Upskilling Pathways - CHANCENGLEICHHEIT & PARTIZIPATION durch Erwachsenenbildung - EU
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DER BLICK ÜBER DEN TELLERRAND EPALE und Erasmus+ Erwachsenenbildung 2018 Upskilling Pathways CHANCENGLEICHHEIT & PARTIZIPATION durch Erwachsenenbildung EPALE – E-Plattform für Erwachsenenbildung in Europa
DER BLICK ÜBER DEN TELLERRAND EPALE und Erasmus+ Erwachsenenbildung 2018 Upskilling Pathways CHANCENGLEICHHEIT & PARTIZIPATION durch Erwachsenenbildung
INHALT 5 Editorial, EPALE Team Österreich 27 Drama for Change – Kreative Prozesse in der Erwachsenenbildung Mary Moynihan BEITRÄGE 32 Das Erasmus+ Projekt BYMBE – Wiedereinstieg 8 Exkurs: Drei Jahre EPALE in Österreich und Europa für junge Mütter in der Berufsausbildung Carin Dániel Ramírez-Schiller Angela Pittl 11 »Upskilling Pathways« in Österreich 35 Active aging and intergenerational solidarity Doris Wyskitensky in Europe »VASIE« Ute Schulz 16 Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen aus einer internationalen Perspektive 38 Erasmus+ fördert Partizipation Anthony Mann Karin Hirschmüller 20 Mobilitäts-Scouts – ältere Menschen gestalten eine alternsgerechte Lebensumwelt EPALE Claudia Auzinger 44 EPALE – Was haben Sie davon? 24 MINCE – Model for Inclusive Community Education Karin Kicker-Frisinghelli 46 EPALE und Ihr Erasmus+ Projekt
EDITORIAL Erwachsenenbildung ist ein wirksames Instrument zur Förde- Doris Wyskitensky (Bundesministerium für Bildung, Wissen- rung sozialer Inklusion, wenn sie auch gering qualifizierte und schaft und Forschung) stellte die nationalen Unterstützungs- benachteiligte Erwachsene erreicht, Kompetenzlücken schließt strukturen und Maßnahmen in Österreich für die Zielgruppe der und somit Chancengleichheit fördert. Erwachsenenbildung unter- Initiative »Upskilling Pathways«, gering qualifizierte Erwachsene, stützt idealerweise dabei, an der sich stark im Wandel befinden- umfassend vor. Aus einer internationalen Perspektive referierte den Gesellschaft und Arbeitswelt zu partizipieren. Welche Hürden Anthony Mann (OECD) über die Ergebnisse von OECD-Studien bestehen für die Lernenden beim Einstieg in Bildungsangebote? sowie die daraus abgeleiteten Politikempfehlungen zur Anhebung Wie können diejenigen, bei denen Bildungsbedarf besteht, mit der Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen. Welche Möglichkei- Lernangeboten erreicht werden und welche Unterstützungsmög- ten der Vernetzung und des Austauschs die mehrsprachige E-Platt- lichkeiten bestehen für benachteiligte Lernende? Diese Fragen form für Erwachsenenbildung in Europa EPALE seit mehr als drei standen im Zentrum der EPALE-Themenkonferenz am 21. Juni Jahren bietet, darüber referierte Carin Dániel Ramírez-Schiller 2018 »Upskilling Pathways – Chancengleichheit & Partizipa (Nationalagentur Erasmus+ Bildung). tion durch Erwachsenenbildung«, die in Kooperation von EPALE und Erasmus+ Erwachsenenbildung organisiert wurde und bereits In Ideen- und Networkingpools boten Initiativen und Erasmus+ zum zweiten Mal in magdas Hotel stattfand, einem sozial-ökono- Projekte aus unterschiedlichen Ländern Europas Einblick in ihre mischen Betrieb, in dem Menschen aus 14 Nationen arbeiten. Methoden. Diese sind ebenfalls in der vorliegenden Publikation nachzulesen. Die Konferenz stand im Zeichen der europäischen Initiative »Upskilling Pathways«, die im Deutschen als »Weiterbildungs- EPALE Österreich dankt allen Personen, die als Vortragende zum pfade« bezeichnet wird. Diese verfolgt das Ziel, Erwachsene dabei Gelingen der Veranstaltung und zu der vorliegenden Publikation zu unterstützen, die nötigen Grundlagen für Lese-, Schreib- und beigetragen haben. Rechenfähigkeiten, digitale Kenntnisse sowie zusätzliche Kompe- tenzen zu erwerben, um einen weiterführenden Bildungsabschluss Eine interessante Lektüre wünscht das Team von EPALE Österreich. auf Sekundarstufe oder einen vergleichbaren Abschluss erreichen Carin Dániel Ramírez-Schiller zu können. Die vorliegende Publikation umfasst die Beiträge der Eva Baloch-Kaloianov Konferenz. Katrin Handler Andreas Koreimann | 5
Exkurs: Drei Jahre EPALE in Österreich und Europa Drei Jahre EPALE in Österreich und Europa – ein Grund APA-Fotoservice/Hörmandinger zurückzuschauen … Seit vielen Jahren gibt es auf europäischer Ebene Bestrebungen, die Qualität in der © OeAD-GmbH/ Erwachsenenbildung zu verbessern; es gab Arbeitsgruppen zu dem Thema ebenso wie thematische Monitoring-Projekte. Carin Dániel Ramírez-Schiller Während der Laufzeit des Programms Lebenslanges Lernen (2007–2013) begannen Nationalagentur Erasmus+ Bildung sich diese Überlegungen zu konkretisieren und die Europäische Kommission ließ ein Online-Tool für Erwachsenenbildung in Europa entwickeln. Im Herbst 2014, Carin Dániel Ramírez-Schiller ist seit im ersten Programmjahr von Erasmus+, präsentierte die Europäische Kommission 2007 Leiterin des Bereichs Erasmus+ schließlich die »European Plattform für Adult Learning in Europe« (= EPALE) als Erwachsenenbildung & Querschnitts- neue Policy Support-Maßnahme der Öffentlichkeit. themen sowie stellvertretende Leiterin der Nationalagentur Auf dem europäischen EPALE Launching-Event 2015 wurde als Ziel formuliert, Erasmus+ Bildung der OeAD-GmbH. EPALE als europaweite Vernetzungsplattform zur Förderung der Qualität und Pro- Nach Promotion im Studium der fessionalisierung der Erwachsenenbildung zu etablieren. Politikwissenschaften und Geschichte an der Universität Wien war sie Ab Herbst 2014 erfolgte auf Länderebene die Einrichtung nationaler EPALE-Koor- zunächst Trainings-, dann Marketing dinierungsstellen. In Österreich wurde die in der OeAD-GmbH angesiedelte Natio- assistentin in einem Software-Unter- nalagentur Erasmus+ Bildung als nationale Koordinierungsstelle designiert, um von nehmen, bevor sie 1994 begann, in Beginn an eine enge Kooperation mit Erasmus+ Erwachsenenbildung sicherzustellen. der OeAD-GmbH zu arbeiten. 2015 lief EPALE in Österreich voll an: der Gründung der österreichischen EPALE- Kontakt Koordinierungsstelle folgte die Schaffung von nationalen Strukturen, allen voran carin.daniel-ramirez-schiller@oead.at die Einsetzung eines nationalen EPALE Advisory Boards, das mittlerweile zum euro- www.bildung.erasmusplus.at päischen Good Practice Modell geworden ist. 8 | BEITRÄGE
Ebenfalls im Jahr 2015 erfolgte auch der Start der Kooperation mit dem Redaktionsteam von www.erwachsenenbildung.at, das gemeinsam mit EPALE Österreich die zahlreichen EPALE User- Beiträge von Erwachsenenbildner/innen in Österreich mit natio- nalem EPALE Content ergänzt. Der österreichische Auftakt-Event im Sommer 2015 war eine viel- beachtete Veranstaltung, nicht zuletzt wegen des Auftritts von Doris Pack, der früheren Vorsitzenden des Bildungsausschusses des Europäischen Parlaments, und sie war zugleich der Startschuss für eine intensive, österreichweite Promotion-Kampagne. Vortrag von Carin Dániel Ramírez-Schiller Parallel dazu waren die inhaltliche Arbeit und das Generieren von © OeAD-GmbH/APA-Fotoservice/Hörmandinger Content von Anfang an eine zentrale Säule der Tätigkeit von EPALE Österreich. 2016 fand unter dem Motto »Der Blick über den Tel- lerrand: Internationalisierung und Öffnung der Erwachsenenbil- dung« erstmals eine Serie thematischer Workshops statt. Wegen des großen Interesses entschied sich EPALE Österreich, die Veran- 2017 war die EPALE-Themenkonferenz »Digitale Partizipation« staltungsbeiträge im Rahmen einer Publikation zu veröffentlichen. der Frage, wie Erwachsenenbildung durch digitale Bildung zu ei- ner verstärkten Teilhabe an der Gesellschaft beitragen kann. Das Veranstaltungsformat wurde weitergeführt und 2018 fand mit Drei Jahre EPALE in Österreich und Europa – ein Grund zu »Upskilling Pathways – Chancengleichheit und Partizipation durch schauen, wo wir heute stehen … Erwachsenenbildung« bereits die dritte thematische Konferenz zu einem aktuellen bildungspolitischen Thema statt. Die jährlichen Da die erste Serie thematischer Veranstaltungen so gut ange- Publikationen zur österreichischen EPALE-Themenkonferenz ha- nommen wurde, organisierte EPALE Österreich 2016 eine große ben sich zu einem stark nachgefragten Produkt entwickelt. thematische Konferenz in Wien. Das zu diesem Zeitpunkt hoch aktuelle Thema dieser Veranstaltung war die Rolle der Erwachse- Als weitere Fixpunkte in der Tätigkeit von EPALE Österreich haben nenbildung vor dem Hintergrund von Flucht und Migration. Na- sich die alljährliche Organisation eines regionalen Workshops so- tionalen Projekten und Initiativen wurden spannende themenbe- wie zahlreiche Beteiligungen an Fremdveranstaltungen (von Vor- zogene Erasmus+ Projekte gegenübergestellt; die in den parallelen trägen bis Info-Ständen auf Veranstaltungen) etabliert. Diskussionsforen gebotene Gelegenheit zu Austausch und Vernet- zung wurde intensiv genutzt. Die Evaluierung dieser ersten the- Neben dieser Veranstaltungsschiene hat EPALE Österreich eine matischen Konferenz zeigte, dass die Teilnehmer/innen den Aus- Reihe von Promotions-Aktivitäten aufgebaut – vom nationalen tausch mit europäischen Projektträger/innen und Initiativen klar EPALE-Newsletter bis zu reger Aktivität in den Sozialen Medien als Mehrwert der Veranstaltung sahen. Facebook und Twitter. BEITRÄGE | 9
Eine zentrale Aktivität von EPALE Österreich ist es, spannende Bei- Monaten des Jahres 2018 pro Monat durchschnittlich 60.000 Be- träge zu aktuellen Themen im Bereich der Erwachsenenbildung sucherinnen und Besucher. auf der Plattform EPALE zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht in enger Kooperation mit www.erwachsenenbildung.at, und immer stärker auch durch die Zusammenarbeit mit Erasmus+ Erwachse- Drei Jahre EPALE in Österreich und Europa – sind vor nenbildung. Darüber hinaus ist es gelungen, EPALE als Publikati- allem auch ein Grund in die Zukunft zu schauen … onsmedium zu positionieren – für wissenschaftliche Beiträge eben- so wie für Berichte über Innovationen aus Erasmus+ Projekten. Das wichtigste Ziel von EPALE bis 2020 hat die europaweite EPALE- Befragung aufgezeigt: das hohe Qualitätsniveau soll beibehalten Durch all diese Maßnahmen konnten die Zahlen der aktiven Nut- und gleichzeitig die Zahl der aktiven User gesteigert werden. zer von EPALE beständig gesteigert werden – im Verhältnis zur Ein- wohnerzahl liegt EPALE Österreich im europäischen Spitzenfeld; Die nationale EPALE-Koordinierungsstelle arbeitet derzeit an einer auch im Bereich der Social Media hat sich EPALE Österreich sehr Strategie, noch mehr auf die Zielgruppe der nationalen Erwach- gut etabliert – was die Zahlen der Follower und Likes zeigen. senenbildner/innen und deren Bedürfnisse einzugehen und ihre Maßnahmen und Aktivitäten noch besser darauf abzustimmen. Die Europäische Kommission ließ eine europaweite EPALE-Befra- gung durchführen, dessen Ergebnisse 2017 präsentiert wurden: … und was sind die Perspektiven für EPALE nach dem Ende des bis größtes Plus der EPALE-Plattform ist die Qualität der Beiträge, 2020 laufenden Erasmus+ Programms? Ende Mai 2018 hat die größte Herausforderung, die Steigerung der Zahl jener User, die Europäische Kommission einen ersten Vorschlag für das Erasmus+ sich aktiv an EPALE beteiligen. Nachfolgeprogramm, also für die Periode 2021–2027 vorgelegt: EPALE wird in diesem ersten Programmentwurf als zentrale eu- Um einen stärkeren Anreiz für die aktive Beteiligung von Usern zu ropäische Online-Plattform im Bereich der Erwachsenenbildung bieten, ließ die Europäische Kommission unter Einbeziehung der genannt und soll noch enger mit Erasmus-Erwachsenenbildung Expertise der nationalen EPALE-Zentren neue bzw. verbesserte kooperieren. EPALE-Features entwickeln, so z. B. eine optimierte Projektpart- ner-Suchfunktion oder eine neue thematische Seite auf der EPALE Für EPALE Österreich bedeutet dies, den bereits eingeschlagenen Plattform, in welcher über EU-Politik und europäische Strategien Weg einer engen Kooperation mit dem europäischen Erwachse- im Bereich der Erwachsenenbildung informiert wird. nenbildungsprogramm fortzusetzen und weiter auszubauen. Europaweite EPALE-Monatsschwerpunkte bieten zudem Gelegen- heit zu intensivem Austausch, und die regelmäßigen Online-Dis- kussionen zu aktuellen Themen wie etwa »Media Literacy« oder »Migrant Education« sind mittlerweile ein stark nachgefragtes interaktives Angebot von EPALE. Aktuelle EPALE-Zahlen zeigen, dass diese Maßnahmen wirken: Eu- ropaweit hat EPALE bereits mehr als 40.000 User und in den ersten 10 | B E I T R Ä G E
»Upskilling Pathways« in Österreich Der Artikel ist eine verkürzte Zusammenfassung der Powerpoint-Präsentation des Key Note Beitrags auf der EPALE Konferenz »Upskilling Pathways – Chancen- gleichheit und Partizipation durch Erwachsenenbildung« am 21. Juni 2018. APA-Fotoservice/Hörmandinger Hintergrund © OeAD-GmbH/ Ergebnisse der PIAAC-Studie aus 2013 (Programme for the International Assess- ment of Adult Competencies – also PISA für Erwachsene) weisen aus, dass bis zu 1 Million Menschen in Österreich über unzureichende Kompetenzen in den Schlüssel- Doris Wyskitensky kompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen verfügen, um am sozialen Leben ange- Bundesministerium für Bildung, messen teilnehmen und am Arbeitsmarkt langfristig bestehen zu können. Wissenschaft und Forschung Rund 240.000 Personen im erwerbsfähigen Alter verfügen lediglich über mangelnde Lese-Kompetenzen, also über ein Basisvokabular aber kein Textverständnis. Hinzu Doris Wyskitensky, MA, ist im kommen rund 220.000 Personen im erwerbsfähigen Alter, die keinen Pflichtschul- Bundesministerium für Bundesmi- abschluss haben. Jährlich verlassen ca. 3.700 Jugendliche die Schule ohne Abschluss nisterium für Bildung, Wissenschaft der Sekundarstufe I. und Forschung in der Abteilung Erwachsenenbildung tätig, mit Vier Fallbeispiele und die folgenden Informationen zu Bildungs- und Beratungsan- Schwerpunkt auf die Umsetzung des geboten zeigen, wie umfangreich die Möglichkeiten in Österreich bereits sind. Förderprogramms Initiative Erwach- senenbildung, die österreichische Fallbeispiel 1 Strategie zum lebensbegleitenden Petra ist 48 Jahre alt, hat lange Zeit als Kellnerin in einem Gasthaus gearbeitet, der Lernen LLL:2020, das Nachholen von Konkurs des Betriebes und der Verlust ihres Arbeitsplatzes hat sie völlig aus der Bahn Bildungsabschlüssen, Staatspreis so- geworfen. Auf Anraten des AMS hat sie ein Basisbildungsangebot begonnen um ihre wie EU-Projekte (Koordinationsstelle Kenntnisse in Lesen, Schreiben, Alltagsmathematik und ihre digitalen Kompetenzen Adult Learning). An der Universität zu verbessern. Danach wartete sie auf einen Ausbildungsplatz zur Umschulung. Heu- Wien absolvierte Doris Wyskitensky te macht sie über »Du kannst was« eine Ausbildung als Altenpflegerin. ein Masterstudium in Soziologie. Fallbeispiel 2 Kontakt Firdevis stammt aus der Türkei, ist 32 Jahre alt, sie ist vor 10 Jahren ihrem Mann doris.wyskitensky@bmbwf.gv.at nachgezogen. Ihr ganzes Umfeld ist ausschließlich türkisch und sie hatte kaum www.erwachsenenbildung.at BEITRÄGE | 11
Außenkontakte. Ihre Hilflosigkeit im Umgang mit einer schweren Unterstützungsstrukturen und Maßnahmen Krankheit ihres Sohnes bringt sie zum Nachdenken. Über eine Leh- rerin kommt sie zum Bildungsangebot in der Basisbildung. Heute Initiative Erwachsenenbildung hat sie viele Pläne zur Steigerung ihrer Eigenständigkeit in Öster- Um den Anteil an gering qualifizierten Personen im erwerbsfähi- reich. Sie wird, wenn es ein entsprechendes Angebot in Wohnort- gen Alter (also Personen von 15 bis 64 Jahren) nachhaltig zu sen- nähe gibt, auf jeden Fall weiterlernen. ken und das Qualifikationsniveau der Bevölkerung im erwerbsfä- higen Alter sowie deren soziale Integration zu steigern, wurde das Fallbeispiel 3 gemeinsame Bund-Länder-Förderprogramm »Initiative Erwachse- Wolfgang, 18 Jahre stammt aus schwierigen sozialen Verhältnis- nenbildung« geschaffen. sen und wird seit der Kindheit von der Jugendwohlfahrt betreut. In der Schule hatte er immer Schwierigkeiten sich hinzusetzen Dieses Förderprogramm besteht aus den zwei Programmberei- und zu lernen, in der dritten Klasse Hauptschule hat er begonnen chen »Basisbildung« und »Nachholen des Pflichtschulabschlus- die Schule zu verweigern und verließ sie schlussendlich ohne Ab- ses«. Diese Angebote stehen den betroffenen Teilnehmer/innen schluss. Nachdem er erfolglos nach Arbeit suchte, machten ihn kostenlos zur Verfügung. Aus der Zielgruppenanalyse ist evident, Freunde auf den Kurs zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses dass sich die Angebote an einkommensschwache oder armutsge- aufmerksam. Den ersten Versuch brach er ab, dann aber schloss er fährdete Personen richten. Die Initiative geht nun in die dritte För- den Lehrgang ab, trat erfolgreich zu den sechs erforderlichen Teil- derperiode, was deren Erfolg und auch Bedarf bestätigt. prüfungen an und erhielt ein Pflichtschulabschluss-Zeugnis. Nun möchte er im Anschluss eine KFZ-Lehre oder Karriere beim öster- Seit Beginn der Initiative Erwachsenenbildung wurden im Pro- reichischen Bundesheer machen und später auf die Militärakade- grammbereich Basisbildung rund 37.000 Teilnahmen und im mie gehen. Programmbereich Nachholen des Pflichtschulabschlusses rund 11.000 Teilnahmen ermöglicht. Mit der Fortführung bis Ende 2021 Fallbeispiel 4 sollen weitere 18.000 Personen die Möglichkeit auf kostenlose Ba- Said kam mit seinen Eltern aus Tunesien und besuchte die Schule sisbildung und 9.000 Personen die Möglichkeit den Pflichtschul- in Österreich. Dort hatte er zunächst kaum Schwierigkeiten, fühl- abschluss nachzuholen erhalten. te sich aber schnell unterfordert. Er besuchte kurz ein Gymnasium und mogelte sich durch die ersten Hauptschuljahre. In den letzten Basisbildung Jahren hat er die Schule hauptsächlich geschwänzt. Nach einigen Zielgruppe sind Personen ab vollendetem 15. Lebensjahr mit AMS-Kursen und verlorenen Jahren kam er durch einen Freund Basisbildungsbedarf, ungeachtet ihrer Herkunft, Erstsprache und zum Pflichtschulabschluss-Lehrgang und schloss als einer der bes- Schulabschlüsse. Unterschiedliche Voraussetzungen und Bedürf- ten ab. Nach dem Zivildienst begann er eine Lehre als KFZ-Mecha- nisse der Zielgruppen stehen dabei im Mittelpunkt. niker und bereitete sich parallel dazu auf die Berufsreifeprüfung (Lehre mit Matura) vor. Im Rahmen der Lehrabschlussprüfung Die Inhalte des Bildungsangebots reichen von Lernkompetenzen schloss Said auch die Berufsreifeprüfung ab und studiert derzeit über Kompetenzen in der deutschen Sprache, grundlegende Kom- an der Elektrotechnik und Informationstechnik an der Technischen petenzen in einer weiteren Sprache und mathematischen Kompe- Universität Wien. tenzen bis hin zu digitalen Kompetenzen. 12 | B E I T R Ä G E
NIEDRIGES VERMITTLUNG von UMSCHULUNG und QUALIFIKATIONS- GRUNDKOMPETENZEN WEITERBILDUNG NIVEAU »Initiative Erwachsenenbildung« Außerordentl. Berufsreife- Lehrabschluss- prüfung prüfung Erwachsenen- Basisbildung gerechter Pflichtschul- Arbeitsmarkt- abschluss »Du kannst und was!« Beschäftigungs- politik EQF/NQF 1/2 EQF/NQF 3 EQF/NQF 4 UNTERSTÜTZUNGSSTRUKTUREN und MAßNAHMEN Überblick: Unterstützungsstrukturen und Maßnahmen © Doris Wyskitensky Erwachsenengerechter Pflichtschulabschluss Berufsreifeprüfung Die Zielgruppe umfasst in Österreich wohnhafte Jugendliche und Die Berufsreifeprüfung ist eine vollwertige Reifeprüfung und er- Erwachsene ohne positiven Abschluss der 8. Schulstufe (Neue möglicht einen uneingeschränkten Zugang zu österreichischen Mittelschule, Hauptschule, Polytechnische Schule oder Allgemein Hochschulen. Sie besteht aus vier Einzelprüfungen: Deutsch, Ma- bildende höhere Schule), die negative Leistungen in einzelnen Fä- thematik, Lebende Fremdsprache, Fachbereich. chern erbracht haben und einen Kurs zum Nachholen des Pflicht- Mit der Berufsreifeprüfung wird im Berufsleben erworbenes Fach- schulabschlusses begonnen oder nicht abgeschlossen haben. wissen schulischem theoriebezogenem Wissen formal gleichge- stellt. Sie baut auf bereits erworbenen Bildungsabschlüssen wie Pflichtschulabschluss Lehre oder Fachschule auf und anerkennt berufliches Vorwissen Das Bildungsangebot umfasst Deutsch, Kommunikation und Ge- und vergleichbare Prüfungen. Über »Lehre mit Matura« ist die pa- sellschaft, Englisch, Globalität und Transkulturalität, Mathematik rallele Absolvierung von Lehrausbildung und Reifeprüfung mög- und Berufsorientierung sowie zwei der folgenden Kompetenzen: lich. 20 Jahre nach Inkrafttreten des Bundesgesetzes ist die Berufs- Kreativität und Gestaltung, Gesundheit und Soziales, eine weitere reifeprüfung der wichtigste »nichttraditionelle« Weg zu höherer Sprache sowie Natur und Technik. Bildung. BEITRÄGE | 13
Verlängerte Lehrzeit Durch die verlängerte Lehrzeit wird Jugendlichen mit Behinderung oder Benachteiligung ein vollständiger Lehrabschluss ermöglicht. Rechtsgrundlage ist die im Jahr 2003 eingeführte Integrative Be- rufsausbildung (IBA) sowie die Anpassung des Berufsausbildungs- gesetzes im Jahr 2015. Es besteht jederzeit die Möglichkeit des weiteren Ausbaus von Teilqualifikationen zu einer vollkommenen empfohlenen Lehrlingsqualifikation durch die Erweiterung der Lehrzeit. 2016 befanden sich 7.163 Lehrlinge in Teilqualifikation sowie in verlängerter Lehrzeit, darunter 78 % in verlängerter Lehr- zeit. Vortrag von Doris Wyskitensky © Oead-GmbH/APA-Fotoservice/Hörmandiger Du kannst was! Das Ziel der Initiative »Du kannst was« (www.dukannstwas.at) ist der Erhalt einer vollständigen Lehrausbildung auf Basis der Vali- dierung von professionellen Kompetenzen, die im Vorfeld durch Rund 45.000 Personen haben seit 1997 die Berufsreifeprüfung informales oder formales Lernen erlangt wurden. »Du kannst was« abgelegt. 40 % der Absolvent/innen beginnen ein Studium, 20 % ist momentan für 17 Berufsabschlüsse verfügbar. Die regionale eine andere Ausbildung. Rund 75 % arbeiten vollzeit neben der Initiative kann bereits in mehreren Bundesländern in Anspruch Vorbereitung auf die Berufsreifeprüfung, sie ist damit eine reale genommen werden. Option auf lebensbegleitendes Lernen. Außerordentliche Lehrabschlussprüfung Initiativen im Bereich der Arbeitsmarkt- und Die Hauptziele der Außerordentlichen Lehrabschlussprüfung sind, Beschäftigungspolitik den Lehrabschluss durch die Berücksichtigung von informell er- worbenen Kompetenzen zu ermöglichen und damit die Steige- Primäre Zielgruppe von Initiativen im Bereich der Arbeitsmarkt- rung der Chancen am Arbeitsmarkt zu steigern sowie zur sozialen und Beschäftigungspolitik sind Arbeitslose und gering Qualifizier- Integration und Partizipation beizutragen. te. Die Finanzierung für aktive und aktivierende Arbeitsmarktpoli- tik betrug im Jahr 2016 2,6 Milliarden Euro. In Vorbereitung auf die Außerordentliche Lehrabschlussprüfung wird die Feststellung von individuellen Kompetenzen (z. B. for- Projekte und Maßnahmen male Abschlüsse, abgeschlossene Kurse und Kompetenzchecks) »Kompetenz mit System« gibt Arbeitssuchenden die Möglichkeit durchgeführt. Das Angebot umfasst weiters spezifische Vorberei- Trainingsmodule zu kombinieren, um den Ausbildungsstand eines tungskurse sowie spezielle, für die Teilnehmer/innen kostenlose Lehrabschlusses zu erreichen und die Lehrabschlussprüfung wäh- Maßnahmen wie »Jugendstiftung – Integration« oder »Du kannst rend der Zeit der Arbeitslosigkeit zu absolvieren. was«. Im Jahr 2016 gab es 11.151 erfolgreiche außerordentliche Lehrabschlüsse. 14 | B E I T R Ä G E
Arbeitsplatznahe Qualifizierung (AQUA) bietet arbeitslosen Men- Weitere Informationen finden Sie hier: schen mit Qualifikationsdefiziten und einem niedrigen Qualifikati- onsstand theoretische Trainingsangebote an Ausbildungseinrich- »Initiative Erwachsenenbildung« tungen und praktisches Training in Übungsfirmen. www.initiative-erwachsenenbildung.at/ initiative-erwachsenenbildung/was-ist-das »Qualifizierungsförderung für Beschäftigte National« (QBN) un- terstützt das weitere Training und die Qualifikation von gering- Basisbildung qualifizierten und/oder älteren Arbeitnehmer/innen. www.initiative-erwachsenenbildung.at/ foerderbare-programmbereiche/basisbildung Unterstützende Strukturen und Maßnahmen Bildungs- und Berufsberatung wird in Beratungsstellen in ganz Nachholung des Pflichtschulabschlusses Österreich kostenlos angeboten. Dieses Angebot ist durch die Ab- www.initiative-erwachsenenbildung.at/ teilung Erwachsenenbildung des Bundesministeriums für Bildung, foerderbare-programmbereiche/pflichtschulabschluss Wissenschaft und Forschung im Rahmen des ESF-Programms im- plementiert. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft Berufsreifeprüfung und Forschung fördert Netzwerke in den acht Bundesländern so- https://bildung.bmbwf.gv.at/ wie ein überregionales Netzwerk. schulen/bw/zb/berufsreifepruefung.html Arbeitsmarktpolitik – Programme mit Beratung und »Du kannst was!« finanzieller Unterstützung www.dukannstwas.at Das Arbeitsmarktservice (AMS) bietet Beratung, Berufsorientie- rung, Berufsausbildung und Weiterbildungen an. Das sogenannte Außerordentliche Lehrabschlussprüfung »Fachkräftestipendium« bietet arbeitslosen Menschen, die sich in www.wko.at/service/w/bildung-lehre/ Bildungskarenz befinden, finanzielle Unterstützung. Lehrabschlusspruefung-Wien.html Institutionen im Bereich der Bildungs- und Berufsberatung bieten Dokumentation »Aktive Arbeitsmarktpolitik 2016« ein gefördertes einjähriges Programm für Arbeitssuchende, Perso- des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, nen, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind sowie Langzeitarbeits- Gesundheit und Konsumentenschutz lose. www.ams.at/_docs/001_Aktive_Arbeitsmarktpolitik.pdf Projekt »KmS – Kompetenz mit System« des AMS www.ams.at/service-arbeitsuchende/ angebote-frauen/kompetenz-system BEITRÄGE | 15
Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen aus einer internationalen Perspektive In den Jahren 2011 bis 2015 unterzogen sich mehr als 250.000 Personen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren in 33 verschiedenen Ländern einer Reihe von Tests zur Beurteilung ihrer Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen. APA-Fotoservice/Hörmandinger Damit sollte ermittelt werden, inwiefern diese mit ihren Persönlichkeitsmerkmalen und ihrer Teilnahme am gesellschaftlichen und ökonomischen Leben verbunden sind. Die OECD-Erhebung zu den Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen (PIAAC) © OeAD-GmbH/ lieferte wichtige neue Informationen sowohl zu deren Umfang innerhalb eines Lan- des und länderübergreifend als auch dazu, in welcher Beziehung solche Kompeten- zen zu persönlichem und nationalem Wohlstand und Wohlergehen stehen. Zu den Anthony Mann markantesten Ergebnissen gehörte dabei wohl der beunruhigende Nachweis, dass OECD durchschnittlich einer von fünf Teilnehmenden innerhalb dieser repräsentativen Stichprobe so niedrige Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen aufwies, dass da- Anthony Mann leitet das OECD- durch die Teilnahme am Arbeits- und mithin am allgemeinen sozialen Leben erheb- Team zu Berufsbildung und Erwach- lich eingeschränkt wird. Im Gefolge dieser neuen Erkenntnis über das Ausmaß gerin- senenbildung. In den letzten zehn ger Kompetenzen schauen Regierungen mit neuer Besorgnis auf die Auswirkungen Jahren hat das Team über fünfzig der Automatisierungswelle, welche derzeit die Arbeitsweisen und Beschäftigungs- länderspezifische Studien und muster überall auf der Welt verändert. Mittlerweile gilt es als akzeptierte Tatsache, themenbezogene Berichte veröffent- dass der Teil der arbeitenden Bevölkerung mit geringen Kompetenzen anfälliger für licht, in denen Lernen am Arbeits- die Folgen technologischer Änderungen ist. Diese Anfälligkeit soll verringert wer- platz sowie Schlüsselkompetenzen den, und folglich ist die Politik mit neuem Antrieb bestrebt, ihre Aufmerksamkeit untersucht wurden. Vor seiner Arbeit auf die Verbesserung der Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen zu richten, auch bei der OECD war er in der Politik um die einzelnen ökonomischen Systeme besser mit Reaktionsmöglichkeiten auf entwicklung für das Bildungsminis- die Nachfragemuster des Arbeitsmarkts im 21. Jahrhundert auszustatten. terium in Großbritannien tätig. Die PIAAC-Erhebung über die Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen diente als Kontakt Grundlage für eine Reihe von Veröffentlichungen der OECD, in denen sehr bedeu- Anthony.Mann@oecd.org tende Variationsmuster der Kompetenzniveaus verschiedener Länder untersucht www.oecd.org/education/vet wurden. Aus der Studie geht hervor, dass die Hälfte der Erwachsenen in der Türkei 16 | B E I T R Ä G E
© OeAD-GmbH/APA-Fotoservice/Hörmandinger © OECD und in Chile geringe Lese- und Schreibkompetenzen aufweist, keit, dass sich die Politik durch qualitativ bessere Forschung besser wohingegen diese Zahl in Japan, Finnland und den Niederlanden informiert. bei annähernd 10 % liegt. Zwar sind die Variationen bei den Kom- petenzmustern drastisch, doch haben Folgestudien in den einzel- Die OECD arbeitet nun daran, besser zu verstehen, durch welche nen Ländern auch den heterogenen Charakter der Hauptursachen politischen Eingriffe Erwachsene ihre Schlüsselkompetenzen am einer solch geringen Kompetenzentwicklung hervorgehoben. In wirksamsten verbessern können. Im Literaturüberblick »Adults den USA sind geringe Schlüsselkompetenzen üblicherweise insbe- with low literacy and numeracy skills« (Erwachsene mit unter- sondere auf die schlechten Bildungsergebnisse von Minderheiten durchschnittlicher Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz) von zurückzuführen und darauf, dass sich Angebote nach der Sekun- Hendrickje Windisch aus dem Jahr 2015 wird offen die Komplexität darschulbildung häufig nur beschränkt auf Lesen, Schreiben und eines Problems beschrieben, das weder einfache Ursachen noch Rechnen konzentrieren; in Finnland zeigt sich der größte Unter- einfache Lösungen hat, sowie die vergleichbaren Schwächen der stützungsbedarf – wie in vielen anderen Ländern auch – bei der internationalen Belege, welche auf der Wirksamkeit verschiede- älteren arbeitenden Bevölkerung sowie bei Migrantinnen und ner Eingriffe zur Unterstützung der Lernenden gründen. Windisch Migranten; in England stellte die Erhebung zu den Kompetenzen zieht in ihrer Abhandlung auf Englisch, Französisch und Deutsch von Erwachsenen die systematisch geringen Schlüsselkompeten- publizierte Literatur aus dem gesamten OECD-Raum heran und zen von jungen Menschen heraus, die die Sekundarschulbildung stellt verfügbare Einblicke dazu vor, wie Erwachsene mit gerin- abgeschlossen hatten; und in Australien konzentrierte sich die gen Kompetenzen am geeignetsten dazu ermutigt und motiviert Analyse auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern beim Rech- werden können, sich darüber bewusst zu werden und an Lern nen und auf die schwachen Bausteine zu Schlüsselkompetenzen in programmen teilzunehmen. Überdies wird in der Übersicht Lite- der Berufsbildung. In sämtlichen Ländern besteht die Notwendig- ratur hervorgehoben, in der die Wirksamkeit von Initiativen zur BEITRÄGE | 17
© OeAD-GmbH/APA-Fotoservice/Hörmandinger © OECD Steigerung der Wahrnehmung, die Nutzung von motivationsför- Der Zusammenhang zwischen der Vermittlung von Schlüsselkom- dernden Informationen, Anleitungen und sozialen Netzwerken petenzen und Berufsbildung ist wichtig. Das Programm Integra- sowie diagnostische Ansätze zum Verständnis der Stärken, aber ted Basic Education and Skills (I-BEST) (Integriertes Programm auch der Schwächen von Lernenden erforscht werden. In der Stu- für grundlegende Bildung und Kompetenzen) aus dem US-Bun- die wird neben der Wichtigkeit von Kontext und Bedeutung beim desstaat Washington liefert ein gutes Beispiel für eine Vermitt- Lernen die Notwendigkeit betont, praktische Barrieren zu beseiti- lungsform, in der die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen gen, welche ein fortlaufendes Engagement in der Erwachsenenbil- und berufliche Bildung nutzbringend kombiniert werden. Beim dung verhindern. Bei einer wirksamen Vermittlung ist zu berück- I-BEST-Programm unterrichten eine Lehrperson für Schlüsselkom- sichtigen, dass Lernende während ihrer schulischen Erstausbildung petenzen und eine Lehrperson für einen berufsbildenden Gegen- oft sehr schlechte Erfahrungen gemacht haben. Insbesondere im stand gemeinsam eine Klasse, und beide teilen sich mindestens Hinblick auf das Verständnis von nachweislich wirkungsvollen 50 % der Unterrichtszeit. In Großbritannien hat das Modell Uni- Praktiken bei der Vermittlung von Schreib-, Lese- und Rechen- onlearn ebenfalls große Aufmerksamkeit erzielt. Hierbei erhal- kompetenzen an Erwachsene ist die Literatur nicht sehr ergiebig. ten Gewerkschaften durch gezielte Finanzierung die Möglichkeit, In überzeugenden Studien wurde jedoch die Bedeutung von star- Maßnahmen zur Verbesserung der Schlüsselkompetenzen am Ar- ken Lehrenden und die Wichtigkeit von kontextuellem Lernen beitsplatz teilnehmender Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an- betont, wobei der Wunsch von Eltern, ihre Kinder beim Lernen zu zubieten. Der Unterricht wird dabei in der Regel während der nor- unterstützen, aber auch Lernangebote am Arbeitsplatz und beruf- malen Arbeitszeiten und am normalen Arbeitsplatz der Lernenden liche Weiterbildungsmaßnahmen als Mittel zur Schulung genutzt abgehalten, die sich selbst bei den Gewerkschaftsvertreter/innen werden können. melden (und nicht bei den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern) – 18 | B E I T R Ä G E
dadurch überwindet das Programm wichtige kontextuelle Barrie- Die OECD plant, im Laufe des Jahres 2019 bedeutende neue Er- ren, die sonst eine Beteiligung verhindern. kenntnisse dazu zu veröffentlichen, welche Maßnahmen zur Vermittlung der Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen gut Dieser Schwerpunkt auf dem Arbeitsplatz ist auch noch aus einem funktionieren. In Zusammenarbeit mit dem englischen Bildungs- anderen Grund wichtig. Die Arbeit der OECD hat die Maßnahmen ministerium werfen Analytikerinnen erneut einen Blick auf inter- aufgezeigt, durch die Kompetenzen durch Beschäftigung aktiviert, nationale Daten und Erfahrungen aus verschiedenen Ländern und erhalten und erweitert werden können. In einem 2016 erschiene- aktualisieren den Literaturüberblick aus dem Jahr 2015. Im Rah- nen Arbeitspapier der OECD (Education Working Paper) von Jime- men dieses Prozesses werden Einblicke aus allen Teilen der Welt no et al. – »Education, Labour Market Experience and Cognitive dazu herangezogen, wie Regierungen möglichst bedeutsam und Skills« (Bildung, Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt und kognitive nachhaltig etwas im Leben von Erwachsenen bewegen können, Kompetenzen) – wurde anhand der Daten aus der Erhebung zu den deren erste Bildungserfahrungen schlecht waren. Schlüsselkompetenzen von Erwachsenen beurteilt, ob bei deren Entwicklung die Arbeitserfahrung den gleichen effektiven Zweck erfüllt wie eine Schulbildung. Die Studie ergab, dass arbeitende Bevölkerung mit geringem Bildungsniveau, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten Aufgaben erfüllt, die den Einsatz von Lesen, Schrei- ben und Rechnen erfordern (z. B. E-Mails lesen oder Prozentsät- ze berechnen), in der Regel besser bei den Tests zu Erhebung der Schlüsselkompetenzen abschneidet als vergleichbare Personen. Insgesamt deutet die Analyse darauf hin, dass in den meisten Län- dern, die an der Auswertung teilnahmen, der Beitrag vom Lernen am Arbeitsplatz zur Ausbildung von Schlüsselkompetenzen etwa ein Drittel dessen ausmacht, was durch die Schulpflicht erwor- ben wird. Darum liegt es in unserem Interesse, das Wesen solcher Arbeitsplätze zu verstehen, an denen die Schaffung derartiger Lernmöglichkeiten am wahrscheinlichsten ist. Entsprechende Ar- beitgeberinnen und Arbeitgeber neigen dazu, so genannte »High Performance Work Practices«, also Arbeitsprozesse mit hoher Leistungswirkung, einzusetzen. Dazu zählen Prozesse sowohl in Bezug auf die Arbeitsorganisation als auch auf die Management- praxis – wo haben Einzelpersonen mehr Einfluss auf den Ablauf ih- rer Aufgaben, wie wird eine Tätigkeit ausgeführt, die Zeit verplant Weitere Informationen über die Erhebung und die Informationen regelmäßig zwischen den Kolleginnen und zu Schlüsselkompetenzen bei Erwachsenen und Kollegen geteilt – sowie (wo Arbeitsstunden flexibel gehandhabt über die Arbeit der OECD zu diesem Thema finden Sie hier: werden können) eine Kultur der Weiterbildung und Anerkennung www.oecd.org/skills/piaac/ von Leistungen. www.oecd.org/education/innovation-education/vet.htm BEITRÄGE | 19
Mobilitäts-Scouts – ältere Menschen gestalten eine alternsgerechte Lebensumwelt APA-Fotoservice/Hörmandinger © OeAD-GmbH/ Der Mobility Scouts Ansatz Mobility Scouts ist ein Erasmus+ Projekt, das von Partnerorganisationen in den Be- Claudia Auzinger reichen Sozialpolitik und Sozialforschung, soziale Gerontologie und Erwachsenen- queraum. kultur- und bildung in Österreich, Deutschland, Italien, Litauen und den Niederlanden zwischen sozialforschung Oktober 2016 und September 2018 durchgeführt wurde. In Österreich wurde das Projekt unter dem Titel »Mobilitäts-Scouts« von queraum. kultur- und sozialfor- Claudia Auzinger ist seit Anfang schung umgesetzt und vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit 2018 bei queraum. kultur- und und Konsumentenschutz unterstützt. sozialforschung als Mitarbeiterin beschäftigt und arbeitet an Pro- Inklusion und Partizipation älterer Menschen sind die leitenden Prinzipien des Mobi- jekten, die sich mit der Aktivierung lity Scouts Ansatzes. Das Projekt greift Aspekte rund um die Themen Aktives Altern, und Befähigung von Menschen zur altersfreundliche Lebenswelten, lebenslanges Lernen, Freiwilligenengagement und Mitsprache und Mitgestaltung ihres Koproduktion auf. Lebensumfelds befassen. Nach dem Studium der Landschaftsarchitektur Das übergeordnete Ziel des Projekts ist es, ältere Männer und Frauen in Entschei- (BOKU Wien) und Raumplanung dungsprozesse miteinzubeziehen und sie zu befähigen, an der Schaffung eines al- (TU Wien) war sie zunächst in ternsgerechten Wohnumfelds als gleichberechtigte Partnerinnen und Partner zu der Stadtteilentwicklung und im partizipieren. Mobilitäts-Scouts sind Pionierinnen und Pioniere, die das Thema der Stadtteilmanagement tätig, wo sie altersgerechten Umwelt auf die lokale Agenda setzen und diesem Thema durch die nachbarschaftsfördernde Projekte Initiierung von lokalen Mobilitäts-Projekten Impulse geben. initiierte und begleitete sowie lokale Ansprechperson für Bewohner/innen Konkret wurden ältere Frauen und Männer im Rahmen eines Mobilitäts-Scouts Trai- zu Fragen des Wohnumfelds war. nings geschult und dabei unterstützt, gemeinsame Aktivitäten von öffentlichen Stellen, Unternehmen oder Dienstleistungsanbietern sowie älteren Menschen zur Kontakt Gestaltung alternsgerechter Lebenswelten anzuregen und zu begleiten. Die Mo- auzinger@queraum.org bilitäts-Scouts Trainings vergrößerten nicht nur das Wissen der beteiligten älte- www.queraum.org ren Menschen zu Themen der Barrierefreiheit, alternsgerechten Infrastruktur und 20 | B E I T R Ä G E
Ideen- und Networkingpool »Mobilitäts-Scouts« im Rahmen der EPALE Themenkonferenz am 21. Juni 2018 in Wien © Oead-GmbH/APA-Fotoservice/Hörmandiger Stadtentwicklung. Die Beteiligten wurden durch die Umsetzung Die Lernphase dient der Vermittlung von Wissen und dem Aus- eines Praxisprojekts auch befähigt, sich in gesellschaftlichen, po- tausch bereits vorhandener Erfahrungen. In thematischen litischen und wirtschaftlichen Bereichen konstruktiv einzubringen Workshops wird Basiswissen zur alternsgerechten Gestaltung und neue Formen der Zusammenarbeit mit relevanten Akteuren des öffentlichen Raums und der Mobilität in Wien vermittelt. Die der Stadtverwaltung und Bezirkspolitik einzugehen. Diese wieder- Mobilitäts-Scouts lernen die Elemente einer alternsgerechten Le- um öffneten sich für die Einbeziehung älterer Menschen und profi- benswelt kennen, bekommen einen Überblick über die wichtigsten tierten von deren Kenntnissen und Erfahrungen. Akteur/innen (in Bereichen wie Stadtplanung, Stadtgestaltung, Barrierefreiheit, etc.) und deren Verantwortungsbereiche. Auch Wie sieht das Mobilitäts-Scouts Training in Wien aus? Partizipationsmöglichkeiten bei der (Um-)Gestaltung von öffentli- Das erste Durchlauf des Mobilitäts-Scouts Trainings in Wien fand chem Raum und Mobilitätsangeboten und Beispiele aus der Praxis zwischen Februar und September 2018 statt. Die insgesamt 13 werden diskutiert. Teilnehmer/innen haben die Möglichkeit, parallel zu den Inhalten Zur Gestaltung und Umsetzung dieser thematischen Workshops im Training eigene Ideen für Praxisprojekte zu entwickeln und um- werden Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen projek- zusetzen. Das Training besteht aus drei Phasen: trelevanten Bereichen hinzugezogen, wie z. B. Vertreter/innen der > Lernphase Lokalen Agenda 21 (Partizipation), der Mobilitätsagentur Wien (Mobilität, Barrierefreiheit), oder der Planungsabteilungen der > Umsetzungsphase Stadtverwaltung (Stadtgestaltung/Öffentlicher Raum; Stadtent- > Reflexions- und Abschlussphase wicklung). BEITRÄGE | 21
In den begleitenden Praxismodulen entwickeln die Mobili- möglichst lange selbstständig im öffentlichen Raum zu bewegen täts-Scouts mit Unterstützung des Projektteams ihre Praxisprojek- und sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen zu können. te. Für eine erfolgreiche Projektentwicklung werden unterschied- liche Werkzeuge (Projektkonzept, Aktionsplan, Umfeldanalyse) Mobilität und Teilhabe stehen in einem Wechselspiel: Mobilität ist vorgestellt und angewandt. die Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, und Teilha- bemöglichkeiten unterschiedlicher Art erhöhen das Interesse der In der mehrmonatigen Umsetzungsphase entwickeln die Mobili- Menschen sich auf den Weg zu machen. Die Teilnahme an unter- täts-Scouts ihre Projektideen weiter und setzen die Praxisprojekte schiedlichen Bereichen des öffentlichen Lebens, d. h. eine zugäng- um. Dabei erhalten die Teams je nach Bedarf individuelle Unter- liche Umgebung mit entsprechenden Angeboten an Diensten, ist stützung (z. B. beim Aufbau von Kooperationen mit externen Part- eine entscheidende Voraussetzung für ein aktives, sinnerfülltes ner/innen, beim Projektmanagement) und Coaching durch die und gesundes Leben im Alter. Trainer/innen. Ältere Menschen sind Expertinnen und Experten ihrer persönli- Den Abschluss des Trainings bildet eine Reflexions- und Ab- chen Lebenswelt und wissen am besten, wie Dienstleistungen und schlussphase. Bei einem Reflexions-Workshop stehen der Rück- öffentliche Räume gestaltet und organisiert werden sollten, damit blick auf Training und Praxisprojekte und ein Ausblick auf die Zu- die Teilhabe Älterer möglich ist. Sie wollen, dass ihre Stimmen ge- kunft (Nachhaltigkeit, Folgeprojekte etc.) im Mittelpunkt. hört, ihre Erfahrungen anerkannt und ihre Fähigkeiten genutzt und gewürdigt werden. Das Projekt Mobility Scouts setzt genau Was bedeutet altersfreundlich? hier an: es will Senioren und Seniorinnen befähigen sich mit Ihren Alternsgerecht ist ein Wohnumfeld dann, wenn es von Senio- Perspektiven bei der Gestaltung und Organisation ihrer Lebens- rinnen und Senioren mit und ohne Mobilitätseinschränkungen welt einzubringen. selbstbestimmt und sicher genutzt werden kann. Es soll darüber hinaus einladend wirken und die Freude daran wecken, sich auf den Weg zu machen, dabei zu sein, mitzumachen. Eine alternsge- Welche Rollen können Mobilitäts-Scouts einnehmen? rechte Lebenswelt ermöglicht und fördert die Bewegung und den Aufenthalt im öffentlichen Raum für Seniorinnen und Senioren, Mobilitäts-Scouts können in verschiedenen Bereichen und auf die mit größerer Wahrscheinlichkeit von Mobilitätseinschränkun- verschiedenen Ebenen aktiv werden, um eine altersfreundliche gen betroffen sind als jüngere Menschen. Umwelt zu fördern. Der folgende Überblick über die verschiedenen Rollen, die Mobilitäts-Scouts übernehmen können, ist der Versuch, Warum ist ein Projekt wie Mobility Scouts relevant? mögliche Tätigkeitsfelder zu kategorisieren, die sich in der Praxis Im Jahr 2060 wird beinahe ein Drittel der europäischen Bevölke- mitunter überschneiden und kombiniert werden können. rung 65 Jahre oder älter sein. Altern ist damit nicht ausschließlich eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforde- Erforschen und berichten rung. Auf sie sollten wir rechtzeitig und in vielfältiger Weise vorbe- Als Expertinnen und Experten für ihr jeweiliges Umfeld haben älte- reitet sein. Lebensräume alternsgerecht, einladend und zugänglich re Bürgerinnen und Bürger ein geschultes Auge für alternsgerechte zu gestalten ist nicht nur Antwort auf den demografischen Wan- Räume oder Angebote. Probleme sind in der Regel bekannt und del, sondern nimmt auch die Bedürfnisse der Menschen ernst, sich werden untereinander kommuniziert. In vielen Fällen leiten die 22 | B E I T R Ä G E
betroffenen Älteren sie jedoch nicht an die zuständigen Behörden Inspirieren und motivieren weiter oder haben Vorbehalte, sich aktiv bei den Institutionen zu Mobilitäts-Scouts können Angebote organisieren, um die Be- beschweren. Ohne das Wissen über bestehende Probleme können teiligung älterer Menschen am sozialen Leben zu fördern. Einige diese jedoch nicht gelöst werden. Zielgruppen (z. B. Menschen mit Demenz oder Behinderung) be- nötigen bei Aktivitäten außerhalb ihrer Wohnungen eine spezielle Mobilitäts-Scouts können somit als Vermittler fungieren. Sie Infrastruktur und Betreuung. Seniortrainer/innen sind bereits häu- können Feedback und Kommentare älterer Menschen zu ihrem fig in der Freiwilligenarbeit, generationenübergreifenden Projek- Lebensumfeld, möglichen Problembereichen, öffentlichen Ge- ten oder in der kulturellen Bildung zu finden. bäuden und seniorenfreundlichen Angeboten sammeln und an relevante Institutionen (z. B. Unternehmen oder Kommunen) Initiieren und agieren weiterleiten. Mobilitäts-Scouts können auch ältere Menschen und Mobilitäts-Scouts sind auch dazu eingeladen, Veranstaltungen Fachleute aus verschiedenen Sektoren zusammenzubringen. Die und Initiativen zu organisieren, um altersfreundliche Umgebun- Erfahrung zeigt, dass Runde Tische, gemeinsame Stadtbegehun- gen zu gestalten und um auf die täglichen Herausforderungen und gen oder Workshops geeignete Methoden sind, um sich auszutau- Hindernisse für ältere Menschen aufmerksam zu machen. schen und Ideen zu sammeln. Mobilitäts-Scouts können jedoch auch eine direkte und anonyme Möglichkeit schaffen, um Proble- me zu melden (z. B. durch Umfragen). Erfahrungen aus dem Projekt Trainieren und kommunizieren Die Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Projekt wurden im Hand- Mobilitäts-Scouts können ihre Perspektiven und Kenntnissen buch Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger und im an Akteure, die für alternsgerechte Umgebungen relevant sind, Handbuch für Praktikerinnen und Praktiker aufbereitet und fest- weitergeben. Hierzu gehören z. B. Kommunen, Dienstleister des gehalten. Darüber hinaus erhalten Interessent/innen in einem On- öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), aber auch Architektur- line-Training nähere Informationen zum Projekt und den umge- studierende oder künftige Planer und Planerinnen. Darüber hinaus setzten lokalen Initiativen sowie Tipps und Tricks für die praktische können Mobilitäts-Scouts bestehende Angebote aktiv fördern und Umsetzung ähnlicher Projekte. ihre Mitmenschen darüber informieren. Entwickeln und unterstützen Bei dieser Art von Mitwirkung unterstützen ältere Menschen sys- tematisch Kommunen oder Organisationen beim Entwurf und der Herstellung von Dienstleistungen oder Maßnahmen. Sie können z. B. als Kontaktpersonen für ältere Kund/innen fungieren, deren Rückmeldungen sammeln, Organisationen bei der Entwicklung von Publikationen unterstützen, als Ko-Designer/innen bei Pla- nungsprojekten auftreten oder andere ältere Bürger/innen aus- bilden. Unterstützungsmaßnahmen können auch von Mobilitäts- Weitere Infos auf: Scouts koordiniert werden. www.mobility-scouts.eu BEITRÄGE | 23
MINCE – Model for Inclusive Community Education Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen stehen oft am Rande unserer Gesellschaft. Nach wie vor ist deren soziale Inklusion und gesellschaftliche APA-Fotoservice/Hörmandinger Partizipation nicht zufriedenstellend gelöst. Das Projekt MINCE verfolgte das Ziel, die Inklusion von Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen in der Gesellschaft zu verstärken. Damit folgte das Projekt dem Artikel 19 der UN Konven- © OeAD-GmbH/ tion über die Rechte von Menschen mit Behinderung und der darin formulierten Forderung nach unabhängiger Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft. Nach dem ICF-Modell der WHO (International Classification of Functioning, Disabili- Karin Kicker-Frisinghelli ty and Health)1 sind bei dieser Personengruppe sowohl mentale als auch sensorische Lebenshilfen Soziale Dienste GmbH Funktionen von der Beeinträchtigung betroffen. In der Lebensrealität der Menschen bedeutet dies, dass sie in fast allen Lebensbereichen auf personelle und materielle Karin Kicker-Frisinghelli ist diplo- Unterstützung angewiesen sind. Außerdem sind Menschen mit schweren Behin- mierte Behindertenpädagogin und derungen in der Gesellschaft oft nicht sichtbar, leben nach wie vor größtenteils in Erziehungswissenschafterin. Seit Institutionen, sehr oft in isolierten Settings. Diese öffentliche Absenz trägt unter an- 2014 ist sie bei der Lebenshilfen derem zur Exklusion von Menschen mit schweren Behinderungen bei (vgl. Jantzen Soziale Dienste GmbH im Bereich 2015, S. 53). der Forschung, Entwicklung und Innovationen tätig. Im Projekt MINCE entwickelten die Lebenshilfen Soziale Dienste GmbH mit Part- Die Lebenshilfen Soziale Dienste nern aus Bulgarien, Deutschland, Kroatien, Polen, Portugal und Slowenien ein in- GmbH ist seit über zehn Jahren im novatives Modell für inklusive Community Education. Die Idee war, dass einzelne Bereich von EU-Projekten tätig und soziale Räume, Nachbarschaften, Gruppen – Communities – gemeinsam lernen, wie hat Erfahrung in der Koordination sie zukünftig inklusive Angebote (z. B. niederschwellige Bildungs- und Lernmöglich- und als Partnerin entsprechender keiten) schaffen, an denen alle Menschen, also auch Menschen mit schweren und Projekte. Zentrales Anliegen stellen schwersten Behinderungen, teilnehmen können. Die Projektidee basiert auf dem dabei immer die Selbstbestimmung Anspruch, dass Inklusion gelingt, wenn alle gesellschaftlichen Systeme gemeinsam und Inklusion der Menschen mit daran arbeiten, wenn Inklusion als Aufgabe der Gesellschaft gesehen wird und die Behinderung in die Gesellschaft dar. Herausforderungen, denen Menschen mit schweren Behinderungen gegenüberste- hen, nicht länger als individuell zu lösende Probleme bei den Betroffenen verbleiben. Kontakt Inklusion findet immer in einem wechselseiteigen Prozess zwischen Individuum und karin.kicker-frisinghelli@lebenshilfen-sd.at Gesellschaft statt und kann auch nur in diesem Zusammenspiel vorangetrieben wer- http://lebenshilfen-sd.at/ueber_uns/eu_projekte den und schließlich gelingen. 24 | B E I T R Ä G E
Aufstellungsübung zum Thema »Exklusion – Separation – Integration – Inklusion« im Ideen- und Networkingpool »MINCE – Model for Inclusive Community Education« © Oead-GmbH/APA-Fotoservice/Hörmandiger Von Seiten der Gesellschaft bestehen auch Hemmschwellen im Empowerment von sozial Benachteiligten« (S. 7). Auf diese und Umgang mit Menschen mit schweren Behinderungen. Die Le- andere Wirkungen zielt auch die Aktionslinie 6 der LLL 2020 – Strate- bensrealitäten von Menschen mit schwerer Behinderung müssen gie zum lebensbegleitenden Lernen in Österreich ab, die eine Verstär- für ein gelingendes Miteinander verstanden werden. MINCE ist kung der Community Education als wesentlichen Bestandteil eines entsprechend dieses Bedarfes auch als ein Modell des Verstehens lebensbegleitenden Lernens vorsieht (vgl. BMUKK 2011, S. 32ff). und Zusammenlebens zwischen Individuen und Gesellschaft zu sehen. Das Projekt zielte mit der Entwicklung unterschiedlicher Gemäß der Ideen des Empowerments und der Selbstvertretung Methoden und Angeboten auf mehrere gesellschaftliche Ebenen war ein Ziel im Projekt, ein Training für Menschen mit Behinde- und Zielgruppen ab und bildet in seiner Gesamtheit das Model for rung zu entwickeln, in dem sie lernen, als Peer-Vermittlerinnen Inclusive Community Education. Aus Sicht der Projektpartnerschaft oder Peer-Vermittler neben ihren eigenen auch die Interessen der eignet sich Community Education dazu, Prozesse – wie den der In- Menschen mit schweren Behinderungen zu vertreten und in dieser klusion – in Gang zu bringen. Wagner/Steiner/Larissegger (2013) neuen Rolle Brücken zwischen der Gesellschaft und den Menschen beschreiben dieses Potential der Community Education unter Be- mit schweren Behinderungen zu bauen. Aufgrund ihrer eigenen zugnahme auf unterschiedliche Studien: Community Education Erfahrungen, z. B. in Bezug auf institutionelle Begleitung, Barrieren ist eine »Verbindung von Bildungsarbeit mit Gemeinwesenarbeit im Alltag oder Alltagsdiskriminierung, können sie sich in die Le- und/oder Regionalentwicklung«, sie schafft »Lerngelegenheiten benssituationen anderer Menschen mit Behinderung zumeist gut innerhalb und für die Community« und forciert »Partizipation und einfühlen. Auf diese Erfahrungen wurde Bezug genommen und BEITRÄGE | 25
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