Unterrichtsgestaltung vor dem Hintergrund des eigenen Weltbildes
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Akademie für anthroposophische Pädagogik Dornach Ausbildung zum Klassenlehrer/ Vollzeitkurs Zwischenabschluss Unterrichtsgestaltung vor dem Hintergrund des eigenen Weltbildes – Was vermitteln Lehrer unbewusst ihren Schülern? Freya Bahn Zürcherstr. 16 4143 Dornach Dornach, Oktober 2008
Zwischenabschluss Freya Bahn 1. Einleitung _______________________________________________________________ 2 2. Entstehung der Fragestellung _______________________________________________ 4 3. Forschungsplan __________________________________________________________ 6 3.1 Forschungsposition __________________________________________________________ 6 3.2 Untersuchungsfeld __________________________________________________________ 8 3.3 Forschungsmethoden ________________________________________________________ 8 3.4 Auswertungsverfahren ______________________________________________________ 10 4. Menschenkundliche Aspekte _______________________________________________ 11 5. Der Anti-Bias-Ansatz _____________________________________________________ 15 5.1 Geschichte und Entwicklung des Anti-Bias-Ansatzes _____________________________ 15 5.2 Grundannahmen des Anti-Bias-Ansatzes _______________________________________ 16 5.3 Der Anti-Bias-Ansatz in verschiedenen Praxisfeldern ____________________________ 18 5.4 Das Projekt Kinderwelten in Berlin-Kreuzberg _________________________________ 19 6. Rhythmischer Teil und Erzählteile des Hauptunterrichts ________________________ 20 6.1 Selbstgeschriebene Geschichten_______________________________________________ 22 6.2 Erfahrungen aus einer Vertretungsstunde in der sechsten Klasse ___________________ 24 7. Unterrichtsmaterialen an der Waldorfschule __________________________________ 25 8. Erziehung als Selbsterziehung des Lehrer ____________________________________ 27 9. Ausblick _______________________________________________________________ 29 10. Bibliographie __________________________________________________________ 31 1
Zwischenabschluss Freya Bahn 1. Einleitung (Spiegel 35/2008: 59) Das obige Bild erschien in einem Artikel über eine türkischstämmige Frau, welche in Deutschland lebt. Die Bildunterschrift tituliert die abgebildete Frau als Migrantin und könnte dabei beim Betrachter eine Reihe von Assoziationen auslösen, welche auf Vorurteilen beruhen. So könnte man die Frau mit Kopftuch einer Migrantin gleich setzen, wahrscheinlich eine Türkin, da meist alle kopftuchtragenden Frauen als Türkinnen bezeichnet werden. Die deutsche Fahne schwenkt sie vermutlich nur anlässlich eines Fußballspieles, der einzige Bereich wo Integration stattfindet. Ansonsten sollte diese Frau nicht allzu viel Kontakt mit der deutschen Umwelt haben, was durch die weitere Bildunterschrift belegt wird. Wahrscheinlich spricht sie auch gar kein Deutsch. Dies ist von ihrer Familie, respektive ihrem Ehemann sicherlich auch gar nicht erwünscht. So oder so ähnlich könnten die gängigen Vorurteile lauten, die dieses Bild und seine Unterschrift hervorrufen. Auch der Bildredakteur1 scheint solchen Vorurteilen verfallen zu sein, da er von vornherein annimmt, es handele sich bei einer kopftuchtragenden Frau zwangsläufig um eine Migrantin. Die Korrektur, welche eine Woche später folgte, beweist allerdings das Gegenteil: 1 Im Sinne einer leichteren Lesbarkeit füge ich entweder die maskuline oder feminine Form an, schließe das andere Geschlecht aber immer mit ein. 2
Zwischenabschluss Freya Bahn (Spiegel 36/2008: ) Die Frau ist deutschstämmig, weder Migrantin noch Türkin und die Tatsache, dass sie anscheinend in einem Milieu verkehrt, in dem der Spiegel gelesen wird und solche Fehler entdeckt werden, lässt darauf schließen, dass sie auch nicht in einen absolut bildungsfernen Milieu lebt. Es ist davon auszugehen, dass jeder Mensch Vorurteile hat. Bei meiner Arbeitsdefinition für Vorurteile stütze ich mich hierbei auf Aronson, der besagt, dass Vorurteile generalisierte feindselige oder negative Einstellungen gegenüber einer bestimmten Gruppe sind, welche auf falschen oder unvollständigen Informationen beruhen (Aronson 1994: 298). Auch scheinbar „positive“ Vorurteile, wie Dunkelhäutige hätten ein gutes Rhythmusgefühl, erscheinen hierbei als negativ, da dem Einzelnen dadurch sein Recht auf Individualität genommen wird. Der Vorgang der Stereotypisierung beschreibt die Art und Weise, in der Merkmale und Motive für eine Gruppe von Menschen generalisiert werden. Jedem Individuum werden dabei identische Merkmale zugeschrieben (Aronson 1994: 299) Durch Vorurteile wird die Welt in eine überschaubare Anzahl von Kategorien unterteilt. Dadurch wird die Welt vereinfacht, es wird uns aber auch erleichtert, uns selbst zu definieren. Wir schreiben uns und andere verschiedenen Gruppen zu und definieren unsere Identität durch die verschiedenen Gruppenmitgliedschaften (z.B. Ich bin Lehrer, Ich bin Deutsche usw.) (Brown 2002: 559). Es gibt viele Erklärungsmodelle, wie Vorurteile entstehen (Brown 2002). In der vorliegenden Arbeit lege ich meinen Schwerpunkt auf die Annahme, dass Vorurteile erlernt werden. Bestimmte Vorurteile prägen eine Gesellschaft und diese werden von ihren Mitgliedern unbewusst „erlernt“ und verinnerlicht. „Auch Frauen sind subtilen Formen von Vorurteilen ausgesetzt. Daryl und Sandra Bem vermuten, dass die in unserer Gesellschaft vorhandenen Vorurteile gegenüber Frauen ein Beispiel für eine unbewusste Ideologie sind – für ein Überzeugungssystem also, das wir implizit akzeptieren, das uns aber nicht bewusst ist, weil wir uns eine andere Weltsicht gar nicht vorstellen können. Wir werden in unserer Kultur so sozialisiert, dass wir uns kaum eine Frau vorstellen 3
Zwischenabschluss Freya Bahn können, die als Fernfahrer oder Hausmeister arbeitet, während ihr Mann sich zu Hause um die Kinder kümmert (…)“ (Aronson 1994: 312). Viele Studien belegen, dass auch schon Kinder früh die in der Gesellschaft vorhandenen Vorurteile übernehmen: So spielten dunkelhäutige Kinder in den USA lieber mit hellhäutigen Puppen und hatten das Gefühl weiße Puppen seien schöner (Aronson 1994: 295). Vorurteile haben dabei Auswirkungen auf die Wirklichkeit. Bestimmte Vorurteile bewirken bestimmte Reaktionen anderen gegenüber, so dass sich diese dann oft in der Art und Weise verhalten, dass die falschen Überzeugungen wiederum bestätigt werden. Frauen, die bspw. ein traditionelles Geschlechterbild in ihrer Kindheit erwarben, strebten tendenziell keinen höheren Bildungsabschluss an (Aronson 1994: 310). Kinder einer vierten Klasse bekamen in einem Experiment verschiedene Statuse zugeschrieben, die durch Anstecknadeln symbolisierten wurden. Bei einer Aufgabe erzielten die Kinder mit einem hohen Status bessere Leistungen als Kinder mit einem niedrigen Status, obwohl der Status in keiner Korrelation zu der gestellten Aufgabe stand (Aronson 1994: 296). Vorurteile prägen somit unser Bild von der Welt und unseren Umgang mit anderen Menschen. Auch Lehrer haben Vorurteile und Stereotypen. Vor dem Hintergrund dieses von Vorurteilen und Stereotypen geprägten Weltbildes gestalten sie ihren Unterricht und geben ihre Anschauungen an die Kinder weiter. Diese Prozesse geschehen wahrscheinlich meist unbewusst und unreflektiert. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, sich dieser Problematik anzunähern und zu schauen, wie ein bewusster Umgang mit dem eigenen Weltbild erreicht werden kann. Dabei sollen vor allem die Möglichkeiten der Waldorfpädagogik aufgezeigt werden, mit denen verhindert werden kann, dass die Schüler ein erstarrtes, von Vorurteilen geprägtes Weltbild erlangen. 2. Entstehung der Fragestellung Praxisforschung entsteht aus dem Bedürfnis heraus, die eigene Praxis zu reflektieren und adäquat zu verändern. Die Fragestellungen bilden sich daher unmittelbar in der Praxis und ihre Ergebnisse sollen für diese nutzbar gemacht werden. Der Lehrer ist aktiv in den Forschungsprozess eingebunden. Somit wird von dem vor allem in der quantitativen Sozialforschung vorherrschenden Paradigma des neutralen Forschers, der sich von außen dem „Forschungsobjekt“ nähert, Abstand genommen. David Parker schreibt hierzu: 4
Zwischenabschluss Freya Bahn „Selbstverständlich kann die Aktionsforschung keine völlig objektiven Daten liefern, da alles, was mit der Praxisforschung zu tun hat, auf menschlichen Werten, Einstellungen und Meinungen aufbaut. Doch wird nicht alles in der Schule gerade mit diesen menschlichen Qualitäten und individuellen Werten begründet? Das sind doch die Grundlagen, die den Lehrerberuf lohnend machen. Diese Tatsache bildet die Basis der Aktionsforschung.“ (Parker 2007: 127) Wichtiges Merkmal der qualitativen Sozialforschung ist die Transparenz hinsichtlich der Forschungsmethoden und der eigenen Standortgebundenheit des Forschers (Lammek 2005: 26). Sieht sich der Forscher als Subjekt an, dessen eigene Wertvorstellungen, Erfahrungen und Einstellungen in den Forschungsprozess einfließen, so müssen diese m.E. im Vorfeld offen gelegt werden um eine „subjektive Objektivität“ zu erreichen. Gerade bei diesem Forschungsthema, welches sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit die Lehrpersonen durch die eigenen Vorurteile und Stereotypen die Kinder beeinflussen, scheint mir die Offenlegung meines eigenen Hintergrundes und der damit verbundenen Entstehung der Fragestellung unerlässlich. Um den Rahmen dieser Diplomarbeit nicht zu sprengen, werde ich mich auf meine Ausbildung und berufliche Erfahrung beschränken. Ich habe in Berlin und Freiburg Erziehungswissenschaft studiert. Vor allem in Berlin kam ich mit der Interkulturellen Pädagogik und damit verbunden mit dem weiter unten geschilderten Anti-Bias-Ansatz in Kontakt. Durch das Wohnen in einem sozialen Brennpunkt (Berlin-Neukölln) und das ehrenamtliche Erteilen von Deutschnachhilfe in einem Flüchtlingsheim für traumatisierte Flüchtlinge wurde mir deutlich, dass meine eigenen Wertvorstellungen nicht universell sind und das die Welt viel komplexer ist, als uns Vorurteile zu vermitteln versuchen. In Basel habe ich mehrere Praktika in einem Hort absolviert, der Kinder von Müttern mit Migrationshintergrund betreut, welche in dieser Zeit einen Deutschkurs besuchen. Das Klientel reichte von der Akademikerin aus den USA bis zu der kurdischen Heiratsmigrantin aus einem anatolischen Dorf. Durch diese Erfahrungen war ich immer wieder damit konfrontiert, meine eigenen Wertvorstellungen und Vorurteile gegenüber anderen Menschen zu revidieren. Mich beschäftigte immer mehr die Frage, inwieweit man als Pädagoge den immer heterogener aufwachsenden Kindern in einer immer komplexer werdenden Welt gerecht werden kann. Während des letzten Jahres habe ich Praktika in der ersten, zweiten, sechsten und siebten Klasse der Rudolf Steiner Schulen Münchenstein und Basel absolviert und leite eine Rudolf Steiner Spielgruppe mit. Da ich in verschiedenen Klassen hospitieren und praktizieren konnte, hatte ich die Möglichkeit zu erleben, wie sehr die Individualität des Klassenlehrers die Klasse, das Klima aber auch die Inhalte prägt. So entstand in mir die Frage, was die Kinder durch mich, durch meine Lehrerolle vermittelt bekommen, dessen 5
Zwischenabschluss Freya Bahn ich mir gar nicht bewusst bin. Inwieweit kann es mir gelingen eine Balance zu halten zwischen der Entwicklung zu einer Lehrerpersönlichkeit, die für eine bestimmte Haltung steht und der Gefahr in vorgefertigte Weltbilder und festgeschriebene Begriffe abzugleiten? 3. Forschungsplan 3.1 Forschungsposition Qualitative Sozialforschung geht davon aus, dass Prozesse „von sozialer Wirklichkeit im Empfinden, Fühlen, Denken und den Aktionen der Menschen nur dann angemessen erfasst und verstanden werden (können), wenn die Beforschten nicht wie in der quantitativen Forschung Objekte standardisierter Befragungs- und Beobachtungsverfahren werden, in denen ihre Wirklichkeit in den Grenzen vorgängiger Theorien und Techniken zugeschnitten worden ist, sondern in der Kommunikation mit dem Forscher als Subjekte an der Rekonstruktion und Analyse sozialer Wirklichkeit teilnehmen.“ (Schaub u. Zenke 2002: 448f.) Im Mittelpunkt der qualitativen Sozialforschung steht somit unter anderem die offene Kommunikation zwischen Forscher und Beforschten. Die Wirklichkeit wird interaktiv nachgebildet und verstehend erklärt (Schaub u. Zenke 2002: 448f.). Die soziale Wirklichkeit wird dabei nicht als objektiv gegeben sondern als gesellschaftlich konstruiert gesehen. Durch nicht-standardisierte Methoden wird versucht dem Untersuchungsgegenstand angemessen und offen gegenüber zu treten (FU Berlin 2003: 26). Mayring führt in seiner Publikation fünf Grundsätze des qualitativen Denkens an: Durch die Subjektbezogenheit zeigt sich, dass immer Menschen Ausgangspunkt der Forschung sind, welche in ihrer alltäglichen Umgebung und nicht im Labor untersucht werden sollen. Am Anfang muss der Gegenstandsbereich umfassend beschrieben werden (Deskription). Da menschliche Äußerungen immer mit subjektiven Intentionen verbunden sind, müssen diese durch Interpretationen erschlossen werden. Eine Verallgemeinerung lässt sich nicht so leicht garantieren, wie bei einer repräsentativen, empirisch ausgewerteten Stichprobe. Verallgemeinerungen müssen immer begründet werden (Mayring 2002: 19ff.). In diesem Kontext sieht sich auch die Praxisforschung, welche an der Akademie für anthroposophische Pädagogik vertreten wird. Praxisforschung steht in Bezug zu der Aktions- oder Handlungsforschung oder dem englischen Begriff der action research. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff „research“ weiter gefasst wird als das deutsche 6
Zwischenabschluss Freya Bahn Wort „Forschung“ (Stöckli u. Rawson 2007: 32). Kurt Lewin drückt mit folgenden Zitat ein wichtiges Anliegen der Handlungsforschung aus: „Eine Forschung, die nichts anderes als Bücher hervorbringt, genügt nicht.“ (Lewin zitiert nach Huppertz 1997: 277) Im Mittelpunkt steht die Praxisveränderung während des Forschungsprozesses. Die Erkenntnisse der Forschung werden so schon während des Forschungsprozesses in die Praxis umgesetzt. Die Wissenschaft greift somit verändernd in die Praxis ein. Dabei soll ein gleichberechtigter Diskurs zwischen Forscher und Betroffenen bestehen und direkt an den sozialen Problemen in der Praxis angesetzt werden (Mayring 2002: 50f.). Dadurch wird die strikte Trennung zwischen Forscher und Forschungsobjekt aufgehoben. In der Praxisforschung an der AfaP sind die Forscher sogar die Praktiker selbst. Thomas Stöckli versteht Praxisforschung für Lehrer nach Altrichter und Posch folgendermaßen: „Aktionsforschung ist die systematische Untersuchung beruflicher Situationen, die von Lehrerinnen und Lehrern selbst durchgeführt wird, in der Absicht, diese zu verbessern.“ (Altrichter u. Posch zitiert nach Stöckli u. Rawson 2007: 31) Rudolf Steiner war es ein wichtiges Anliegen, dass die Lehrer selbst als Lernende, als Forschende tätig bleiben. Er sah die Konferenzen als eine Weiterführung der Hochschule an, in denen die Lehrer weiterhin forschen. Die Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts und die Arbeit an der eigenen Lehrerpersönlichkeit bildeten für ihn somit einen wesentlichen Schwerpunkt des pädagogischen Schaffens (Stöckli u. Rawson 2007: 5). Auch vertrat Steiner eine ähnliche Forschungsauffassung, die in der Handlungsforschung vertreten wird. Er betonte, dass es keinen Sinn mache „bei der Menschenerkenntnis von einem Unterschiede von Theorie und Praxis zu sprechen.“ (Steiner 1981a: 52) Die Praxisforschung liefert der forschenden Lehrperson ein Methodeninstrumentarium, durch welches sie ihre Praxis reflektieren und verändern kann. Durch die Orientierung an wissenschaftliche Kriterien wird es ebenso möglich, die Ergebnisse transparent und für andere nachvollziehbar zu machen. Dadurch kann die Waldorfpädagogik in einen Dialog mit anderen erziehungswissenschaftlichen Richtungen treten. Im Folgenden werde ich mein weiteres Forschungsvorgehen darstellen und meine Forschungsmethoden offen legen. 7
Zwischenabschluss Freya Bahn 3.2 Untersuchungsfeld Als einen wichtigen Grundsatz der qualitativen Forschung nennt Mayring das Postulat der möglichst großen Alltagsnähe des Untersuchungsgegenstandes. „Der Mensch reagiert im Labor anders als im Alltag. (…) Es darf natürlich nicht verkannt werden, dass fast jeder forschende Zugang zur Realität eine Verzerrung mit sich bringt. Qualitativer Forschung geht es aber darum, diese Unschärfen zu verringern, indem gefordert wird, möglichst nahe an der natürlichen, alltäglichen Lebenssituation anzuknüpfen.“(Mayring 2002: 22) Mein Untersuchungsfeld ist daher primär die Schule. Die Schule stellt für die Schüler einen wesentlichen alltäglichen Lebensraum dar. Während der vergangenen zwei Schuljahre habe ich sowohl Praktika an der Rudolf Steiner Schule Münchenstein als auch an der Rudolf Steiner Schule Basel absolviert. Ebenso habe ich vier Stunden in der Woche Schüler der vierten Klasse während ihrer Mittagspause betreut. Einen wesentlichen Teil meines Untersuchungsfeldes umfassen daher meine Erfahrungen, die ich während den Hospitationen und eigenen Lehrtätigkeiten sammeln konnte. Um aber nicht nur von meiner subjektiven Sichtweise auszugehen, möchte ich qualitative Interviews mit erfahrenen Lehrpersonen durchführen. Raum sollen aber auch meine Erfahrungen bezüglich der Mitleitung einer Spielgruppe einnehmen. Hier soll vor allem herausgearbeitet werden, inwieweit die Eindrücke aus dem ersten Jahrsiebt auch für die Schule fruchtbar gemacht werden können. In der Praxisforschung ist die eigene Lehrtätigkeit in der Regel das primäre Untersuchungsfeld. Als Studentin stehe ich allerdings noch nicht vollends im Berufsleben und erlebe die einzelnen Klassen auch nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Als weiteres wichtiges Untersuchungsfeld werde ich daher die schon vorhandene Literatur hinzunehmen und kritisch unter den Aspekten meiner Fragestellung beleuchten. Meine Diplomarbeit hat für mich somit einen wesentlichen Zukunftsaspekt. So versuche ich von drei Seiten ausgehend eine Fragestellung zu bearbeiten, die mir während meiner späteren beruflichen Tätigkeit hilfreich sein kann. Im anschließenden Kapitel werden die dazu verwendeten Forschungsmethoden geschildert. 3.3 Forschungsmethoden Ein wesentlicher Teil dieser Arbeit beruht auf den Beobachtungen, welche ich während meiner Praktikumszeit sammeln konnte. Als Forschungsmethode wähle ich so die teilnehmende Beobachtung. Ich begebe mich als „Forscher“ in die natürliche Umgebung 8
Zwischenabschluss Freya Bahn meiner Forschungsobjekte und nehme an ihrem alltäglichen Tagesablauf teil (Mayring 2002: 54). Um die Beobachtung als Forschungsmethode von der alltäglichen Beobachtung abzugrenzen, müssen die Gegenstände der Beobachtung, die Art und Weise der Dokumentation und die Zeiträume genau definiert und offen gelegt werden (Schaub u. Zenke 2002: 76). Ebenso sind meine persönlichen Beobachtungen eher subjektiver Natur. Ich werde daher in dieser Arbeit klar daraufhin weisen, wenn ich Daten anführe, die aus meinen Beobachtungen resultieren. In einigen Unterrichtssituationen, auf die ich eingehen werde, wurde ich als Praktizierende von keiner Lehrperson „beobachtet“. Ich war somit Lehrperson und Beobachter in einem (Vgl. Kapitel 6.2). Ein wesentlicher Aspekt der Schilderung dieser Erfahrungen wird somit die Reflektion meiner eigenen Lehrerfahrung vor dem Hintergrund der Literaturrecherche sein. Da ich noch nicht als Lehrperson tätig bin, verfüge ich nicht über eine Berufspraxis, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg intensiv erforschen lässt. Meine Beobachtungen dienten in erster Linie dazu, in mir Fragen anzuregen, die für mein späteres Berufsleben entscheidend sein könnten. Daraus resultierend werde ich mich einer intensiven Literaturrecherche widmen und evaluieren, welche Aspekte zu meiner Forschungsfrage schon bearbeitet wurden. Dabei ist es mir wichtig, sowohl die anthroposophische als auch allgemein erziehungswissenschaftliche Literatur zu berücksichtigen. Mit den Lehrpersonen werde ich qualitative Interviews führen. Dabei werde ich einen zuvor festgelegten Leitfaden verwenden. Flick nennt als wesentliches Merkmal der Leitfaden-Methode, dass hier keine restriktiven Vorgaben bei der Reihenfolge und der Behandlung der Themen existieren. Der Interviewer entscheidet ausgehend von der singulären Situation, wann und wie er bestimmte Fragen stellt. Er entscheidet bspw. auch, welche Fragen eventuell schon ausreichend beantwortet worden sind oder auf welche noch detaillierter eingegangen werden sollte. Da einerseits große Spielräume bei der Gestaltung bestehen, andererseits aber auch bestimmte Themen angesprochen werden sollen, spricht Flick hier von „Teilstandardisierten Interviews“. Diese Interviewform stellt nach Flick hohe Anforderungen an den Interviewer, der eine große Sensibilität besitzen muss. So besteht die Gefahr, dass der Interviewer zu stark an den Leitfaden orientiert ist, im falschen Moment die Ausführungen unterbricht oder die falschen Fragen stellt (Flick 2002: 143f.). Als anregend für die Gestaltung der Interviews kann auch die Auseinandersetzung mit dem „Problemzentrierten Interview“ nach Witzel sein. Wichtige Merkmale sind dabei die 9
Zwischenabschluss Freya Bahn Schlagwörter Problemzentrierung, Gegenstandsorientierung und Prozessorientierung. Die Problemzentrierung beinhaltet die Orientierung an gesellschaftlichen Problemstellungen. Durch die Gegenstandsorientierung werden die Methoden auf den Gegenstand bezogen und modifiziert. Der Forschungsprozess und das Gegenstandsverständnis sollen prozessorientiert und flexibel gestaltet werden (Flick 2002: 135). „Das Interview lässt den Befragten möglichst frei zu Wort kommen, um einem offenen Gespräch nahe zu kommen. Es ist aber zentriert auf eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt, auf die er immer wieder zurückkommt.“(Mayring 2002: 67) Mit der Problemstellung hat sich der Forscher im Vorfeld auseinandergesetzt und dadurch seinen Leitfaden konzipiert. Dieser dient vor allem dazu, bei einem gehemmten Gespräch oder einer unergiebigen Thematik dem Gespräch neue Wege aufzuzeigen (Flick 2002: 135). Mayring betont, dass sich das Problemzentrierte Interview besonders für Forschungen eignet, bei denen schon ein Theoriebestand vorhanden ist und nun dezidiertere Fragen im Vordergrund stehen (Mayring 2002: 70). Auch in der vorliegenden Arbeit kann im Vorfeld eine Problemanalyse stattfinden, die auch Einfluss auf die Erstellung des Leitfadens haben wird. Die Interviews werden allerdings erst nach dem Zwischenabschluss geführt werden. 3.4 Auswertungsverfahren In dieser Arbeit werden im Wesentlichen die Ergebnisse meiner Beobachtungen, Literaturrecherche und Interviews angeführt. Wichtig ist es hierbei, genau zu kennzeichnen aus welcher dieser drei Quellen meine Daten stammen. Ich werde somit zuerst primär eine Literaturrecherche anführen. Daran knüpfen sich meine eigenen Beobachtungen und Reflektionen an, welche auf die Literatur Bezug nehmen. In einem eigenen Teil werden die Ergebnisse der Interviews angeführt. Dies wird aber erst zu meinen Abschluss hin geschehen. Im Fazit wird dann versucht, die drei Standbeine zusammenzubringen und zu reflektieren. Für die Auswertung der Interviews werde ich mich an der qualitativen Inhaltanalyse nach Mayring orientieren. Sofern es der Rahmen der Diplomarbeit erfordert, werde ich aber auch von dieser abweichen und die Methode auf dem Gegenstand abstimmen. Den Grundgedanken der qualitativen Inhaltsanalyse definiert Mayring folgendermaßen: 10
Zwischenabschluss Freya Bahn „Qualitative Inhaltsanalyse will Texte systematisch analysieren, indem sie das Material schrittweise mit theoriegeleitet am Material entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet.“(Mayring 2002: 114) Wie bereits erwähnt, ergibt sich der Leitfaden aus der zuvor dargestellten theoretischen Problemanalyse. Der Leitfaden bildet somit die Grundlage für die ersten Kategoriendefinitionen. Anschließend wird das erhobene Material Schritt für Schritt durchgegangen. Die einzelnen Sequenzen werden den Kategorien zugeordnet (Subsumption). Wenn Sequenzen nicht zu den bereits gebildeten Kategorien passen, werden neue Kategorien definiert. Nach der Hälfte des Materialdurchgangs wird das Kategoriensystem überarbeitet. Anschließend erfolgt ein endgültiger Materialdurchgang. Durch die Explikation wird zusätzliches Material herangetragen, um die zentralen Textstellen und Erkenntnisse zu erläutern. Der Aufbau der einzelnen Kategorien verläuft in dieser Arbeit nach einem bestimmten Muster. Wie bei Mayring ist die Kategorie explizit definiert, um darzustellen, welche Textstellen unter diese Einheit fallen. Konkrete Ankerbeispiele sind zur Verdeutlichung der Kategorien angeführt (Mayring 2002: 118f.). Nachdem ich die Textpassagen den einzelnen Kategorien zuordne, wird in der Diplomarbeit die Interpretation der Textelemente aufgezeigt. Die Kategorien werden die behandelten Themen in den Interviews wieder spiegeln. Sie differenzieren also nicht wie bei Mayring die verschiedenen Ausprägungen und Einstellungen zu diesen Inhalten. Stattdessen sind die verschiedenen Ausprägungen in der Interpretation der einzelnen Kategorien dargestellt. 4. Menschenkundliche Aspekte Wenn davon ausgegangen wird, dass Vorurteile und Stereotypen primär erlernt werden, erscheint eine genauere Betrachtung des Lernverhaltens des Kindes unerlässlich. Im folgenden Kapitel werden die verschiedenen Entwicklungsphasen und Lernmöglichkeiten der ersten drei Jahrsiebte menschenkundlich kurz betrachtet. Bezüglich des ersten Jahrsiebts sind hierbei die Begriffe Nachahmung und Vorbild von zentraler Bedeutung. Von der Geburt bis zum Zahnwechsel steht die Formentwicklung der Organe des physischen Leibs im Vordergrund der kindlichen Entwicklung. Die richtige physische Umgebung wirkt dabei förderlich auf die kindliche Entwicklung: „Was in der physischen Umgebung vorgeht, das ahmt das Kind nach, und im Nachahmen gießen sich seine physischen Organe in die Formen, die ihnen dann bleiben. Man muss die physische Umgebung nur in dem denkbar weitesten 11
Zwischenabschluss Freya Bahn Sinne nehmen. Zu ihr gehört nicht etwa nur, was materiell um das Kind herum vorgeht, sondern alles, was sich in der Umgebung des Kindes abspielt, was von seinem Sinnen wahrgenommen werden kann, was vom physischen Raum aus auf seine Geisteskräfte wirken kann.“ (Steiner 1981: 22) Inwieweit die physische Umgebung den physischen Körper in der frühen Kindheit formt, lässt sich am Beispiel der Wolfskinder belegen. Diese Kinder verbrachten ihre ersten Jahre unter Wölfen, sie hatten, als sie gefunden wurden, längere Schneidezähne, runde Augen, eine blutrote Mundhöhle, gekrümmte und überlange Gliedmaßen und krallenähnliche Fingernägel (Singh 1964). Die erzieherische Ansprache im ersten Jahrsiebt erfolgt dementsprechend nicht durch das an den Verstand gerichtete Wort sondern durch die Umgebung. Nicht was der Erzieher zu dem Kind sagt, sondern wie er es sagt, hat primär Einfluss auf das Kind. Steiner formuliert dies sogar so radikal, dass die Gesundheit des ganzen Lebens davon abhinge, wie man sich in der Nähe des Kindes benimmt. Ebenso hängt auch die Entwicklung der Neigungen vom Verhalten in der Umgebung ab (Carlgren 1983: 54f.). Das Kind ist somit ganz „Sinnesorgan“ (Carlgren 1983: 55). Das Kind öffnet sich ungefiltert mit allen Sinnen den Eindrücken und Einflüssen seiner Umgebung und diese formen gleichwohl seine leiblichen Organe. Als Beispiel kann hier die Sprachentwicklung genannt werden, das anfangs universale Gehör passt sich seiner Umgebung an. Zusammenfassend lässt sich das Lernen im ersten Jahrsiebt als impliziter und indirekter Vorgang beschreiben, bei dem nicht Reflexionen und gedankliche Operationen sondern Tätigkeiten und Wahrnehmungen entscheidend sind (Patzlaff u. Saßmannhausen 2005: 21). Der Zahnwechsel ist ein Symptom für das Freiwerden der leibgestaltenen Kräfte. Die Ausgestaltungen der Organformen sind im Wesentlichen abgeschlossen. Dieser Umbruch, welcher den Beginn des zweiten Jahrsiebts und die Geburt des Ätherleibes kennzeichnet, ist auch mit einem Wechsel des Lernverhaltens des Kindes verbunden. Die Gestaltungskräfte können nun für das Vorstellungsleben des Kindes genutzt werden. Dieses ist nun nicht mehr von unmittelbaren Sinneseindrücken und Wahrnehmungen abhängig und emanzipiert immer mehr seine eigene Vorstellungs- und Gedächtniskraft. In dieser Zeit wird das Kind fähig für das schulische Lernen. In den ersten zwei bis drei Schuljahren wirken die Nachahmungskräfte des Kindes noch nach und der Lehrer kann sich dies methodisch zu nutzen machen. Dennoch ist das zweite Jahrsiebt vor allem durch die Begriffe „Nachfolge“ und „Autorität“ (Steiner 1981: 27) geprägt. Der Autoritätsbegriff ist dabei im positiven Sinne zu verstehen, dass Kind hat ein natürliches Bedürfnis danach: 12
Zwischenabschluss Freya Bahn „Das Kind will vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife neben sich die Autorität haben. Es verlangt das. Es hat Sehnsucht danach.“ (Steiner 1991: 203) Diese Autorität kann nicht erzwungen werden. Vor allem nach dem neunten Lebensjahr wird das Verhältnis auch hinterfragt werden, und der Lehrer muss sich würdig zeigen (Päd. Sektion am Goetheanum et al 1997: 17) Mit der Umbildung und dem Wachstum des Ätherleibes gehen auch die Entwicklung der Neigungen, des Gewissens, des Charakters, des Gedächtnisses und der Temperamente einher. Diese Entwicklung soll durch die unmittelbare geistige Anschauung, welche die geliebte Autorität darstellt, in die richtigen Bahnen gelenkt werden (Steiner 1981: 27). Der Pädagoge wirkt auch nicht mehr primär durch die physische Umgebung und Nachahmung, sondern verstärkt durch das Wort (Richter 2006: 44) Zentrales Unterrichtsprinzip ist dabei die Bildhaftigkeit: „Nicht abstrakte Begriffe wirken in der richtigen Weise auf den wachsenden Ätherleib, sondern das Anschauliche, nicht das Sinnlich-, sondern das Geistig- Anschauliche.“ (Steiner 1981: 27) Während des zweiten Jahrsiebts soll das Kind nicht zu sehr über den Verstand angesprochen werden, sondern sich die „Schätze der Menschheit“ (Steiner 1981: 34) gedächtnismäßig aneignen. Eine wesentliche Rolle kommt dabei dem Erzählteil zu, auf dem weiter unten nochmals eingegangen wird. Kennzeichnend für einen solchen Unterricht ist das Augenmerk auf den Begriff des Charakterisierens anstatt des Definierens. „Das viele Definieren ist der Tod des lebendigen Unterrichtes. Was müssen wir also tun? Wir sollten im Unterricht nicht definieren, wir sollten versuchen zu charakterisieren. Wir charakterisieren, wenn wir die Dinge unter möglichst viele Gesichtspunkte stellen.“ (Steiner 1993a: 140) Als Beispiel führt Steiner hier den Naturkundeunterricht an. Nicht nur die isolierten Fakten über ein bestimmtes Tier sollen dem Kind nahe gebracht werden, stattdessen sollen die vielfältigsten Seiten der Geschichte des Tieres beleuchtet werden, z.B. die Beziehung des Menschen zu dem Tier (Steiner 1993a: 140). Dabei bezeichnet er das Definieren als etwas Starres und Totes, das Charakterisieren hingegen als etwas Lebendiges und Bewegliches. „Definitionen legen immer die Seele fest, und ein Definitionsbegriff bleibt das Leben hindurch und macht das Leben zu etwas Totem.“ (Steiner 1993: 210) Die Begriffe, welche in der Schule gelernt werden, sollen daher so beweglich bleiben, dass der Schüler die Möglichkeit hat, diese im späteren Leben zu ändern, zu ergänzen und zu bereichern. 13
Zwischenabschluss Freya Bahn Durch die starke Ausrichtung auf das Charakterisieren im Unterricht versucht der Lehrer dem Kind somit kein starres und fixiertes Weltbild zu vermitteln. Auch sollte die Urteilskraft nicht zu früh hervorgerufen werden. Ein wesentliches Merkmal des dritten Jahrsiebts ist das Erwachen der Urteilskraft, welche mit der Geburt des Astralleibes und dem Beginn der Geschlechtsreife einhergeht. „Man kann einem Menschen nichts Schlimmeres zufügen, als wenn man zu früh sein eigenes Urteil wachruft. Erst dann kann man urteilen, wenn man in sich Stoff zum Urteilen, zum Vergleichen aufgespeichert hat.“ (Steiner 1981: 40) Wenn zu früh Wert auf selbstständige Urteile gelegt wird, fehlt diesen die Grundlage. Es wird somit auf Halbwahrheiten und falschen Informationen geurteilt, Vorurteile entstehen. So wird deutlich, warum zuerst die „Schätze der Menschheit“ kennen gelernt werden sollen, bevor man über diese urteilt. Es zeigt aber auch, wie sinnvoll die Methodik des Charakterisierens ist, da dadurch die Dinge in ihrer Komplexität und nicht einseitig dargestellt werden. So gesehen stellt die Menschenkunde ein Handwerkszeug bereit, um dem Kind durch die Jahrsiebte hindurch nicht ein fixiertes und starres Weltbild einzuprägen, sondern um ihm den Weg zu bereiten um zu einem freien und selbstständigen Urteil zu gelangen. Wesentliches Werkzeug des Lehrers ist seine Sprache. Im neunten Vortrag der Menschenkunde schildert Steiner, dass unser Urteil, welches wir uns über die Welt bilden, in die träumende Seele hinunterzieht und so im Gefühl getragen wird. Dadurch wird das Urteilen zu einer Gewohnheit, zu einer Seelengewohnheit. Der Ausdruck des Urteilens ist der Satz, d.h. dass die Art und Weise wie der Lehrer zu dem Kind spricht, die Seelengewohnheiten des Kindes prägt (Steiner 1993a: 137). Dies ist nur ein weiteres Beispiel dafür, das Erziehen im Wesentlichen die Selbsterziehung des Pädagogen bedeutet. Er wirkt durch die physische Umgebung, durch seine Sprache und Haltung auf das Kind und hat Einfluss auf dessen Entwicklung von Neigungen, Anschauungen und Urteilen. Doch wie komme ich als Lehrer zu der Fähigkeit, dass die Kinder kein fixiertes Weltbild bekommen? Wie kann ich einen lebendigen Unterricht halten, der auf dem Charakterisieren beruht, wenn ich wahrscheinlich selber voller toter Definitionen und fixierter Weltbilder stecke, derer ich mir gar nicht bewusst bin? Kann ein Klassenlehrer nicht schnell Gefahr laufen, zu meinen er würde charakterisieren und in Wirklichkeit schildert er nur tote Definitionen verkleidet in schönen Worten? Wie leicht kann ich beispielsweise anschaulich und spannend über Afrika schildern und vermittle letztendlich doch nur das begrenzte Bild von einem Dorf mit Strohhütten und tanzenden 14
Zwischenabschluss Freya Bahn Dunkelhäutigen, weil das nun mal meinem begrenztem Weltbild, meinen Vorurteilen und Stereotypen entspricht. Im folgenden Kaptitel möchte ich aufbauend auf diesen Überlegungen einen Ansatz aus der interkulturellen Pädagogik vorstellen, der sich mit dem Erlernen und Verlernen von Vorurteilen beschäftigt und dabei vor allem Institutionen wie Schulen und Kindergärten in das Blickfeld rückt. 5. Der Anti-Bias-Ansatz Beim Anti-Bias-Ansatz steht das Aufdecken von Diskriminierung und Vorurteilen auf persönlicher, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Ebene im Vordergrund. Bias kann auf Deutsch mit Voreingenommenheit, Schieflage oder Vorurteil übersetzt werden. Anti-Bias bedeutet somit „vorurteilsbewusst“ oder „nichtdiskriminierend“. Ziel ist es, eine durch Voreingenommenheit entstandene Schieflage wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Gegen die in der Gesellschaft existierenden Ungleichverhältnisse soll angekämpft und versucht werden diese aufzulösen. Dies soll einerseits durch eine intensive erfahrungsorientierte Auseinandersetzung mit den Strukturen von Macht und Diskriminierung und andererseits durch das Verlernen von unterdrückenden und diskriminierenden Kommunikations- und Interaktionsformen erreicht werden (www.anti- bias-werkstatt.de (21.12.2007)). 5.1 Geschichte und Entwicklung des Anti-Bias-Ansatzes Entwickelt wurde der Anti-Bias-Ansatz vornehmlich von Louise Derman-Sparks und Carol Brunson Phillips in den USA. Sie absolvierten Anfang der siebziger Jahre in Kalifornien ein Studium der Grundschulpädagogik. Resultierend aus ihrer Kritik an der Lehre des Umgangs mit Kindern unterschiedlicher Herkunft, gründeten sie eine Arbeitsgruppe, welche sich mit einer alternativen und antirassistischen Perspektive beschäftigte. Zu Beginn war der Anti-Bias-Ansatz hauptsächlich auf die Kleinkindpädagogik konzentriert (Derman-Sparks et al. 2002: 61) Erweitert wurde der Anti-Bias-Ansatz vor allem in Südafrika nach dem Ende der Apartheid. Südafrika stand und steht vor der Aufgabe, nach dem Ende der gesetzlich verankerten Diskriminierung, den Rassismus und die Vorurteile auch im 15
Zwischenabschluss Freya Bahn gesellschaftlichen Leben, also in den Köpfen der Menschen, abzubauen. Um dies zu erreichen, wurden spezielle Anti-Bias-Trainings, vor allem im Bereich der Erwachsenenbildung, entwickelt (www.inkota.de (20.12.2007)). 1990 kam der Anti-Bias-Ansatz durch das vom INKOTA- Netzwerk (Information, Koordination, Tagungen zu Themen des Nord-Süd-Konflikts und der konziliaren Bewegungen) initiierte Projekt „Vom Süden lernen“ nach Deutschland. Das Projekt beinhaltete einen Fachkräfteaustausch mit südlichen Ländern und wird weiter unten noch einmal erwähnt (INKOTA-netzwerk e.V. (Hg.): 2002). Heute wird der Ansatz in Deutschland sowohl in der Kleinkindpädagogik als auch in der Erwachsenenbildung vertreten. Im universitären Bereich wird der Anti-Bias-Ansatz vor allem an der Freien Universität Berlin und der Universität Oldenburg gelehrt. 5.2 Grundannahmen des Anti-Bias-Ansatzes Der Anti-Bias-Ansatz geht davon aus, dass jeder Mensch Vorurteile hat. Einerseits dienen diese zur Orientierung im sozialen Miteinander, andererseits ist in ihnen die Gefahr verborgen, handlungsleitend für Ausgrenzung, Gewalt und Erniedrigung zu sein (Stamer u. Lünse 2002: 75) Die Gesellschaft ist eine komplexe Struktur von Machtbeziehungen und Unterdrückungsverhältnissen. „Der Anti-Bias-Ansatz geht davon aus, dass Voreingenommenheit (Bias) und Diskriminierung erlernt sind und als Ideologien institutionalisiert werden. Daher können sie auch verlernt und deinstitutionalisiert werden.“ (Reddy 2002: 37) Um die Strukturen von Diskriminierung zu verlernen, muss das Subjekt verstehen, wie die Unterdrückungsmechanismen funktionieren, diese dann verlernen und neue Alternativen erlernen. Um den Vorgang des Erlernens von Unterdrückungsstrukturen zu verdeutlichen, möchte ich kurz die Entwicklung der Übernahme von Vorurteilen schildern. Ich stütze mich hierbei auf die u.a. von Louise Derman-Sparks gewonnenen Erkenntnisse (Derman- Sparks 2001). Sie kritisiert die Annahme vieler Kleinkinderzieher, dass kleine Kinder „farbenblind“ seien, also keine Unterschiede wahrnehmen würden. Kleine Kinder entwickeln schon sehr früh eine Ahnung für Unterschiede. Bereits im ersten Lebensjahr nehmen sie Unterschiede war, ab dem dritten bis vierten Lebensjahr zeigen sie Interesse an Unterschieden, stellen Fragen zu vor allem 16
Zwischenabschluss Freya Bahn körperlichen Unterschieden, konstruieren eigene Theorien, warum Menschen unterschiedlich sind und übernehmen Stereotypen und negative Einstellungen über andere Gruppen (Derman-Sparks 2001: 7). Dabei übernehmen sie die Haltungen nicht nur aus ihrem direkten Umfeld, sondern auch aus dem Kontakt mit gesellschaftlich verbreiteten Vorurteilen. Die Entwicklung von Identität und Einstellungen des Individuums gegenüber anderen ist nach Derman-Sparks, eine Interaktion zwischen den individuellen körperlichen Merkmalen eines Kindes und seiner Persönlichkeit, seiner Familienkultur und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Ab dem zweiten Lebensjahr beginnt auch die unbewusste Internalisierung der gesellschaftlichen Position. Die internalisierte Unterdrückung bedeutet die Übernahme negativer Botschaften über die eigene Gruppe. Dies geschieht entweder durch direkte Erfahrungen durch Diskriminierung und Vorurteile oder durch indirekte Erfahrungen mit gesellschaftlich verbreiteten Einstellungen. Folgen sind beispielsweise die Verinnerlichung eines negativen Selbstwertgefühls, Passivität und Resignation. Bei der internalisierten Überlegenheit wird durch direkte oder indirekte Erfahrungen verinnerlicht, dass die eigene Gruppe besser als andere sei, und dass aufgrund von z.B. Hautfarbe, Geschlecht oder Schicht ein besonderes Recht auf gesellschaftliche Privilegien bestehe (Derman-Sparks 2001: 10). Diese Internalisierungen gehen einher mit dem modernen Rassismus. Während beim historischen Rassismus, z.B. während der Apartheid in Südafrika oder des Nationalsozialismus in Deutschland, die Unterdrückung durch Gesetze legitimiert wurde, findet die Unterdrückung beim modernen Rassismus eher in subtilerer Form statt. So ist er verankert in persönlichen Einstellungen, zwischenmenschlichen Interaktionen und somit auch in Institutionen (Reddy et al 2002: 28). Louise Derman-Sparks geht somit auch von den Nachahmungskräften in der frühen Kindheit aus. Die physische Umgebung hat Einfluss auf die Entwicklung des Kindes und dessen Einstellungen. Dabei nimmt sie bei der physischen Umgebung nicht nur die private und familiäre Umgebung sondern auch das gesellschaftliche Klima in Blick, welches wiederum die private Sphäre durchdringt. Fokus legt sie auf die Eigenaktivität des Kindes, welches aus den Eindrücken und Einflüssen aus der Umgebung eigene Theorien entwickelt. Auch der anthroposophisch orientierte Autor Stefan Leber betont, dass das Knüpfen von Verbindungen, die Herstellung von Zusammenhängen und Bezügen eine Leistung des erwachenden Denkens ist (Leber 1993: 237). 17
Zwischenabschluss Freya Bahn Vorurteile sind für Derman-Sparks mit einem Lernprozess verbunden. Diese bauen auf Ideologien auf und nicht auf einem komplexen Betrachten der Sachverhalte und Grundlagen. So wird hierbei wiederholt deutlich, wie ein charakterisierender Unterricht eine Vorurteilsbildung verhindern kann. Ein Verlernen der Vorurteile kann somit auch durch das Charakterisieren erreicht werden. Bei den Anti-Bias-Seminaren, wo solch ein Verlernen stattfinden soll, wird daher auch nicht mit toten Definitionen, sondern mit Methoden eines erfahrungsorientierten Austausches gearbeitet. Der Anti-Bias-Ansatz ist in den USA entstanden und bezieht sich dort stark auf die gesellschaftlichen Unterschiede entlang der verschiedenen Hautfarben. Wird der Ansatz in andere Länder übertragen, muss der dortige gesellschaftliche Kontext berücksichtigt werden. In Deutschland vollziehen sich die Diskriminierungen stark entlang der sozialen Herkunft der Kinder. So besteht eine starke Korrelation zwischen dem Bildungsniveau der Eltern und dem Schulerfolg der Kinder. Durch den Anti-Bias-Ansatz können aber auch Diskriminierungen aufgrund des Geschlechtes, der Sexualität, Körperlichkeit, Intelligenz oder Einstellung aufgedeckt werden. Die Auseinandersetzung mit diesem Ansatz ist somit nicht nur für Pädagogen, welche mit einem interkulturellem Klientel arbeiten, lohnenswert und kann auch für die Waldorfschulen befruchtend sein. 5.3 Der Anti-Bias-Ansatz in verschiedenen Praxisfeldern Im Folgenden möchte ich einige Projekte vorstellen, die in ihrer Arbeit den Anti-Bias- Ansatz verwenden. INKOTA führte von 1994-2002 das bereits erwähnte Projekt „Aus dem Süden lernen“ in Deutschland durch. Das Netzwerk lud Experten aus Afrika, Asien und Lateinamerika nach Deutschland ein, damit diese hier Seminare leiten. Entstanden war dieses Projekt aus der Kritik an dem traditionellen und vereinfachten Verständnis von südlichen Ländern. „`Sonne und Palmen, Dürrekatastrophen, Menschen die arm sind, aber glücklich; hungrige Kinder mit großen Augen; der Gedanke helfen zu müssen; die Angst vor Armutsflüchtlingen.` Diese Punkte werden zum Stichpunkt „der Süden“ auf Seminaren immer wieder genannt. So scheinen soziokulturell, politisch und historisch völlig unterschiedliche Länder durch die Brille „Entwicklungsländer“ einheitlich und greifbar zu werden.“ (Kübler 2002: 52) Ziel dieses Projektes war somit das Verlernen von Stereotypen, dass z.B. Menschen aus Afrika defizitär und hilfsbedürftig wären und Menschen aus dem Norden die Experten, die ihnen helfen könnten (Reddy 2002a: 11). Erreicht werden sollte ein globales Lernen, die 18
Zwischenabschluss Freya Bahn „Einbahnstraße der Expertise aus dem Norden“ (Reddy et al. 2002: 32) sollte aufgebrochen werden und ein gleichberechtigter, partnerschaftlicher Dialog entstehen. Aus Südafrika wurden Pädagogen eingeladen, Anti-Bias-Trainings durchzuführen und so Entwicklungsdefizite in Deutschland, wie z.B. im Bereich Gender, Rassismus oder im Bezug auf den Ost-/West-Konflikt zu bearbeiten. Seminarteilnehmer waren unter anderem Pädagogen, Mitarbeiter von Nicht-Regierungsorganisationen und Polizisten. Das Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis FIPP e.V. Berlin (www.fippev.de/fippev/projekte.bildungsarbeit (20.122005)) führt mit dem Projekt „Train the Trainer“ Fortbildungsangebote für im schulischen Bereich Arbeitende durch. Arbeitsschwerpunkt ist der Anti-Bias-Ansatz und seine Weiterentwicklung für den schulischen Sektor. Schulen können unter anderem Trainings bei FIPP e.V. bestellen. Das Projekt „Eine Welt im FEZ“ Berlin von FIPP e.V. in Zusammenarbeit mit dem Freizeit- und Erholungszentrum FEZ Wuhlheide bietet Beratungen für z.B. Lehrer, Projekttage für Schulklassen und sechswöchige Qualifizierungsprogramme für Erzieher an (Kübler 2002:55ff.). Gerade Pädagogen brauchen bei ihrer Arbeit Beratung, um festgefahrene Muster nicht weiter zu verfestigen. Wird an einer Schule beispielsweise eine Projektwoche zum Thema Afrika durchgeführt, besteht die Gefahr Afrika nur auf Exotisches zu reduzieren und als einheitliches Dorf zu sehen. Um dies zu verhindern, können sich Pädagogen an FEZ wenden. Auch hier wird somit wieder der Anspruch des Charakterisierens deutlich. 5.4 Das Projekt Kinderwelten in Berlin-Kreuzberg Berlin-Kreuzberg ist ein Bezirk, in dem Menschen unterschiedlichster kultureller Herkunft leben und in dem es eine große Spannbreite an sozialen Schichten gibt. Das Projekt „Kinderwelten. Interkulturelle und gemeinwesenorientierte Arbeit in Kitas“, an dem mehrere Kindertagesstätten in Kreuzberg beteiligt sind, beruft sich auf die Erkenntnisse der Arbeit von Louise Derman-Sparks. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Vorhandensein von Vorurteilen, Stereotypen, unreflektierten Normvorstellungen und unbedachten Ausgrenzungsprozessen im Kindergartenalltag (Wagner 2001: 1). Erziehungseinrichtungen wie Kindergärten, aber auch Schulen sind gesellschaftliche Institutionen, in denen Vorurteile weitergegeben werden. Derman-Sparks betont, dass Kinder bei Kindergarteneintritt offener sind für Freundschaften mit Kindern bspw. des anderen Geschlechts oder Herkunft als beim Verlassen der Einrichtung. Natürlich sind die 19
Zwischenabschluss Freya Bahn Einrichtungen dafür nicht allein verantwortlich, dennoch sollten sie kritisch überprüfen, inwieweit sie durch ihren Personalschlüssel und ihre materielle Ausstattung stereotype Bilder festigen (Wagner 2001: 4). Auch Pädagogen sind in ihren Haltungen und in ihrer Identität von gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen beeinflusst. Kein Mensch kann vorurteilsfrei sein. Um sich den eigenen Denk- und Handlungsmustern jedoch bewusst zu werden, nehmen die Pädagogen regelmäßig an Anti-Bias-Seminaren teil. In dieser Diplomarbeit möchte ich den Augemerk jedoch nicht auf die Durchführung der Seminare für die Pädagogen lenken, sondern den Aspekt der kritischen Überprüfung der Ausstattung in der Kindertageseinrichtung auf die Klassenräume in den Waldorfschulen übertragen. Wagner schreibt, wie bereits erwähnt, dass die pädagogische Institution reflektieren muss, inwieweit sie durch ihr Erscheinungsbild stereotype Bilder festigt: „Gibt es auch männliche Erzieher? Schwarze ErzieherInnen? Sind dunkelhäutige Kinder auch Hauptfiguren in Geschichten und Theaterstücken? Gibt es Bücher, Spielfiguren, Bilder, die gesellschaftlich relevante Rollen (Ärzte, Piloten, Politiker) auch mit Frauen und Angehörigen der Minderheiten besetzen?“ (Wagner 2001: 4) Ziel von Kinderwelten ist es unter anderem, dass die Familienkulturen aller Kinder in der Kindestagesstätte sichtbar werden. Der Klassenlehrer an der Waldorfschule muss sich zwar an den Rahmenlehrplan halten, ist aber in seiner Gestaltung und Wahl der letztendlichen Inhalte sehr frei. Er schafft sich sein eigenes Unterrichtsmaterial, wählt die zu erzählenden Geschichten aus und ist auch durch seine eigene Person prägend für die Schüler. Im folgenden Kapitel soll beleuchtet werden, wie unter den Aspekten des Anti- Bias-Ansatzes die Unterrichtsstoff- und Materialauswahl kritisch beleuchtet werden kann und Stärken und Schwächen aufgezeigt werden. 6. Rhythmischer Teil und Erzählteile des Hauptunterrichts In der Waldorfschule existieren menschenkundliche Lehrplanhinweise für den Erzählstoff und die rhythmischen Einheiten. Welche Lieder, Märchen oder Sprüche der Klassenlehrer aber letztendlich auswählt, bleibt ihm größtenteils selbst überlassen. Hier bietet sich für ihn die Gelegenheit, den Stoff an die jeweiligen Kinder seiner Klasse anzupassen. Der Klassenlehrer könnte somit die Familienkulturen aller Kinder in den Unterricht einbauen und Ausgrenzungsprozesse vermeiden. Ebenso hat er die Möglichkeit, alle Kinder für 20
Zwischenabschluss Freya Bahn andere Kulturen, Lebenshintergründe und Einstellungen zu öffnen, so dass hier keine unreflektierten Rollenbilder und Stereotypen verfestigt werden. Wie groß das Interesse an fremden Sprachen ist, konnte ich in einer ersten Klasse erleben. Die Kinder hatten zum Ende des Schuljahres ihre erste Schreibepoche. Um ihnen spielerisch den Unterschied zwischen ähnlich klingenden Lauten zu verdeutlichen, erzählte ich ihnen eine Geschichte von Jungen, die verschiedene Streiche und Abenteuer erleben. Die Jungen lebten in einem fernen Land, in dem eine fremde Sprache gesprochen wurde. Wurden sie beim Stehlen der Äpfel erwischt, schimpfte der Nachbar: Pi, Pa, Po, Pu, Pe. Die Jungen antworteten kleinlaut: Bi, Ba, Bo, Bu, Be. Es folgten in den Dialogen weitere Lautpaare wie Ti, Ta, To, Tu, Te – Di, Da, Do, Du, De mit verschiedenen Intonationen. Ich habe diese Übung mit den Kindern durchgeführt, damit sie das Wesen der Laute erfahren. Schon bald merkte ich, welche Freude sie hatten, in einer „Sprache“ zu sprechen, die für sie keinen Sinn ergab. Sie überlegten, was die Dialoge „übersetzt“ heißen könnten und begrüßten mich schon an der Tür mit Pi, Pa, Po, Pu, Pe. In dieser Klasse führte ich auch ein türkisches Tanzlied ein. Als ich ihnen das erste Mal das Lied vorsang, meldete sich ein türkischstämmiger Junge und sagte dies sei Türkisch. Der Junge, welcher sonst häufiger schulische Probleme hatte, war mit einem Mal den anderen Kindern in etwas voraus. Ich hoffe, hier sein Selbstbild gestärkt zu haben. Anfangs war ich besorgt, dass die anderen Kinder die vollkommen anders klingenden Worte nicht mitsingen könnten. Sie taten dies jedoch mit größter Selbstverständlichkeit und lernten den Text sehr schnell. Hier wurde mir die große Offenheit gegenüber fremden Eindrücken deutlich, die in diesem Alter noch existiert. Auch der Erzählteil bietet einen großen Reichtum um die Offenheit gegenüber Andersartigen zu bewahren. Albert Schmelzer von der Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim berichtet, dass z.B. Märchen alle Kinder ansprechen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie nun von den Brüder Grimm stammen oder aus einem anderen Land. Ebenso wie Legenden oder Fabeln sind Volksmärchen Archetypen und Wahrbilder der menschlichen Existenz, die in ähnlichen Formen in unterschiedlichen Kulturen auftreten (Schmelzer et. al 2007: 100). So zeigt sich, dass wenn Steiner von den „Schätzen der Menschheit“ (Steiner 1981: 34) spricht, hier wirklich alle Menschen meinte und nicht nur die eines bestimmten Kulturkreises. Wichtig ist nur, so Schmelzer, dass der Lehrer in den Geschichten wirklich lebt und von ihnen überzeugt ist. Schmelzer betont ebenso, dass die Erzählvorlagen immer zu prüfen sind, ob es zu unreflektierten Verallgemeinerungen 21
Zwischenabschluss Freya Bahn kommt. Gerade in Legenden könnte bspw. das „Gute Christentum“ einseitig dem „Schlechten Heidentum“ gegenübergestellt werden (Schmelzer et. al 2007: 100f.). Meines Erachtens ist beim Erzählteil eine kritische Selbstreflektion der Auswahl von bspw. Fabeln sehr wichtig. Als Klassenlehrer sollte ich mir bewusst sein, warum ich ausgerechnet diese und nicht eine andere Fabel auswähle. In einer zweiten Klasse sollte ich eine Fabel erzählen. Ich wollte eine Geschichte über den Fuchs auswählen. Die meisten Fabeln, die ich las, stellten den Fuchs als schlau, listig und immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht dar. Zuletzt fand ich die Fabel „Der Fuchs und das Pferd“, in der der Fuchs zwar schlau und listig ist, seine List aber dazu einsetzt um uneigennützig dem Pferd zu helfen. Haben die Kinder schon mehrere Fabeln über den listigen und egoistischen Fuchs gehört, so finde ich es wichtig, dieses „Rollenbild“ bewusst zu durchbrechen und z.B. eine Fabel zu erzählen, in welcher der Fuchs zwar listig, aber auch altruistisch handelt. Ohne es kognitiv zu erwähnen, erfahren die Kinder so die Komplexität menschlicher Eigenschaften. Ebenso wäre dann das Fabelwesen des Fuchses wirklich charakterisiert, also von verschiedenen Seiten betrachtet worden. Man könnte sich die Frage stellen, ob es sich nicht auch um eine Definition handelt, wenn vom Fuchs immer in der gleichen Art und Weise erzählt wird. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen würde ich bei meiner späteren Lehrtätigkeit in der ersten oder zweiten Klasse gerne die Geschichte der „Kleinen Hexe“ von Ottfried Preussler vorlesen. Die kleine Hexe darf nur auf dem Blocksberg mittanzen, wenn sie eine gute Hexe geworden ist. Das ganze Jahr über begeht sie Taten, die sie für gut erachtet um am Ende zu erfahren, dass die anderen Hexen ein vollkommen anderes Verständnis von „Gut“ und „Böse“ haben. Dennoch findet die kleine Hexe den Mut am Ende für das ein zu stehen, was sie als „Gut“ empfindet und sagt sich von den anderen Hexen los. Hier wird deutlich, dass keine universale Gültigkeit für solche moralischen Wertvorstellungen existiert, dass es aber wichtig ist, seinen eigenen Standpunkt zu finden. 6.1 Selbstgeschriebene Geschichten Gerade in den ersten zwei Schuljahren steht der Klassenlehrer immer wieder vor der Herausforderung selbst Geschichten zu erfinden, sei es um bestimmte Unterrichtsinhalte zu veranschaulichen oder um den Erzählteil durch eine fortlaufende Geschichte zu bereichern. 22
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