UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf ...
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20/2021 UNERHÖRT Altersschwerhörigkeit kann isolieren. Das lässt sich verhindern UNBEACHTET Die richtige Farbwahl bei der Gestaltung hellt die Psyche auf UNGLAUBLICH Inklusive TanzKompanie zeigt, wie Inklusion gelingen kann
Der gute Samariter Rembrandt Harmenszoon van Rijn, nach 1633 Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie Lukas 10, 33/34
EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, wieder ein Magazin. Und wieder in der Corona-Pande- Worte vorbei rauschen lassen, ist das eine. Nicht hören mie. Dennoch wieder kein Corona-Magazin. Obwohl können als Teilhabe-Hürde ist etwas ganz anderes. Wun- es da viel zu sagen gäbe. Kolleg:innen, die jetzt fast 20 derschön auch die Reportage aus der „Leichte-Sprache- Monate im Ausnahmezustand arbeiten und so viel dafür Werkstatt“ der Samariterstiftung (→ S. 10) und die tun, dass trotzdem Normalität spürbar wird im Leben Weihnachtsgeschichte in leichter Sprache (→ S. 25). Ein der Klient:innen und Bewohner:innen. Haufenweise wirklich berührendes Beispiel, wie Sprache mitnehmen Sehnsucht nach Normalität. Es muss ja nicht alles wieder (oder eben auch ausschließen) kann. Vielleicht ist ja sein wie vor der Pandemie, aber die Rückkehr der so- gerade die Weihnachtsgeschichte eine sehr besondere zialen Kontakte, der unbeschwerten Begegnungen, der Synthese von Hören (oder Lesen) und (innerem) Sehen. Kultur, der gemeinsamen Feste, diese Normalität des Innere Bilder entstehen aus Worten, die vertraut sind Zwischen-Menschlichen, diese Normalität unbedingt oder hörend berühren und sich vertraut machen. Die schon. In diesem Sinne wird dann natürlich auch in Erzählung malt das Bild sozusagen in mich hinein, das einem Magazin ohne den Schwerpunkt Corona sichtbar Kind in der Krippe wird Teil meines Lebens-Bildes. So und hörbar werden, was in der Samariterstiftung und in wie (nur) ich es sehe. der Gesellschaft getan wurde, um die pandemische Zeit gut oder zumindest doch menschlich zu durchmessen. Dazu kommt ein Interview mit Herbert Rösch. Gesehen wurde die Not, in Ostfildern bezahlbaren Wohnraum für In diesem Magazin wird es um „Sehen und Hören“ Kolleg:nnen zu finden, die dort in den beiden Samariter gehen. Um „Sehen und Hören“, das Resonanz erzeugt stiften arbeiten. Der Wahrnehmung folgte das Nach- und durch dieses „Resonanzgeschehen“ zum Handeln denken und schließlich schritt die Gradmann-Stiftung führt. Für mich ist da Betroffenheit immer noch ein zur Tat: Gebaut wurde ein Wohnhaus für Pflegekräfte guter Begriff. Der Weg vom Sehen (oder Hören) zum mitten in Ruit, das „Haus Liselotte“ (→ S. 12)! Im Hospiz Tun führt über die Betroffenheit, über die (kognitive in Münsingen entsteht ein Raum der Stille. Ins Werk oder emotionale) Erkenntnis: Das geht mich (jetzt und gesetzt wird er von Martin Burchardt aus Tübingen. hier) etwas an. Das ist auch einer der Kernpunkte un- Ein Raum, der still ist und still macht. Ein Raum der serer namensgebenden Geschichte, des Gleichnisses Besinnung, des Über-sich-hinaus-Denkens. Ein Raum, vom Barmherzigen Samariter. Einer braucht Hilfe, ein der behütet und der etwas zu sagen hat auf dem Weg fremder Mensch. Zwei sehen (!) und gehen weiter. Einer des Sterbens (→ S. 20). sieht und ist betroffen und handelt. Zwei sehr grund- sätzliche Möglichkeiten, die wir Menschen sehr, sehr oft Es gibt ein schönes italienisches Sprichwort: „Zwischen haben. Wegsehen oder hinsehen. Sagen, das geht mich Reden und Tun liegt das Meer“. Vielleicht gilt das ja auch nichts an oder sagen, das geht mich was an. Handeln für das Sehen (und das Hören): „Zwischen dem Sehen oder weitergehen. Jesus positioniert sich im Gleichnis und dem Tun liegt das Meer“. In diesem Sinne wünsche eindeutig. Hinsehen, wahrnehmen und wahr sein lassen, ich uns einen guten Kompass und mit Leidenschaft für handeln – das ist zukunftsfähig. Einfach ist es eher nicht. das Leben gefüllte Segel. Damit wir handlungsfähig bleiben. Damit uns Hören und Sehen nicht vergehen. Dieses Magazin erzählt vom Sehen, vom Hören, vom Tun. Damit wir die vielfältigen Möglichkeiten unseres Lebens Wie wichtig das Hören ist, zeigt das Interview mit Andrea allenthalben und allerorten erspähen und erlauschen! Gurr zu Schwerhörigkeit im Alter (→ S. 6). Weghören, Viel Freude beim Lesen. Lassen Sie sich inspirieren! Frank Wößner Sabine von Varendorff Vorstandsvorsitzender Redaktionsleitung SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Hör mir zu Im Alter schwer zu hören, kann einsam machen. Die Folgen von Presbyakusis Seite 6 Farbe gibt Sicherheit und Identität Beim Umbau des Samariterstiftes Gärtringen wird ganz gezielt auf ein differenziertes Farbkonzept gesetzt Seite 15 Eine schönere Welt Inklusive TanzKompanie stellt „Renaissance“ vor und zeigt mit dem Stück, wie vielfältig Leben sein kann Seite 22
INHALT 6 ZU GAST 31 MENSCHEN HÖR MIR ZU MIT DURCHBLICK GELINGT Im Alter schwer zu hören, kann einsam ALLES BESSER machen. Die Folgen von Presbyakusis Mobile Optiker-Tage helfen den Menschen in Pflegeeinrichtungen 10 WIR DEUTSCHE SPRACHE SCHWERE SPRACHE 33 MENSCHEN Das Übersetzungsbüro für Leichte IST ES NOCH HELL? Sprache macht die traditionelle Ein Gespräch mit der Theologin Weihnachtsgeschichte für alle verständlich Susanne Krahe über sehende Blinde und blinde Sehende 12 HELFEN „WIR HABEN EINFACH GEHANDELT“ 35 WIR BEWEGEN Gradmann-Stiftung schafft mit Haus Die Stiftung findet gute Wege „Liselotte“ neuen Wohnraum für Pflegekräfte in Krisenzeiten 14 HELFEN 37 TERMINE EINE GUTE BEZIEHUNG Rebecca Gruel wohnt im Haus „Liselotte“ und liebt dessen Kanten 15 THEMA DIE STIFTUNG FARBE GIBT SICHERHEIT UND IDENTITÄT ZEIT FÜR MENSCHEN Beim Umbau des Samariterstiftes Gärtringen PRÄSENTIERT: wird ganz gezielt auf ein differenziertes Einblick Farbkonzept gesetzt Ausstellung in Münsingen klärt auf 18 THEMA Ausblick FARBWAHL LÄSST SICH LERNEN Andreas Schlegel ist neuer Andrea Schäfer, Farbdesignerin, ZfM-Geschäftsführer über die stärkende Kraft von Farben 20 HELFEN EINE PREDIGT FÜR DIE AUGEN Martin Burchard gestaltet Räume mit Kunst, die christliche Botschaften sichtbar macht 20/202 1 22 MENSCHEN AUSBL ICK EINBL ICK Ausstellung Andreas Schlegel ist in Münsingen klärt auf neuer ZfM-Geschäf tsführ er EINE SCHÖNERE WELT Inklusive TanzKompanie stellt „Renaissance“ vor und zeigt mit dem Stück, wie vielfältig Leben sein kann 25 DIE WEIHNACHTS-GESCHICHTE IN LEICHTER SPRACHE Zum Heraustrennen im Innenteil 29 ZU GAST HINSEHEN UND HANDELN Professor Christopher Osterhaus über die Dimensionen von Mitgefühl SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
ZU GAST Ist Schwerhörigkeit im Alter zwangsläufig oder lässt sich das verhindern? AG: Zunächst muss ich klar feststellen, dass Alters- schwerhörigkeit keine Erkrankung, sondern ein ganz normaler Alterungsprozess ist. Unterschiedliche Grün- de kommen als Ursache in Frage, doch dazu gibt es noch wenige Forschungen. Bekannt ist, dass Männer erstens früher und zweitens öfter davon betroffen sind. Das kann daran liegen, dass sie häufiger in Arbeitsumge- bungen tätig sind und waren, wo es sehr laut zugeht. Außerdem leben Frauen häufig gesünder als Männer, essen regelmässiger und achten besser auf sich. Das Altern aufhalten zu wollen, ist eine Sisyphusaufgabe. Nur prophylaktisch kann ich Vorsorge treffen und mein Ohr schützen. Der Mensch hört üblicherweise 7 DIE FRAGEN STELLTE Sabine von Varendorff Geräusche von dumpfem Gepolter bis hin zu hohen W Pfeiftönen und Lautstärken von 0 bis 120 Dezibel (dB). ir hören bevor wir sehen, und wenn wir Töne im Bereich bei 0 bis 20 dB sind sehr leise Töne, wie nicht mehr sehen können, hören wir immer etwa Flüstern oder Blätterrauschen. 20 bis 40 dB sind noch – der Hörsinn ist der differenzierteste bereits gut zu hören, wie das Weckerticken. Die normale all unserer fünf Sinne. Das Ohr verarbeitet mehr als Gesprächslautstärke liegt bei etwa 40 bis 60 dB. Das doppelt so viele Sinneseindrücke wie das Auge. Die Fluggeräusch eines Düsenjets am Himmel liegt bei rund Hörschnecke kann 7.000 verschiedene Tonhöhen 120 dB. Für Menschen mit einem guten Gehör liegt die auseinanderhalten. Manche Menschen können bis auf Schmerzgrenze bei etwa 130 dB. Wird es lauter, sollten zwei Grad genau die Richtung bestimmen, aus der ein wir uns die Ohren zuhalten. kurzes Schallsignal kommt. Gutes Hören ist von gro- ßer Bedeutung für eine hohe Lebensqualität: Sich mit Freunden und der Familie austauschen, Musik genießen, die Klänge der Natur erleben oder bei einem Fernseh „Wie kostbar der Hörsinn ist, abend entspannen – all das sind Momente im Leben, wird uns erst bewusst, wenn die untrennbar mit gutem Hören verbunden sind. Der Hörsinn dient Menschen außerdem zur Orientierung mit ihm etwas nicht stimmt.“ und alarmiert uns bei Gefahren, beispielsweise bei Hu- pen im Straßenverkehr. Was passiert, wenn Menschen Wir haben jetzt über den „biologischen“ Vorgang am Leben teilhaben möchten, aber nicht mehr gut gesprochen. Was bedeutet jedoch Hören? hören können? Das magazin hat darüber mit Andrea AG: Die menschliche Orientierung läuft auch über Gurr, Sozialpädagogin und Erzieherin, gesprochen, das Hören. Mit dem Gehör verbinden wir uns mit der denn als Autorin des Buches Altersschwerhörigkeit als Außenwelt. Für unsere Sprache brauchen wir das Hö- besondere Herausforderung der Sozialen Arbeit, ist sie ren. Ohne Sprache können wir nicht denken. Wenn Expertin mit Zusatzwissen aus der praktischen Arbeit. wir nicht hören, was das Gegenüber sagt, können wir mit ihm nicht in Kontakt treten. Der Hörsinn ist Magazin: Was war Ihr erster Eindruck, als Sie 2009 die scheinbar natürlichste Selbstverständlichkeit der anfingen, sich mit dem Thema „Hören im Alter“ zu Welt. Dank ihm können wir mit anderen Menschen beschäftigen? interagieren, das Leben genießen und sicher durch Andrea Gurr (AG): Ich war erschüttert, wie wenig Be- den Alltag navigieren. Wie kostbar der Hörsinn ist, achtung und Bedeutung dem Hören beigemessen wird. wird uns erst bewusst, wenn mit ihm etwas nicht Wir trauen eher unseren Augen als unseren Ohren. Und stimmt. Dabei ist deutlich zwischen Menschen zu es gab damals sehr wenige Forschungsarbeiten, die sich unterscheiden, die von Geburt an hörgeschädigt oder mit den Folgen von Presbyakusis, also der Altersschwer- gar gehörlos sind und jenen, die die Hörminderung hörigkeit, befasst haben. erst im Alter erwerben. SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Viele Menschen, die von Geburt an gehörlos sind, vorzugehen. Es bedarf aber einer guten Aufklärung und erlernen die Gebärdensprache und machen sich so Begleitung, weil es mit einem Hörgerät nicht wie mit verständlich. Ist das eine Alternative für schwer einer Brille ist, die aufgesetzt wird und alles ist wieder hörige Menschen im Alter? gut. Wer ein Hörgerät tragen möchte, der muss es sehr AG: Nein, denn die Deutsche Gebärdensprache (DGS) gut angepasst bekommen. Zudem ist es wichtig, dass ist eine ganz eigene, sehr komplexe Sprache mit einer das Hören mit einem Hörgerät trainiert wird. Denn es eigenen Grammatik. Zudem müsste auch das Umfeld hört sich anders an, als Hören ohne technische Hilfe. DGS können. Umgekehrt entscheiden sich Menschen, Früher war das Tragen eines Hörgerätes das sichere die noch nie gehört haben, auch immer häufiger, sich Zeichen dafür, dass jemand alt war. Heute bekennen sich nicht mehr in die Lautsprache zwingen zu lassen. Diese immer mehr Menschen ganz frei und offen dazu, dass zu erlernen, ist für sie eine Qual. sie ein Hörgerät tragen. Auch jüngere. Außerdem sind die Geräte heutzutage technisch sehr viel versierter und Wie ist festzustellen, dass eine verminderte Hör filtern Störgeräusche gut weg. Trotzdem, ich höre mit leistung vorliegt? Hörgerät völlig anders als ohne – und das muss mein 8 AG: Das können die Betroffenen oft nicht selbst fest- Gehirn erst lernen. stellen, weil der Prozess schleichend ist. Sie können zum Beispiel das Vogelgezwitscher nicht mehr hö- Was bedeutet es für Menschen, schlecht zu hören, ren, denn meist verlieren die Menschen die hohen wenn sie sowieso schon kognitiv abgebaut haben? Frequenzen zuerst. Dazu zählen auch Frauen- oder AG: Sie sprechen von demenziell erkrankten Menschen. Kinderstimmen. Sie haben dann häufig das Gefühl, Nun, wir wissen, dass gerade Menschen mit fortge- dass die Menschen um sie herum nuscheln. Angehörige schrittener Demenz oft durch vertraute Kirchenlieder können, wenn sie aufmerksam sind, früher feststellen, oder ähnliches aus ihrem Entrücktsein geholt werden dass etwas nicht stimmt. Wenn mir der Angesprochene können. Sie sprechen tagelang kein Wort, können aber ganz konzentriert auf den Mund schaut oder oft nach- jede Strophe eines Volksliedes mitsingen. Es ist bekannt, fragt, wenn der Fernseher oder das Radio immer lauter dass unser Gedächtnis bestimmte Geräusche etwa für gestellt wird, dann stimmt wahrscheinlich etwas mit drei Jahre erinnert. Danach sind sie weg, wenn sie dem Hören nicht. nicht stetig wiedergehört werden. Das Grillenzirpen am Strand, Meeresrauschen oder die Türklingel beim Wie sollte dann reagiert werden? Brötchenkauf als Kind: Bestimmte Geräusche erinnern AG: Ganz sicher nicht, indem einfach lauter gespro- uns an besondere Orte und Erlebnisse. Sie und die chen wird. Probieren Sie es aus. Sagen Sie einmal leise Emotionen, die sie auslösen, fehlen uns, wenn wir sie und dann sehr laut: „Zieh deine Jacke an“. Der laute nicht mehr hören. Emotional aufgeladene Geräusche Satz wirkt, obwohl es dieselben Worte sind, sehr viel aggressiver. Außerdem ändert sich der Gesichtsaus- druck, wenn ich laut spreche. Ich sehe dann gleich viel TIPPS ZUR KOMMUNIKATION böser aus. Ein Hörverlust kann die unterschiedlichsten MIT SCHWERHÖRIGEN Bereiche des Lebens erschweren. Soziale Kontakte im Privatleben zu halten, wird zur Herausforderung. Das • Sätze klar und deutlich formulieren kann zu einer sozialen Isolierung führen, wodurch und nicht zu schnell sprechen ein großes Stück der Lebensqualität verloren geht. • Kurze Sätze verwenden, möglichst Aktuelle Studien zeigen sogar einen Zusammenhang ohne Dialekt zwischen unversorgtem Hörverlust, Höranstrengung • In normaler Lautstärke sprechen und der geistigen Fitness. Deshalb sollte bei einer Hör- • Nicht ins Ohr flüstern oder rufen minderung frühzeitig ein HNO-Arzt oder Hörakustiker • Während des Sprechens Blickkontakt aufgesucht werden. halten und für gute Beleuchtung sorgen Heißt das, die Versorgung mit einem Hörgerät ist • Vor körperlicher Kontaktaufnahme die beste Hilfewahl? optische Signale vereinbaren. Nicht AG: Definitv, weil es unbedingt wichtig ist, frühzeitig einfach ohne Vorwarnung berühren gegen den Verlust von Kontakten und Lebensqualität
ZU GAST hinterlassen stärkere Spuren im Hirn, denn sie aktivie- ren ein bestimmtes Hirnareal, die Amygdala. Diese ist immer aktiv, wenn wir starke Emotionen fühlen: auch bei Angst oder Erregung. Wenn also ein demenziell er- krankter Mensch schwer oder kaum noch hört, verliert er damit auch noch diese Art des Erinnerns. Ihm geht Vertrauen und Sicherheit ins Leben verloren. Wie merke ich, dass ein demenziell erkrankter Mensch schwerhörig ist? AG: Tja, das ist nicht ganz einfach. Oft wird die Schwer- hörigkeit selbst für Demenz gehalten. Jemand vergisst eine Absprache, das wird für Vergessen gehalten. In Wirklichkeit jedoch, hat er einfach nicht gehört, was er einhalten soll. Solche Missverständnisse führen 9 dazu, dass weder mit der Schwerhörigkeit noch mit PRESBYAKUSIS ist der medizinische der Demenz angemessen umgegangen wird. Sollten da Fachb egriff für Altersschwerhörigkeit. Fragen im Raum stehen, dann bitte beide möglichen Laut Definition beschreibt die Presbyakusis Befunde abklären lassen. Fest steht jedenfalls, dass, das langsam nachlassende Hörvermögen wenn Anreize von außen fehlen, das nennt sich fach- ab dem 50. Lebensjahr. Im Gegensatz zur sprachlich Deprivation, das Risiko erhöht ist, an Demenz Schwerhörigkeit, die in jeder Lebensphase zu erkranken. auftreten kann, liegt der Altersschwer- hörigkeit keine Erkrankung zugrunde. Was kann getan werden, damit Menschen im Alter, Vielmehr sind es Verschleißerscheinungen selbst wenn sie schwer hören, nicht in die Isolation an den Haarzellen des Innenohres sowie abrutschen? am Hörnerv und dem Hörzentrum, die zur AG: Ich plädiere für ein einfühlsames Umgehen mitei- fortschreitenden Schwerhörigkeit führen. nander und ein geschärftes Bewusstsein, dass Hören Zudem hinterlässt die Lärmbelastung der und vor allem gutes Hören keine Selbstverständlichkeit Umwelt Spuren. Altersschwerhörigkeit ist. In vielen Häusern wird beispielsweise schon darauf wird beschleunigt, wenn andere Faktoren geachtet, beim Mittagessen nicht unnötig mit Geschirr wie Herz-Kreislauf- und Stoffwechsel- zu klappern oder nicht ununterbrochen den Fernseher Erkrankungen, erbliche Veranlagung oder oder das Radio laufen zu lassen, damit sich Menschen Nikotinkonsum hinzukommen. Der Prozess besser unterhalten und verstehen können. Solche Maß- der Altersschwerhörigkeit geht schleichend nahmen helfen sehr. ■ einher, beginnt – wie bei Schallempfindungs- störungen charakteristisch – meist mit dem Hörverlust hoher Frequenzen und dem Verlust des Sprachverständnisses in einem Andrea Gurr, Dipl.‐ Sozialpädagogin, Erzieherin, lauten Umfeld (Cocktail-Party-Effekt). SACHBUCH SOZIALE ARBEIT/ ALTENHILFE Jahrgang 1968. „Dieses Buch BUCHTIPP ist an alle adressiert, die in ihrer Arbeit oder in ihrem täglichen Leben mit Seniorinnen und Se‐ Geräusche werden schneller als schmerz- nioren zu tun haben, auch wenn Andrea Gurr im Buch von „Sozialer Arbeit“ gesprochen wird. Dieser Umstand ist der Tatsache geschul‐ haft empfunden, das bedeutet: Die Unbe- det, dass das Buch auf meiner Diplomarbeit (zur Erlangung des akademischen Grades Diplom‐ Sozialpädagogin FH, an Andrea Gurr der Hochschule Landshut, University of Applied Sciences‐ Altersschwerhörigkeit haglichkeitsschwelle wird herabgesetzt. Der FH) basiert. Der etwas sperrige Titel des Buches weist be‐ reits darauf hin. Altersschwerhörigkeit Im Gespräch mit Pflegedienstleitungen in der stationären Seniorenarbeit, einer Dozentin an einer Altenpflegeschule als besondere als besondere Prozess geht vielfach mit einem konstanten und mit Altenpflegefachkräften stellte sich aber bald her‐ Herausforderung aus, dass diese Diplomarbeit auch einen praktikablen Leit‐ Herausforderung der faden für den täglichen Umgang mit Seniorinnen und Seni‐ Ohrgeräusch (Tinnitus) einher. oren mit Altersschwerhörigkeit abgeben könnte. Ich möch‐ te die Leserinnen und Leser ermuntern, dieses Buch als Einstieg in die Thematik zu verstehen.“ Andrea Gurr Sozialen Arbeit der Sozialen Arbeit Altersschwerhörigkeit als Andrea Gurr: Altersschwerhörigkeit Mit einem Vorwort von besondere Prof. Dr. Clemens Dannenbeck 108 Seiten, 2009, 15.90 € Herausforderung der Sozialen Arbeit ISBN 978-3839123898 PRAXIS METHODE PRAXIS METHODE Books on Demand LEHRE LEHRE SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
10 Deutsche Sprache Schwere Sprache Das Übersetzungsbüro für Leichte Sprache macht die traditionelle Weihnachtsgeschichte für alle verständlich D eutsche Sprache – schwere Sprache!“ So hat Menschen mit und ohne Behinderung arbeiten im der Schriftsteller Mark Twain vor knapp 200 Übersetzungsbüro in Aalen Hand in Hand. Sie über- Jahren über das Deutsche geurteilt, nachdem setzen Texte wie Informations-Schreiben, Behörden- er selbst Europa bereist und Deutsch gelernt hatte. Schreiben, Falt-Blätter, Verträge oder Vereinbarungen. Was ihn am meisten ärgerte, war zum Beispiel, dass Sie machen dabei aus schwieriger Sprache Leichte „jedes Substantiv sein grammatisches Geschlecht hat, Sprache. Dazu gehören zum Beispiel kurze Sätze, die und die Verteilung ohne Sinn und Methode ist. Man Erklärung von schwierigen Worten und Bilderspra- muss bei jedem Substantiv das Geschlecht eigens che zu schwer verständlichen Textabschnitten. Die mitlernen. Um das fertig zu bringen, braucht man Übertragung von Texten in Leichte Sprache ist nicht ein Gedächtnis wie ein Terminkalender. Ein Baum ist vergleichbar mit Übersetzungen in eine Fremdsprache. männlich, seine Knospen sind weiblich, seine Blätter Die Übersetzer von Leichter Sprache arbeiten zunächst sächlich“. Soweit zur Schwere der deutschen Sprache die Kernaussage des alltagssprachlichen Textes heraus für Nichtdeutsche. Doch unsere Sprache ist nicht nur und geben diese dann in einfacher, leicht verständlicher für Menschen anderer Nationalitäten schwer. Auch für Form wieder. Dabei lassen sie die Gesichtspunkte, die Menschen mit Lernschwierigkeiten, mit demenzieller nicht zum Ziel führen, weg. Pro Satz wird nur eine Bot- Erkrankung, mit Sehbehinderung oder mit geistigen schaft übermittelt. Es gibt am Ende einer Zeile keine Beeinträchtigungen, sind Behörden-Schriftstücke, getrennten Wörter. Zusammengesetzte Wörter wie Gebrauchsanweisungen oder einfach nur die Tages Haus-Tür erhalten einen Bindestrich, damit sie besser zeitung, ein Buch mit sieben Siegeln. Sie sind von visuell wahrgenommen werden können. Es wird kein einem Teil des alltäglichen Lebens ausgeschlossen, Genitiv verwendet. Ein langer Text erhält Zwischen- weil sie nicht verstehen können, was da geschrieben überschriften. Für die Leichte Sprache gibt es etliche steht. Die Sprachbarrieren müssen fallen! Deshalb Regeln, wie etwa die Nutzung von kurzen Hauptsätzen gibt es das Übersetzungsbüro für Leichte Sprache der und die Verwendung einfacher, bekannter Wörter. Samariterstiftung. Die Schrift muss 14 Punkt haben, heißt: so groß sein,
WIR dass sie ohne Probleme erkannt werden kann. Sie hat Sprache informiert. Dadurch, dass viele den Text prü- keine Schnörkel oder Schlenker. Alle übersetzten Texte fen, fließen viele unterschiedliche Verständnisprobleme werden vom Prüfer-Team korrekturgelesen und erst in die Arbeit ein. „Wir finden alles“, ist sich Carmen danach freigegeben. So wird in Aalen ein besonderer Scheerer sicher. Wenn trotz größter Mühen noch Er- Qualitätsstandard eingehalten, der für Leichte Sprache klärungsbedarf besteht, wird ein Bild zum Wort dazu nicht selbstverständlich ist. gewählt. Übrigens ist zwischen Leichter Sprache und Einfacher Sprache ein großer Unterschied. Leichte Eine Sitzung mit dem Prüfer-Team des Übersetzungs- Sprache bedeutet, dass Texte und Sprache einfach zu büros ist spannend und schult den eigenen Verstand, die verstehen sind. Für Leichte Sprache gibt es ein festes Sprache einmal völlig neu zu denken. „An-streng-end“ – Regelwerk. Einfache Sprache ist komplexer als Leichte Sie wissen, was das meint. Ein Mensch mit Lernschwie- Sprache. Die verwendeten Wörter dürfen schwieriger rigkeiten hat mit diesem dreiteilig gesprochenen Wort sein, längere Sätze und Nebensätze sind erlaubt. Es allerdings Verständnisschwierigkeiten. Herbert Setzer müssen nicht nach jedem Satzzeichen Absätze einge- und Carmen Scheerer sind beim Lesen der traditionel- fügt werden. Im Gegensatz zur Leichten Sprache gibt len Weihnachtsgeschichte über dieses eigentlich völlig es für die Einfache Sprache kein festes Regelwerk. Allein 11 alltägliche Wort gestolpert. Aufgefallen ist es ihnen, schon wegen der Regeln ist es empfehlenswert, sich an weil kurz davor steht, dass der lange Weg nach Bethle- professionelle Übersetzungsbüros zu wenden, die diese hem für alle anstrengend war. Zunächst probierten sie Regeln kennen und in denen Menschen mit Lernschwie- denselben Satz mit der Formulierung „nicht leicht“ … rigkeiten an der Übersetzung mitwirken. und waren noch nicht einverstanden. Es wurde weiter überlegt, und schließlich einigten sich Carmen Scheerer Das Übersetzungsbüro in Aalen ist Mitglied im Netz- und Herbert Setzer auf „nicht einfach“. Das Übersetzen werk Leichte Sprache. Alle, die die Texte prüfen, werden in Leichte Sprache ist ein aufwändiger Prozess. gründlich in einem mehrtägigen Kurs auf diese Aufgabe vorbereitet und lernen die Regeln der Leichten Sprache Der Auftrag, die Weihnachtsgeschichte, wie sie im kennen. Ziel ist es, eine verständliche Übersetzung Lukas-Evangelium steht, zu übersetzen, kam aus dem zu erstellen. Dazu wird interpretiert, Überflüssiges Referat für Diakonie und Theologie der Samariterstif- weggelassen. Was am Ende dabei herauskommt, ist ein tung. Zunächst wird dann das Original von Fachmit- klar verständlicher Text, keine Eins-zu-Eins-Über- arbeitenden im Übersetzungsbüro in Leichte Sprache setzung. Deshalb wird aus dem „Gebot“ des Kaisers übertragen. Diese Version wird dem Prüfer-Team, in Augustus ein „Befehl“. Aus demselben Grund beginnt dem Männer und Frauen tätig sind, vorgelegt. Alle in die Übersetzung zunächst einmal damit, dass erklärt diesem Prüferteam haben eine Beeinträchtigung und wird, wo die Weihnachtsgeschichte zu finden ist: in bringen ein besonders Talent mit. Carmen Scheerer ist der Bibel. Und was ihre Kernbotschaft ist: die Geburt sehr genau, auch was das Layout eines Textes angeht. Jesu. Dann werden die drei Personen genannt, um die Ihr entgeht kein Linksruck im Satz. Herbert Setzer es hauptsächlich in der Geschichte geht: Maria, Josef prüft allgemein die Verständlichkeit und findet leicht und Jesus. So konzentriert auf das Wesentliche wird die gleichbedeutende Ausdrücke für schwierige Wörter. Weihnachtsbotschaft im wahren Wortsinn noch ergrei- fender. Sie finden die gesamte Weihnachtsgeschichte in Leichter Sprache zum Herausnehmen in der Mitte „Wir finden alles“ des Magazins – eine Anregung, um in diesem Jahr den Weihnachtsgottesdienst zu gestalten. ■ SVV So hat der 70-jährige Herbert Setzer kein Verständnis- Problem mit dem Ausdruck „in Windeln gewickelt“, selbst wenn Babys heutzutage einfach Pampers mit HIER WIRD FÜR SIE ÜBERSETZT Klebestreifen angepasst bekommen. Also bleibt „in Samariterstiftung Windeln gewickelt“ im Text stehen. Beide sind ein Teil Übersetzungsbüro für Leichte Sprache der fünfköpfigen Gruppe im Prüfer-Team. Carmen Jahnstraße 14 73431 Aalen Scheerer, die richtig viel Spaß an Sprache und Worten Telefon: 07361 / 564 300 hat, gibt sogar inklusive Workshops für Behörden oder E-Mail: leichte-sprache@samariterstiftung.de Firmen, in denen sie über die Besonderheiten Leichter www.samariterstiftung.de SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Gradmann-Stiftung schafft mit Haus „Liselotte“ neuen Wohnraum für Pflegekräfte mitten in Ruit „WIR HABEN EINFACH GEHANDELT“ DIE FRAGEN STELLTE Sabine von Varendorff W as ist der Gesellschaft die Pflege in der Zukunft wert? Trotz der positiven Entw icklungen Zusammenhang besteht. Klartext: Selbst wenn Interesse an Arbeit in der Pflege besteht, kommen die Arbeits- Magazin: Herr Rösch, wie kam es zu der Idee, hier in Ruit für Pfle gekräfte zu bauen? der öffentlichen Wahrnehmung in suchenden nicht, denn sie können Herbert Rösch (HR): Wir haben der Corona-Pandemie ist die Pflege sich das Wohnen in der Nähe ihres uns umgeschaut und gesehen, dass und insbesondere die Altenpflege Arbeitsplatzes nicht leisten. Ziehen es Menschen gibt, die gern in der in hohem Maß herausgefordert. Die sie in Gegenden, in denen sie die Pflege arbeiten möchten, sich aber Arbeitsbedingungen und -anfor Miete finanziell stemmen können, die Mietpreise hier im Großraum derungen sind noch komplexer zahlen sie – im Wortsinn – zu viel um Stuttgart nicht leisten können. geworden. Alles nur eine Frage Wegegeld. Dann genügt weiter ein Blick auf von mehr Lohn? Auf dem unlängst den Mangel an Pf legepersonal. veranstalteten Deutschen Pflege- Das magazin hat sich mit Herbert Uns fehlen qualifizierte Mitarbei- tag, dem führenden Fachkongress Rösch, Geschäftsführer der Erich tende. Das sind drei gute Gründe, für die beruflich Pflegenden in und Liselotte Gradmann-Stiftung um ins Handeln zu kommen. Um Deutschland, wurde festgestellt, unterhalten, die in Ruit das Haus mehr Arbeitsk räfte aus dem pfle- dass zwischen der Personalsituation „Liselotte“ als bezahlbaren Wohn- gerisch-sozialen Bereich gewinnen in der Altenpflege und den Woh- raum für Pflegekräfte im Ortszen- und halten zu können, müssen wir nungsmarktpreisen ein deutlicher trum gebaut hat. bezahlbaren Wohnraum schaffen.
HELFEN Jetzt liegt das Samariterstift Der Bau sieht sehr beeindruckend Das heißt, die Mieter:innen sind Ruit, das Haus gehört der Grad aus. nicht nur einen Steinwurf vom Ar mann Stiftung, mitten im Ort. HR (lacht): Ja, er ist das neue beitsplatz entfernt, sondern sie Wie ließ sich hier ein Bauplatz Wahrzeichen von Ruit, mit der auf- werden auch wie selbstverständ finden? gefächerten Fassade. Insgesamt hat lich ins Gemeinwesen integriert, HR: Das war wirklich nicht einfach. der Bau sechs Stockwerke, wobei weil sie mitten im Ort leben? Es sollte ja in unmittelbarer Nähe sich das Objekt vom ersten Ober- HR: Ja, genau. An diese Dinge ist zur Pflegeeinrichtung entstehen. geschoss an aus zwei getrennten beim Bau gedacht worden. Solch Was wir gefunden haben, war die- Baukörpern zusammensetzt. Sie ein Bauprojekt wäre auf dem freien ses Grenz-Grundstück. Die Besitz sind durch ein gemeinsam genutz- Markt nicht realisierbar gewesen. verhältnisse waren mit sieben ver- tes Untergeschoss miteinander ver- Das geht nur als Stiftungsprojekt. schiedenen Eigentümern zu klären, bunden. Es ist zudem ein Innenhof Dieser Weg ist ein guter, weil wir bevor mit der Planung begonnen mit sieben Parkplätzen entstanden. ganz pragmatisch dort handeln, wo werden konnte. Und schließlich Im Erdgeschoss des Hauses ist ein wir Notstand und Mangel sehen. die Bebauung des ganz speziell Café mit 30 Sitzplätzen innen und Wir sind sehr dankbar, dass wir 13 geschnittenen Areals. Wir konnten 20 Sitzplätzen außen entstanden. So gerade für diese systemrelevanten dafür Kauffmann, Theilig und Part- wird das Haus nicht nur freitags, am Berufe etwas bewegen konnten. Da ner, freie Architekten in Ostfildern, Markttag, in Ruit zum Treffpunkt in konnte etwas realisiert werden, was gewinnen. der Ortsmitte. ganz konkret hilft und Missstände aufhebt. ■ Wie sah die Planung genau aus? HR: Es ist ein Gebäudeensemble in bester inner s tädtischer Lage auf der Ecke Kirchheimer-/Hedel finger Straße entstanden. Die 14 Mietwohnungen haben zwischen 60 und 105 Quadratmetern Wohn fläche, teilweise auch mit Balkon. Statt der üblichen 13 oder 14 Euro pro Quadratmeter zahlen die Pfle- gekräfte für die Werksdienstwoh- nungen etwa acht Euro Kaltmiete. Die verbleibenden fünf bis sechs Euro subventioniert die Gradmann- Stiftung. Ein großer Vorteil ist außerdem, dass die Wohnungen gut für Wohngemeinschaften für bis zu vier Personen geeignet sind. An wen haben Sie dabei gedacht? HR: Es kommen viele junge Men- schen aus unseren Nachbarländern in Osteuropa. Wenn sie zusammen wohnen können, stärkt das die Menschen und verringert das Heim- weh. Auch das Lernen einer neuen Sprache fällt in Gemeinschaft doch leichter. SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Rebecca Gruel wohnt im Haus „Liselotte“ und liebt dessen Kanten EINE GUTE BEZIEHUNG 14 D a steht ein Haus auf der Ecke mitten in Ruit und dahinter kommt noch ein Haus und daneben noch eines … das ist das Geheimnis des Hauses lassen. Ob Besucher:innen auf dem Sofa sitzen oder am Esstisch, nirgends ist Straßenlärm zu hören. Die Wohnung ist extrem gut isoliert.“ Gleiches gilt für „Liselotte“: das Offensichtliche ist nicht alles! Au- die Dämmung. „Obwohl ich unter dem Dach bin, ßen wie innen hat es seine Ecken und Kanten – und war es auch im Sommer nicht zu heiß.“ Insgesamt gerade die machen es „be-lebens-wert“. Rebecca betrachtet die gelernte Gesundheits- und Kran- Gruel ist stellvertretende Pflegedienstleitung und kenpflegerin die Wohnung als „puren Glücksfall“. Praxisanleiterin im Samar iterstift Ruit. Das liegt „Ich spare mir Zeit, Stress, Nerven und Benzin, weil nur einen Steinwurf und durch die Hauptstraße Arbeit, Einkaufen und Ärzte, einfach alles, in fußläu- getrennt vom Haus „Liselotte“. „Von meinem Balkon figer Nähe ist.“ Davor hat sie in Sillenbuch gewohnt. aus kann ich das Samariterstift nicht sehen. Da liegt Stuttgarter Mietpreise sind ihr vertraut. „Ich zahle noch ein Haus davor“, beschreibt Rebecca Gruel den für fast zwanzig Quadratmeter mehr nur 100 Euro Blick von ihrer Loggia aus, „das ist gut so, denn ich mehr an Kaltmiete als bisher. Das ist unglaublich.“ finde, es muss eine klare Trennung zwischen Arbeit Im Mai ist die junge Frau als eine der ersten ins Haus und Wohnen geben.“ Sie könnte sich nicht vorstel- „Liselotte“ eingezogen. Es gibt hier zwei Wohnge- len, in ein und demselben Haus zu leben und zu meinschaften und es wohnen einige Kolleg:innen arbeiten. „So ist das perfekt.“ Ihre Wohnung selbst aus der Leitung ebenfalls mit im Haus. „Ich merke, ist 84 Quadratmeter groß und ein Schmuckstück. dass es dem Teamgeist guttut, dass wir auch privat Sie hat kaum eine gerade Wand. Hier eine Schräge, in Kontakt miteinander sind“, hat Rebecca Gruel da ein Fall. In die extrem hohe Decke, die den äu- beobachtet. Wie das so bei neuen Wohnungen meist ßeren Giebel wiedergibt, sind lange Lichtbänder, ist, muss auch das Eine oder Andere nachgebessert die wie Fenster aussehen, aber nicht zu öffnen sind, werden, aber „ich habe eine echt gute Beziehung zu eingelassen. „Ich habe es sehr hell“, sagt die 37- meiner Wohnung. Ich finde, man kann nicht überall Jährige. Hell und charaktervoll – doch, so lässt sich wohnen. Die Wohnung muss zu mir passen. Da muss das Domizil beschreiben. Durch die ausgefallene etwas zwischen uns sein.“ Zwischen Rebecca Gruel Architektur bietet die Wohnung mehrere Ecken und und dem Giebelnest im Haus „Liselotte“ stimmt’s. Nischen, die sich speziell einrichten und ausstatten ■ SVV
THEMA FARBE GIBT SICHERHEIT UND IDENTITÄT Skizze Farbkonzept Gärtringen, hubraum4 Beim Umbau des Samariterstiftes Gärtringen wird ganz gezielt auf ein differenziertes Farbkonzept gesetzt S chon 2030 wird in Deutschland jeder vierte In einer Studie der Universität Liverpool von Psycho Mensch älter als 65 Jahre sein. Fest steht: Men- logie-Professorin Sophie Wuerger ist festgehalten, dass schen haben im Alter ganz andere Sehbedürfnis- Muster und glänzende Flächen für ältere Menschen zu se als die jüngere Generation. Mit den Jahren verändert blinden Flecken werden, weil mit dem Alter Netzhaut- sich die Wahrnehmung von Licht, Mustern und Glanz. zellen absterben. Reflektierende Oberflächen können So entscheidet beispielsweise die Größe der Pupille, deshalb vollkommen irritieren. „Für uns als Architekten wie gut sich das Auge auf veränderte Lichtverhältnisse steht bei allen Planungen immer der Mensch mit seinen einstellen kann. Bei jungen Menschen kann sich die Bedürfnissen im Mittelpunkt. Deshalb müssen wir mit Pupille ruckzuck von 1,5 auf acht Millimeter vergrößern. unserer Arbeit auch dem anderen Sehbedürfnis gerecht Bei älteren Menschen bleibt sie nahezu konstant bei vier werden“, erzählt Henriette Huster-Braumann. Sie ist Millimetern Größe. Das ist nur ein Fakt, der belegt, wie wie ihr Ehemann und Büropartner Peter Braumann dringlich es ist, sich mit den Wirkungen von Farben auf Hochbauarchitektin. Beide decken zudem mit ihrem Menschen im Alter zu befassen. Bei der Umgestaltung Büro die Bereiche Innenarchitektur, Design und Grafik des Samariterstiftes Gärtringen hat ein Team rund um ab. „Keines der Geschäftsfelder kann getrennt gesehen das Architektenpaar Huster und Braumann (hubraum4) werden“, sagt die Architektin, die sich mit einer spezi- aus Sindelfingen deshalb ein ausgefeiltes Konzept für ellen Fortbildung (→ S. 18) für den Bereich „Farben im die Farbgestaltung entwickelt. Alter“ qualifiziert hat. „Jeder Mensch geht mit dem SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
16 „Die Sprache der Farbe wirkt direkt auf die Psyche und den Körper der Menschen“ Skizze Farbkonzept Gärtringen, hubraum4 Raum, in dem er sich aufhält, in eine Beziehung. Der erhellen und gliedern die Flure und Aufenthaltsberei- Raum muss für den Menschen gut erfahrbar sein. Des- che. Zusätzlich bekommen die Wohngruppen eine neue halb denken wir Raum immer in der Gesamtheit seiner Beleuchtung und akustische Maßnahmen erhöhen den gestalteten Elemente“, erklärt Peter Braumann eine der Wohnkomfort. Während bisher die Bodenbeläge der Handlungsmaxime des Architekturbüros hubraum4. Gemeinschaftsflächen und der persönlichen Zimmer verschiedenfarbig waren, wird es in Zukunft einen ein- „Beide Architekten waren immer wieder in unserem heitlichen Bodenbelag geben. Der ist einige Nuancen Haus und haben sich mit Bewohner:innen und Mitar- heller für alle Räume. Dafür hatten sich die Bewoh- beiter:innen unterhalten, umgesehen und Erfahrungen ner:innen ausgesprochen. Die persönlichen Zimmer gemacht“, berichtet Matthias Kircher, der Hausleiter werden mit farbigen Akzent-Wandflächen gestaltet, in Gärtringen, „sie begeben sich in das Thema rein, sie die zur Farbe des betreffenden Stockwerkes passen bewegen das Thema „wie sehen Menschen im Alter“. und eine individuelle Stimmung und Identität vor und Das Farbkonzept, welches mittlerweile aufgrund dieser im Zimmer erzeugen. Beobachtungen und der Teamkommunikation zwischen der Planungsabteilung der Hauptverwaltung der Stif- „Farbe gibt Sicherheit und Orientierung“, weiß Matthias tung, Bewohner:innen und etlichen anderen zustande Kircher, „demenziell erkrankte Menschen leben oft kam, ist passgenau. „Wir haben uns um einen hohen in ihrem ganz eigenen Lebenskorridor. Sie verlassen Grad an Wohnlichkeit bemüht“, sagt Peter Braumann, ihn, wenn sie plötzlich sehen, dass die Tür einen roten „die sehr langen und bisher dunklen Flure werden durch Rahmen statt eines blauen trägt. So wissen sie, dass sie Farbgestaltung der kleineren Nischen aufgelockert.“ nicht vor ihrem Zimmer stehen.“ Auch die Lichtschalter Auch die abgehängten Deckensegel, die das Thema von sind beispielsweise mit farbigen Flächen eingefasst und weißen Schönwetter-Wolken am Himmel aufgreifen, somit leicht zu erkennen und identifizieren das jeweils
THEMA richtige Bewohner:innenzimmer. Jedem Stockwerk ist im Treppenhaus eine eigene Farbe zugeordnet. Regelmäßig „Farbe ist ein trifft sich im Samariterstift Gärtringen eine Planungs- gruppe, die den Umbau bei laufendem Betrieb steuert. zusätzlicher Dazu gehören Jürgen Hartmann und Sixten Schoo von sinnlicher Impuls“ der Planungs- und Bauabteilung Samariterstiftung, die beiden Architekten von hubraum4, Matthias Kircher als „Je nachdem wie kühl, frisch, warm oder harmonisch das Hausleitung Samariterstift Gärtringen und künftig auch Zusammenspiel der Farben ist, können Menschen zum Vertreter:innen des Heimbeirates. „Die Bewohner:innen Frösteln, Bewegen, Innehalten oder wohligem Verweilen können uns am besten erzählen, wie mäßig belichtete gebracht werden. Die Sprache der Farbe wirkt direkt Zimmer, kontrastarme Raumkanten oder reflektierende auf die Psyche und den Körper der Menschen. Deshalb Oberflächen auf sie als alte Menschen wirken“, erklärt hat eine gelungene Farbgestaltung für Pflegehäuser die hubraum4. Die Architekten sind dankbar dafür, dass Aufgabe, den Bewohner:innen ein Gefühl von Da-„heim“, Bewohner:innen sie sogar ins eigene Zimmer eingeladen Identität, Geborgenheit und von Sicherheit zu schen- haben und Wünsche und Bedürfnisse direkt in eine ken. Ein positives Lebensgefühl ist für Menschen, die 17 bessere Planung einfließen können. „Wir schneidern pflegebedürftig geworden sind, die den ganzen Tag in individuell und auf Maß. Es soll ein gelöstes, lebens- der Einrichtung, auf ihrem Stockwerk oder gar in ihrem frohes und lichtes Farb- und Gestaltungskonzept sein, Zimmer verbringen, sehr wichtig. Wer sich aus Angst das gezielt auf die Bedürfnisse der Bewohner:innen und vor dem dunklen Flur oder den Lichtgestalten in der auch der Mitarbeiter:innen abgestimmt ist.“ Gegen- Ecke vorne links nicht mehr aus seinem Zimmer traut, wärtig sei der Flur kein schöner Ort. Dort würden die leidet. Farbe ist ein zusätzlicher sinnlicher Impuls, der Augen sehr geblendet und der eigentliche Weg sei nicht die betreuten Menschen beruhigt, stimuliert, der ihre mehr sichtbar. „Licht ist zunächst völlig neutral. Erst Lebensenergie steigert oder Unruhe vermindert. wenn es irgendwo auftrifft, wird es sichtbar. Wenn ich mich nicht um genau dieses Auftreffen kümmere, dann Die Umgestaltung des Samariterstiftes Gärtringen ist kann es Überblendungen oder Verschattungen geben“, ein Prozess, der wegen der Vorgaben der Landesheim- erklärt hubraum4. Deshalb stelle sich stets die Frage, bauverordnung nötig wurde, in dessen Verlauf allerdings welche Aufgabe das Licht an einem Ort übernehmen auch viele baulichen oder technischen Verbesserungen soll. Funktion und Atmosphäre spannen den Bogen zwi- angepackt werden, die nach 25 Jahren Hausbestehen schen guter Orientierung oder gemütlichem Aufenthalt. angefallen sind. So werden die Bewohner:innen- Zimmer internetfähig oder die Lichtrufanlage wird ausgetauscht. „Wir verbinden die Notwendigkeit des Umbauens mit unserer Wunschliste“, sagt Matthias Kircher und verspricht, „dass niemand sein Zimmer Veränderung der Farbwahrnehmung im Alter verlassen oder umbauen lassen muss, wenn er es nicht wünscht. Die Modernisierung der Zimmer geschieht nur in enger Absprache mit den Bewohnenden.“ Auch wenn die Zeit der Bauarbeiten viele Unannehm- lichkeiten mit sich bringt, freuen sich alle Beteiligten auf die neuen und schön gestalteten Räumlichkeiten des Hauses. ■ SVV SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
DIE FRAGEN STELLTE Sabine von Varendorff Farbwahl lässt sich lernen 2060 wird jede dritte Person der und Flexibilität betrifft. Im Bereich Welches sind denn die gravie Gesamtbevölkerung älter als 65 der stationären Pflege stehen bei rendsten Veränderungen wenn Jahre sein, beschreibt eine Quelle der Planung außer einrichtungsspe- die Augen alt werden? der Bundeszentrale für politische zifischen Anforderungen schon jetzt AS: Die nachlassende Regenera- Bildung die Zukunft. Für diese älte- vor allem solche gestalterischen tionsfähigkeit von Sehnerv und 18 ren Menschen braucht es einen Ort, Aspekte im Vordergrund, die die Retina sowie die Einlagerungen in der Daheim werden kann – doch Selbstständigkeit – und dazu gehört der Linse und deren nachlassen- können Pflegeheime Zuhause sein? vor allem auch die Orientierung – de Elastizität führen ebenso wie Das magazin stellt im Gespräch und das Wohlbefinden der Bewoh- altersbedingte Erkrankungen des mit Andrea Schäfer, Farbdesignerin ner:innen unterstützen. So gehört Auges zu Seheinschränkungen, beim Farbenhersteller Brillux, ein ein an den speziellen Bedürfnissen die letztendlich auch die Mobilität Seminar vor, das auf diese Fragen von Senior:innen orientiertes Farb- und das Sicherheitsempfinden der Antworten gibt. konzept heute zu den weichen Fak- Senior:innen einschränken. So kön toren, mit denen der Aufenthalt für nen die meisten alten Menschen Magazin: Bei Brillux wird viel die Bewohner:innen angenehmer Farbnuancen nicht mehr so gut Eng agement in die Beantwor gemacht werden kann. Wie eine sol- erkennen und geringe Helligkeits- tung der Frage gesteckt, wie che Planung aussehen kann, zeigen kontraste deutlich schlechter wahr- Menschen im Alter sehen und wir in einem Webinar, das sich an nehmen. Infolge der altersbedingten welche Farben ihnen guttun, Planer:innen, Bauingenieur:innen Verkleinerung der Pupille auf 2 mm beziehungsweise mit welchen und andere Interessierte richtet. benötigt ein 70-jähriger Mensch gestalterischen Mitteln wir die z. B. dreimal so viel Licht wie ein 20- häufig seheingeschränkten äl Was lässt sich in dem Seminar jähriger, damit genügend Licht auf teren Menschen unterstützen lernen? die Netzhaut fällt. Licht ist also ex können. Wie fällt die Antwort AS: Wir informieren darüber, wie trem wichtig, aber bitte blendfrei! Im auf diese Fragen aus? sich visuelle und sensorische Fähig- Alter erhöht sich nämlich auch die Andrea Schäfer (AS): Altersgerech- keiten im Alter verändern und wel- Blendempfindlichkeit, dadurch ver- te Planungen von Wohnanlagen che Dimensionen diese Einschrän- schwimmen Kontraste. Es kommt zu und Grundrissen, Mehrgenera kungen haben und wie sie sich auf Fehldeutungen der Wahrnehmung. tionen-Wohnprojekte oder Dienst- die Raumwahrnehmung auswirken. Trübungen der Augenlinse durch leistungsangebote zum Betreuten Wir zeigen, wie ganzheitliche Ge- den Grauen Star – hieran leiden Wohnen reagieren auf die Bedürf- staltungskonzepte in der Praxis 75 % aller über 65-Jährigen – lassen nisse der Generation 60plus was aussehen können und worauf man die Umwelt unscharf und matt er- Wohnkomfort, Selbstständigkeit besonders achten sollte. scheinen. Bei der Makuladegenera- tion verschwindet – bedingt durch die Zerstörung der Netzhaut – die DAS WEBINAR wird von der Architektenkammer Welt immer mehr hinter dunklen Baden-Württemberg mit 2 Unterrichtsstunden als Fortbildung Flecken, bis zur völligen Erblindung. anerkannt. Weitere Informationen zum Seminar: Durch die altersbedingt zunehmen- https://www.brillux.de/service/veranstaltungen/live- de Erstarrung der Augenbewegung onlineprogramme/live-onlineprogramme-fuer-architekten/ kommt es bei vielen Menschen zu farbe-erleben-im-alter Gesichtsfeldeinengungen. All diese
THEMA „Das Wissen um Seheinschränkungen bei älteren Menschen muss zu einer andersartigen Auswahl von Farbtönen und Oberflächenqualitäten führen“ Erkrankungen können gefährlich werden, weil Hindernisse gar nicht mehr gesehen werden. Die Wahr- nehmung von Farben selbst wird durch die altersbedingte Vergrau- ung der Linse beeinträchtigt, daher 19 sind ausreichende Helligkeitskon traste so wichtig. Das ist eine Aufzählung, die erst einmal erschreckt. Wie kann dem begegnet werden? Fotomontage Farbkonzept Gärtringen, hubraum4 AS: Es können seniorengerechte Farbkonzepte ausgearbeitet werden, die sich an den genannten körper- sicher sein Zimmer wieder? Die (zurück)geben, sei es mit typischen lichen Veränderungen orientieren. Etagenfarbigkeit hat ausgedient, Tapeten oder Möbeln. Und auch da- Damit kann den Auswirkungen ge- mehrfarbige Farba tmosphären von profitieren alle: Erinnerungen, zielt entgegengewirkt werden. Kon- sind gefragt, Stichwort „Ein Spa- Kommunikation entsteht, Flair … kret muss das Wissen um Sehein- ziergang im Park“ oder „Ein Gang und Trends wiederholen sich. schränkungen bei älteren Menschen durch die Stadt“, „Am Meer“. Wenn Von solch kleinen Details wieder zu einer andersartigen Auswahl von man in Bildern denkt, ist eine solche auf das Große und Ganze geblickt: Farbtönen und Oberflächenquali- Gestaltung viel leichter und wird Das richtige Maß an Sicherheit, täten sowie zu einem adaptierten regional und einzigartig. Und das Orientierung und Atmosphäre ist farbigen Leitkonzept führen. ist es doch, was wir auch für das für alle Funktionsbereiche einer Ein Beispiel hierzu: Im Sinn eines Personal und die Angehörigen/ Einrichtung – vom Eingangsbe- offenen Raumgefühls werden Ele- Besucher:innen wollen: Eine ganz reich über die Flure bis hin zu mente wie Säulen bei gewöhnlichen individuelle Gestaltung, in der sich Bewohner:innenzimmern, Gemein Bauten farblich gern zurückgenom- alle wohl fühlen und wir ganz subtil schafts- und Therapieräumen men. Für sehbehinderte Menschen die altersbedingten Defizite der Be- sow ie Personalb ereichen ganz sind sie jedoch Hindernisse, die wohner:innen ausgleichen und da- entscheidend. Gewünscht ist eine visuell betont werden müssten. mit letztendlich auch die Pflegenden nutzungsbezogene und doch in sich Für viele Bewohner:innen sind unterstützen und wertschätzen. schlüssige Gestaltung. Denn ein Handläufe wichtig, aber heben Ca. 60% aller heutigen Pflegeheim- Alten- oder Pflegeheim ist vieles diese sich auch immer in einem bewohner:innen sind demenziell gleichzeitig: Wohnort für alte Men- angemessenen Kontrast von der erkrankt. Viele von ihnen leben schen, Arbeitsort für Pflegepersonal Wand ab und werden erst so für gedanklich in ihrer eigenen Welt, und Therapeut:innen, Besuchsort die Bewohner:innen sichtbar? Ge- meist in der ihrer „besten Jahre“, als für Angehörige. Alle haben unter- rade jetzt in der Pandemie können sie 20–30 waren, ohne eine Rück- schiedliche Bedürfnisse, alle wollen sich die meisten Bewohner:innen kehr in unsere heutige Zeit. Daher und sollen im Gesamtkonzept be- nur in ihrer Wohngruppe/Station sollten wir gestalterisch „ihre Zeit“ rücksichtigt werden. ■ auf halten. Wie findet man hier aufnehmen, ihnen „ihr“ Zuhause SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
Vorentwurf Raum der Stille, Hospiz Münsingen, Computermodell EINE PREDIGT FÜR DIE AUGEN Martin Burchard gestaltet Räume mit Kunst, die christliche Botschaften sichtbar macht M it dem Tod ist Martin Burchard schon mehr Wie ein Stiefel sieht der Grundriss des Hospizes aus. fach konfrontiert worden. Er erinnert sich Genau in der Ferse sitzt der Raum der Stille. Er ist ein daran, wie er in der Trauer um geliebte Men- wenig wie ein Tortenstück geschnitten. Eine breite Seite schen die Augen hob und sich dem Tod aus einem neuen und an der gegenüberliegenden Stelle spitz zulaufend. Blickwinkel näherte. Die Decke ist schräg. „So hat der Raum von sich aus schon ganz spezielle Eigenheiten, die es bei der Ge- „Wenn ich an den Tod denke, dann denke ich auch an die staltung einzubinden galt“, berichtet der Künstler. Er Kraft der Auferstehung“, sagt der spätberufene Künstler, soll Raum für die Angehörigen, die Mitarbeitenden und der in früheren Lebensstationen Diplom-Pädagoge und für die Gäste des Hospizes sein. Hier wird geschwiegen Schreiner war. Ohne den Gedanken an die Auferstehung und sinniert. „Die Gestaltung soll direkt ansprechen, wäre für ihn der Tod „die Quadratur des Schmerzes“. sie ist schlicht und nimmt sich zurück. Hier ist Raum Um Menschen aus diesem Schmerz, aus dieser End für alles, was die Menschen jetzt in diesem Moment losschleife Wege aufzuzeigen, gestaltet er auch den bewegt. Das allerdings ist viel. Viel Existenzielles, viel Raum der Stille im neuen Hospiz in Münsingen. Unumstößliches, viel Unabänderliches. „Deshalb soll meine Kunst eine klare Botschaft übermitteln: der Tod ist nicht das Ende.“
HELFEN Bei seinen künstlerischen Aufgaben arbeitet Burchard „Ich möchte mit meiner prozessorientiert. Er hat keine fest vorgefasste Meinung im Kopf. Wenn die Auftraggeber Wünsche haben, nimmt Kunst Glaubensinhalte er sie gern in seine Gestaltung mit auf, um die beste sichtbar machen“ Lösung für alle zu finden. Wie kann das gelingen? Woher nehmen Martin „Dabei dürfen wir nicht zu sehr auf aktuelle Mode Burchards Gestaltungen solche Aussagekraft? Zum erscheinungen und den Zeitgeist setzen.“ Denn es gelte Beispiel sein sogenanntes Lichtkreuz mit transparen- eine zurückhaltende Formensprache zu finden, die auch ten Elementen aus Acrylglas. Durch sie fällt Tageslicht, in vielen Jahren noch als schön wahrgenommen wird. und aus dem Kreuz bricht ein ungeahntes Strahlen, ein So ist die Grundfarbe im Raum der Stille ein warmes verheißendes Leuchten. Oder seine segnende Christus- Pastell-Wollweiß. Die Stühle sind schlicht und bequem. figur, mit Blattgold überzogen, die sich zwei Handbreit Zudem wird es einen Ohrensessel geben, in den sich und leicht nach oben versetzt über das Kreuz erhebt Schutzsuchende zurückziehen können. Der Raum der und von oben angestrahlt wird. Je nach Blickwinkel und Stille liegt in der Mitte zwischen den acht Gastzimmern. 21 Entfernung des Betrachters vom Kunstobjekt wird der Auf dem Altar sollen kleinere Kunstobjekte stehen, die Blick nach oben gezogen. Es scheint, ein überirdischer Besucher mit an ihren Rückzugsort nehmen können, um Glanz blende die Augen und erleuchte gleichzeitig den dort den Trost gleichsam in Händen zu halten. dunkelsten Seelenzipfel. Mehr kann Auferstehung nicht offensichtlich sein. „Ich möchte mit meiner Kunst Glau- Aber es gibt auch gelegentlich und ganz pragmatisch bensinhalte sichtbar machen“, bekräftigt der 65-Jährige. gedacht Besprechungen in dem knapp 35 Quadratmeter Mit der Samariterstiftung hat er 2004 bei der Gestal- großen Raum. In einem Sideboard an der Seitenwand tung des Jakobusaltars, der als mobiler Altar in vielen sind Klapptische unsichtbar verstaut. ■ SVV Häusern der Stiftung zum Einsatz kommt, erstmals zusammengearbeitet. Die Gestaltung des Raums der Stille im Münsinger Hospiz ist für ihn eine „schöne Ostern, Jakobuskirche Tübingen Bekräftigung dieser gewachsenen Verbindung“. „Ich sehe die Glaubenskommunikation in Form von Kunstwerken als meine Berufung.“ In Münsingen wird es einen Altar geben, dessen kleines Teil fahrbar ist und so auch in den Gästezimmern verwendet werden kann. Er steht vor zum Teil satinierten Fensterscheiben, damit eine schützende und persönliche Sphäre gewahrt bleibt. Über dem Altar hängt ein Bild mit einem quadratisch eingeteilten Kreuz, dessen Flächen vergoldet sind. Der Freiraum, den das Kreuz zwischen den vier Quadraten schafft, deutet auf die Erdverbundenheit ebenso hin wie auf die Öffnung gen Himmel. Im Raum der Stille weht ein Geist der Verständigung und Verbindung. „Mit Wollen und eigener Anstrengung kommt man in solch existenziellen Lebensmomenten meist nicht weiter“, sagt Burchard in Erinnerung an eigene tiefe, existenz- bedrohliche Situationen in seinem Leben. Als Trost denkt er in solchen Augenblicken: „Gott, begleite mich in meinem Leben und sei mir gnädig in der Stunde des Todes. Wenn ich um diese Gnade weiß und bitten kann, dann werden die schweren Stunden lebbarer.“ SAMARITERSTIFTUNG MAGAZIN · 20/2021
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