Unterrichtsgestaltung vor dem Hintergrund des eigenen Weltbildes

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Unterrichtsgestaltung vor dem Hintergrund des eigenen Weltbildes
Akademie für anthroposophische Pädagogik Dornach
Ausbildung zum Klassenlehrer/ Vollzeitkurs

                         Zwischenabschluss

Unterrichtsgestaltung vor dem Hintergrund
         des eigenen Weltbildes –
       Was vermitteln Lehrer unbewusst ihren
                     Schülern?

Freya Bahn
Zürcherstr. 16
4143 Dornach                                       Dornach, Oktober 2008
Unterrichtsgestaltung vor dem Hintergrund des eigenen Weltbildes
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1. Einleitung _______________________________________________________________ 2

2. Entstehung der Fragestellung _______________________________________________ 4

3. Forschungsplan __________________________________________________________ 6
  3.1 Forschungsposition __________________________________________________________ 6
  3.2 Untersuchungsfeld __________________________________________________________ 8
  3.3 Forschungsmethoden ________________________________________________________ 8
  3.4 Auswertungsverfahren ______________________________________________________ 10

4. Menschenkundliche Aspekte _______________________________________________ 11

5. Der Anti-Bias-Ansatz _____________________________________________________ 15
  5.1 Geschichte und Entwicklung des Anti-Bias-Ansatzes _____________________________ 15
  5.2 Grundannahmen des Anti-Bias-Ansatzes _______________________________________ 16
  5.3 Der Anti-Bias-Ansatz in verschiedenen Praxisfeldern ____________________________ 18
  5.4 Das Projekt Kinderwelten in Berlin-Kreuzberg _________________________________ 19

6. Rhythmischer Teil und Erzählteile des Hauptunterrichts ________________________ 20
  6.1 Selbstgeschriebene Geschichten_______________________________________________ 22
  6.2 Erfahrungen aus einer Vertretungsstunde in der sechsten Klasse ___________________ 24

7. Unterrichtsmaterialen an der Waldorfschule __________________________________ 25

8. Erziehung als Selbsterziehung des Lehrer ____________________________________ 27

9. Ausblick _______________________________________________________________ 29

10. Bibliographie __________________________________________________________ 31

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1. Einleitung

                                           (Spiegel 35/2008: 59)

    Das obige Bild erschien in einem Artikel über eine türkischstämmige Frau, welche in
    Deutschland lebt. Die Bildunterschrift tituliert die abgebildete Frau als Migrantin und
    könnte dabei beim Betrachter eine Reihe von Assoziationen auslösen, welche auf
    Vorurteilen beruhen. So könnte man die Frau mit Kopftuch einer Migrantin gleich setzen,
    wahrscheinlich eine Türkin, da meist alle kopftuchtragenden Frauen als Türkinnen
    bezeichnet werden. Die deutsche Fahne schwenkt sie vermutlich nur anlässlich eines
    Fußballspieles, der einzige Bereich wo Integration stattfindet. Ansonsten sollte diese Frau
    nicht allzu viel Kontakt mit der deutschen Umwelt haben, was durch die weitere
    Bildunterschrift belegt wird. Wahrscheinlich spricht sie auch gar kein Deutsch. Dies ist
    von ihrer Familie, respektive ihrem Ehemann sicherlich auch gar nicht erwünscht.
    So oder so ähnlich könnten die gängigen Vorurteile lauten, die dieses Bild und seine
    Unterschrift hervorrufen. Auch der Bildredakteur1 scheint solchen Vorurteilen verfallen
    zu sein, da er von vornherein annimmt, es handele sich bei einer kopftuchtragenden Frau
    zwangsläufig um eine Migrantin. Die Korrektur, welche eine Woche später folgte, beweist
    allerdings das Gegenteil:

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 Im Sinne einer leichteren Lesbarkeit füge ich entweder die maskuline oder feminine Form an, schließe das
andere Geschlecht aber immer mit ein.

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                                 (Spiegel 36/2008: )

   Die Frau ist deutschstämmig, weder Migrantin noch Türkin und die Tatsache, dass sie
   anscheinend in einem Milieu verkehrt, in dem der Spiegel gelesen wird und solche Fehler
   entdeckt werden, lässt darauf schließen, dass sie auch nicht in einen absolut
   bildungsfernen Milieu lebt.
   Es ist davon auszugehen, dass jeder Mensch Vorurteile hat. Bei meiner Arbeitsdefinition
   für Vorurteile stütze ich mich hierbei auf Aronson, der besagt, dass Vorurteile
   generalisierte feindselige oder negative Einstellungen gegenüber einer bestimmten Gruppe
   sind, welche auf falschen oder unvollständigen Informationen beruhen (Aronson 1994:
   298). Auch scheinbar „positive“ Vorurteile, wie Dunkelhäutige hätten ein gutes
   Rhythmusgefühl, erscheinen hierbei als negativ, da dem Einzelnen dadurch sein Recht auf
   Individualität genommen wird. Der Vorgang der Stereotypisierung beschreibt die Art und
   Weise, in der Merkmale und Motive für eine Gruppe von Menschen generalisiert werden.
   Jedem Individuum werden dabei identische Merkmale zugeschrieben (Aronson 1994: 299)
   Durch Vorurteile wird die Welt in eine überschaubare Anzahl von Kategorien unterteilt.
   Dadurch wird die Welt vereinfacht, es wird uns aber auch erleichtert, uns selbst zu
   definieren. Wir schreiben uns und andere verschiedenen Gruppen zu und definieren
   unsere Identität durch die verschiedenen Gruppenmitgliedschaften (z.B. Ich bin Lehrer,
   Ich bin Deutsche usw.) (Brown 2002: 559).
   Es gibt viele Erklärungsmodelle, wie Vorurteile entstehen (Brown 2002). In der
   vorliegenden Arbeit lege ich meinen Schwerpunkt auf die Annahme, dass Vorurteile
   erlernt werden. Bestimmte Vorurteile prägen eine Gesellschaft und diese werden von
   ihren Mitgliedern unbewusst „erlernt“ und verinnerlicht.
       „Auch Frauen sind subtilen Formen von Vorurteilen ausgesetzt. Daryl und
       Sandra Bem vermuten, dass die in unserer Gesellschaft vorhandenen Vorurteile
       gegenüber Frauen ein Beispiel für eine unbewusste Ideologie sind – für ein
       Überzeugungssystem also, das wir implizit akzeptieren, das uns aber nicht
       bewusst ist, weil wir uns eine andere Weltsicht gar nicht vorstellen können. Wir
       werden in unserer Kultur so sozialisiert, dass wir uns kaum eine Frau vorstellen

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       können, die als Fernfahrer oder Hausmeister arbeitet, während ihr Mann sich zu
       Hause um die Kinder kümmert (…)“ (Aronson 1994: 312).

   Viele Studien belegen, dass auch schon Kinder früh die in der Gesellschaft vorhandenen
   Vorurteile übernehmen: So spielten dunkelhäutige Kinder in den USA lieber mit
   hellhäutigen Puppen und hatten das Gefühl weiße Puppen seien schöner (Aronson 1994:
   295).
   Vorurteile haben dabei Auswirkungen auf die Wirklichkeit. Bestimmte Vorurteile
   bewirken bestimmte Reaktionen anderen gegenüber, so dass sich diese dann oft in der Art
   und Weise verhalten, dass die falschen Überzeugungen wiederum bestätigt werden.
   Frauen, die bspw. ein traditionelles Geschlechterbild in ihrer Kindheit erwarben, strebten
   tendenziell keinen höheren Bildungsabschluss an (Aronson 1994: 310). Kinder einer
   vierten Klasse bekamen in einem Experiment verschiedene Statuse zugeschrieben, die
   durch Anstecknadeln symbolisierten wurden. Bei einer Aufgabe erzielten die Kinder mit
   einem hohen Status bessere Leistungen als Kinder mit einem niedrigen Status, obwohl der
   Status in keiner Korrelation zu der gestellten Aufgabe stand (Aronson 1994: 296).
   Vorurteile prägen somit unser Bild von der Welt und unseren Umgang mit anderen
   Menschen. Auch Lehrer haben Vorurteile und Stereotypen. Vor dem Hintergrund dieses
   von Vorurteilen und Stereotypen geprägten Weltbildes gestalten sie ihren Unterricht und
   geben ihre Anschauungen an die Kinder weiter. Diese Prozesse geschehen wahrscheinlich
   meist unbewusst und unreflektiert. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, sich dieser
   Problematik anzunähern und zu schauen, wie ein bewusster Umgang mit dem eigenen
   Weltbild erreicht werden kann. Dabei sollen vor allem die Möglichkeiten der
   Waldorfpädagogik aufgezeigt werden, mit denen verhindert werden kann, dass die
   Schüler ein erstarrtes, von Vorurteilen geprägtes Weltbild erlangen.

   2. Entstehung der Fragestellung
   Praxisforschung entsteht aus dem Bedürfnis heraus, die eigene Praxis zu reflektieren und
   adäquat zu verändern. Die Fragestellungen bilden sich daher unmittelbar in der Praxis und
   ihre Ergebnisse sollen für diese nutzbar gemacht werden. Der Lehrer ist aktiv in den
   Forschungsprozess eingebunden. Somit wird von dem vor allem in der quantitativen
   Sozialforschung vorherrschenden Paradigma des neutralen Forschers, der sich von außen
   dem „Forschungsobjekt“ nähert, Abstand genommen. David Parker schreibt hierzu:

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       „Selbstverständlich kann die Aktionsforschung keine völlig objektiven Daten
       liefern, da alles, was mit der Praxisforschung zu tun hat, auf menschlichen
       Werten, Einstellungen und Meinungen aufbaut. Doch wird nicht alles in der
       Schule gerade mit diesen menschlichen Qualitäten und individuellen Werten
       begründet? Das sind doch die Grundlagen, die den Lehrerberuf lohnend machen.
       Diese Tatsache bildet die Basis der Aktionsforschung.“ (Parker 2007: 127)

   Wichtiges Merkmal der qualitativen Sozialforschung ist die Transparenz hinsichtlich der
   Forschungsmethoden und der eigenen Standortgebundenheit des Forschers (Lammek
   2005: 26). Sieht sich der Forscher als Subjekt an, dessen eigene Wertvorstellungen,
   Erfahrungen und Einstellungen in den Forschungsprozess einfließen, so müssen diese m.E.
   im Vorfeld offen gelegt werden um eine „subjektive Objektivität“ zu erreichen. Gerade
   bei diesem Forschungsthema, welches sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit die
   Lehrpersonen durch die eigenen Vorurteile und Stereotypen die Kinder beeinflussen,
   scheint mir die Offenlegung meines eigenen Hintergrundes und der damit verbundenen
   Entstehung der Fragestellung unerlässlich. Um den Rahmen dieser Diplomarbeit nicht zu
   sprengen, werde ich mich auf meine Ausbildung und berufliche Erfahrung beschränken.
   Ich habe in Berlin und Freiburg Erziehungswissenschaft studiert. Vor allem in Berlin kam
   ich mit der Interkulturellen Pädagogik und damit verbunden mit dem weiter unten
   geschilderten Anti-Bias-Ansatz in Kontakt. Durch das Wohnen in einem sozialen
   Brennpunkt (Berlin-Neukölln) und das ehrenamtliche Erteilen von Deutschnachhilfe in
   einem Flüchtlingsheim für traumatisierte Flüchtlinge wurde mir deutlich, dass meine
   eigenen Wertvorstellungen nicht universell sind und das die Welt viel komplexer ist, als
   uns Vorurteile zu vermitteln versuchen. In Basel habe ich mehrere Praktika in einem Hort
   absolviert, der Kinder von Müttern mit Migrationshintergrund betreut, welche in dieser
   Zeit einen Deutschkurs besuchen. Das Klientel reichte von der Akademikerin aus den
   USA bis zu der kurdischen Heiratsmigrantin aus einem anatolischen Dorf. Durch diese
   Erfahrungen war ich immer wieder damit konfrontiert, meine eigenen Wertvorstellungen
   und Vorurteile gegenüber anderen Menschen zu revidieren. Mich beschäftigte immer
   mehr die Frage, inwieweit man als Pädagoge den immer heterogener aufwachsenden
   Kindern in einer immer komplexer werdenden Welt gerecht werden kann.
   Während des letzten Jahres habe ich Praktika in der ersten, zweiten, sechsten und siebten
   Klasse der Rudolf Steiner Schulen Münchenstein und Basel absolviert und leite eine
   Rudolf Steiner Spielgruppe mit. Da ich in verschiedenen Klassen hospitieren und
   praktizieren konnte, hatte ich die Möglichkeit zu erleben, wie sehr die Individualität des
   Klassenlehrers die Klasse, das Klima aber auch die Inhalte prägt. So entstand in mir die
   Frage, was die Kinder durch mich, durch meine Lehrerolle vermittelt bekommen, dessen

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   ich mir gar nicht bewusst bin. Inwieweit kann es mir gelingen eine Balance zu halten
   zwischen der Entwicklung zu einer Lehrerpersönlichkeit, die für eine bestimmte Haltung
   steht und der Gefahr in vorgefertigte Weltbilder und festgeschriebene Begriffe abzugleiten?

   3. Forschungsplan
   3.1 Forschungsposition
   Qualitative Sozialforschung geht davon aus, dass Prozesse „von sozialer Wirklichkeit im
   Empfinden, Fühlen, Denken und den Aktionen der Menschen nur dann angemessen erfasst
   und verstanden werden (können), wenn die Beforschten nicht wie in der quantitativen
   Forschung Objekte standardisierter Befragungs- und Beobachtungsverfahren werden, in
   denen ihre Wirklichkeit in den Grenzen vorgängiger Theorien und Techniken
   zugeschnitten worden ist, sondern in der Kommunikation mit dem Forscher als Subjekte
   an der Rekonstruktion und Analyse sozialer Wirklichkeit teilnehmen.“ (Schaub u. Zenke
   2002: 448f.) Im Mittelpunkt der qualitativen Sozialforschung steht somit unter anderem
   die offene Kommunikation zwischen Forscher und Beforschten. Die Wirklichkeit wird
   interaktiv nachgebildet und verstehend erklärt (Schaub u. Zenke 2002: 448f.). Die soziale
   Wirklichkeit wird dabei nicht als objektiv gegeben sondern als gesellschaftlich konstruiert
   gesehen.         Durch   nicht-standardisierte   Methoden       wird     versucht     dem
   Untersuchungsgegenstand angemessen und offen gegenüber zu treten (FU Berlin 2003:
   26).
   Mayring führt in seiner Publikation fünf Grundsätze des qualitativen Denkens an: Durch
   die Subjektbezogenheit zeigt sich, dass immer Menschen Ausgangspunkt der Forschung
   sind, welche in ihrer alltäglichen Umgebung und nicht im Labor untersucht werden sollen.
   Am Anfang muss der Gegenstandsbereich umfassend beschrieben werden (Deskription).
   Da menschliche Äußerungen immer mit subjektiven Intentionen verbunden sind, müssen
   diese durch Interpretationen erschlossen werden. Eine Verallgemeinerung lässt sich nicht
   so leicht garantieren, wie bei einer repräsentativen, empirisch ausgewerteten Stichprobe.
   Verallgemeinerungen müssen immer begründet werden (Mayring 2002: 19ff.).
   In diesem Kontext sieht sich auch die Praxisforschung, welche an der Akademie für
   anthroposophische Pädagogik vertreten wird. Praxisforschung steht in Bezug zu der
   Aktions- oder Handlungsforschung oder dem englischen Begriff der action research.
   Dabei ist zu beachten, dass der Begriff „research“ weiter gefasst wird als das deutsche

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   Wort „Forschung“ (Stöckli u. Rawson 2007: 32). Kurt Lewin drückt mit folgenden Zitat
   ein wichtiges Anliegen der Handlungsforschung aus:
         „Eine Forschung, die nichts anderes als Bücher hervorbringt, genügt
         nicht.“ (Lewin zitiert nach Huppertz 1997: 277)

   Im Mittelpunkt steht die Praxisveränderung während des Forschungsprozesses. Die
   Erkenntnisse der Forschung werden so schon während des Forschungsprozesses in die
   Praxis umgesetzt. Die Wissenschaft greift somit verändernd in die Praxis ein. Dabei soll
   ein gleichberechtigter Diskurs zwischen Forscher und Betroffenen bestehen und direkt an
   den sozialen Problemen in der Praxis angesetzt werden (Mayring 2002: 50f.). Dadurch
   wird die strikte Trennung zwischen Forscher und Forschungsobjekt aufgehoben. In der
   Praxisforschung an der AfaP sind die Forscher sogar die Praktiker selbst. Thomas Stöckli
   versteht Praxisforschung für Lehrer nach Altrichter und Posch folgendermaßen:
         „Aktionsforschung ist die systematische Untersuchung beruflicher Situationen,
         die von Lehrerinnen und Lehrern selbst durchgeführt wird, in der Absicht, diese
         zu verbessern.“ (Altrichter u. Posch zitiert nach Stöckli u. Rawson 2007: 31)

   Rudolf Steiner war es ein wichtiges Anliegen, dass die Lehrer selbst als Lernende, als
   Forschende tätig bleiben. Er sah die Konferenzen als eine Weiterführung der Hochschule
   an, in denen die Lehrer weiterhin forschen. Die Weiterentwicklung des eigenen
   Unterrichts und die Arbeit an der eigenen Lehrerpersönlichkeit bildeten für ihn somit
   einen wesentlichen Schwerpunkt des pädagogischen Schaffens (Stöckli u. Rawson 2007:
   5).    Auch      vertrat   Steiner   eine   ähnliche   Forschungsauffassung,     die     in   der
   Handlungsforschung vertreten wird. Er betonte, dass es keinen Sinn mache „bei der
   Menschenerkenntnis         von   einem      Unterschiede   von   Theorie   und     Praxis      zu
   sprechen.“ (Steiner 1981a: 52)
   Die Praxisforschung liefert der forschenden Lehrperson ein Methodeninstrumentarium,
   durch welches sie ihre Praxis reflektieren und verändern kann. Durch die Orientierung an
   wissenschaftliche Kriterien wird es ebenso möglich, die Ergebnisse transparent und für
   andere nachvollziehbar zu machen. Dadurch kann die Waldorfpädagogik in einen Dialog
   mit anderen erziehungswissenschaftlichen Richtungen treten.
   Im Folgenden werde ich mein weiteres Forschungsvorgehen darstellen und meine
   Forschungsmethoden offen legen.

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   3.2 Untersuchungsfeld
   Als einen wichtigen Grundsatz der qualitativen Forschung nennt Mayring das Postulat der
   möglichst großen Alltagsnähe des Untersuchungsgegenstandes.
       „Der Mensch reagiert im Labor anders als im Alltag. (…) Es darf natürlich nicht
       verkannt werden, dass fast jeder forschende Zugang zur Realität eine
       Verzerrung mit sich bringt. Qualitativer Forschung geht es aber darum, diese
       Unschärfen zu verringern, indem gefordert wird, möglichst nahe an der
       natürlichen, alltäglichen Lebenssituation anzuknüpfen.“(Mayring 2002: 22)

   Mein Untersuchungsfeld ist daher primär die Schule. Die Schule stellt für die Schüler
   einen wesentlichen alltäglichen Lebensraum dar. Während der vergangenen zwei
   Schuljahre habe ich sowohl Praktika an der Rudolf Steiner Schule Münchenstein als auch
   an der Rudolf Steiner Schule Basel absolviert. Ebenso habe ich vier Stunden in der
   Woche Schüler der vierten Klasse während ihrer Mittagspause betreut. Einen
   wesentlichen Teil meines Untersuchungsfeldes umfassen daher meine Erfahrungen, die
   ich während den Hospitationen und eigenen Lehrtätigkeiten sammeln konnte. Um aber
   nicht nur von meiner subjektiven Sichtweise auszugehen, möchte ich qualitative
   Interviews mit erfahrenen Lehrpersonen durchführen.
   Raum sollen aber auch meine Erfahrungen bezüglich der Mitleitung einer Spielgruppe
   einnehmen. Hier soll vor allem herausgearbeitet werden, inwieweit die Eindrücke aus
   dem ersten Jahrsiebt auch für die Schule fruchtbar gemacht werden können.
   In der Praxisforschung ist die eigene Lehrtätigkeit in der Regel das primäre
   Untersuchungsfeld. Als Studentin stehe ich allerdings noch nicht vollends im Berufsleben
   und erlebe die einzelnen Klassen auch nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Als
   weiteres wichtiges Untersuchungsfeld werde ich daher die schon vorhandene Literatur
   hinzunehmen und kritisch unter den Aspekten meiner Fragestellung beleuchten.
   Meine Diplomarbeit hat für mich somit einen wesentlichen Zukunftsaspekt. So versuche
   ich von drei Seiten ausgehend eine Fragestellung zu bearbeiten, die mir während meiner
   späteren beruflichen Tätigkeit hilfreich sein kann. Im anschließenden Kapitel werden die
   dazu verwendeten Forschungsmethoden geschildert.

   3.3 Forschungsmethoden
   Ein wesentlicher Teil dieser Arbeit beruht auf den Beobachtungen, welche ich während
   meiner Praktikumszeit sammeln konnte. Als Forschungsmethode wähle ich so die
   teilnehmende Beobachtung. Ich begebe mich als „Forscher“ in die natürliche Umgebung

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   meiner Forschungsobjekte und nehme an ihrem alltäglichen Tagesablauf teil (Mayring
   2002: 54). Um die Beobachtung als Forschungsmethode von der alltäglichen
   Beobachtung abzugrenzen, müssen die Gegenstände der Beobachtung, die Art und Weise
   der Dokumentation und die Zeiträume genau definiert und offen gelegt werden (Schaub u.
   Zenke 2002: 76). Ebenso sind meine persönlichen Beobachtungen eher subjektiver Natur.
   Ich werde daher in dieser Arbeit klar daraufhin weisen, wenn ich Daten anführe, die aus
   meinen Beobachtungen resultieren. In einigen Unterrichtssituationen, auf die ich
   eingehen werde, wurde ich als Praktizierende von keiner Lehrperson „beobachtet“. Ich
   war somit Lehrperson und Beobachter in einem (Vgl. Kapitel 6.2). Ein wesentlicher
   Aspekt der Schilderung dieser Erfahrungen wird somit die Reflektion meiner eigenen
   Lehrerfahrung vor dem Hintergrund der Literaturrecherche sein. Da ich noch nicht als
   Lehrperson tätig bin, verfüge ich nicht über eine Berufspraxis, die sich über einen
   längeren Zeitraum hinweg intensiv erforschen lässt. Meine Beobachtungen dienten in
   erster Linie dazu, in mir Fragen anzuregen, die für mein späteres Berufsleben
   entscheidend sein könnten.
   Daraus resultierend werde ich mich einer intensiven Literaturrecherche widmen und
   evaluieren, welche Aspekte zu meiner Forschungsfrage schon bearbeitet wurden. Dabei
   ist   es    mir   wichtig,   sowohl    die       anthroposophische   als   auch   allgemein
   erziehungswissenschaftliche Literatur zu berücksichtigen.
   Mit den Lehrpersonen werde ich qualitative Interviews führen. Dabei werde ich einen
   zuvor festgelegten Leitfaden verwenden. Flick nennt als wesentliches Merkmal der
   Leitfaden-Methode, dass hier keine restriktiven Vorgaben bei der Reihenfolge und der
   Behandlung der Themen existieren. Der Interviewer entscheidet ausgehend von der
   singulären Situation, wann und wie er bestimmte Fragen stellt. Er entscheidet bspw. auch,
   welche Fragen eventuell schon ausreichend beantwortet worden sind oder auf welche
   noch detaillierter eingegangen werden sollte. Da einerseits große Spielräume bei der
   Gestaltung bestehen, andererseits aber auch bestimmte Themen angesprochen werden
   sollen, spricht Flick hier von „Teilstandardisierten Interviews“. Diese Interviewform stellt
   nach Flick hohe Anforderungen an den Interviewer, der eine große Sensibilität besitzen
   muss. So besteht die Gefahr, dass der Interviewer zu stark an den Leitfaden orientiert ist,
   im falschen Moment die Ausführungen unterbricht oder die falschen Fragen stellt (Flick
   2002: 143f.).
   Als anregend für die Gestaltung der Interviews kann auch die Auseinandersetzung mit
   dem „Problemzentrierten Interview“ nach Witzel sein. Wichtige Merkmale sind dabei die

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   Schlagwörter Problemzentrierung, Gegenstandsorientierung und Prozessorientierung. Die
   Problemzentrierung beinhaltet die Orientierung an gesellschaftlichen Problemstellungen.
   Durch die Gegenstandsorientierung werden die Methoden auf den Gegenstand bezogen
   und modifiziert. Der Forschungsprozess und das Gegenstandsverständnis sollen
   prozessorientiert und flexibel gestaltet werden (Flick 2002: 135).
       „Das Interview lässt den Befragten möglichst frei zu Wort kommen, um einem
       offenen Gespräch nahe zu kommen. Es ist aber zentriert auf eine bestimmte
       Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder
       zurückkommt.“(Mayring 2002: 67)

   Mit der Problemstellung hat sich der Forscher im Vorfeld auseinandergesetzt und dadurch
   seinen Leitfaden konzipiert. Dieser dient vor allem dazu, bei einem gehemmten Gespräch
   oder einer unergiebigen Thematik dem Gespräch neue Wege aufzuzeigen (Flick 2002:
   135). Mayring betont, dass sich das Problemzentrierte Interview besonders für
   Forschungen eignet, bei denen schon ein Theoriebestand vorhanden ist und nun
   dezidiertere Fragen im Vordergrund stehen (Mayring 2002: 70). Auch in der vorliegenden
   Arbeit kann im Vorfeld eine Problemanalyse stattfinden, die auch Einfluss auf die
   Erstellung des Leitfadens haben wird. Die Interviews werden allerdings erst nach dem
   Zwischenabschluss geführt werden.

   3.4 Auswertungsverfahren
   In dieser Arbeit werden im Wesentlichen die Ergebnisse meiner Beobachtungen,
   Literaturrecherche und      Interviews angeführt. Wichtig ist es hierbei, genau zu
   kennzeichnen aus welcher dieser drei Quellen meine Daten stammen. Ich werde somit
   zuerst primär eine Literaturrecherche anführen. Daran knüpfen sich meine eigenen
   Beobachtungen und Reflektionen an, welche auf die Literatur Bezug nehmen. In einem
   eigenen Teil werden die Ergebnisse der Interviews angeführt. Dies wird aber erst zu
   meinen Abschluss hin geschehen. Im Fazit wird dann versucht, die drei Standbeine
   zusammenzubringen und zu reflektieren.
   Für die Auswertung der Interviews werde ich mich an der qualitativen Inhaltanalyse nach
   Mayring orientieren. Sofern es der Rahmen der Diplomarbeit erfordert, werde ich aber
   auch von dieser abweichen und die Methode auf dem Gegenstand abstimmen.
   Den Grundgedanken der qualitativen Inhaltsanalyse definiert Mayring folgendermaßen:

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         „Qualitative Inhaltsanalyse will Texte systematisch analysieren, indem sie das
         Material schrittweise mit theoriegeleitet am Material entwickelten
         Kategoriensystemen bearbeitet.“(Mayring 2002: 114)

   Wie bereits erwähnt, ergibt sich der Leitfaden aus der zuvor dargestellten theoretischen
   Problemanalyse.    Der    Leitfaden    bildet     somit   die   Grundlage   für    die   ersten
   Kategoriendefinitionen. Anschließend wird das erhobene Material Schritt für Schritt
   durchgegangen.    Die    einzelnen    Sequenzen      werden     den   Kategorien   zugeordnet
   (Subsumption). Wenn Sequenzen nicht zu den bereits gebildeten Kategorien passen,
   werden neue Kategorien definiert. Nach der Hälfte des Materialdurchgangs wird das
   Kategoriensystem überarbeitet. Anschließend erfolgt ein endgültiger Materialdurchgang.
   Durch die Explikation wird zusätzliches Material herangetragen, um die zentralen
   Textstellen und Erkenntnisse zu erläutern.
   Der Aufbau der einzelnen Kategorien verläuft in dieser Arbeit nach einem bestimmten
   Muster. Wie bei Mayring ist die Kategorie explizit definiert, um darzustellen, welche
   Textstellen unter diese Einheit fallen. Konkrete Ankerbeispiele sind zur Verdeutlichung
   der Kategorien angeführt (Mayring 2002: 118f.). Nachdem ich die Textpassagen den
   einzelnen Kategorien zuordne, wird in der Diplomarbeit die Interpretation der
   Textelemente aufgezeigt. Die Kategorien werden die behandelten Themen in den
   Interviews wieder spiegeln. Sie differenzieren also nicht wie bei Mayring die
   verschiedenen Ausprägungen und Einstellungen zu diesen Inhalten. Stattdessen sind die
   verschiedenen Ausprägungen in der Interpretation der einzelnen Kategorien dargestellt.

   4. Menschenkundliche Aspekte
   Wenn davon ausgegangen wird, dass Vorurteile und Stereotypen primär erlernt werden,
   erscheint eine genauere Betrachtung des Lernverhaltens des Kindes unerlässlich. Im
   folgenden Kapitel werden die verschiedenen Entwicklungsphasen und Lernmöglichkeiten
   der ersten drei Jahrsiebte menschenkundlich kurz betrachtet.
   Bezüglich des ersten Jahrsiebts sind hierbei die Begriffe Nachahmung und Vorbild von
   zentraler Bedeutung. Von der Geburt bis zum Zahnwechsel steht die Formentwicklung der
   Organe des physischen Leibs im Vordergrund der kindlichen Entwicklung. Die richtige
   physische Umgebung wirkt dabei förderlich auf die kindliche Entwicklung:
       „Was in der physischen Umgebung vorgeht, das ahmt das Kind nach, und im
       Nachahmen gießen sich seine physischen Organe in die Formen, die ihnen dann
       bleiben. Man muss die physische Umgebung nur in dem denkbar weitesten

                                                11
Zwischenabschluss                                                                  Freya Bahn

       Sinne nehmen. Zu ihr gehört nicht etwa nur, was materiell um das Kind herum
       vorgeht, sondern alles, was sich in der Umgebung des Kindes abspielt, was von
       seinem Sinnen wahrgenommen werden kann, was vom physischen Raum aus
       auf seine Geisteskräfte wirken kann.“ (Steiner 1981: 22)

   Inwieweit die physische Umgebung den physischen Körper in der frühen Kindheit formt,
   lässt sich am Beispiel der Wolfskinder belegen. Diese Kinder verbrachten ihre ersten
   Jahre unter Wölfen, sie hatten, als sie gefunden wurden, längere Schneidezähne, runde
   Augen, eine blutrote Mundhöhle, gekrümmte und überlange Gliedmaßen und
   krallenähnliche Fingernägel (Singh 1964).
   Die erzieherische Ansprache im ersten Jahrsiebt erfolgt dementsprechend nicht durch das
   an den Verstand gerichtete Wort sondern durch die Umgebung. Nicht was der Erzieher zu
   dem Kind sagt, sondern wie er es sagt, hat primär Einfluss auf das Kind. Steiner
   formuliert dies sogar so radikal, dass die Gesundheit des ganzen Lebens davon abhinge,
   wie man sich in der Nähe des Kindes benimmt. Ebenso hängt auch die Entwicklung der
   Neigungen vom Verhalten in der Umgebung ab (Carlgren 1983: 54f.). Das Kind ist somit
   ganz „Sinnesorgan“ (Carlgren 1983: 55). Das Kind öffnet sich ungefiltert mit allen
   Sinnen den Eindrücken und Einflüssen seiner Umgebung und diese formen gleichwohl
   seine leiblichen Organe. Als Beispiel kann hier die Sprachentwicklung genannt werden,
   das anfangs universale Gehör passt sich seiner Umgebung an. Zusammenfassend lässt sich
   das Lernen im ersten Jahrsiebt als impliziter und indirekter Vorgang beschreiben, bei dem
   nicht Reflexionen und gedankliche Operationen sondern Tätigkeiten und Wahrnehmungen
   entscheidend sind (Patzlaff u. Saßmannhausen 2005: 21).
   Der Zahnwechsel ist ein Symptom für das Freiwerden der leibgestaltenen Kräfte. Die
   Ausgestaltungen der Organformen sind im Wesentlichen abgeschlossen. Dieser Umbruch,
   welcher den Beginn des zweiten Jahrsiebts und die Geburt des Ätherleibes kennzeichnet,
   ist auch mit einem Wechsel des Lernverhaltens des Kindes verbunden. Die
   Gestaltungskräfte können nun für das Vorstellungsleben des Kindes genutzt werden.
   Dieses ist nun nicht mehr von unmittelbaren Sinneseindrücken und Wahrnehmungen
   abhängig und emanzipiert immer mehr seine eigene Vorstellungs- und Gedächtniskraft. In
   dieser Zeit wird das Kind fähig für das schulische Lernen.
   In den ersten zwei bis drei Schuljahren wirken die Nachahmungskräfte des Kindes noch
   nach und der Lehrer kann sich dies methodisch zu nutzen machen. Dennoch ist das zweite
   Jahrsiebt vor allem durch die Begriffe „Nachfolge“ und „Autorität“ (Steiner 1981: 27)
   geprägt. Der Autoritätsbegriff ist dabei im positiven Sinne zu verstehen, dass Kind hat ein
   natürliches Bedürfnis danach:

                                             12
Zwischenabschluss                                                                  Freya Bahn

       „Das Kind will vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife neben sich die
       Autorität haben. Es verlangt das. Es hat Sehnsucht danach.“ (Steiner 1991: 203)

   Diese Autorität kann nicht erzwungen werden. Vor allem nach dem neunten Lebensjahr
   wird das Verhältnis auch hinterfragt werden, und der Lehrer muss sich würdig zeigen (Päd.
   Sektion am Goetheanum et al 1997: 17) Mit der Umbildung und dem Wachstum des
   Ätherleibes gehen auch die Entwicklung der Neigungen, des Gewissens, des Charakters,
   des Gedächtnisses und der Temperamente einher. Diese Entwicklung soll durch die
   unmittelbare geistige Anschauung, welche die geliebte Autorität darstellt, in die richtigen
   Bahnen gelenkt werden (Steiner 1981: 27). Der Pädagoge wirkt auch nicht mehr primär
   durch die physische Umgebung und Nachahmung, sondern verstärkt durch das Wort
   (Richter 2006: 44) Zentrales Unterrichtsprinzip ist dabei die Bildhaftigkeit:
       „Nicht abstrakte Begriffe wirken in der richtigen Weise auf den wachsenden
       Ätherleib, sondern das Anschauliche, nicht das Sinnlich-, sondern das Geistig-
       Anschauliche.“ (Steiner 1981: 27)

   Während des zweiten Jahrsiebts soll das Kind nicht zu sehr über den Verstand
   angesprochen werden, sondern sich die „Schätze der Menschheit“ (Steiner 1981: 34)
   gedächtnismäßig aneignen. Eine wesentliche Rolle kommt dabei dem Erzählteil zu, auf
   dem weiter unten nochmals eingegangen wird.
   Kennzeichnend für einen solchen Unterricht ist das Augenmerk auf den Begriff des
   Charakterisierens anstatt des Definierens.
       „Das viele Definieren ist der Tod des lebendigen Unterrichtes. Was müssen wir
       also tun? Wir sollten im Unterricht nicht definieren, wir sollten versuchen zu
       charakterisieren. Wir charakterisieren, wenn wir die Dinge unter möglichst viele
       Gesichtspunkte stellen.“ (Steiner 1993a: 140)

   Als Beispiel führt Steiner hier den Naturkundeunterricht an. Nicht nur die isolierten
   Fakten über ein bestimmtes Tier sollen dem Kind nahe gebracht werden, stattdessen sollen
   die vielfältigsten Seiten der Geschichte des Tieres beleuchtet werden, z.B. die Beziehung
   des Menschen zu dem Tier (Steiner 1993a: 140). Dabei bezeichnet er das Definieren als
   etwas Starres und Totes, das Charakterisieren hingegen als etwas Lebendiges und
   Bewegliches.
       „Definitionen legen immer die Seele fest, und ein Definitionsbegriff bleibt das
       Leben hindurch und macht das Leben zu etwas Totem.“ (Steiner 1993: 210)

   Die Begriffe, welche in der Schule gelernt werden, sollen daher so beweglich bleiben,
   dass der Schüler die Möglichkeit hat, diese im späteren Leben zu ändern, zu ergänzen und
   zu bereichern.

                                                13
Zwischenabschluss                                                                 Freya Bahn

   Durch die starke Ausrichtung auf das Charakterisieren im Unterricht versucht der Lehrer
   dem Kind somit kein starres und fixiertes Weltbild zu vermitteln. Auch sollte die
   Urteilskraft nicht zu früh hervorgerufen werden. Ein wesentliches Merkmal des dritten
   Jahrsiebts ist das Erwachen der Urteilskraft, welche mit der Geburt des Astralleibes und
   dem Beginn der Geschlechtsreife einhergeht.
       „Man kann einem Menschen nichts Schlimmeres zufügen, als wenn man zu früh
       sein eigenes Urteil wachruft. Erst dann kann man urteilen, wenn man in sich
       Stoff zum Urteilen, zum Vergleichen aufgespeichert hat.“ (Steiner 1981: 40)

   Wenn zu früh Wert auf selbstständige Urteile gelegt wird, fehlt diesen die Grundlage. Es
   wird somit auf Halbwahrheiten und falschen Informationen geurteilt, Vorurteile entstehen.
   So wird deutlich, warum zuerst die „Schätze der Menschheit“ kennen gelernt werden
   sollen, bevor man über diese urteilt. Es zeigt aber auch, wie sinnvoll die Methodik des
   Charakterisierens ist, da dadurch die Dinge in ihrer Komplexität und nicht einseitig
   dargestellt werden. So gesehen stellt die Menschenkunde ein Handwerkszeug bereit, um
   dem Kind durch die Jahrsiebte hindurch nicht ein fixiertes und starres Weltbild
   einzuprägen, sondern um ihm den Weg zu bereiten um zu einem freien und
   selbstständigen Urteil zu gelangen.
   Wesentliches Werkzeug des Lehrers ist seine Sprache. Im neunten Vortrag der
   Menschenkunde schildert Steiner, dass unser Urteil, welches wir uns über die Welt bilden,
   in die träumende Seele hinunterzieht und so im Gefühl getragen wird. Dadurch wird das
   Urteilen zu einer Gewohnheit, zu einer Seelengewohnheit. Der Ausdruck des Urteilens ist
   der Satz, d.h. dass die Art und Weise wie der Lehrer zu dem Kind spricht, die
   Seelengewohnheiten des Kindes prägt (Steiner 1993a: 137).
   Dies ist nur ein weiteres Beispiel dafür, das Erziehen im Wesentlichen die Selbsterziehung
   des Pädagogen bedeutet. Er wirkt durch die physische Umgebung, durch seine Sprache
   und Haltung auf das Kind und hat Einfluss auf dessen Entwicklung von Neigungen,
   Anschauungen und Urteilen. Doch wie komme ich als Lehrer zu der Fähigkeit, dass die
   Kinder kein fixiertes Weltbild bekommen? Wie kann ich einen lebendigen Unterricht
   halten, der auf dem Charakterisieren beruht, wenn ich wahrscheinlich selber voller toter
   Definitionen und fixierter Weltbilder stecke, derer ich mir gar nicht bewusst bin? Kann
   ein Klassenlehrer nicht schnell Gefahr laufen, zu meinen er würde charakterisieren und in
   Wirklichkeit schildert er nur tote Definitionen verkleidet in schönen Worten? Wie leicht
   kann ich beispielsweise anschaulich und spannend über Afrika schildern und vermittle
   letztendlich doch nur das begrenzte Bild von einem Dorf mit Strohhütten und tanzenden

                                            14
Zwischenabschluss                                                                    Freya Bahn

   Dunkelhäutigen, weil das nun mal meinem begrenztem Weltbild, meinen Vorurteilen und
   Stereotypen entspricht.
   Im folgenden Kaptitel möchte ich aufbauend auf diesen Überlegungen einen Ansatz aus
   der interkulturellen Pädagogik vorstellen, der sich mit dem Erlernen und Verlernen von
   Vorurteilen beschäftigt und dabei vor allem Institutionen wie Schulen und Kindergärten in
   das Blickfeld rückt.

   5. Der Anti-Bias-Ansatz
   Beim Anti-Bias-Ansatz steht das Aufdecken von Diskriminierung und Vorurteilen auf
   persönlicher, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Ebene im Vordergrund.
   Bias kann auf Deutsch mit Voreingenommenheit, Schieflage oder Vorurteil übersetzt
   werden. Anti-Bias bedeutet somit „vorurteilsbewusst“ oder „nichtdiskriminierend“. Ziel
   ist es, eine durch Voreingenommenheit entstandene Schieflage wieder ins Gleichgewicht
   zu bringen. Gegen die in der Gesellschaft existierenden Ungleichverhältnisse soll
   angekämpft und versucht werden diese aufzulösen. Dies soll einerseits durch eine
   intensive erfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit den Strukturen von Macht und
   Diskriminierung und andererseits durch das Verlernen von unterdrückenden und
   diskriminierenden Kommunikations- und Interaktionsformen erreicht werden (www.anti-
   bias-werkstatt.de (21.12.2007)).

   5.1 Geschichte und Entwicklung des Anti-Bias-Ansatzes
   Entwickelt wurde der Anti-Bias-Ansatz vornehmlich von Louise Derman-Sparks und
   Carol Brunson Phillips in den USA. Sie absolvierten Anfang der siebziger Jahre in
   Kalifornien ein Studium der Grundschulpädagogik. Resultierend aus ihrer Kritik an der
   Lehre des Umgangs mit Kindern unterschiedlicher Herkunft, gründeten sie eine
   Arbeitsgruppe, welche sich mit einer alternativen und antirassistischen Perspektive
   beschäftigte.    Zu    Beginn   war   der    Anti-Bias-Ansatz     hauptsächlich    auf   die
   Kleinkindpädagogik konzentriert (Derman-Sparks et al. 2002: 61)
   Erweitert wurde der Anti-Bias-Ansatz vor allem in Südafrika nach dem Ende der
   Apartheid. Südafrika stand und steht vor der Aufgabe, nach dem Ende der gesetzlich
   verankerten      Diskriminierung,   den   Rassismus   und   die     Vorurteile    auch   im

                                               15
Zwischenabschluss                                                                      Freya Bahn

   gesellschaftlichen Leben, also in den Köpfen der Menschen, abzubauen. Um dies zu
   erreichen,       wurden    spezielle   Anti-Bias-Trainings,   vor   allem   im   Bereich   der
   Erwachsenenbildung, entwickelt (www.inkota.de (20.12.2007)).
   1990 kam der Anti-Bias-Ansatz durch das vom INKOTA- Netzwerk (Information,
   Koordination, Tagungen zu Themen des Nord-Süd-Konflikts und der konziliaren
   Bewegungen) initiierte Projekt „Vom Süden lernen“ nach Deutschland. Das Projekt
   beinhaltete einen Fachkräfteaustausch mit südlichen Ländern und wird weiter unten noch
   einmal erwähnt (INKOTA-netzwerk e.V. (Hg.): 2002).
   Heute wird der Ansatz in Deutschland sowohl in der Kleinkindpädagogik als auch in der
   Erwachsenenbildung vertreten. Im universitären Bereich wird der Anti-Bias-Ansatz vor
   allem an der Freien Universität Berlin und der Universität Oldenburg gelehrt.

   5.2 Grundannahmen des Anti-Bias-Ansatzes
   Der Anti-Bias-Ansatz geht davon aus, dass jeder Mensch Vorurteile hat. Einerseits dienen
   diese zur Orientierung im sozialen Miteinander, andererseits ist in ihnen die Gefahr
   verborgen, handlungsleitend für Ausgrenzung, Gewalt und Erniedrigung zu sein (Stamer u.
   Lünse 2002: 75)
   Die     Gesellschaft      ist   eine   komplexe    Struktur   von    Machtbeziehungen      und
   Unterdrückungsverhältnissen.
         „Der Anti-Bias-Ansatz geht davon aus, dass Voreingenommenheit (Bias) und
         Diskriminierung erlernt sind und als Ideologien institutionalisiert werden. Daher
         können sie auch verlernt und deinstitutionalisiert werden.“ (Reddy 2002: 37)

   Um die Strukturen von Diskriminierung zu verlernen, muss das Subjekt verstehen, wie die
   Unterdrückungsmechanismen funktionieren, diese dann verlernen und neue Alternativen
   erlernen.
   Um den Vorgang des Erlernens von Unterdrückungsstrukturen zu verdeutlichen, möchte
   ich kurz die Entwicklung der Übernahme von Vorurteilen schildern. Ich stütze mich
   hierbei auf die u.a. von Louise Derman-Sparks gewonnenen Erkenntnisse (Derman-
   Sparks 2001). Sie kritisiert die Annahme vieler Kleinkinderzieher, dass kleine Kinder
   „farbenblind“ seien, also keine Unterschiede wahrnehmen würden. Kleine Kinder
   entwickeln schon sehr früh eine Ahnung für Unterschiede.
   Bereits im ersten Lebensjahr nehmen sie Unterschiede war, ab dem dritten bis vierten
   Lebensjahr zeigen sie Interesse an Unterschieden, stellen Fragen zu vor allem

                                                 16
Zwischenabschluss                                                                       Freya Bahn

   körperlichen      Unterschieden,    konstruieren    eigene     Theorien,    warum    Menschen
   unterschiedlich sind und übernehmen Stereotypen und negative Einstellungen über andere
   Gruppen (Derman-Sparks 2001: 7). Dabei übernehmen sie die Haltungen nicht nur aus
   ihrem direkten Umfeld, sondern auch aus dem Kontakt mit gesellschaftlich verbreiteten
   Vorurteilen.
   Die Entwicklung von Identität und Einstellungen des Individuums gegenüber anderen ist
   nach Derman-Sparks, eine Interaktion zwischen den individuellen körperlichen
   Merkmalen eines Kindes und seiner Persönlichkeit, seiner Familienkultur und den
   gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Ab dem zweiten Lebensjahr beginnt auch die
   unbewusste       Internalisierung   der   gesellschaftlichen    Position.   Die   internalisierte
   Unterdrückung bedeutet die Übernahme negativer Botschaften über die eigene Gruppe.
   Dies geschieht entweder durch direkte Erfahrungen durch Diskriminierung und Vorurteile
   oder durch indirekte Erfahrungen mit gesellschaftlich verbreiteten Einstellungen. Folgen
   sind beispielsweise die Verinnerlichung eines negativen Selbstwertgefühls, Passivität und
   Resignation. Bei der internalisierten Überlegenheit wird durch direkte oder indirekte
   Erfahrungen verinnerlicht, dass die eigene Gruppe besser als andere sei, und dass
   aufgrund von z.B. Hautfarbe, Geschlecht oder Schicht ein besonderes Recht auf
   gesellschaftliche Privilegien bestehe (Derman-Sparks 2001: 10). Diese Internalisierungen
   gehen einher mit dem modernen Rassismus. Während beim historischen Rassismus, z.B.
   während der Apartheid in Südafrika oder des Nationalsozialismus in Deutschland, die
   Unterdrückung durch Gesetze legitimiert wurde, findet die Unterdrückung beim modernen
   Rassismus eher in subtilerer Form statt. So ist er verankert in persönlichen Einstellungen,
   zwischenmenschlichen Interaktionen und somit auch in Institutionen (Reddy et al 2002:
   28).
   Louise Derman-Sparks geht somit auch von den Nachahmungskräften in der frühen
   Kindheit aus. Die physische Umgebung hat Einfluss auf die Entwicklung des Kindes und
   dessen Einstellungen. Dabei nimmt sie bei der physischen Umgebung nicht nur die private
   und familiäre Umgebung sondern auch das gesellschaftliche Klima in Blick, welches
   wiederum die private Sphäre durchdringt. Fokus legt sie auf die Eigenaktivität des Kindes,
   welches aus den Eindrücken und Einflüssen aus der Umgebung eigene Theorien
   entwickelt. Auch der anthroposophisch orientierte Autor Stefan Leber betont, dass das
   Knüpfen von Verbindungen, die Herstellung von Zusammenhängen und Bezügen eine
   Leistung des erwachenden Denkens ist (Leber 1993: 237).

                                                17
Zwischenabschluss                                                                Freya Bahn

   Vorurteile sind für Derman-Sparks mit einem Lernprozess verbunden. Diese bauen auf
   Ideologien auf und nicht auf einem komplexen Betrachten der Sachverhalte und
   Grundlagen. So wird hierbei wiederholt deutlich, wie ein charakterisierender Unterricht
   eine Vorurteilsbildung verhindern kann. Ein Verlernen der Vorurteile kann somit auch
   durch das Charakterisieren erreicht werden. Bei den Anti-Bias-Seminaren, wo solch ein
   Verlernen stattfinden soll, wird daher auch nicht mit toten Definitionen, sondern mit
   Methoden eines erfahrungsorientierten Austausches gearbeitet.
   Der Anti-Bias-Ansatz ist in den USA entstanden und bezieht sich dort stark auf die
   gesellschaftlichen Unterschiede entlang der verschiedenen Hautfarben. Wird der Ansatz in
   andere Länder übertragen, muss der dortige gesellschaftliche Kontext berücksichtigt
   werden. In Deutschland vollziehen sich die Diskriminierungen stark entlang der sozialen
   Herkunft der Kinder. So besteht eine starke Korrelation zwischen dem Bildungsniveau der
   Eltern und dem Schulerfolg der Kinder. Durch den Anti-Bias-Ansatz können aber auch
   Diskriminierungen aufgrund des Geschlechtes, der Sexualität, Körperlichkeit, Intelligenz
   oder Einstellung aufgedeckt werden. Die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz ist somit
   nicht nur für Pädagogen, welche mit einem interkulturellem Klientel arbeiten, lohnenswert
   und kann auch für die Waldorfschulen befruchtend sein.

   5.3 Der Anti-Bias-Ansatz in verschiedenen Praxisfeldern
   Im Folgenden möchte ich einige Projekte vorstellen, die in ihrer Arbeit den Anti-Bias-
   Ansatz verwenden.
   INKOTA führte von 1994-2002 das bereits erwähnte Projekt „Aus dem Süden lernen“ in
   Deutschland durch. Das Netzwerk lud Experten aus Afrika, Asien und Lateinamerika nach
   Deutschland ein, damit diese hier Seminare leiten. Entstanden war dieses Projekt aus der
   Kritik an dem traditionellen und vereinfachten Verständnis von südlichen Ländern.
       „`Sonne und Palmen, Dürrekatastrophen, Menschen die arm sind, aber glücklich;
       hungrige Kinder mit großen Augen; der Gedanke helfen zu müssen; die Angst
       vor Armutsflüchtlingen.` Diese Punkte werden zum Stichpunkt „der Süden“ auf
       Seminaren immer wieder genannt. So scheinen soziokulturell, politisch und
       historisch   völlig    unterschiedliche     Länder     durch     die    Brille
       „Entwicklungsländer“ einheitlich und greifbar zu werden.“ (Kübler 2002: 52)

   Ziel dieses Projektes war somit das Verlernen von Stereotypen, dass z.B. Menschen aus
   Afrika defizitär und hilfsbedürftig wären und Menschen aus dem Norden die Experten, die
   ihnen helfen könnten (Reddy 2002a: 11). Erreicht werden sollte ein globales Lernen, die

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Zwischenabschluss                                                                 Freya Bahn

   „Einbahnstraße der Expertise aus dem Norden“ (Reddy et al. 2002: 32) sollte
   aufgebrochen werden und ein gleichberechtigter, partnerschaftlicher Dialog entstehen.
   Aus Südafrika wurden Pädagogen eingeladen, Anti-Bias-Trainings durchzuführen und so
   Entwicklungsdefizite in Deutschland, wie z.B. im Bereich Gender, Rassismus oder im
   Bezug auf den Ost-/West-Konflikt zu bearbeiten. Seminarteilnehmer waren unter anderem
   Pädagogen, Mitarbeiter von Nicht-Regierungsorganisationen und Polizisten.
   Das     Fortbildungsinstitut   für   die   pädagogische   Praxis    FIPP    e.V.   Berlin
   (www.fippev.de/fippev/projekte.bildungsarbeit (20.122005)) führt mit dem Projekt „Train
   the Trainer“ Fortbildungsangebote für im schulischen Bereich Arbeitende durch.
   Arbeitsschwerpunkt ist der Anti-Bias-Ansatz und seine Weiterentwicklung für den
   schulischen Sektor. Schulen können unter anderem Trainings bei FIPP e.V. bestellen.
   Das Projekt „Eine Welt im FEZ“ Berlin von FIPP e.V. in Zusammenarbeit mit dem
   Freizeit- und Erholungszentrum FEZ Wuhlheide bietet Beratungen für z.B. Lehrer,
   Projekttage für Schulklassen und sechswöchige Qualifizierungsprogramme für Erzieher
   an (Kübler 2002:55ff.). Gerade Pädagogen brauchen bei ihrer Arbeit Beratung, um
   festgefahrene Muster nicht weiter zu verfestigen. Wird an einer Schule beispielsweise eine
   Projektwoche zum Thema Afrika durchgeführt, besteht die Gefahr Afrika nur auf
   Exotisches zu reduzieren und als einheitliches Dorf zu sehen. Um dies zu verhindern,
   können sich Pädagogen an FEZ wenden. Auch hier wird somit wieder der Anspruch des
   Charakterisierens deutlich.

   5.4 Das Projekt Kinderwelten in Berlin-Kreuzberg
   Berlin-Kreuzberg ist ein Bezirk, in dem Menschen unterschiedlichster kultureller
   Herkunft leben und in dem es eine große Spannbreite an sozialen Schichten gibt. Das
   Projekt „Kinderwelten. Interkulturelle und gemeinwesenorientierte Arbeit in Kitas“, an
   dem mehrere Kindertagesstätten in Kreuzberg beteiligt sind, beruft sich auf die
   Erkenntnisse der Arbeit von Louise Derman-Sparks. Ein besonderes Augenmerk liegt auf
   dem Vorhandensein von Vorurteilen, Stereotypen,       unreflektierten Normvorstellungen
   und unbedachten Ausgrenzungsprozessen im Kindergartenalltag (Wagner 2001: 1).
   Erziehungseinrichtungen wie Kindergärten, aber auch Schulen sind gesellschaftliche
   Institutionen, in denen Vorurteile weitergegeben werden. Derman-Sparks betont, dass
   Kinder bei Kindergarteneintritt offener sind für Freundschaften mit Kindern bspw. des
   anderen Geschlechts oder Herkunft als beim Verlassen der Einrichtung. Natürlich sind die

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Zwischenabschluss                                                                    Freya Bahn

   Einrichtungen dafür nicht allein verantwortlich, dennoch sollten sie kritisch überprüfen,
   inwieweit sie durch ihren Personalschlüssel und ihre materielle Ausstattung stereotype
   Bilder festigen (Wagner 2001: 4).
   Auch Pädagogen sind in ihren Haltungen und in ihrer Identität von gesellschaftlichen und
   kulturellen Rahmenbedingungen beeinflusst. Kein Mensch kann vorurteilsfrei sein. Um
   sich den eigenen Denk- und Handlungsmustern jedoch bewusst zu werden, nehmen die
   Pädagogen regelmäßig an Anti-Bias-Seminaren teil.
   In dieser Diplomarbeit möchte ich den Augemerk jedoch nicht auf die Durchführung der
   Seminare für die Pädagogen lenken, sondern den Aspekt der kritischen Überprüfung der
   Ausstattung in der Kindertageseinrichtung auf die Klassenräume in den Waldorfschulen
   übertragen. Wagner schreibt, wie bereits erwähnt, dass die pädagogische Institution
   reflektieren muss, inwieweit sie durch ihr Erscheinungsbild stereotype Bilder festigt:
       „Gibt es auch männliche Erzieher? Schwarze ErzieherInnen? Sind
       dunkelhäutige Kinder auch Hauptfiguren in Geschichten und Theaterstücken?
       Gibt es Bücher, Spielfiguren, Bilder, die gesellschaftlich relevante Rollen
       (Ärzte, Piloten, Politiker) auch mit Frauen und Angehörigen der Minderheiten
       besetzen?“ (Wagner 2001: 4)

   Ziel von Kinderwelten ist es unter anderem, dass die Familienkulturen aller Kinder in der
   Kindestagesstätte sichtbar werden. Der Klassenlehrer an der Waldorfschule muss sich
   zwar an den Rahmenlehrplan halten, ist aber in seiner Gestaltung und Wahl der
   letztendlichen Inhalte sehr frei. Er schafft sich sein eigenes Unterrichtsmaterial, wählt die
   zu erzählenden Geschichten aus und ist auch durch seine eigene Person prägend für die
   Schüler. Im folgenden Kapitel soll beleuchtet werden, wie unter den Aspekten des Anti-
   Bias-Ansatzes die Unterrichtsstoff- und Materialauswahl kritisch beleuchtet werden kann
   und Stärken und Schwächen aufgezeigt werden.

   6. Rhythmischer Teil und Erzählteile des Hauptunterrichts
   In der Waldorfschule existieren menschenkundliche Lehrplanhinweise für den Erzählstoff
   und die rhythmischen Einheiten. Welche Lieder, Märchen oder Sprüche der Klassenlehrer
   aber letztendlich auswählt, bleibt ihm größtenteils selbst überlassen. Hier bietet sich für
   ihn die Gelegenheit, den Stoff an die jeweiligen Kinder seiner Klasse anzupassen. Der
   Klassenlehrer könnte somit die Familienkulturen aller Kinder in den Unterricht einbauen
   und Ausgrenzungsprozesse vermeiden. Ebenso hat er die Möglichkeit, alle Kinder für

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   andere Kulturen, Lebenshintergründe und Einstellungen zu öffnen, so dass hier keine
   unreflektierten Rollenbilder und Stereotypen verfestigt werden.
   Wie groß das Interesse an fremden Sprachen ist, konnte ich in einer ersten Klasse erleben.
   Die Kinder hatten zum Ende des Schuljahres ihre erste Schreibepoche. Um ihnen
   spielerisch den Unterschied zwischen ähnlich klingenden Lauten zu verdeutlichen,
   erzählte ich ihnen eine Geschichte von Jungen, die verschiedene Streiche und Abenteuer
   erleben. Die Jungen lebten in einem fernen Land, in dem eine fremde Sprache gesprochen
   wurde. Wurden sie beim Stehlen der Äpfel erwischt, schimpfte der Nachbar: Pi, Pa, Po,
   Pu, Pe. Die Jungen antworteten kleinlaut: Bi, Ba, Bo, Bu, Be. Es folgten in den Dialogen
   weitere Lautpaare wie Ti, Ta, To, Tu, Te – Di, Da, Do, Du, De mit verschiedenen
   Intonationen. Ich habe diese Übung mit den Kindern durchgeführt, damit sie das Wesen
   der Laute erfahren. Schon bald merkte ich, welche Freude sie hatten, in einer
   „Sprache“ zu sprechen, die für sie keinen Sinn ergab. Sie überlegten, was die Dialoge
   „übersetzt“ heißen könnten und begrüßten mich schon an der Tür mit Pi, Pa, Po, Pu, Pe.
   In dieser Klasse führte ich auch ein türkisches Tanzlied ein. Als ich ihnen das erste Mal
   das Lied vorsang, meldete sich ein türkischstämmiger Junge und sagte dies sei Türkisch.
   Der Junge, welcher sonst häufiger schulische Probleme hatte, war mit einem Mal den
   anderen Kindern in etwas voraus. Ich hoffe, hier sein Selbstbild gestärkt zu haben.
   Anfangs war ich besorgt, dass die anderen Kinder die vollkommen anders klingenden
   Worte nicht mitsingen könnten. Sie taten dies jedoch mit größter Selbstverständlichkeit
   und lernten den Text sehr schnell. Hier wurde mir die große Offenheit gegenüber fremden
   Eindrücken deutlich, die in diesem Alter noch existiert.
   Auch der Erzählteil bietet einen großen Reichtum um die Offenheit gegenüber
   Andersartigen zu bewahren. Albert Schmelzer von der Interkulturellen Waldorfschule in
   Mannheim berichtet, dass z.B. Märchen alle Kinder ansprechen. Dabei spielt es keine
   Rolle, ob sie nun von den Brüder Grimm stammen oder aus einem anderen Land. Ebenso
   wie Legenden oder Fabeln sind Volksmärchen Archetypen und Wahrbilder der
   menschlichen Existenz, die in ähnlichen Formen in unterschiedlichen Kulturen auftreten
   (Schmelzer et. al 2007: 100). So zeigt sich, dass wenn Steiner von den „Schätzen der
   Menschheit“ (Steiner 1981: 34) spricht, hier wirklich alle Menschen meinte und nicht nur
   die eines bestimmten Kulturkreises. Wichtig ist nur, so Schmelzer, dass der Lehrer in den
   Geschichten wirklich lebt und von ihnen überzeugt ist. Schmelzer betont ebenso, dass die
   Erzählvorlagen immer zu prüfen sind, ob es zu unreflektierten Verallgemeinerungen

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   kommt. Gerade in Legenden könnte bspw. das „Gute Christentum“ einseitig dem
   „Schlechten Heidentum“ gegenübergestellt werden (Schmelzer et. al 2007: 100f.).
   Meines Erachtens ist beim Erzählteil eine kritische Selbstreflektion der Auswahl von
   bspw. Fabeln sehr wichtig. Als Klassenlehrer sollte ich mir bewusst sein, warum ich
   ausgerechnet diese und nicht eine andere Fabel auswähle. In einer zweiten Klasse sollte
   ich eine Fabel erzählen. Ich wollte eine Geschichte über den Fuchs auswählen. Die
   meisten Fabeln, die ich las, stellten den Fuchs als schlau, listig und immer auf seinen
   eigenen Vorteil bedacht dar. Zuletzt fand ich die Fabel „Der Fuchs und das Pferd“, in der
   der Fuchs zwar schlau und listig ist, seine List aber dazu einsetzt um uneigennützig dem
   Pferd zu helfen. Haben die Kinder schon mehrere Fabeln über den listigen und
   egoistischen Fuchs gehört, so finde ich es wichtig, dieses „Rollenbild“ bewusst zu
   durchbrechen und z.B. eine Fabel zu erzählen, in welcher der Fuchs zwar listig, aber auch
   altruistisch handelt. Ohne es kognitiv zu erwähnen, erfahren die Kinder so die
   Komplexität menschlicher Eigenschaften. Ebenso wäre dann das Fabelwesen des Fuchses
   wirklich charakterisiert, also von verschiedenen Seiten betrachtet worden. Man könnte
   sich die Frage stellen, ob es sich nicht auch um eine Definition handelt, wenn vom Fuchs
   immer in der gleichen Art und Weise erzählt wird.
   Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen würde ich bei meiner späteren Lehrtätigkeit in
   der ersten oder zweiten Klasse gerne die Geschichte der „Kleinen Hexe“ von Ottfried
   Preussler vorlesen. Die kleine Hexe darf nur auf dem Blocksberg mittanzen, wenn sie eine
   gute Hexe geworden ist. Das ganze Jahr über begeht sie Taten, die sie für gut erachtet um
   am Ende zu erfahren, dass die anderen Hexen ein vollkommen anderes Verständnis von
   „Gut“ und „Böse“ haben. Dennoch findet die kleine Hexe den Mut am Ende für das ein zu
   stehen, was sie als „Gut“ empfindet und sagt sich von den anderen Hexen los. Hier wird
   deutlich, dass keine universale Gültigkeit für solche moralischen Wertvorstellungen
   existiert, dass es aber wichtig ist, seinen eigenen Standpunkt zu finden.

   6.1 Selbstgeschriebene Geschichten
   Gerade in den ersten zwei Schuljahren steht der Klassenlehrer immer wieder vor der
   Herausforderung selbst Geschichten zu erfinden, sei es um bestimmte Unterrichtsinhalte
   zu veranschaulichen oder um den Erzählteil durch eine fortlaufende Geschichte zu
   bereichern.

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