dass etwas nicht stimmt. Wenn mir der Angesprochene        können. Sie sprechen tagelang kein Wort, können aber
    ganz konzentriert auf den Mund schaut oder oft nach-       jede Strophe eines Volksliedes mitsingen. Es ist bekannt,
    fragt, wenn der Fernseher oder das Radio immer lauter      dass unser Gedächtnis bestimmte Geräusche etwa für
    gestellt wird, dann stimmt wahrscheinlich etwas mit        drei Jahre erinnert. Danach sind sie weg, wenn sie
    dem Hören nicht.                                           nicht stetig wiedergehört werden. Das Grillenzirpen
                                                               am Strand, Meeresrauschen oder die Türklingel beim
    Wie sollte dann reagiert werden?                           Brötchenkauf als Kind: Bestimmte Geräusche erinnern
    AG: Ganz sicher nicht, indem einfach lauter gespro-        uns an besondere Orte und Erlebnisse. Sie und die
    chen wird. Probieren Sie es aus. Sagen Sie einmal leise    Emotionen, die sie auslösen, fehlen uns, wenn wir sie
    und dann sehr laut: „Zieh deine Jacke an“. Der laute       nicht mehr hören. Emotional aufgeladene Geräusche
    Satz wirkt, obwohl es dieselben Worte sind, sehr viel
    aggressiver. Außerdem ändert sich der Gesichtsaus-
    druck, wenn ich laut spreche. Ich sehe dann gleich viel
                                                                         TIPPS ZUR KOMMUNIKATION
    böser aus. Ein Hörverlust kann die unterschiedlichsten
                                                                         MIT SCHWERHÖRIGEN
    Bereiche des Lebens erschweren. Soziale Kontakte im
    Privatleben zu halten, wird zur Herausforderung. Das                 • Sätze klar und deutlich formulieren
    kann zu einer sozialen Isolierung führen, wodurch                      und nicht zu schnell sprechen
    ein großes Stück der Lebensqualität verloren geht.                   • Kurze Sätze verwenden, möglichst
    Aktuelle Studien zeigen sogar einen Zusammenhang                       ohne Dialekt
    zwischen unversorgtem Hörverlust, Höranstrengung                     • In normaler Lautstärke sprechen
    und der geistigen Fitness. Deshalb sollte bei einer Hör-             • Nicht ins Ohr flüstern oder rufen
    minderung frühzeitig ein HNO-Arzt oder Hörakustiker                  • Während des Sprechens Blickkontakt
    aufgesucht werden.                                                     halten und für gute Beleuchtung
                                                                           sorgen
    Heißt das, die Versorgung mit einem Hörgerät ist                     • Vor körperlicher Kontaktaufnahme
    die beste Hilfewahl?                                                   optische Signale vereinbaren. Nicht
    AG: Definitv, weil es unbedingt wichtig ist, frühzeitig                einfach ohne Vorwarnung berühren
    gegen den Verlust von Kontakten und Lebensqualität
UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
ZU GAST

                                                                                                                                           hinterlassen stärkere Spuren im Hirn, denn sie aktivie-
                                                                                                                                           ren ein bestimmtes Hirnareal, die Amygdala. Diese ist
                                                                                                                                           immer aktiv, wenn wir starke Emotionen fühlen: auch
                                                                                                                                           bei Angst oder Erregung. Wenn also ein demenziell er-
                                                                                                                                           krankter Mensch schwer oder kaum noch hört, verliert
                                                                                                                                           er damit auch noch diese Art des Erinnerns. Ihm geht
                                                                                                                                           Vertrauen und Sicherheit ins Leben verloren.

                                                                                                                                           Wie merke ich, dass ein demenziell erkrankter
                                                                                                                                           Mensch schwerhörig ist?
                                                                                                                                           AG: Tja, das ist nicht ganz einfach. Oft wird die Schwer-
                                                                                                                                           hörigkeit selbst für Demenz gehalten. Jemand vergisst
                                                                                                                                           eine Absprache, das wird für Vergessen gehalten. In
                                                                                                                                           Wirklichkeit jedoch, hat er einfach nicht gehört, was
                                                                                                                                           er einhalten soll. Solche Missverständnisse führen                            9
                                                                                                                                           dazu, dass weder mit der Schwerhörigkeit noch mit
PRESBYAKUSIS ist der medizinische                                                                                                          der Demenz angemessen umgegangen wird. Sollten da
Fach­­­­b egriff für Altersschwerhörigkeit.                                                                                                Fragen im Raum stehen, dann bitte beide möglichen
Laut Definition beschreibt die Presbyakusis                                                                                                Befunde abklären lassen. Fest steht jedenfalls, dass,
das langsam nachlassende Hörvermögen                                                                                                       wenn Anreize von außen fehlen, das nennt sich fach-
ab dem 50. Lebensjahr. Im Gegensatz zur                                                                                                    sprachlich Deprivation, das Risiko erhöht ist, an Demenz
Schwerhörigkeit, die in jeder Lebensphase                                                                                                  zu erkranken.
auftreten kann, liegt der Altersschwer-
hörigkeit keine Erkrankung zugrunde.                                                                                                       Was kann getan werden, damit Menschen im Alter,
Vielmehr sind es Verschleißerscheinungen                                                                                                   selbst wenn sie schwer hören, nicht in die Isolation
an den Haarzellen des Innenohres sowie                                                                                                     abrutschen?
am Hörnerv und dem Hörzentrum, die zur                                                                                                     AG: Ich plädiere für ein einfühlsames Umgehen mitei-
fortschreitenden Schwerhörigkeit führen.                                                                                                   nander und ein geschärftes Bewusstsein, dass Hören
Zudem hinterlässt die Lärmbelastung der                                                                                                    und vor allem gutes Hören keine Selbstverständlichkeit
Umwelt Spuren. Altersschwerhörigkeit                                                                                                       ist. In vielen Häusern wird beispielsweise schon darauf
wird beschleunigt, wenn andere Faktoren                                                                                                    geachtet, beim Mittagessen nicht unnötig mit Geschirr
wie Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel-                                                                                                      zu klappern oder nicht ununterbrochen den Fernseher
Erkrankungen, erbliche Veranlagung oder                                                                                                    oder das Radio laufen zu lassen, damit sich Menschen
Nikotinkonsum hinzukommen. Der Prozess                                                                                                     besser unterhalten und verstehen können. Solche Maß-
der Altersschwerhörigkeit geht schleichend                                                                                                 nahmen helfen sehr. ■
einher, beginnt – wie bei Schallempfindungs-
störungen charakteristisch – meist mit
dem Hörverlust hoher Frequenzen und dem
Verlust des Sprachverständnisses in einem                      Andrea         Gurr,        Dipl.‐
                                                               Sozialpädagogin,       Erzieherin,

lauten Umfeld (Cocktail-Party-Effekt).                                                                                                       SACHBUCH SOZIALE ARBEIT/ ALTENHILFE
                                                               Jahrgang 1968. „Dieses Buch

                                                                                                                                                                                             BUCHTIPP
                                                               ist an alle adressiert, die in ihrer
                                                               Arbeit oder in ihrem täglichen
                                                               Leben mit Seniorinnen und Se‐

Geräusche werden schneller als schmerz-                        nioren zu tun haben, auch wenn

                                                                                                                                                                                             Andrea Gurr
                                                               im Buch von „Sozialer Arbeit“
                                   gesprochen wird. Dieser Umstand ist der Tatsache geschul‐

haft empfunden, das bedeutet: Die Unbe-
                                   det, dass das Buch auf meiner Diplomarbeit (zur Erlangung
                                   des akademischen Grades Diplom‐ Sozialpädagogin FH, an                                                                               Andrea Gurr
                                   der Hochschule Landshut, University of Applied Sciences‐
                                                                                                                                                                                             Altersschwerhörigkeit
haglichkeitsschwelle wird herabgesetzt. Der
                                   FH) basiert. Der etwas sperrige Titel des Buches weist be‐
                                   reits darauf hin.
                                                                                                                                                      Altersschwerhörigkeit
                                   Im Gespräch mit Pflegedienstleitungen in der stationären
                                   Seniorenarbeit, einer Dozentin an einer Altenpflegeschule
                                                                                                                                                                 als besondere
                                                                                                                                                                                             als besondere
Prozess geht vielfach mit einem konstanten
                                   und mit Altenpflegefachkräften stellte sich aber bald her‐

                                                                                                                                                                                             Herausforderung
                                   aus, dass diese Diplomarbeit auch einen praktikablen Leit‐

                                                                                                                                                       Herausforderung der
                                   faden für den täglichen Umgang mit Seniorinnen und Seni‐

Ohrgeräusch (Tinnitus) einher.
                                   oren mit Altersschwerhörigkeit abgeben könnte. Ich möch‐
                                   te die Leserinnen und Leser ermuntern, dieses Buch als
                                   Einstieg in die Thematik zu verstehen.“
                                                                                  Andrea Gurr                                                                 Sozialen Arbeit                der Sozialen Arbeit
                                                       Altersschwerhörigkeit als
                                                                                                      Andrea Gurr: Altersschwerhörigkeit

                                                                                                                                                                     Mit einem Vorwort von
                                                                               besondere                                                                     Prof. Dr. Clemens Dannenbeck    108 Seiten, 2009, 15.90 €
                                                             Herausforderung der
                                                                       Sozialen Arbeit                                                                                                       ISBN 978-3839123898
                                                                                PRAXIS

                                                                          METHODE
                                                                                                                                                                                  PRAXIS

                                                                                                                                                                               METHODE
                                                                                                                                                                                             Books on Demand
                                                                                 LEHRE                                                                                            LEHRE

      SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
10

     Deutsche Sprache
     Schwere Sprache
     Das Übersetzungsbüro für Leichte Sprache macht die
     traditionelle Weihnachtsgeschichte für alle verständlich

     D
              eutsche Sprache – schwere Sprache!“ So hat    Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten im
              der Schriftsteller Mark Twain vor knapp 200   Übersetzungsbüro in Aalen Hand in Hand. Sie über-
              Jahren über das Deutsche geurteilt, nachdem   setzen Texte wie Informations-Schreiben, Behörden-
     er selbst Europa bereist und Deutsch gelernt hatte.    Schreiben, Falt-Blätter, Verträge oder Vereinbarungen.
     Was ihn am meisten ärgerte, war zum Beispiel, dass     Sie machen dabei aus schwieriger Sprache Leichte
     „jedes Substantiv sein grammatisches Geschlecht hat,   Sprache. Dazu gehören zum Beispiel kurze Sätze, die
     und die Verteilung ohne Sinn und Methode ist. Man      Erklärung von schwierigen Worten und Bilderspra-
     muss bei jedem Substantiv das Geschlecht eigens        che zu schwer verständlichen Textabschnitten. Die
     mitlernen. Um das fertig zu bringen, braucht man       Übertragung von Texten in Leichte Sprache ist nicht
     ein Gedächtnis wie ein Terminkalender. Ein Baum ist    vergleichbar mit Übersetzungen in eine Fremdsprache.
     männlich, seine Knospen sind weiblich, seine Blätter   Die Übersetzer von Leichter Sprache arbeiten zunächst
     sächlich“. Soweit zur Schwere der deutschen Sprache    die Kern­aussage des alltagssprachlichen Textes heraus
     für Nichtdeutsche. Doch unsere Sprache ist nicht nur   und geben diese dann in einfacher, leicht verständlicher
     für Menschen anderer Nationalitäten schwer. Auch für   Form wieder. Dabei lassen sie die Gesichtspunkte, die
     Menschen mit Lernschwierigkeiten, mit demenzieller     nicht zum Ziel führen, weg. Pro Satz wird nur eine Bot-
     Erkrankung, mit Sehbehinderung oder mit geistigen      schaft übermittelt. Es gibt am Ende einer Zeile keine
     Beeinträchtigungen, sind Behörden-Schriftstücke,       getrennten Wörter. Zusammengesetzte Wörter wie
     Gebrauchsanweisungen oder einfach nur die Tages­       Haus-Tür erhalten einen Bindestrich, damit sie besser
     zeitung, ein Buch mit sieben Siegeln. Sie sind von     visuell wahrgenommen werden können. Es wird kein
     einem Teil des alltäglichen Lebens ausgeschlossen,     Genitiv verwendet. Ein langer Text erhält Zwischen-
     weil sie nicht verstehen können, was da geschrieben    überschriften. Für die Leichte Sprache gibt es etliche
     steht. Die Sprachbarrieren müssen fallen! Deshalb      Regeln, wie etwa die Nutzung von kurzen Hauptsätzen
     gibt es das Übersetzungsbüro für Leichte Sprache der   und die Verwendung einfacher, bekannter Wörter.
     Samariterstiftung.                                     Die Schrift muss 14 Punkt haben, heißt: so groß sein,
WIR

dass sie ohne Probleme erkannt werden kann. Sie hat       Sprache informiert. Dadurch, dass viele den Text prü-
keine Schnörkel oder Schlenker. Alle übersetzten Texte    fen, fließen viele unterschiedliche Verständnisprobleme
werden vom Prüfer-Team korrekturgelesen und erst          in die Arbeit ein. „Wir finden alles“, ist sich Carmen
danach freigegeben. So wird in Aalen ein besonderer       Scheerer sicher. Wenn trotz größter Mühen noch Er-
Qualitätsstandard eingehalten, der für Leichte Sprache    klärungsbedarf besteht, wird ein Bild zum Wort dazu
nicht selbstverständlich ist.                             gewählt. Übrigens ist zwischen Leichter Sprache und
                                                          Einfacher Sprache ein großer Unterschied. Leichte
Eine Sitzung mit dem Prüfer-Team des Übersetzungs-        Sprache bedeutet, dass Texte und Sprache einfach zu
büros ist spannend und schult den eigenen Verstand, die   verstehen sind. Für Leichte Sprache gibt es ein festes
Sprache einmal völlig neu zu denken. „An-streng-end“ –    Regelwerk. Einfache Sprache ist komplexer als Leichte
Sie wissen, was das meint. Ein Mensch mit Lernschwie-     Sprache. Die verwendeten Wörter dürfen schwieriger
rigkeiten hat mit diesem dreiteilig gesprochenen Wort     sein, längere Sätze und Nebensätze sind erlaubt. Es
allerdings Verständnisschwierigkeiten. Herbert Setzer     müssen nicht nach jedem Satzzeichen Absätze einge-
und Carmen Scheerer sind beim Lesen der traditionel-      fügt werden. Im Gegensatz zur Leichten Sprache gibt
len Weihnachtsgeschichte über dieses eigentlich völlig    es für die Einfache Sprache kein festes Regelwerk. Allein   11
alltägliche Wort gestolpert. Aufgefallen ist es ihnen,    schon wegen der Regeln ist es empfehlenswert, sich an
weil kurz davor steht, dass der lange Weg nach Bethle-    professionelle Übersetzungsbüros zu wenden, die diese
hem für alle anstrengend war. Zunächst probierten sie     Regeln kennen und in denen Menschen mit Lernschwie-
denselben Satz mit der Formulierung „nicht leicht“ …      rigkeiten an der Übersetzung mitwirken.
und waren noch nicht einverstanden. Es wurde weiter
überlegt, und schließlich einigten sich Carmen Scheerer   Das Übersetzungsbüro in Aalen ist Mitglied im Netz-
und Herbert Setzer auf „nicht einfach“. Das Übersetzen    werk Leichte Sprache. Alle, die die Texte prüfen, werden
in Leichte Sprache ist ein aufwändiger Prozess.           gründlich in einem mehrtägigen Kurs auf diese Aufgabe
                                                          vorbereitet und lernen die Regeln der Leichten Sprache
Der Auftrag, die Weihnachtsgeschichte, wie sie im         kennen. Ziel ist es, eine verständliche Übersetzung
Lukas-Evangelium steht, zu übersetzen, kam aus dem        zu erstellen. Dazu wird interpretiert, Überflüssiges
Referat für Diakonie und Theologie der Samariterstif-     weggelassen. Was am Ende dabei herauskommt, ist ein
tung. Zunächst wird dann das Original von Fachmit-        klar verständlicher Text, keine Eins-zu-Eins-Über-
arbeitenden im Übersetzungsbüro in Leichte Sprache        setzung. Deshalb wird aus dem „Gebot“ des Kaisers
übertragen. Diese Version wird dem Prüfer-Team, in        Augustus ein „Befehl“. Aus demselben Grund beginnt
dem Männer und Frauen tätig sind, vorgelegt. Alle in      die Übersetzung zunächst einmal damit, dass erklärt
diesem Prüferteam haben eine Beeinträchtigung und         wird, wo die Weihnachtsgeschichte zu finden ist: in
bringen ein besonders Talent mit. Carmen Scheerer ist     der Bibel. Und was ihre Kernbotschaft ist: die Geburt
sehr genau, auch was das Layout eines Textes angeht.      Jesu. Dann werden die drei Personen genannt, um die
Ihr entgeht kein Linksruck im Satz. Herbert Setzer        es hauptsächlich in der Geschichte geht: Maria, Josef
prüft allgemein die Verständlichkeit und findet leicht    und Jesus. So konzentriert auf das Wesentliche wird die
gleichbedeutende Ausdrücke für schwierige Wörter.         Weihnachtsbotschaft im wahren Wortsinn noch ergrei-
                                                          fender. Sie finden die gesamte Weihnachtsgeschichte
                                                          in Leichter Sprache zum Herausnehmen in der Mitte
   „Wir finden alles“                                     des Magazins – eine Anregung, um in diesem Jahr den
                                                          Weihnachtsgottesdienst zu gestalten.               ■ SVV

So hat der 70-jährige Herbert Setzer kein Verständnis-
Problem mit dem Ausdruck „in Windeln gewickelt“,
selbst wenn Babys heutzutage einfach Pampers mit          HIER WIRD FÜR SIE ÜBERSETZT
Klebestreifen angepasst bekommen. Also bleibt „in         Samariterstiftung
Windeln gewickelt“ im Text stehen. Beide sind ein Teil    Übersetzungsbüro für Leichte Sprache
der fünfköpfigen Gruppe im Prüfer-Team. Carmen            Jahnstraße 14 73431 Aalen
Scheerer, die richtig viel Spaß an Sprache und Worten     Telefon: 07361 / 564 300
hat, gibt sogar inklusive Workshops für Behörden oder     E-Mail: leichte-sprache@samariterstiftung.de
Firmen, in denen sie über die Besonderheiten Leichter     www.samariterstiftung.de

         SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Gradmann-Stiftung schafft mit
                                                          Haus „Liselotte“ neuen Wohnraum
                                                          für Pflegekräfte mitten in Ruit

„WIR HABEN
 EINFACH
 GEHANDELT“
DIE FRAGEN STELLTE Sabine von Varendorff

W      as ist der Gesellschaft die
       Pflege in der Zukunft wert?
Trotz der positiven Ent­w icklungen
                                      Zusammenhang besteht. Klartext:
                                      Selbst wenn Interesse an Arbeit in der
                                      Pflege besteht, kommen die Arbeits-
                                                                               Magazin: Herr Rösch, wie kam es
                                                                               zu der Idee, hier in Ruit für Pfle­
                                                                               gekräfte zu bauen?
der öffentlichen Wahrnehmung in       suchenden nicht, denn sie können         Herbert Rösch (HR): Wir haben
der Corona-Pandemie ist die Pflege    sich das Wohnen in der Nähe ihres        uns umgeschaut und gesehen, dass
und insbesondere die Altenpflege      Arbeitsplatzes nicht leisten. Ziehen     es Menschen gibt, die gern in der
in hohem Maß herausgefordert. Die     sie in Gegenden, in denen sie die        Pflege arbeiten möchten, sich aber
Arbeitsbedingungen und -anfor­        Miete finanziell stemmen können,         die Mietpreise hier im Großraum
derungen sind noch komplexer          zahlen sie – im Wortsinn – zu viel       um Stuttgart nicht leisten können.
geworden. Alles nur eine Frage        Wegegeld.                                Dann genügt weiter ein Blick auf
von mehr Lohn? Auf dem unlängst                                                den Mangel an Pf legepersonal.
veranstalteten Deutschen Pflege-      Das magazin hat sich mit Herbert         Uns fehlen qualifizierte Mitarbei-
tag, dem führenden Fachkongress       Rösch, Geschäftsführer der Erich         tende. Das sind drei gute Gründe,
für die beruflich Pflegenden in       und Liselotte Gradmann-Stiftung          um ins Handeln zu kommen. Um
Deutschland, wurde festgestellt,      unterhalten, die in Ruit das Haus        mehr Arbeits­k räfte aus dem pfle-
dass zwischen der Personalsituation   „Liselotte“ als bezahlbaren Wohn-        gerisch-sozialen Bereich gewinnen
in der Altenpflege und den Woh-       raum für Pflegekräfte im Ortszen-        und halten zu können, müssen wir
nungsmarktpreisen ein deutlicher      trum gebaut hat.                         bezahlbaren Wohnraum schaffen.
HELFEN

Jetzt liegt das Samariterstift            Der Bau sieht sehr be­ein­druckend     Das heißt, die Mieter:­innen sind
Ruit, das Haus gehört der Grad­           aus.                                   nicht nur einen Steinwurf vom Ar­
mann Stiftung, mitten im Ort.             HR (lacht): Ja, er ist das neue        beitsplatz entfernt, sondern sie
Wie ließ sich hier ein Bauplatz           Wahrzeichen von Ruit, mit der auf-     werden auch wie selbstverständ­
finden?                                   gefächerten Fassade. Insgesamt hat     lich ins Gemeinwesen integriert,
HR: Das war wirklich nicht einfach.       der Bau sechs Stockwerke, wobei        weil sie mitten im Ort leben?
Es sollte ja in unmittelbarer Nähe        sich das Objekt vom ersten Ober-       HR: Ja, genau. An diese Dinge ist
zur Pflegeeinrichtung entstehen.          geschoss an aus zwei getrennten        beim Bau gedacht worden. Solch
Was wir gefunden haben, war die-          Baukörpern zusammensetzt. Sie          ein Bauprojekt wäre auf dem freien
ses Grenz-Grundstück. Die Besitz­         sind durch ein gemeinsam genutz-       Markt nicht realisierbar gewesen.
verhältnisse waren mit sieben ver-        tes Untergeschoss miteinander ver-     Das geht nur als Stiftungsprojekt.
schiedenen Eigentümern zu klären,         bunden. Es ist zudem ein Innenhof      Dieser Weg ist ein guter, weil wir
bevor mit der Planung begonnen            mit sieben Parkplätzen entstanden.     ganz pragmatisch dort handeln, wo
werden konnte. Und schließlich            Im Erdgeschoss des Hauses ist ein      wir Notstand und Mangel sehen.
die Bebauung des ganz speziell            Café mit 30 Sitzplätzen innen und      Wir sind sehr dankbar, dass wir       13
geschnittenen Areals. Wir konnten         20 Sitzplätzen außen entstanden. So    gerade für diese systemrelevanten
dafür Kauffmann, Theilig und Part-        wird das Haus nicht nur freitags, am   Berufe etwas bewegen konnten. Da
ner, freie Architekten in Ostfildern,     Markttag, in Ruit zum Treffpunkt in    konnte etwas realisiert werden, was
gewinnen.                                 der Ortsmitte.                         ganz konkret hilft und Missstände
                                                                                 aufhebt. ■
Wie sah die Planung genau aus?
HR: Es ist ein Gebäudeensemble
in bester inner­ s tädtischer Lage
auf der Ecke Kirchheimer-/Hedel­
finger Straße entstanden. Die 14
Miet­wohnungen haben zwischen
60 und 105 Quadratmetern Wohn­
fläche, teilweise auch mit Balkon.
Statt der üblichen 13 oder 14 Euro
pro Quadratmeter zahlen die Pfle-
gekräfte für die Werksdienstwoh-
nungen etwa acht Euro Kaltmiete.
Die verbleibenden fünf bis sechs
Euro subventioniert die Gradmann-
Stiftung. Ein großer Vorteil ist
außer­dem, dass die Wohnungen
gut für Wohngemeinschaften für bis
zu vier Personen geeignet sind.

An wen haben Sie dabei gedacht?
HR: Es kommen viele junge Men-
schen aus unseren Nachbarländern
in Osteuropa. Wenn sie zusammen­
wohnen können, stärkt das die
Menschen und verringert das Heim-
weh. Auch das Lernen einer neuen
Sprache fällt in Gemeinschaft doch
leichter.

          SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Rebecca Gruel wohnt
        im Haus „Liselotte“
        und liebt dessen Kanten

       EINE GUTE BEZIEHUNG

14
     D     a steht ein Haus auf der Ecke mitten in Ruit und
           dahinter kommt noch ein Haus und daneben
     noch eines … das ist das Geheimnis des Hauses
                                                              lassen. Ob Besucher:innen auf dem Sofa sitzen oder
                                                              am Esstisch, nirgends ist Straßenlärm zu hören. Die
                                                              Wohnung ist extrem gut isoliert.“ Gleiches gilt für
     „Liselotte“: das Offensichtliche ist nicht alles! Au-    die Dämmung. „Obwohl ich unter dem Dach bin,
     ßen wie innen hat es seine Ecken und Kanten – und        war es auch im Sommer nicht zu heiß.“ Insgesamt
     gerade die machen es „be-lebens-wert“. Rebecca           betrachtet die gelernte Gesundheits- und Kran-
     Gruel ist stellvertretende Pflegedienstleitung und       kenpflegerin die Wohnung als „puren Glücksfall“.
     Praxisanleiterin im Sama­r iterstift Ruit. Das liegt     „Ich spare mir Zeit, Stress, Nerven und Benzin, weil
     nur einen Steinwurf und durch die Hauptstraße            Arbeit, Einkaufen und Ärzte, einfach alles, in fußläu-
     getrennt vom Haus „Liselotte“. „Von meinem Balkon        figer Nähe ist.“ Davor hat sie in Sillenbuch gewohnt.
     aus kann ich das Samariterstift nicht sehen. Da liegt    Stuttgarter Mietpreise sind ihr vertraut. „Ich zahle
     noch ein Haus davor“, beschreibt Rebecca Gruel den       für fast zwanzig Quadratmeter mehr nur 100 Euro
     Blick von ihrer Loggia aus, „das ist gut so, denn ich    mehr an Kaltmiete als bisher. Das ist unglaublich.“
     finde, es muss eine klare Trennung zwischen Arbeit       Im Mai ist die junge Frau als eine der ersten ins Haus
     und Wohnen geben.“ Sie könnte sich nicht vorstel-        „Liselotte“ eingezogen. Es gibt hier zwei Wohnge-
     len, in ein und demselben Haus zu leben und zu           meinschaften und es wohnen einige Kolleg:innen
     arbeiten. „So ist das perfekt.“ Ihre Wohnung selbst      aus der Leitung ebenfalls mit im Haus. „Ich merke,
     ist 84 Quadratmeter groß und ein Schmuckstück.           dass es dem Teamgeist guttut, dass wir auch privat
     Sie hat kaum eine gerade Wand. Hier eine Schräge,        in Kontakt miteinander sind“, hat Rebecca Gruel
     da ein Fall. In die extrem hohe Decke, die den äu-       beobachtet. Wie das so bei neuen Wohnungen meist
     ßeren Giebel wiedergibt, sind lange Lichtbänder,         ist, muss auch das Eine oder Andere nachgebessert
     die wie Fenster aussehen, aber nicht zu öffnen sind,     werden, aber „ich habe eine echt gute Beziehung zu
     eingelassen. „Ich habe es sehr hell“, sagt die 37-       meiner Wohnung. Ich finde, man kann nicht überall
     Jährige. Hell und charaktervoll – doch, so lässt sich    wohnen. Die Wohnung muss zu mir passen. Da muss
     das Domizil beschreiben. Durch die ausgefallene          etwas zwischen uns sein.“ Zwischen Rebecca Gruel
     Architektur bietet die Wohnung mehrere Ecken und         und dem Giebelnest im Haus „Liselotte“ stimmt’s.
     Nischen, die sich speziell einrichten und ausstatten                                                     ■ SVV
THEMA

         FARBE GIBT
         SICHERHEIT UND
         IDENTITÄT
Skizze Farbkonzept Gärtringen, hubraum4

          Beim Umbau des Samariterstiftes Gärtringen wird
          ganz gezielt auf ein differenziertes Farbkonzept gesetzt

S
         chon 2030 wird in Deutschland jeder vierte         In einer Studie der Universität Liverpool von Psycho­
         Mensch älter als 65 Jahre sein. Fest steht: Men-   logie-Professorin Sophie Wuerger ist festgehalten, dass
         schen haben im Alter ganz andere Sehbedürfnis-     Muster und glänzende Flächen für ältere Menschen zu
se als die jüngere Generation. Mit den Jahren verändert     blinden Flecken werden, weil mit dem Alter Netzhaut-
sich die Wahrnehmung von Licht, Mustern und Glanz.          zellen absterben. Reflektierende Oberflächen können
So entscheidet beispielsweise die Größe der Pupille,        deshalb vollkommen irritieren. „Für uns als Architekten
wie gut sich das Auge auf veränderte Lichtverhältnisse      steht bei allen Planungen immer der Mensch mit seinen
einstellen kann. Bei jungen Menschen kann sich die          Bedürfnissen im Mittelpunkt. Deshalb müssen wir mit
Pupille ruckzuck von 1,5 auf acht Millimeter vergrößern.    unserer Arbeit auch dem anderen Sehbedürfnis gerecht
Bei älteren Menschen bleibt sie nahezu konstant bei vier    werden“, erzählt Henriette Huster-Braumann. Sie ist
Millimetern Größe. Das ist nur ein Fakt, der belegt, wie    wie ihr Ehemann und Büropartner Peter Braumann
dringlich es ist, sich mit den Wirkungen von Farben auf     Hochbauarchitektin. Beide decken zudem mit ihrem
Menschen im Alter zu befassen. Bei der Umgestaltung         Büro die Bereiche Innenarchitektur, Design und Grafik
des Samariterstiftes Gärtringen hat ein Team rund um        ab. „Keines der Geschäftsfelder kann getrennt gesehen
das Architektenpaar Huster und Braumann (hubraum4)          werden“, sagt die Architektin, die sich mit einer spezi-
aus Sindelfingen deshalb ein ausgefeiltes Konzept für       ellen Fortbildung (→ S. 18) für den Bereich „Farben im
die Farbgestaltung entwickelt.                              Alter“ qualifiziert hat. „Jeder Mensch geht mit dem

          SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
16

                                                               „Die Sprache der Farbe
                                                                wirkt direkt auf die
                                                                Psyche und den Körper
                                                                der Menschen“

     Skizze Farbkonzept Gärtringen, hubraum4

     Raum, in dem er sich aufhält, in eine Beziehung. Der      erhellen und gliedern die Flure und Aufenthaltsberei-
     Raum muss für den Menschen gut erfahrbar sein. Des-       che. Zusätzlich bekommen die Wohngruppen eine neue
     halb denken wir Raum immer in der Gesamtheit seiner       Beleuchtung und akustische Maßnahmen erhöhen den
     gestalteten Elemente“, erklärt Peter Braumann eine der    Wohnkomfort. Während bisher die Bodenbeläge der
     Handlungsmaxime des Architekturbüros hubraum4.            Gemeinschaftsflächen und der persönlichen Zimmer
                                                               verschiedenfarbig waren, wird es in Zukunft einen ein-
     „Beide Architekten waren immer wieder in unserem          heitlichen Bodenbelag geben. Der ist einige Nuancen
     Haus und haben sich mit Bewohner:innen und Mitar-         heller für alle Räume. Dafür hatten sich die Bewoh-
     beiter:innen unterhalten, umgesehen und Erfahrungen       ner:innen ausgesprochen. Die persönlichen Zimmer
     gemacht“, berichtet Matthias Kircher, der Hausleiter      werden mit farbigen Akzent-Wandflächen gestaltet,
     in Gärtringen, „sie begeben sich in das Thema rein, sie   die zur Farbe des betreffenden Stockwerkes passen
     bewegen das Thema „wie sehen Menschen im Alter“.          und eine individuelle Stimmung und Identität vor und
     Das Farbkonzept, welches mittlerweile aufgrund dieser     im Zimmer erzeugen.
     Beobachtungen und der Teamkommunikation zwischen
     der Planungsabteilung der Hauptverwaltung der Stif-       „Farbe gibt Sicherheit und Orientierung“, weiß Matthias
     tung, Bewohner:innen und etlichen anderen zustande        Kircher, „demenziell erkrankte Menschen leben oft
     kam, ist passgenau. „Wir haben uns um einen hohen         in ihrem ganz eigenen Lebenskorridor. Sie verlassen
     Grad an Wohnlichkeit bemüht“, sagt Peter Braumann,        ihn, wenn sie plötzlich sehen, dass die Tür einen roten
     „die sehr langen und bisher dunklen Flure werden durch    Rahmen statt eines blauen trägt. So wissen sie, dass sie
     Farbgestaltung der kleineren Nischen aufgelockert.“       nicht vor ihrem Zimmer stehen.“ Auch die Lichtschalter
     Auch die abgehängten Deckensegel, die das Thema von       sind beispielsweise mit farbigen Flächen eingefasst und
     weißen Schönwetter-Wolken am Himmel aufgreifen,           somit leicht zu erkennen und identifizieren das jeweils
THEMA

richtige Bewohner:innenzimmer. Jedem Stockwerk ist im
Treppenhaus eine eigene Farbe zugeordnet. Regelmäßig        „Farbe ist ein
trifft sich im Samariterstift Gärtringen eine Planungs-
gruppe, die den Umbau bei laufendem Betrieb steuert.
                                                             zusätzlicher
Dazu gehören Jürgen Hartmann und Sixten Schoo von            sinnlicher Impuls“
der Planungs- und Bauabteilung Samariterstiftung, die
beiden Architekten von hubraum4, Matthias Kircher als     „Je nachdem wie kühl, frisch, warm oder harmonisch das
Hausleitung Samariterstift Gärtringen und künftig auch    Zusammenspiel der Farben ist, können Menschen zum
Vertreter:innen des Heimbeirates. „Die Bewohner:innen     Frösteln, Bewegen, Innehalten oder wohligem Verweilen
können uns am besten erzählen, wie mäßig belichtete       gebracht werden. Die Sprache der Farbe wirkt direkt
Zimmer, kontrastarme Raumkanten oder reflektierende       auf die Psyche und den Körper der Menschen. Deshalb
Oberflächen auf sie als alte Menschen wirken“, erklärt    hat eine gelungene Farbgestaltung für Pflegehäuser die
hubraum4. Die Architekten sind dankbar dafür, dass        Aufgabe, den Bewohner:innen ein Gefühl von Da-„heim“,
Bewohner:innen sie sogar ins eigene Zimmer eingeladen     Identität, Geborgenheit und von Sicherheit zu schen-
haben und Wünsche und Bedürfnisse direkt in eine          ken. Ein positives Lebensgefühl ist für Menschen, die       17
bessere Planung einfließen können. „Wir schneidern        pflegebedürftig geworden sind, die den ganzen Tag in
individuell und auf Maß. Es soll ein gelöstes, lebens-    der Einrichtung, auf ihrem Stockwerk oder gar in ihrem
frohes und lichtes Farb- und Gestaltungskonzept sein,     Zimmer verbringen, sehr wichtig. Wer sich aus Angst
das gezielt auf die Bedürfnisse der Bewohner:innen und    vor dem dunklen Flur oder den Lichtgestalten in der
auch der Mitarbeiter:innen abgestimmt ist.“ Gegen-        Ecke vorne links nicht mehr aus seinem Zimmer traut,
wärtig sei der Flur kein schöner Ort. Dort würden die     leidet. Farbe ist ein zusätzlicher sinnlicher Impuls, der
Augen sehr geblendet und der eigentliche Weg sei nicht    die betreuten Menschen beruhigt, stimuliert, der ihre
mehr sichtbar. „Licht ist zunächst völlig neutral. Erst   Lebensenergie steigert oder Unruhe vermindert.
wenn es irgendwo auftrifft, wird es sichtbar. Wenn ich
mich nicht um genau dieses Auftreffen kümmere, dann       Die Umgestaltung des Samariterstiftes Gärtringen ist
kann es Überblendungen oder Verschattungen geben“,        ein Prozess, der wegen der Vorgaben der Landesheim-
erklärt hubraum4. Deshalb stelle sich stets die Frage,    bauverordnung nötig wurde, in dessen Verlauf allerdings
welche Aufgabe das Licht an einem Ort übernehmen          auch viele baulichen oder technischen Verbesserungen
soll. Funktion und Atmosphäre spannen den Bogen zwi-      angepackt werden, die nach 25 Jahren Hausbestehen
schen guter Orientierung oder gemütlichem Aufenthalt.     angefallen sind. So werden die Bewohner:innen-
                                                          Zimmer internetfähig oder die Lichtrufanlage wird
                                                          ausgetauscht. „Wir verbinden die Notwendigkeit des
                                                          Umbauens mit unserer Wunschliste“, sagt Matthias
                                                          Kircher und verspricht, „dass niemand sein Zimmer
Veränderung der Farbwahrnehmung im Alter                  verlassen oder umbauen lassen muss, wenn er es nicht
                                                          wünscht. Die Modernisierung der Zimmer geschieht nur
                                                          in enger Absprache mit den Bewohnenden.“

                                                          Auch wenn die Zeit der Bauarbeiten viele Unannehm-
                                                          lichkeiten mit sich bringt, freuen sich alle Beteiligten
                                                          auf die neuen und schön gestalteten Räumlichkeiten
                                                          des Hauses.                                        ■ SVV

         SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
DIE FRAGEN STELLTE Sabine von Varendorff

         Farbwahl lässt sich lernen
     2060 wird jede dritte Person der         und Flexibilität betrifft. Im Bereich    Welches sind denn die gravie­
     Gesamtbevölkerung älter als 65           der stationären Pflege stehen bei        rend­sten Veränderungen wenn
     Jahre sein, beschreibt eine Quelle       der Planung außer einrichtungsspe-       die Augen alt werden?
     der Bundeszentrale für politische        zifischen Anforderungen schon jetzt      AS: Die nachlassende Regenera-
     Bildung die Zukunft. Für diese älte-     vor allem solche gestalter­ischen        tionsfähigkeit von Sehnerv und
18   ren Menschen braucht es einen Ort,       Aspekte im Vordergrund, die die          Retina sowie die Einlagerungen in
     der Daheim werden kann – doch            Selbstständigkeit – und dazu gehört      der Linse und deren nachlassen-
     können Pflegeheime Zuhause sein?         vor allem auch die Orientierung –        de Elastizität führen ebenso wie
     Das magazin stellt im Gespräch           und das Wohlbefinden der Bewoh-          altersbedingte Erkrankungen des
     mit Andrea Schäfer, Farbdesign­erin      ner:innen unterstützen. So gehört        Auges zu Seheinschränkungen,
     beim Farbenhersteller Brillux, ein       ein an den speziellen Bedürfnissen       die letztendlich auch die Mobilität
     Seminar vor, das auf diese Fragen        von Senior:innen orientiertes Farb-      und das Sicherheitsempfinden der
     Antworten gibt.                          konzept heute zu den weichen Fak-        Senior:innen einschränken. So kön­
                                              toren, mit denen der Aufenthalt für      nen die meisten alten Menschen
     Magazin: Bei Brillux wird viel           die Bewohner:innen angenehmer            Farbnuancen nicht mehr so gut
     En­g agement in die Beantwor­            gemacht werden kann. Wie eine sol-       erkennen und geringe Helligkeits-
     tung der Frage gesteckt, wie             che Planung aussehen kann, zeigen        kontraste deutlich schlechter wahr-
     Menschen im Alter sehen und              wir in einem Webinar, das sich an        nehmen. Infolge der altersbedingten
     welche Farben ihnen guttun,              Planer:innen, Bauingenieur:innen         Verkleinerung der Pupille auf 2 mm
     beziehungsweise mit welchen              und andere Interessierte richtet.        benötigt ein 70-jähriger Mensch
     gestalterischen Mitteln wir die                                                   z. B. dreimal so viel Licht wie ein 20-
     häufig seh­eingeschränkten äl­           Was lässt sich in dem Seminar            jähriger, damit genügend Licht auf
     teren Menschen unterstützen              lernen?                                  die Netzhaut fällt. Licht ist also ex­
     können. Wie fällt die Antwort            AS: Wir informieren darüber, wie         trem wichtig, aber bitte blendfrei! Im
     auf diese Fragen aus?                    sich visuelle und sensorische Fähig-     Alter erhöht sich nämlich auch die
     Andrea Schäfer (AS): Altersgerech-       keiten im Alter verändern und wel-       Blendempfindlichkeit, dadurch ver-
     te Planungen von Wohnanlagen             che Dimensionen diese Einschrän-         schwimmen Kontraste. Es kommt zu
     und Grundrissen, Mehrgenera­             kungen haben und wie sie sich auf        Fehldeutungen der Wahrnehmung.
     tionen-Wohnprojekte oder Dienst-         die Raumwahrnehmung auswirken.           Trübungen der Augenlinse durch
     leistungsangebote zum Betreuten          Wir zeigen, wie ganzheitliche Ge-        den Grauen Star – hieran leiden
     Wohnen reagieren auf die Bedürf-         staltungskonzepte in der Praxis          75 % aller über 65-Jährigen – lassen
     nisse der Generation 60plus was          aussehen können und worauf man           die Umwelt unscharf und matt er-
     Wohnkomfort, Selbstständigkeit           besonders achten sollte.                 scheinen. Bei der Makuladegenera-
                                                                                       tion verschwindet – bedingt durch
                                                                                       die Zerstörung der Netzhaut – die
     DAS WEBINAR wird von der Architektenkammer                                        Welt immer mehr hinter dunklen
     Baden-Württemberg mit 2 Unterrichtsstunden als Fortbildung                        Flecken, bis zur völligen Erblindung.
     anerkannt. Weitere Informationen zum Seminar:                                     Durch die altersbedingt zunehmen-
     https://www.brillux.de/service/veranstaltungen/live-                              de Erstarrung der Augenbewegung
     onlineprogramme/live-onlineprogramme-fuer-architekten/                            kommt es bei vielen Menschen zu
     farbe-erleben-im-alter                                                            Gesichtsfeldeinengungen. All diese
THEMA

„Das Wissen um
 Seheinschränkungen bei
 älteren Menschen muss
 zu einer andersartigen
 Auswahl von Farbtönen
 und Oberflächenqualitäten
 führen“

Erkrankungen können gefährlich
werden, weil Hindernisse gar nicht
mehr gesehen werden. Die Wahr-
nehmung von Farben selbst wird
durch die altersbedingte Vergrau-
ung der Linse beeinträchtigt, daher                                                                                       19
sind ausreichende Helligkeitskon­
traste so wichtig.

Das ist eine Aufzählung, die erst
einmal erschreckt. Wie kann dem
begegnet werden?                                Fotomontage Farbkonzept Gärtringen, hubraum4
AS: Es können seniorengerechte
Farbkonzepte ausgearbeitet werden,
die sich an den genannten körper-         sicher sein Zimmer wieder? Die           (zurück)geben, sei es mit typischen
lichen Veränderungen orientieren.         Etagenfarbigkeit hat ausgedient,         Tapeten oder Möbeln. Und auch da-
Damit kann den Auswirkungen ge-           mehrfarbige Farb­a tmosphären            von profitieren alle: Erinnerungen,
zielt entgegengewirkt werden. Kon-        sind gefragt, Stichwort „Ein Spa-        Kommunikation entsteht, Flair …
kret muss das Wissen um Sehein-           ziergang im Park“ oder „Ein Gang         und Trends wiederholen sich.
schränkungen bei älteren Menschen         durch die Stadt“, „Am Meer“. Wenn           Von solch kleinen Details wieder
zu einer andersartigen Auswahl von        man in Bildern denkt, ist eine solche    auf das Große und Ganze geblickt:
Farbtönen und Oberflächenquali-           Gestaltung viel leichter und wird        Das richtige Maß an Sicherheit,
täten sowie zu einem adaptierten          regional und einzigartig. Und das        Orientierung und Atmosphäre ist
farbigen Leitkonzept führen.              ist es doch, was wir auch für das        für alle Funktionsbereiche einer
    Ein Beispiel hierzu: Im Sinn eines    Personal und die Angehörigen/            Einrichtung – vom Eingangsbe-
offenen Raumgefühls werden Ele-           Besucher:innen wollen: Eine ganz         reich über die Flure bis hin zu
mente wie Säulen bei gewöhnlichen         individuelle Gestaltung, in der sich     Bewohner:innenzimmern, Gemein­
Bauten farblich gern zurückgenom-         alle wohl fühlen und wir ganz subtil     schafts- und Therapieräumen
men. Für sehbehinderte Menschen           die alters­bedingten Defizite der Be-    so­w ie Personal­b ereichen ganz
sind sie jedoch Hindernisse, die          wohner:innen ausgleichen und da-         entscheidend. Gewünscht ist eine
visuell betont werden müssten.            mit letztendlich auch die Pflegenden     nutzungsbezogene und doch in sich
Für viele Bewohner:innen sind             unterstützen und wertschätzen.           schlüssige Gestaltung. Denn ein
Handläufe wichtig, aber heben             Ca. 60% aller heutigen Pflegeheim-       Alten- oder Pflegeheim ist vieles
diese sich auch immer in einem            bewohner:innen sind demenziell           gleichzeitig: Wohnort für alte Men-
angemessenen Kontrast von der             erkrankt. Viele von ihnen leben          schen, Arbeitsort für Pflegepersonal
Wand ab und werden erst so für            gedanklich in ihrer eigenen Welt,        und Therapeut:innen, Besuchsort
die Bewohner:innen sichtbar? Ge-          meist in der ihrer „besten Jahre“, als   für Angehörige. Alle haben unter-
rade jetzt in der Pandemie können         sie 20–30 waren, ohne eine Rück-         schiedliche Bedürfnisse, alle wollen
sich die meisten Bewohner:innen           kehr in unsere heutige Zeit. Daher       und sollen im Gesamtkonzept be-
nur in ihrer Wohngruppe/Station           sollten wir gestalterisch „ihre Zeit“    rücksichtigt werden. ■
auf halten. Wie findet man hier           aufnehmen, ihnen „ihr“ Zuhause

          SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Vorentwurf Raum der Stille, Hospiz Münsingen, Computermodell

EINE PREDIGT FÜR DIE AUGEN
Martin Burchard gestaltet Räume mit Kunst,
die christliche Botschaften sichtbar macht­

M
          it dem Tod ist Martin Burchard schon mehr­          Wie ein Stiefel sieht der Grundriss des Hospizes aus.
          fach konfrontiert wor­den. Er erinnert sich         Genau in der Ferse sitzt der Raum der Stille. Er ist ein
          daran, wie er in der Trauer um geliebte Men-        wenig wie ein Tortenstück geschnitten. Eine breite Seite
schen die Augen hob und sich dem Tod aus einem neuen          und an der gegenüberliegenden Stelle spitz zulaufend.
Blickwinkel näherte.                                          Die Decke ist schräg. „So hat der Raum von sich aus
                                                              schon ganz spezielle Eigenheiten, die es bei der Ge-
„Wenn ich an den Tod denke, dann denke ich auch an die        staltung einzubinden galt“, berichtet der Künstler. Er
Kraft der Auferstehung“, sagt der spätberufene Künstler,      soll Raum für die Angehörigen, die Mitarbeitenden und
der in früheren Lebensstationen Diplom-Pädagoge und           für die Gäste des Hospizes sein. Hier wird geschwiegen
Schreiner war. Ohne den Gedanken an die Auferstehung          und sinniert. „Die Gestaltung soll direkt ansprechen,
wäre für ihn der Tod „die Quadratur des Schmerzes“.           sie ist schlicht und nimmt sich zurück. Hier ist Raum
Um Menschen aus diesem Schmerz, aus dieser End­               für alles, was die Menschen jetzt in diesem Moment
losschleife Wege aufzuzeigen, gestaltet er auch den           bewegt. Das allerdings ist viel. Viel Existenzielles, viel
Raum der Stille im neuen Hospiz in Münsingen.                 Unumstößliches, viel Unabänderliches. „Deshalb soll
                                                              meine Kunst eine klare Botschaft übermitteln: der Tod
                                                              ist nicht das Ende.“
HELFEN

                                                            Bei seinen künstlerischen Aufgaben arbeitet Burchard
„Ich möchte mit meiner                                      prozessorientiert. Er hat keine fest vorgefasste Meinung
                                                            im Kopf. Wenn die Auftraggeber Wünsche haben, nimmt
 Kunst Glaubensinhalte                                      er sie gern in seine Gestaltung mit auf, um die beste
 sichtbar machen“                                           Lösung für alle zu finden.

Wie kann das gelingen? Woher nehmen Martin                  „Dabei dürfen wir nicht zu sehr auf aktuelle Mode­
Burchards Gestaltungen solche Aussagekraft? Zum             erscheinungen und den Zeitgeist setzen.“ Denn es gelte
Beispiel sein sogenanntes Lichtkreuz mit transparen-        eine zurückhaltende Formensprache zu finden, die auch
ten Elementen aus Acrylglas. Durch sie fällt Tageslicht,    in vielen Jahren noch als schön wahrgenommen wird.
und aus dem Kreuz bricht ein ungeahntes Strahlen, ein       So ist die Grundfarbe im Raum der Stille ein warmes
verheißendes Leuchten. Oder seine segnende Christus-        Pastell-Wollweiß. Die Stühle sind schlicht und bequem.
figur, mit Blattgold überzogen, die sich zwei Handbreit     Zudem wird es einen Ohrensessel geben, in den sich
und leicht nach oben versetzt über das Kreuz erhebt         Schutz­suchende zurückziehen können. Der Raum der
und von oben angestrahlt wird. Je nach Blickwinkel und      Stille liegt in der Mitte zwischen den acht Gastzimmern.   21
Entfernung des Betrachters vom Kunstobjekt wird der         Auf dem Altar sollen kleinere Kunstobjekte stehen, die
Blick nach oben gezogen. Es scheint, ein überirdischer      Besucher mit an ihren Rückzugsort nehmen können, um
Glanz blende die Augen und erleuchte gleichzeitig den       dort den Trost gleichsam in Händen zu halten.
dunkelsten Seelenzipfel. Mehr kann Auferstehung nicht
offensichtlich sein. „Ich möchte mit meiner Kunst Glau-     Aber es gibt auch gelegentlich und ganz pragmatisch
bensinhalte sichtbar machen“, bekräftigt der 65-Jährige.    gedacht Besprechungen in dem knapp 35 Quadratmeter
Mit der Samariterstiftung hat er 2004 bei der Gestal-       großen Raum. In einem Sideboard an der Seitenwand
tung des Jakobusaltars, der als mobiler Altar in vielen     sind Klapptische unsichtbar verstaut.         ■ SVV

Häusern der Stiftung zum Einsatz kommt, erstmals
zusammengearbeitet. Die Gestaltung des Raums der
Stille im Münsinger Hospiz ist für ihn eine „schöne               Ostern, Jakobuskirche Tübingen
Bekräftigung dieser gewachsenen Verbindung“.

„Ich sehe die Glaubenskommunikation in Form von
Kunstwerken als meine Berufung.“ In Münsingen wird
es einen Altar geben, dessen kleines Teil fahrbar ist und
so auch in den Gästezimmern verwendet werden kann.
Er steht vor zum Teil satinierten Fensterscheiben, damit
eine schützende und persönliche Sphäre gewahrt bleibt.
Über dem Altar hängt ein Bild mit einem quadratisch
eingeteilten Kreuz, dessen Flächen vergoldet sind. Der
Freiraum, den das Kreuz zwischen den vier Quadraten
schafft, deutet auf die Erdverbundenheit ebenso hin
wie auf die Öffnung gen Himmel. Im Raum der Stille
weht ein Geist der Verständigung und Verbindung. „Mit
Wollen und eigener Anstrengung kommt man in solch
existenziellen Lebens­momenten meist nicht weiter“,
sagt Burchard in Erinnerung an eigene tiefe, existenz-
bedrohliche Situationen in seinem Leben.

Als Trost denkt er in solchen Augenblicken: „Gott,
begleite mich in meinem Leben und sei mir gnädig in
der Stunde des Todes. Wenn ich um diese Gnade weiß
und bitten kann, dann werden die schweren Stunden
lebbarer.“

          SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
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