Unruhen in China Beilage der Wildcat #80 - Dezember 2007
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Unruhen in China Beilage der Wildcat #80 – Dezember 2007
Chinesisch – Sprache für Sozialrebellen Auf den ersten Blick erscheint die chinesische Sprache vielen NichtchinesInnen fremd und kompliziert. Tatsäch- lich geht ein Studium mit dem Erlernen von Singen und Malen einher, dem Umreißen vielstrichiger Zeichen und dem Formen obskurer Sch-Laute. Im Vergleich zu ande- ren schwierigen Sprachen, wie Deutsch, hat die chine- sische Sprache aber eine einfache Grammatik. Kein Wun- der, können doch wegen der festgelegten Silben (etwa 400), die den Zeichen zugeordnet sind und aus denen alle Worte und Sätze bestehen, keine Verben konjugiert und keine Substantive dekli- niert werden. Das führt in anderen Spra- chen dazu, dass sich Worte ständig seltsam verändern. Für das Chinesische gibt es eine latei- nische Umschrift aller Silben, das soge- nannte pinyin, das uns – und heutzutage allen Kindern in China – das Erlernen der Aussprache eines Zeichens (einer Silbe) erleichtert. Jede Silbe (wie shi, wo, tuo...) wird – im sogenannten Hochchinesischen – in vier unterschiedlichen Tönen gespro- chen, was nicht nur die Aussprache ändert, sondern auch die Bedeutung. Wir müssen beim Schreiben von pinyin-Worten also auch den Ton angeben. Dafür verwenden wir hier Zahlen hinter den Silben. Ein Beispiel mit der Silbe xing: Erster Ton: xing1 = nach Fisch riechen (㜹), zweiter Ton: xing2 = Folter (ߥ), dritter Ton: xing3 Dieses Heft ist eine Beilage der wildcat #80. = Nase schnäuzen (᪸) und vierter Ton: xing4 = Sex (ᗻ). Diese Texte und andere findet Ihr auf: Der erste Ton wird hoch und auf gleich bleibender Ton- www.wildcat-www.de/dossiers/china höhe gesprochen, der zweite Ton steigt an, der dritte Ton geht nach unten und steigt anschließend wieder an, und Anregungen, Fragen und Kritik an: der vierte Ton ist fallend und knapp. wiu@wildcat.rhein-neckar.de In diesem Heft findet ihr pro Seite einen chinesischen Bestellungen: Begriff, bestehend aus zwei oder mehr Zeichen. Wir ver- Shiraz e.V. wenden dabei die vereinfachte Schreibweise, die in der Postfach 30 12 06 Volksrepublik China gilt, und nicht die traditionelle, die 50782 Köln weiterhin in Hongkong, Taiwan und Singapur verwendet oder: versand@wildcat-www.de wird. Unter den Zeichen steht jeweils die pinyin-Um- schrift, die deutsche Übersetzung und manchmal eine Fertigstellung: 20.11.2007 kurze Erklärung. Klar, dass wir vor allem Begriffe gesam- melt haben, die mit der Lage und den Kämpfen der «ge- fährlichen Klassen» in China zusammenhängen. Falls ihr Lust habt, euch noch näher mit der Sprache zu beschäftigen, dann mal los! Es wird euch eine neue Welt eröffnen, nicht nur was die Sprache selbst angeht. Chine- sisch befähigt euch, an einigen der spannendsten sozialen Auseinandersetzungen teilzunehmen, die vor uns liegen. Die Zukunft dieser Kämpfe ist ungewiss, aber die (chine- sischen) Zeichen für eine umfassende soziale Rebellion stehen ϡ䫭, bu4 cuo4: nicht schlecht!
Unruhen in China 1 Leitartikel zur Wahrnehmung von China hier, den Kämpfen der «gefährlichen Klassen» dort, der neuen Rolle Chinas in der Welt und den Versuchen einer Linken, die Kämpfe in China zu unterstützen. [2] Die Geister der Geschichte In diesem Beitrag beschäftigt sich Anton Pam mit den Hintergründen der Kämpfe der Bauern und WanderarbeiterInnen, der Spaltung in Land- und Stadtbevölkerung, den Lehren der Hunger-Geschichte, den aktuellen Auseinandersetzungen... [11] Gesichter der Wanderung Y Überblick über die Lage der WanderarbeiterInnen, die Arbeits- und Lebensbedingungen, Organisierungsformen und Streiks dieser «neuen» Arbeiterklassen. [18] Wanderarbeit in Tianjin Auswertung einer Serie von Interviews mit Bauarbeitern und ^ Dienstleistungsarbeiterinnen in Tianjin, Nordchina, die uns deren konkrete Lebenssituation näherbringen. [29] Die unglückliche Arbeitergeneration Artikel zu den Protesten der städtischen ArbeiterInnen, die zu den Verlierern der Re- formen seit 1978 gehören und von denen viele seit den neunziger Jahren entlassen wurden und nun zu den prekären Teilen des städtischen Proletariats gehören. [35] Arbeiterinnen im maoistischen Patriarchat Der Maoismus hat Formen des «feudalistischen» Patriarchats übernommen und in die neuen gesellschaftlichen Organisationsformen integriert. Dieser Beitrag erläutert dies am Schicksal der Frauen aus der Generation der Kulturrevolution. [43] 㔶 Eine gescheiterte Revolution? Ꮉ a Anton Pam stellt in diesem Beitrag die Bewegung vom Tian'anmen 1989 und ihre Niederschlagung dar und geht der Frage nach, welche Rolle die ArbeiterInnen beim Aufstand gespielt haben. [52] ba4gong1 Adam Smith in Beijing streiken Giovanni Arrighi untersucht in seinem neuen Buch den Abstieg Chinas im 19. und den Wiederaufstieg Ende des 20.Jahrhunderts, der die Welt verändern wird. Diese Besprechung schildert seine Argumentation und lädt zur Kontroverse ein. [59] China und Indonesien Vieles unterscheidet diese beiden Entwicklungsdiktaturen, aber bei diesem Vergleich stoßen wir auch auf erstaunliche Gemeinsamkeiten. [68] Unbequeme Filme in unbequemen Zeiten X Vorstellung einiger Spiel- und Dokumentarfilme, die sich den gesellschaftlichen Umbrüchen, sozialen Verhältnissen und Kämpfen in China widmen. [74] Nachschauen Chinesisch für Sozialrebellen [Umschlag vorne], Buchtipps [79], politische Karte von China [80] und Daten der neueren Geschichte Chinas [Umschlag hinten].
2 Unruhen in China uf der anderen Seite des Globus tut sich Gewal- Ende der siebziger Jahre haben die alte Klassenzu- A tiges. Aber was? Da werden die Städte gezeigt mit ihren Neureichen, mit den Malls, der neuen sammensetzung aufgemischt. Alle drei genannten Gruppen sind immer wieder in Bewegung und set- Mode und den umtriebigen Künstler-Unterneh- zen durch ihre Forderungen nach einer Teilhabe merInnen. Alles etwas fremd, etwas hip und in der am neu geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum Dosis der Reportage dann doch so vertraut. Dann und durch ihre Protestaktionen das Regime der dieses China im architektonischen Umbruch mit Kommunistischen Partei Chinas unter Druck. Von den täglich neuen Wolkenkratzern, dem Olympia- außen ist es oft wenig sichtbar, aber diese Aktionen stadion und den abscheulichen Neubauvierteln. haben zumindest dazu geführt, dass sich die Le- Und selbstverständlich wird nie vergessen, auf die bensbedingungen nicht nur der städtischen Mittel- armen Mädchen in den Fabriken hinzuweisen, wel- schicht sondern der meisten Leute in China in den che die giftigen Spielsachen produzieren müssen. letzten dreißig Jahren verbessert haben. Es gibt fast Was ist, wenn alle Chinesen Auto fahren? Die keinen Hunger mehr und viel mehr Leute haben chinesische Gesellschaft fordert ihren Anteil am Zugang zu wichtigen Konsumgütern. Das bedeutet weltweiten Reichtum ein. Müssen wir dann teilen, allerdings nicht, dass alles glatt läuft. Gerade die verzichten, astronomische Preise für Energie zah- Umwandlung vieler staatlicher Dienstleistungen len? Wird die Atmosphäre das überleben? (Bildung, Gesundheit) in Waren, die bezahlt wer- In den späten neunziger Jahren hantierten bei den müssen – auch Kommodifizierung genannt –, uns die Kapitalisten oft erfolgreich mit der Dro- führte zu einer Verknappung von Ressourcen, die hung, die Fabriken nach China zu verlagern. Dann sich obendrein viele nicht mehr leisten können, wie kamen die Billigelektroartikel, die heute nicht sich in der Gesundheitsversorgung zeigt. mehr ganz so billig und auch nicht mehr ganz so Die offiziellen Zahlen der Regierung sagen uns, minderwertig sind. Derzeit wird «China» für die dass die sozialen Unruhen seit Mitte der neunziger Ölpreise verantwortlich gemacht und morgen wer- Jahre stetig zugenommen haben, mit derzeit jähr- 㸼 den wir massive nationalistische Progaganda gegen lich Hundertausenden von Konflikten und vielen das «chinesische» Finanzkapital erleben, das hier Millionen Beteiligten. Dabei kommt es sowohl zu die Sahnestückchen kauft. immer mehr institutionell abgesicherten, legalen Wir erinnern uns an den Aufstieg Japans in Formen des Protestes (wie Petitionen, Anrufen ⦄ den achtziger Jahren. Damals wurde uns allen ein schlechtes Gewissen gemacht, weil «die Japaner» schneller, länger, gewissenhafter arbeiten – und Be- von Schlichtungsstellen, juristischen Auseinan- dersetzungen) als auch nicht-institutionellen For- men (wie Demonstrationen, Blockaden, Streiks). griffe japanischer Arbeitsorganisation halten sich Die einzelnen sozialen Auseinandersetzungen sind mancherorts bis heute. Jetzt sind «die Chinesen» in der Regel auf einen Betrieb, einen Ort oder billiger, williger, geschäftstüchtiger und haben kei- Stadtteil beschränkt, finden noch getrennt und biao3xian4 ne Gewerkschaft. nebeneinander statt. Es gibt kaum offizielle Or- China also als Bedrohung, auch wenn anerkannt ganisierungsformen, und wenige ArbeiterInnen (Arbeits) wird, dass die Weltkonjunktur auf dem chine- versuchen von sich aus, ihre Kämpfe auszuweiten, Leistung sischen Wirtschaftswunder beruht. Nur wer die weil die beteiligten AktivistInnen der Repression [in den Zeitungen des Kapitals liest, erfährt, dass es da eine nicht ins offene Messer laufen wollen. Sie wissen staatlichen ganz andere Angst gibt. Nämlich vor dem Fall des um die Grenzen und Gefahren. Aber wo immer Betrieben oft Regimes in China und der damit drohenden Um- es möglich scheint, setzen sich ArbeiterInnen und an politische wälzung der Verhältnisse. Verhältnisse, die jetzt Bauern für ihre unmittelbaren Interessen ein und Stromlinien- förmigkeit noch Überausbeutung, Extraprofite, Fälschung warten nicht erst auf eine größere Bewegung oder gebunden] und Umweltzerstörung, Armut und obszönen gemeinsame Mobilisierung. Soziale Unruhen sind Reichtum, Korruption und Repression bedeuten, verbreitet und die Leute greifen schnell zu kollek- kurzum auf der Lohnarbeit beruhen. tiven Aktionen. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen Diese Angst ist berechtigt. Die chinesische Ge- über die Verhaltensweisen und die Kämpfe zirku- sellschaft ist in Bewegung. Die neuen Arbeiter- lieren durch die Wanderung, über ihre Familien Innen, die städtischen ProletarierInnen, die Bauern und andere Kontakte, über die neuen Kommuni- kämpfen um eine bessere Gegenwart und vor allem kationsmittel wie Handys und Internet. um eine bessere Zukunft. Um diese bereits vor sich Momentan scheint es aber keinen Anlass und gehende Umwälzung geht es in diesem Heft. kein Ziel für eine neue Bewegung zu geben – an- ders als 1989, als die Besetzung des Tian'anmen- «Gefährliche Klassen» Platzes durch die StudentInnen den Rahmen zu Auf welchem Stand sind die Kämpfe der drei «ge- einer landesweiten Mobilisierung gab, an der sich fährlichen Klassen», der städtischen ArbeiterInnen, auch viele ArbeiterInnen beteiligten. Erneuter ge- WanderarbeiterInnen und Bauern? Die immensen sellschaftlicher Aufruhr dieser Art wird durch die sozialen Umwälzungen seit Anfang der Reformen unterschiedlichen Bedingungen der Ausgebeuteten
und diverse Spaltungsmechanismen behindert. Die Anlässe für soziale Kämpfe sind verschieden, weil verfolgt und erniedrigt. Die größten Probleme aber sind der Landraub, die oft entschädigungslose 3 die rasant wachsende Wirtschaft nicht nur neue Enteignung der Bauern durch korrupte Beamte, die Subjekte, sondern damit auch eine ganze Reihe das Land für Infrastrukturprojekte, Industrie- oder unterschiedlicher sozialer Brennpunkte geschaffen Wohngebiete nutzen oder verkaufen, sowie die hat: soziale Degradierung und die Beseitigung sozi- Verseuchung und Unbrauchbarmachung von Land aler Absicherung, prekäre Jobs, ungezahlte Löhne, durch Industrieabfälle, versickernde Flüsse und an- Arbeitsunfälle, Verseuchung von Luft, Wasser und dere Formen der Umweltzerstörung. Es soll schon Boden, Landraub. Weiterhin gibt es eine Trennung über vierzig Millionen landlose Bauern geben, von zwischen Land- und Stadtbewohnern, auch wenn denen in den letzten Jahren viele aufbegehrten, zu- das in den fünfziger Jahren eingeführte Haushalts- nächst oft durch Beschwerden und Petitionen, aber registrierungssystem (hukou) durch die Wande- wo diese scheiterten, durch gewaltsame Aktionen rungsbewegungen immer mehr aufgeweicht wird. und Angriffe auf Kader und Rathäuser. Sie wollen Das Verhältnis von Stadt- und Landbewohnern, ihr Land verteidigen, da es weiterhin ihre einzige aber auch gegenüber «Fremden» aus anderen Pro- «Sicherheit» ist gegen den in Zeiten des Sozialis- vinzen oder Ortschaften ist oft durch Ablehnung mus allgegenwärtigen Hunger, an den sie sich noch geprägt. Vom Maoismus nicht aufgebrochene, pa- gut erinnern können. triarchale Verhältnisse bestimmen weiter die Ge- Bei den ArbeiterInnen lassen sich weiter grob schlechterbeziehungen, wobei es auch hier einen zwei Arbeiterklassen unterscheiden: zum einen Unterschied zwischen Stadt und Land gibt. Zudem wurden die «alten» staatlichen Industriesektoren hat es zwar einen Übergang vom sozialistischen umstrukturiert und etwa fünfzig Millionen Staats- Zwangskollektivismus in ein kapitalistisches Lohn- arbeiterInnen im nördlichen Rostgürtel und an- und Kontrollsystem gegeben, die strikten Arbei- derswo aus ihren garantierten Jobs gedrängt. Viele terhierarchien und der Fabrikdespotismus blieben von ihnen kämpfen gegen ihren Ausschluss und aber in «modernisierter» Form bestehen. den Verrat durch den sozialistischen Staat. Zum Schauen wir uns die Erfahrungen der drei «ge- anderen wurden aus Teilen der Bauernschaft neue fährlichen Klassen» genauer an: Die Bauern, chine- proletarische Subjekte geschaffen, die über hun- sisch nongmin, immer noch die größte gesellschaft- dert Millionen mingong oder BauernarbeiterInnen, liche Gruppe in China (etwa 700 Millionen), waren die umherziehen und arbeiten. Sie kämpfen gegen in den achtziger Jahren zunächst Nutznießer der Reformen. Die Volkskommunen wurden aufgelöst und jede Familie erhielt das Recht auf Zuweisung ihre Ausbeutung und Diskriminierung. Diese zwei Gruppen repräsentieren den Tod des alten und die Geburt des neuen Ausbeutungsregimes. Beide ࠹ ࠞ und Nutzung eines Stückes Land, das weiter dem Klassen sind in sich nicht homogen, denn es gibt Staat gehört. Die ländlichen Einkommen stiegen, jeweils nach Sektor, Region oder Herkunft der Be- ihre Situation besserte sich. Nach und nach be- troffenen große Unterschiede bezüglich Arbeitsbe- kamen sie aber auch die neuen Härten zu spüren: dingungen, Lebensstandard, Zukunftsaussichten, Preiserhöhungen und die Kommerzialisierung des Wünschen, Problemen, Kampfmöglichkeiten. Bei Bildungs- und des Gesundheitssystems fraßen die den mingong reicht das zum Beispiel von Arbeit un- Einkommenszuwächse wieder auf. Bei den Bauern ter sklavenähnlichen Verhältnissen in Werkstätten bo1xue1 gilt heute die Regel, dass eine einfache Krankheit oder Minen in armen Binnenregionen bis hin zu den Verlust eines Schweins, eine mittlere Krank- vergleichsweise hoch entlohnten Facharbeiterlöh- ausbeuten heit den eines Jahreseinkommens und eine schwere nen in den industriellen Zentren wie Shanghai. Krankheit für die Familie den Ruin bedeutet. Die Aber trotzdem lassen sich die «alte» und die «neue» größere wirtschaftliche Autonomie der lokalen Arbeiterklasse ausmachen, trennen sie doch unter- Behörden führte nicht nur zur Entwicklung einer schiedliche Erfahrungen mit dem Staat, ein ande- vom lokalen Staat unterstützten ländlichen Akku- rer Status durch ihre Registrierung als Stadt- oder mulation, sondern auch zur Herausbildung einer Landbewohner, und damit zusammenhängend ihre gnadenlosen lokalen Staatsmafia, die sich durch Lage als Proletarisierte oder Semi-Proletarisierte. immer neue Steuern und Abgaben für die Bauern Die «alte» Arbeiterklasse sind zum einen die bereichert und aufmüpfige LandbewohnerInnen noch in staatlichen Unternehmen, in der Industrie, ArbeiterInnen fordern Lohn; Randale in Shenzhen; Demo gegen Umweltzer- störung
4 in Dienstleistungsbereichen und Verwaltungen ar- beitenden gongren, zum anderen die xiagang, die chinesisches Arbeitsgesetzen, aber die zuständigen lokalen Behörden handeln in den seltensten Fällen, «Abgewickelten», dort bereits Entlassenen. Sie wollen sie doch potentielle Investoren nicht ver- wohnen und arbeiten in der Stadt und verfügen schrecken – wenn sie nicht selbst als Teilhaber oder außer ihrer Arbeit (oder staatlichen Wohlfahrtslei- Geldgeber von der Ausbeutung profitieren. stungen) über keine Einkommensmöglichkeiten. Die mingong kommen trotzdem in die Stadt. Sie Ihr Verhältnis zum Staat ist durch einen Jahrzehnte vergleichen ihre prekäre Lage mit dem Leben ihrer lang geltenden Sozialvertrag geprägt, der ihnen im Eltern und Großeltern – also mit der Not unter der staatlichen Betrieb, der danwei, Wohnungen, Kran- Guomindang vor 1949, dem Hunger beim «Groß- ken- und Altersabsicherung, eben die komplette en Sprung nach Vorn» und der Armut und den «Eiserne Reisschüssel» garantierte. Seit die Re- Verfolgungen während der Kulturrevolution. Sie gierung 1997 die Schließung vieler danwei und die wollen der materiellen und kulturellen Rückstän- Entlassung der vorher lebenslang angestellten Ar- digkeit auf dem Land entfliehen. Wenn die jungen beiterInnen beschloss, haben Millionen ihren Job Leute vom Dorf heute in die Industriestädte des verloren. An den Entlassungen, Firmenbankrotten Ostens kommen und zwölf Stunden am Tag und und Privatisierungen entzünden sich nun immer ohne freies Wochenende für fünfzig bis hundert neue Kämpfe. Konkret geht es dabei oft um die Be- Euro im Monat malochen, dann ist unsere Asso- dingungen und Begleitumstände der Umstruktu- ziation Manchester-Kapitalismus und sweatshop, rierung oder Privatisierung, wie um ausbleibende aber sie selber erleben nicht nur die Ausbeutung, Löhne, Abfindungen, Renten und Arbeitslosen- die miesen Vorarbeiter und die giftigen Dämpfe geld. Die Kämpfe werden in ihren Wohnvierteln in der Fabrikhalle, sondern auch die Möglichkeit, organisiert, welche die Zerlegung der staatlichen Freunde oder Freundinnen zu finden und am mo- Betriebe überdauert haben. In den Protesten spie- dernen Konsum teilzuhaben – wozu erst mal Inter- len die bisherigen betrieblichen und sozialen Hie- net, Handy oder Makeup gehören mögen. Beson- rarchien eine Rolle, die Vorarbeiter, Meister, lokale ders für die Frauen zählt zudem die im Vergleich Verwalter oder Partei- und Gewerkschaftsführer. zum patriarchalen Dorf geringere soziale Kontrol- Sie benutzen nicht selten eine vom KP-Jargon und le. Dazu kommt, dass ihr Lohn oft nicht nur sie der Kulturrevolution geprägte Sprache, um sich selbst ernährt, sondern auch noch den Verwandten gegen ihre «Enteignung» zu wehren. Schließlich ermöglicht, auf dem Dorf ein Haus zu bauen, was waren sie bisher die «Herren der Fabrik», die Stüt- ihnen wiederum mehr Raum und Bedeutung in der ze des kommunistischen China. Die letzte große Familie verschafft. Viele wollen nicht mehr dauer- ᢚ Mobilisierung, die auch die Begrenzung auf einen Betrieb oder einen Ort sprengte, fand im Frühjahr 2002 in Nordostchina statt, eine Streik- und Pro- haft zurück aufs Land – oder erst, wenn sie genug Geld verdient haben, um sich mit Ehepartner und Kind niederzulassen, was ihnen wegen ihres länd- testbewegung von staatlichen Erdöl- und Stahlar- lichen hukou und ihrer prekären materiellen Lage beitern, mit «illegalen» Organisationsstrukturen, in der Stadt weiterhin schwer gemacht wird. Demontrationen und Besetzungen. ArbeiterInnen Das heißt aber nicht, dass sie die Situation in in anderen Gegenden ließen sich durch dieses Vor- der Stadt hinnehmen. Die Zahl der Kämpfe der chai1 bild inspirieren. Die Bewegung wurde durch staat- mingong nahm in den letzten Jahren zu. Es geht ge- liche Repression zerschlagen, angebliche Rädels- gen Lohnbetrug und die Arbeitsbedingungen, wie abreißen, führer sitzen heute noch im Knast. Strafen, Arbeitstempo, und immer häufiger auch demontie- Die «neue Arbeiterklasse» der Arbeitsmigrant- gegen lange Überstunden, Gesundheitsschäden, ren Innen oder mingong ist vor allem durch die Verla- schlechte Wohnheime und so weiter. Die Verbin- gerung von Industrien in die Sonderwirtschaftszo- dungen aus der alten Heimat (Familien, Dorfstruk- [wird an nen Chinas und die (Semi-)Proletarisierung eines turen) spielen in diesen Kämpfen gegen die Fabrik- die Häuser großen Teils der ländlichen Bevölkerung entstan- bosse ebenso eine Rolle, wie schon bei der Suche gemalt, die abgerissen den, die es seit Anfang der achtziger Jahre in die nach Arbeit, beim Zurechtfinden in den Indus- werden Städte zieht. Diese mingong arbeiten unter anderem triestädten. Die mingong kennen den alten Sozial- sollen] als FabrikarbeiterInnen, Bauarbeiter, Straßenhänd- vertrag der städtischen gongren nicht. Sie kämpfen ler, Sexarbeiterinnen, Dienstmädchen. Sie sind die hier und heute für ihre Rechte, gegen Diskriminie- Träger des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs, und diejenigen von ihnen, die in den Weltmarktfa- briken arbeiten (vor allem junge Frauen) und dort Kleidung, Spielzeug, Elektrowaren, Elektronik und Autoteile produzieren, gehören zu den wichtigsten Akteuren der zeitgenössischen Globalisierung. Die Bedingungen in den Fabriken – und auch in den anderen Bereichen, in denen mingong arbeiten – sind erschreckend: überfüllte Wohnheime, nied- Streik in rige Löhne und häufiger Lohnbetrug, lange Ar- einem Restaurant beitszeiten und Überstunden, repressives Manage- in Beijing ment, willkürliche Strafen bei Verstößen, fehlende soziale Absicherung. Vieles davon widerspricht den
rung als WanderarbeiterInnen mit ländlichem hu- kou. Sie haben gegenüber den StädterInnen einen tuation in den Betrieben ist enorm hoch, und die heutige Generation von Wanderarbeitern ist sehr 5 Vorteil, können sie doch wieder aufs Dorf, wenn viel ungeduldiger und anspruchsvoller als ihre sie entlassen werden, einen Unfall haben oder um Vorgänger. Sie verkauft ihre Arbeitskraft zu einem ihren Lohn betrogen werden, weil sie und ihre Fa- höheren Preis, wo immer das geht. Firmen müs- milie in der Regel noch Anrecht auf das Stück Land sen sich entsprechend mehr Mühe geben, Leute zu haben, dass sie in der Not ernähren könnte. halten, indem sie zum Beispiel bessere Unterkünfte bauen oder Freizeitmöglichkeiten bieten. Tendenzen Und die Bauern? Sie werden sich weiter mit Die «gefährlichen Klassen» Chinas tasten beim Landraub, Korruption und der Abgabenlast rum- Überqueren des Flusses nach den Steinen, sie ex- schlagen müssen. Aber sie stehen auch unter dem perimentieren mit Widerstandsformen. In Zeiten Einfluss der Ereignisse in den Städten: In jeder des Umbruchs, der institutionellen Instabilität und Bauernfamilie gibt es Verwandte, die als mingong des Fehlens funktionierender Kanäle für die Lö- unterwegs sind. Zudem waren viele Bauern früher sung sozialer Probleme haben ihre Kämpfe Chan- schon mal selber länger in der Stadt zum Arbeiten, cen, den Gang der Ereignisse entscheidend zu ver- und viele sind regelmäßig auf dem Land oder in ändern. Kleinstädten auf Baustellen und in Betrieben be- Die angesprochene Teilung in zwei Arbeiterklas- schäftigt. Auch wenn sich die Bedingungen auf den sen prägt noch die gegenwärtige Situation, könnte Äckern und in den dörflichen und kleinstädtischen sich aber mehr und mehr auflösen. Es gibt Anzei- Unternehmen von denen in städtischen Unterneh- chen, dass die mingong zu dauerhaften Bewohner- men und Weltmarktfabriken unterscheiden mögen, Innen der Städte werden. Viele haben ihren Land- für ein Zusammenkommen in den Kämpfen stehen anspruch bereits durch Entwicklungsprojekte und die Voraussetzungen gar nicht schlecht. Arbeitsmi- Betrügereien verloren, und noch ist offen, ob die zweite und dritte Generation nicht in der Stadt blei- ben und damit die Verbindung zum Land und ihren grantInnen und städtische ArbeiterInnen teilen die Erfahrung der Unterdrückung und Auspressung – und den Hass gegen die Kapitalisten, die Reichen ॖ Status als Semi-Proletarisierte aufgeben wird. Vor und die korrupten Beamten. Schon heute haben allem die zweite Generation, ob sie als Kind noch das Elend auf dem Land erlebt hat oder ganz in der Stadt aufgewachsen ist, hat oft keine Lust, aufs die Kämpfe aller den lokalen Staat im Visier, und es ist fraglich, wie lange der Zentralstaat noch die Rolle des Vermittlers spielen kann, wenn er sich als ᮍ ֱ Land zu ziehen. Während die mingong mittelfristig unwillig (und unfähig) zeigt, die Probleme der Aus- vollständig proletarisiert werden könnten, wird die beutung, Korruption und Willkür zu lösen. alte Arbeiterzusammensetzung in den Städten auf- gelöst und ein Teil davon prekarisiert. Diese «Ar- Krisenmanagement beitlosen» und informellen ArbeiterInnen machen schon dieselben Jobs wie die mingong, wie Stra- ßenhandel, Bauarbeit, Wachschutz. Auch in den Das Regime spürt die Gefahr einer sozialen Explo- sion. Bisher gelang es ihm, durch ein geschicktes Krisenmanagement den Sprengstoff immer wieder ᅝ staatlichen Fabriken ändert sich die Zusammenset- zu entschärfen und die Entstehung einer starken zung der ArbeiterInnen. Dort werden zunehmend Klassenbewegung zu verhindern. chang3fang1 mingong eingestellt, vor allem für die dreckigen Der Staat reagiert auf Kämpfe mit einer Mi- bao3an1 und harten Jobs, und die StädterInnen bekommen schung aus Konzession und Repression. Die seit nur noch befristete Arbeitsverträge, allerdings wei- 2003 regierende Partei- und Staatsführung maß Werkschutz terhin meist mit etwas höheren Löhnen, sozialen den sozialen Problemen und Konflikten gezwun- [wird nicht Garantien und Privilegien. genermaßen mehr Bedeutung bei als ihre Vor- nur bei Streiks Die genannte Spaltung zwischen «Einheimi- gänger. Sie versuchte, die Diskriminierung von gegen die schen» und «Zugereisten» wirkt weiter, aber es ist WanderarbeiterInnen (zum Beispiel durch will- ArbeiterInnen offen, was passiert, wenn die mingong als dauerhafte kürliche Verhaftungen) abzubauen und Sozialpro- eingesetzt] StadtbewohnerInnen erfolgreich ihre Ansprüche gramme aufzulegen, welche die sozialen Folgen geltend machen. Sie lernen schnell, mit dem Stadt- der Kommodifizierung der Arbeitskraft lindern und ArbeiterInnenleben zurecht zu kommen, nut- – oder mindestens eine Linderung in der Zukunft zen die Verbindungen untereinander und bringen versprechen. Beschwerden und Petitionen sowie ihre Erfahrungen in die sozialen Kämpfe in der eine öffentliche Diskussion über soziale Missstän- Stadt und auf dem Land ein. Schon in den letzten de und Probleme sind in Grenzen erlaubt, zeigen Jahren haben sie es geschafft, ihre Bedingungen sie den Machthabern doch, wo gefährliche Situa- zu verbessern. Neben ihren Kämpfen spielt dabei tionen entstehen, so dass sie reagieren können. auch der Arbeitskräftemangel eine Rolle, über den Nach entsprechender öffentlicher Empörung über chinesische und ausländische Kapitalisten in den Korruption und Misswirtschaft werden gerne ein- letzten Jahren klagen. Obwohl jährlich zehn bis zelne Beamte oder Unternehmer als Sündenböcke fünfzehn Millionen Arbeitskräfte auf dem Land verantwortlich gemacht und abgesägt. Wirtschaft- freigesetzt werden und die Arbeitslosigkeit in der lichen Forderungen protestierender ArbeiterInnen Stadt hoch ist, finden sich in manchen Regionen oder Bauern kommen die Behörden oft entgegen, – wie dem Perlflussdelta – nicht mehr genügend zum Teil nach Intervention und finanzieller Hilfe- ArbeiterInnen für ihre beschissenen Jobs. Die Fluk- stellung der Provinz oder Zentrale.
6 Hier spielen auch die verteilten Rollen der ver- schiedenen Machtebenen des Staates eine Rolle. denen die Regierung Landesverrat vorwirft, weil sie mit ausländischen JournalistInnen sprechen. Wenn Auseinandersetzungen nicht mehr zu leug- In der Regel wandern sie nach einer Gerichts- nen oder schnell zu unterdrücken sind, wird die verhandlung ins Gefängnis, dem laogai, was etwa Wut auf lokale und regionale Verantwortliche und Veränderung durch Arbeit bedeutet. Daneben gibt Kader geleitet, damit die Zentralregierung – und es bisher noch ein System, das sich laojiao nennt, damit das Regime an sich – nicht ins Zentrum der Erziehung durch Arbeit. Leute, von denen ange- Kritik gerät. Dahinter steht, dass die lokalen Stel- nommen wird, sie stehen weiter «innerhalb der len im Zuge der Reformen die Entscheidungsge- Gesellschaft» und lassen sich nach entsprechender walt über ihre wirtschaftlichen Aktivitäten erlangt Behandlung wieder eingliedern, können ohne Ge- haben und versuchen, in ihrer Region die Akku- richtsbeschluss auf Antrag der Polizei bis zu drei mulation anzukurbeln und auf hohem Niveau zu Jahre in ein Umerziehungslager gesteckt werden. halten. Deswegen unterstützen sie das despotische Das trifft nicht nur Leute, denen einfache Eigen- Fabrikregime, die niedrigen Löhne und schlechten tumsdelikte vorgeworfen werden, sondern auch Arbeitsbedingungen. Der zentrale Staat versucht viele ArbeiterInnen, die in sozialen Auseinander- dagegen, über gesetzliche Rahmenvorgaben und setzungen auffällig geworden sind. Dieses System politische Entscheidungen die Richtung der gesell- soll seit Jahren reformiert werden. Aber die Behör- schaftlichen Entwicklung zu einer von ihm so ge- den und Kader haben auch andere Möglichkeiten, nannten «Sozialistischen Marktwirtschaft» vorzu- störende Leute loszuwerden, zum Beispiel durch geben und dabei die Vernutzung der ArbeiterInnen die zwangsweise Einweisung in die Psychiatrie. – also die Unbrauchbarmachung ihrer Arbeitskraft Die angesichts der immensen sozialen Umwäl- – über entsprechende Gesetze zu verhindern. Das zungen noch relativ stabile Lage lässt sich nicht widerspricht aber dem Akkumulationsstreben der nur mit Repression erklären. Tatsächlich braucht lokalen Behörden, die systematisch diese Gesetze auch das autoritäre Regime Chinas eine Legitima- unterlaufen. Die ArbeiterInnen oder Bauern tref- tionsbasis. Deswegen ist das Vertrauen, das viele fen in ihren Kämpfen also auf den lokalen Staat als ArbeiterInnen und Bauern noch in die Zentral- direkt Verantwortlichen, als Besitzer oder Teilha- regierung setzen, so wichtig. Die Einführung eines ber der Betriebe, als weisungsbefugte Behörde von kapitalistischen Systems mit privaten Akteuren und mit den Kapitalisten verbundenen Beamten. Der Entscheidungsträgern macht zudem eine gewisse ৗ zentrale Staat dagegen erscheint ihnen als oberste Instanz, die ihre gerechte Sache aufnehmen und sie gegen die lokalen Schergen verteidigen sollte. Verlässlichkeit und Rechtssicherheit für eben die- se Akteure notwendig, ohne die ein entwickelter, kapitalistischer Wirtschaftsprozess nicht funktio- 㢺 Ob lokal oder zentral, das Regime steckt ge- niert. Wachstum und Marktliberalisierung schaf- naue Zonen von Indifferenz, Toleranz und In- fen aber soziale Probleme und unterminieren die akzeptanz ab. Während Petitionen oder kurze Legitimation des Regimes. Streiks in einem Betrieb geduldet werden, treffen Das Regime versucht, durch gesetzliche Rege- betriebsübergreifende Formen des Protestes auf lungen und materielle Interventionen in soziale harte Reaktionen des autoritären Staates. Auf lo- Auseinandersetzungen, diese Legitimation zu- chi1ku3 kaler Ebene versuchen die Kader, die Ausbreitung rückzuerlangen, ohne die Profitabilität zu gefähr- von Aktionen zu verhindern, indem sie diejenigen, den. Vor allem braucht es die Unterstützung der Härten die als Rädelsführer gelten, verhaften lassen oder sogenannten Mittelklasse. Diese setzt sich weit- oder private Sicherheitskräfte oder Schläger anheuern, gehend aus Abkömmlingen der alten Eliten des Bitteres um Protestierende anzugreifen und auseinander KP-Regimes und des Militärs und der gebildeten, erleben zu treiben. Wo ArbeiterInnen in verbotene Zonen städtischen Verwaltungsschicht zusammen, die alle vorpreschen, wie in Liaoyang 2002, wo es um fabrik- den Umbau genutzt haben, um sich einen Teil des [wird oft als übergreifende oder politische Mobilisierungen geht neuen (und des alten) Reichtums zu sichern. Die Beschreibung oder die Bildung unabhängiger Gewerkschaften, Mittelklasse hat nach den sozialen Verwerfungen der eigenen Lebenser- antwortet der Staat mit brutaler Unterdrückung. der sechziger und siebziger Jahre, in denen die fahrungen Der Aufbau einer Aufstandsbekämpfungspolizei Intelligenzia ebenso wie ein Teil der Parteikader angeführt] dient darüber hinaus dem Ziel, die vielen sozialen ständig Angriffen ausgesetzt war und um ihre Pri- Mobilisierungen mit ihren Demonstrationen und vilegien bangen musste, keine Lust auf irgendwel- Riots in den Griff zu kriegen. che Experimente, die ihren materiellen Aufstieg in Die Repression prägt die gesellschaftliche Situati- Gefahr bringen könnten. Einige aus der heutigen on in China insgesamt, bedeutet jedes dem Regime Mittelklasse waren auch am letzten Versuch betei- störende Verhalten doch die mögliche Anwendung ligt, eine Teilhabe an der politischen Macht Marke von Gewaltmaßnahmen. Dabei unterscheiden die «westliche Demokratie» durchzusetzen, der aber Behörden und Richter in maoistischer Tradition, ob im Juni 1989 am Beijinger Tian'anmen Platz von die «Delinquenten» sich «gegen die Gesellschaft» Panzern zermalmt wurde. Jetzt hat die Mittelklasse stellen und als deren «Feinde» gelten, oder ob sie den Kopf in den Sand gesteckt oder gar die neue «Teil der Gesellschaft» bleiben und ihnen «umer- KP-Hymne von der «Harmonischen Gesellschaft» ziehbar» scheinen. Zu ersteren zählen sie alle eines gefressen, die nichts anderes ist als ein verzweifelter Verbrechens beschuldigten «Kriminellen» ebenso Versuch, nach dem Zusammenbruch der kommu- wie Dissidenten oder die ArbeiteraktivistInnen, nistischen Ideologie durch einen rhetorischen
7 Spielzeug- knarrenfabrik; Lehmzie- gelfabrik, Schuhfabrik Rückgriff auf den reaktionären Konfuzianismus südostasiatischen Wirtschaftsraum abgewertet und gesellschaftliche Stabilität herbeizuflehen. Gleich- damit einen noch größeren Schaden im internatio- zeitig ist es eine Aufforderung an alle, sich ruhig zu nalen Kapitalmarkt verhindert. Der chinesische verhalten, eine Drohung an die Unterdrückten, die Staat hält 1.400 Milliarden US-Dollar an Devisen. Harmonie der Ausbeuter nicht zu stören. Bislang war das meiste davon in US-Staatsanleihen Ob dies lange funktionieren kann, ist nicht aus- festgelegt. Staatsanleihen sind Schuldverschrei- gemacht. Die Hauptakteure des chinesischen Wirt- bungen, also nur das Versprechen, später zu be- schaftswunders, die in den Weltmarktfabriken ar- zahlen. Damit stützt China direkt den Dollar, auch beitende «neue» Arbeiterklasse, hat mit Streiks, wenn der derzeit steigende Euro von einer Um- Riots und sonstigen Protesten Ansprüche auf eine schichtung der Devisen durch die asiatischen Zen- Verbesserung ihrer Lage angemeldet. Wenn aus tralbanken – einschließlich Chinas – zeugt. den Kämpfen der mingong, der gefährlichsten al- Der engen wirtschaftlichen Verflechtung von ler Klassen, eine Bewegung werden sollte, wäre China mit den USA – und der etwas weniger en- das eine ganz andere Bedrohung für die KP-Herr- gen mit Westeuropa – entsprechen gute politische schaft als die Tian'anmen-Bewegung oder die Ver- teidigungskämpfe der StaatsarbeiterInnen in den Rostgürteln. Beziehungen. Beim medialen «Streit» über Men- schenrechte geht es um gemeinsame oder unter- schiedliche wirtschaftliche Interessen, so zum ᠧ Allerdings stellt sich die Frage, ob aus den vie- Beispiel im Verhältnis zum Regime in Burma len kleinen und lokalen Auseinandersetzungen eine große Welle von Arbeiterunruhen entstehen kann, oder ob sie weiter als Sicherheitsventile funktionie- (Myanmar), zu dem China intensivere Wirtschafts- beziehungen hat. Europa und die USA unterhalten in China nicht Ꮉ ren, welche immer wieder den Druck rausnehmen. Damit bleibt also erstmal offen, ob und wann es zu einer sozialen Explosion in China kommt. Und nur Kultureinrichtungen, sie finanzieren nicht nur mit Zustimmung der chinesischen Regierung ei- nige große NGOs, sondern die USA unterhalten ྍ es ist auch unklar, ob in den sozialen Auseinander- auch ein Büro des FBI in Beijing, und man erkennt setzungen in China die Wurzeln einer Bewegung die jeweilige Liste der Terrororganisationen der da3gong1 liegen, die über China hinaus – also weltweit – die anderen Seite an. mei4 Verhältnisse zum Tanzen bringen kann. Alles in Ordnung? Weit entfernt. Abseits der Frage, ob mit China eine neue Hegemonialmacht «arbeitende China ist zurück am Horizont erscheint oder das nächste «amerika- Schwester» Weltgeschichte ist schneller geworden. Innerhalb nische Jahrhundert» zu Ende geht, bevor es richtig [Begriff für kurzer Zeit hat sich China von einem isolierten ar- begonnen hat, können wir die aktuelle Geschichte die jungen men Land wieder zu einer Weltmacht entwickelt. genauer beobachten. Wanderarbei- Chinas politischer Einfluss wächst mit seinem wirt- Am Beispiel der Leichtindustrie (von Schuhen terinnen, die schaftlichen Gewicht. Es ist inzwischen die dritt- bis Spielzeug) kann beobachtet werden, dass sich in der Fabrik größte «Volkswirtschaft». Das chinesische Wirt- die Umwälzungen beschleunigen. Auf der Suche oder anderswo arbeiten] schaftswunder mit seinen immer noch zweistelligen nach den billigsten Arbeiterinnen begann Nike die Wachstumsraten trägt die Weltkonjunktur. Vor Produktion Anfang der sechziger Jahre in Japan; allem amerikanische Firmen – von Wal-Mart bis als dort die Löhne stiegen, wurde die Produktion Mattel – sind die Auftraggeber für die südkorea- in den siebziger Jahren nach Südkorea verschoben. nischen oder taiwanesischen Subunternehmer, die Gerade die Frauen der Schuhindustrie spielten in ihren Schwitzbuden die Arbeit der Wanderar- dort eine hervorragende Rolle beim Sturz des beiterInnen kommandieren. Jetzt beginnen auch Militärregimes. Die Fabriken wurden 1989 nach die Investitionen derjenigen ausländischen Firmen, Indonesien, aber auch schon in die neuen Sonder- die auf den Markt in China gesetzt haben (Chemie- wirtschaftszonen in China verlagert. industrie, Maschinenbau) Gewinn abzuwerfen. 1997/98 kam die Asienkrise, die vor allem In- Bislang ist China ein stabilisierender Faktor in donesien traf. Die Währung verlor achtzig Prozent der Weltwirtschaft. Bei der Asienkrise 1997/98 hat ihres Wertes mit der Folge, dass die indonesischen die Regierung die Nerven behalten, seine Wäh- ArbeiterInnen plötzlich die billigsten der Welt wa- rung nicht wie fast alle anderen Länder im süd- und ren. Aber sie verteidigten ihren Lebensstandard
8 mit unzähligen Streiks und anderen Aktionen. Etwa Anfang 2000 flüchtete die Bekleidungsindu- gerade arbeiterfreundliche Regierung den Entzug der Schürfrechte androhte, sollte die Situation strie nach China, zum Teil nach Vietnam. Mit ihr nicht umgehend verbessert werden. In Indonesien, Teile der Schuhindustrie. mit dem China inzwischen beste Kontakte pflegt, Nach wenigen Jahren in den Südostprovinzen ist die PetroChina (oder eine ihrer vielen Töch- Chinas dann erneute Schwierigkeiten. Diesmal wa- ter) bei so vielen Erdgasprojekten dabei, dass im ren es nicht die Löhne im engeren Sinne, die blie- Parlament starke Kräfte fordern, wenigstens ein ben dort lange hinter denen in anderen Teilen des Viertel der Ressourcen für den nationalen Bedarf Landes zurück. Aber genau das war das Problem: zu sichern. die mingong gingen nach Shanghai oder Beijing Um besser für zukünftige Störungen der Wirt- und für die Textil-/Schuhindustrie im Südosten schaft gewappnet zu sein, ist das Regime in China war plötzlich die Ware «frische weibliche Arbeits- dabei, seine Finanzpolitik grundlegend zu ändern. kraft» knapp geworden. 2006 meldete Li&Fung, Die bisher langfristig festgelegten Devisen werden einer der größten Textilhändler der Welt, dass sie aktiviert – und auch als Geldkapital im Ausland in- immer mehr Aufträge nach Bangladesh und Kam- vestiert. bodscha vergeben würden – China hätte seinen Dabei geht es um zwei Dinge. Einerseits ist es die Wettbewerbsvorteil verloren. Lehre aus der Asienkrise von 1997/98, bei der sich In Japan und Südkorea gelang es, die Energie der im Nachhinein herausgestellt hatte, dass aus Eu- Arbeiterklasse in den Aufbau moderner Schwer-, ropa, den USA und Japan viel zu viel Geld dorthin Automobil- und Computerindustrie zu lenken. In gepumpt worden war, in der Hoffnung, sich an der beiden Ländern konnte der Lebensstandard der Ausbeutung der billigen asiatischen Arbeitskraft Weltspitze erreicht werden. Aber das geschah in beteiligen zu können. Ein Teil dieses Geldes konn- Phasen, in denen die Weltwirtschaft unabhängig te aber keine produktive Anlage finden und diente von Japan oder Südkorea expandierte. der Bereicherung der herrschenden Cliquen oder Darauf kann China als Lokomotive der Welt- auch zur Ruhigstellung der Bevölkerung. Es wurde konjunktur nicht hoffen. Die Erfahrung anderer «verbraucht», was zur Schwächung und schließlich Entwicklungsdiktaturen zeigt, dass sie nur solange zum Zusammenbruch der Währungen führte. von ihren Leuten geduldet werden, solange sie eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen auf- rechterhalten können. Anderseits geht es der chinesischen Regierung darum, dieses Kapital flexibler zu machen, um auf Störungen besser reagieren zu können. Zu diesem Noch beruhen die Wachstumsraten auf der Aus- Zweck dient ein in diesem Jahr aufgelegter Fonds 䎗 beutung der billigen jungen ArbeiterInnen, die vor allem Teile zusammenbauen, die in anderen Län- dern gefertigt werden. Die zunehmenden Kämp- mit einem Kapital von 200 Milliarden Dollar – er ist im Westen schon als «Staatsheuschrecke» be- zeichnet worden. Und tatsächlich könnte dieses 䖯 fe der ArbeiterInnen am «Fließband der Welt» deuten bereits an, dass diese Wachstumsphase ein schnelles Ende haben kann. Geld im Krisenfall relativ schnell von irgendwo abgezogen und zum Stopfen eigener Löcher ver- wendet werden. Um den Boom in China aufrechterhalten zu Man kann annehmen, dass die chinesische Re- da4yue4 können, braucht es jetzt Rohstoffe für eine Indus- gierung vor allem die im rasanten Wachstumspro- jin4 trie, die höherwertigere Jobs anbieten kann. Und zess angelegten internen Krisen im Auge hat. Dies tatsächlich sind die Staatsbetriebe überall auf der könnte zum Beispiel ein Crash der Shanghaier «Großer Welt auf der Suche. Sie kaufen, was noch zu ha- Börse sein, bei dem Millionen Chinesen, die im Sprung ben ist. Kupferminen in Chile, Ölquellen in Afrika Moment «mit Aktien spielen», ihre Ersparnisse nach vorn» usw. verlieren würden. In der Nickelmine Ramu in Papua Neuguinea, Es ist nicht die Angst vor der wirtschaftlichen [Regierungs- im Besitz der staatseigenen China Metallurgical Krise an sich, die die Regierung und das Weltka- kampagne 1958-1961, Construction, enthüllte ein Streik Anfang des Jah- pital umtreibt. Viel stärker fürchten sie Aufstände die zu einer res dermaßen katastrophale Arbeitsbedingungen wie 1989 in Beijing. Die zahllosen kleinen Riots, Hungerkatas- (Lohn, sanitäre Einrichtungen und vor allem kei- Demonstrationen und Streiks seither haben ge- trophe führte] nerlei Arbeitsschutz), dass sogar die ansonsten nicht zeigt, dass die Menschen in China auf jede Zumu- Bergarbeiter warten nach Unfall; Telefon- produktion
tung reagieren, die ihre Hoffnung auf ein besse- res Leben stört. Trotz massiven Stellenabbaus in lustig machen oder ihre Wut gegen die korrupten Kader und menschenverachtenden Fabrikbesitzer 9 den Staatsbetrieben, trotz Arbeitslosigkeit, ohne herausschreien. Aber wenige wagen das öffentlich. Gewerkschaften oder anderer vergleichbarer poli- Es gibt nicht diese Form demokratisch-repressiver tischer Organisierung konnten sie eine Erhöhung Toleranz, die uns in einigen Ländern der Welt er- des Lebensstandards durchsetzen. Allein in diesem laubt, relativ offen unsere Meinung zu sagen. In Jahr sind die städtischen Löhne um achtzehn Pro- China herrscht eine Form diktatorischer Repres- zent gestiegen. sion, welche die Alleinherrschaft der Kommu- Es ist nicht schwer, hinter all den beschleunigten nistischen Partei zu sichern sucht und jede Form Bewegungen der drei Ebenen – produktives Kapi- organisierter, politischer Gegenwehr niedermacht tal, Jagd nach Futter für den Boom und Finanzka- – ob sie nun anarchistisch ist oder irgendwie west- pital – den Klassenkampf in seiner mannigfaltigen lich-demokratisch. Gestalt zu erkennen. Die Organisierung der Aus- Für kritische Geister bedeutet dies, dass sie sich beutung in China erfordert immer neue und im- eher innerhalb oder nah an der Partei organisieren mer mehr Anstrengungen. können, in Form linker, intellektueller Kreise oder In den USA und in Europa reicht es offenbar, neo-maoistischer Gruppen, die für eine Stärkung mit einer nur langsamen Verschlechterung der Le- von Arbeiterinteressen im Rahmen der gegebenen bensbedingungen Stabilität zu erhalten. In China Ordnung eintreten. Innerhalb der Partei gibt es braucht es eine schnelle Verbesserung. Beides hängt eine «Neue Linke», die eine Art anti-imperialis- nicht nur, aber vor allem von den Wachstumsraten tischer Position vertritt, gegen den von der USA der chinesischen Ökonomie ab, Wachstumsraten, dominierten weltweiten Neoliberalismus. Sie will von denen niemand weiß, wie sie auf Dauer auf- einen starken chinesischen Staat, der Chinas Inter- recht erhalten werden können. essen in einer globalisierten Welt vertritt und im Mit anderen Worten: Wie lange werden die chi- Inneren den Auswüchsen der Ausbeutung Grenzen nesischen ArbeiterInnen die Tretmühle des «Fließ- setzt. Arbeiterkampf ist bei ihnen lediglich ein Ver- bandes der Welt» antreiben und sich mit den wirt- teilungskampf. schaftlichen und politischen Brosamen begnügen, Leute, die revolutionäre Positionen vertreten, die ihnen dafür vom Weltkapital und der Regie- können dies nur verdeckt tun, in Form von Unter- rung zugeworfen werden? stützungsgruppen für WanderarbeiterInnen oder Linke (und) Perspektiven Kommen wir zur Frage der politischen Linken in andere Gruppen, die protestieren und sich wehren. Sie lassen Informationen über deren Kämpfe zir- kulieren, im Internet oder auf der Straße. Die Poli- ᗴ Ꮉ China und hier und wie die sozialen Kämpfe in zei versucht, dies zu unterbinden. 30.000 staatliche China unterstützt werden können. Schnüffler sollen allein das Internet durchforsten, In China ist es zwar gang und gäbe, über soziale auf der Suche nach missliebigen Texten aus dem Probleme, die Interessen der ArbeiterInnen und In- und Ausland. Aber diese linken AktivistInnen die Möglichkeiten für eine bessere Welt zu dis- sind wenige. Die meisten chinesischen Arbeite- kutieren, unter ArbeiterInnen wie mit Intellektu- rInnen, ob in den Rostgürteln des Nordens oder ellen. Aber in diesen Diskussionen schwingen die den Weltmarktfabriken des Südens, bekommen dai4gong1 Erfahrungen mit, die in China mit sozialen Mo- wenig mit von der Solidarität linker Gruppen. bilisierungen gemacht wurden. Die Kulturrevolu- Daran haben auch die Unterstützungsversuche Bummel- tion bleibt, wie erwähnt, Teil des kollektiven Ge- von Hongkong aus wenig geändert. Hongkong streik, dächtnisses und begründet das Misstrauen vieler gehört mittlerweile zur Volksrepublik China, aber langsam gegenüber radikalen Forderungen oder Versuchen. als Sonderverwaltungszone mit «Versammlungs- arbeiten Die Exzesse der Roten Garden gegen Intellektu- und Meinungsfreiheit», in der kritische politische elle und andere sind genauso traumatisch wie der Gruppen auftreten können. Dort hat sich eine Eingriff der Roten Armee und die Vertreibung der kleine Szene von AktivistInnen unterschiedlicher rebellischen Jugend aus der Stadt. politischer Couleur etabliert, die sich mit den so- In China finden sich viele Leute, die im privaten zialen Auseinandersetzungen in der Volksrepublik Rahmen das Regime geißeln, sich über die Partei beschäftigt und versucht, sich einzumischen. Dazu Textilfabrik; Arbeiter fordern, dass sie nach Hause fahren können
10 gehört eine akademische Linke, die sich die Unter- suchung der sozialen Lage und der Kämpfe in Chi- tion dort genau zu kennen. Da gilt es einiges gera- dezurücken. na vorgenommen hat. Einige der Ergebnisse dieser Wenn wir die Neuigkeiten über Kämpfe und Forschungen werdet ihr in diesem Heft wiederfin- Bewegungen einordnen und die Chancen auf eine Restaurant- den. Eine Reihe von NGOs versucht zudem, die Ausbreitung und Radikalisierung der Auseinander- arbeiterInnen beim soziale Situation von ArbeiterInnen und Bauern in setzungen abschätzen wollen, brauchen wir mehr Morgenappell China zu verbessern, indem sie auf die Einhaltung direkte Kontakte zu AktivistInnen, Proletarier- von Arbeitsschutzbestimmungen, Umweltstan- Innen und Bauern in China, und einen Austausch dards und so weiter drängt. Die ProtagonistInnen über die eigene Lage, die Vorstellungen von einer setzen vor allem auf juristische Beratungen von Verbesserung, von einer Befreiung von Ausbeu- betroffenen ArbeiterInnen und Bauern, auf Fabri- tung und Unterdrückung. kinspektionen oder Konsumentenboykotte. Das ist Wir können davon ausgehen, dass Ostasien mit auch eine Art der Anpassung an die gegenwärtigen Schwerpunkt China sich als ein Zentrum der kapi- Kräfteverhältnisse, da die Unterstützung von Pro- talistischen Produktion, aber auch der Kämpfe eta- testen schwierig und gefährlich sein kann. Darüber blieren wird. Wie diese Kämpfe aussehen werden, hinaus versuchen einige Linke und Basisaktivist- wissen wir nicht. Es könnten wieder Bewegungen Innen – zum Teil auch über NGOs – Kontakte zu entstehen, die sich nicht mehr durch Propaganda, Repression und Arbeitslager einschüchtern lassen. Mögli- cherweise werden aber weiter- hin nationalistische und ande- re spalterische Elemente eine wichtige Rolle spielen. Hier wird es wichtig sein, Leute in China zu finden und zu unter- stützen, die sich dem entge- genstellen und der Repression ein Schnippchen schlagen. Außerhalb Chinas können ऩ wir versuchen, mehr Infor- mationen über die Auseinan- dersetzungen in China zu ԡ verbreiten, und mehr direkte Kontakte und einen Austausch ArbeiterInnen aufzubauen und Informationen über über proletarische Erfahrungen und Kämpfe zu die Lage und die Kämpfe in China und weltweit zu fördern. Das gilt nicht nur für China, sondern verbreiten. Ihr Ziel ist, die ArbeiterInnen in China auch für Länder wie Indonesien, die Philippinen, selbst in die Lage zu bringen, sich besser zur Wehr Südafrika oder Brasilien. Wir müssen öfter hinfah- dan1wei4 zu setzen und eigene Aktionen zu organisieren. ren und mehr übersetzen und zirkulieren lassen... Sie zählen nicht auf juristische Unterstützung und und uns daran gewöhnen, dass die Rufe der Kämp- Arbeits- Boykotte, sondern auf die Erhöhung des Klassen- fenden in Tagalog, Bahasa oder Zhongwen um den einheit drucks durch die Kämpfe selbst. Globus hallen. Und außerhalb Chinas? In den letzten Jahren Das Heft soll eine Annäherung sein, ein Aufriss. [Bezeichung sind – vor allem durch das größere Interesse am Wir wollen alle LeserInnen auf eine Reise durch für staatliche Aufstieg Chinas und den Berichten über soziale die sozialen Gefilde Chinas mitnehmen, die verste- Betriebe] Kämpfe dort, zum Teil im Rahmen der so ge- hen wollen, was dort passiert. Und vielleicht brin- nannten Anti-Globalisierungsbewegung – mehr gen wir einige dazu, sich selbst in dieses Abenteuer Kontakte entstanden zwischen Gruppen in Hong- zu stürzen und weiter anzunähern an die dortigen kong/China und anderen Ländern. Diese Versuche Umwälzungsprozesse. n stehen am Anfang und müssen die Sprachschwie- rigkeiten, die staatliche Repression und die räum- lichen Distanzen überwinden. In der westlichen Linken herrscht weiterhin eher blankes Erstaunen über die rasante Umwälzung und eine Konfusion bei der Einschätzung der Lage in China vor. Für die einen hat der Kapitalismus nun auch das maoistische China erfasst, andere halten China weiter für sozialistisch, wieder andere sehen nur die steigenden Zahlen sozialer Ausein- andersetzungen und setzen Hoffnungen auf eine große Kampfwelle in China, aber ohne die Situa-
Anton Pam 11 Die Geister der Geschichte Historische Hintergründe zu den gegenwärtigen Kämpfen der chinesischen Bauern und Wanderarbeiter n den letzten Jahren kommt es in China auf dem wurde die Mobilität durch das hukou-System en- I Land täglich zu Demonstrationen oder kleinen Unruhen. Da siebzig Prozent der Chinesen immer orm eingeschränkt. Ein Bauer mit dem hukou des Dorfes X durfte seine Scholle nicht verlassen und noch auf den Dörfern wohnen, ist die «Bauern- hatte in der Stadt kein Anrecht auf Lebensmittel- frage» für die Stabilität der Herrschaft der Kom- karten. Damit hatte er bis zur Abschaffung des Ra- munistischen Partei von großer Bedeutung. 100 tionierungssystems Mitte der achtziger Jahre in der bis 200 Millionen Bauern und Bäuerinnen sind urbanen Gesellschaft keine Existenzgrundlage. Um in die Städte zum Arbeiten aufgebrochen, um das den Aufbau der Schwerindustrie zu finanzieren, Überleben ihrer Familien zu sichern. Die Kämpfe zwang der Staat die Bauern ab 1953 Getreide und der Landbevölkerung entflammen nicht aus dem andere Agrarprodukte zu Dumpingpreisen an ihn Nichts, sondern haben ihre Geschichte und Tra- zu verkaufen. Im Gegenzug konnten die Löhne der ditionen. Das Handeln der protestierenden Bauern Arbeiter in den Städten niedrig gehalten werden. und Bäuerinnen wird auch von ihren Erfahrungen In diesem Punkt unterschied sich das chinesische bestimmt. Dieser Artikel soll die Schlüsselereig- Modell nur wenig von Stalins Sowjetunion. nisse und Widerstandsformen in den Kämpfen der Obwohl Mao Zedong die traditionelle chine- Bauern in China von 1949 bis heute darstellen. Am sische Kultur revolutionieren wollte, konservierte Schluss wird die Frage aufgeworfen, ob eine Soli- die Partei durch das hukou-System die traditio- darisierung zwischen den protestierenden Bauern, nellen Strukturen auf den Dörfern, weil die Mo- Wanderarbeitern und streikenden Staatsarbeitern bilität der Gesellschaft unterbunden wurde. Die möglich ist. mobilen Teile der Bevölkerung wurden mit nega- tiven Begriffen wie «floating population» (liudong Das hukou-System oder der Kampf des renkou) oder sogar «Rowdys» (liumang) belegt. Staates gegen die Mobilität Alle Beobachter der Unruhen in China sind der Meinung, dass Streiks, Proteste oder Riots bisher Noch heute werden die Wanderarbeiter mingong genannt, was in älteren Lexika mit «bei staatlichen Bauprojekten vorübergehend beschäftigte Arbeiter צ keine landesweiten Bewegungen hervorgebracht haben und in den meisten Fällen lokal isoliert sind. Obwohl sowohl Teile der Kernbelegschaften der aus der Landbevölkerung» übersetzt wird. Von 1949 bis Anfang der achtziger Jahre hatte sich das Verhältnis von der Land- zur Stadtbevöl- 䯁 Staatsbetriebe als auch rechtlose Wanderarbeiter kerung von 4 zu 1 nicht verändert. Nur einer win- immer öfter für ihre Interessen kämpfen, kommt es zigen Minderheit gelang es in diesem System den bisher nicht zur Solidarisierung oder Vernetzung eigenen sozialen Status zu verändern. Diese Tei- von unterschiedlichen Teilen der Arbeiterklasse. lung der Gesellschaft in Stadt und Land wirkt bis dao3bi4 Als Grund für die lokale Isolierung von Kämpfen heute nach, auch wenn das hukou-System gelockert wird häufig die starke Dezentralisierung des po- wurde. Bauern dürfen heute in den Städten arbei- dicht- litischen Systems nach den Reformen von 1978 ten, aber nur bestimmte Jobs annehmen. Damit sie machen, genannt. Lokale Behörden haben ihre weitgehen- ihre Familien nicht nachholen, verwehrt der Staat Bankrott den Steuerhoheiten und die Deregulierung des ihnen den Zugang zu den öffentlichen Schulen. gehen Marktes genutzt, um lokale Akkumulationsregime Um eine Universität zu besuchen, muss ein Bau- zu errichten. Daher würde sich auch der Wider- ernkind bei der zentralen Aufnahmeprüfung viel stand von Arbeitern und Bauern gegen die loka- bessere Noten als ein Kind aus der Stadt haben. len Regierungen und nicht die Zentrale in Beijing Einen Vorteil hat der Agrar-hukou jedoch, weshalb richten. viele Bauern bereit sind, die Nachteile in Kauf zu Der Grund für die tiefgehende Spaltung der chi- nehmen. Jeder chinesische Bauer hat das Anrecht nesischen Gesellschaft und die Fragmentierung von der Dorfregierung ein Stück Land zugeteilt zu von Kämpfen liegt aber auch in dem Haushaltsre- bekommen, für das seine Familie das Nutzungs- gister-System (hukou) begründet, das die städtische recht besitzt. Diese egalitäre Agrarordnung wurde und ländliche Gesellschaft bis heute spaltet. Ob- mit der Bodenreform (1949-1952) geschaffen und wohl sich die Kommunistische Partei Chinas vor verhindert bis heute das Entstehen einer neuen der Machtübernahme 1949 in erster Linie auf die Klasse von Großgrundbesitzern. Bauern stützte, wurden die Dorfbewohner zu Bür- Die Lockerung des hukou-Systems war kein Ge- gern zweiter Klasse gemacht. 1955 teilte der Staat schenk des Staates, sondern wurde hart erkämpft. seine Bürger in Agrar- und Nichtagrarbevölkerung Als Anfang der achtziger Jahre im Zuge der Re- ein. Die Stadtbevölkerung erhielt ein Recht auf formen die Gemeindeindustrie in den Kleinstädten Lebensmittelkarten und Sozialleistungen, während und die Sonderwirtschaftszonen boomten, strömten sich die Dörfer selber versorgen mussten. Ab 1958 Millionen von Bauern einfach in die Städte. Da sie
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