Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?

 
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Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?
Wer ging uns voraus?

                       Verbindung
                       germanisch

                       Das Hermannsdenkmal in der Nähe von Detmold ist eine kolossale
                           Statue und erinnert an den Cheruskerfürsten Arminius und die
                            Schlacht im Teutoburger Wald 9 n.Chr. Jeder Zeit ihre Mythen!

  22 4/2020 ACADEMIA
Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?
Wer ging uns voraus?

als
inspirierte Selbsthilfe
                                               Wer waren unsere Vorfahren?
                                               Der CV nahm
                                               Geschichtskonstruktionen
                                               nicht immer bierernst
                                                  m kleindeutsch-preußischen Kaiserreich         ? Wie sieht es mit den Verbindungen bei

                                               I  ist an unserem Cartellverband die allge-
                                                  meine Germanophilie nicht spurlos vor-
                                                  übergegangen. Das verraten Verbindungs-
                                               namen wie Markomannia und Burgundia.
                                                                                                 uns im CV aus?

                                                                                                 ! Bei uns sind die Namensgebungen der
                                                                                                 Verbindungen in der Anfangszeit des CV
                                               Dahinter verbirgt sich die Frage: Wer waren       durchwachsen. Die ältesten Verbindungsna-
                                               überhaupt die Germanen, ihre Stämme und           men sind ebenfalls häufig im weitesten Sin-
                                               Völker? Was wissen wir heute über sie und         ne landsmannschaftlich inspiriert: Aenania
                                               wie sollen wir die Geschichtspolitik bewer-       („die vom Inn“), Bavaria, Sauerlandia oder
                                               ten, die mit ihnen betrieben wurde? Zu all        Guestfalia. Winfridia dagegen nimmt auf
                                               diesen hochinteressanten Fragen hat sich der      den heiligen Bonifatius Bezug und zeigt,
                                               Historiker Cbr Prof. Dr. Matthias Stickler (GW)   gleich in der Frühzeit des Cartells, eine dezi-
                                               in einem ausführlichen Interview geäußert.        diert katholische Färbung. Den ersten eigent-
                                               Er ermöglicht damit eine seriöse Verortung        lich germanischen Namen einer Verbindung
                                               unseres Miteinanders angesichts der Ge-           im CV trägt die 1870/71 gegründete KDStV
                                               schichte und des Umgangs mit ihr. Das Ge-         Markomannia Würzburg. Dabei war die Vor-
                                               spräch führte Prof. Dr. Veit Neumann (Alm).       stellung leitend, das Maindreieck bei Würz-
                                                                                                 burg habe einmal zum Reich der Markoman-
                                               ? Lieber Cartellbruder Stickler, wie steht        nen gehört. In Würzburg gibt es einen noch
                                               das Thema der Germanen mit Verbindun-             etwas früheren Fall, nämlich die 1864 ge-
                                               gen in Zusammenhang?                              gründete KV-Verbindung Walhalla. Solche
                                                                                                 germanischen Namen sind damals allerdings
                                               ! Die ältesten Verbindungsnamen sind              noch nicht dominant.
                                               landsmannschaftlich geprägte Namen wie
         Foto: imago images/Thomas Eisenhuth

                                               Rhenania und Bavaria. Sie gehen auf die           ? Wie geht es dann weiter?
                                               Landsmannschaften und Corps zurück. Die
                                               Namen germanischer Stämme erscheinen als          ! Im CV folgt dann Burgundia Leipzig, heu-
                                               Folge der nationalen Bewegung. Bereits ab         te Düsseldorf (1879). Man muss solche „ger-
                                               1815 kann man diesen Vorgang, nicht zuletzt       manischen“ Bezüge wohl im Zusammen-
                                               in der burschenschaftlichen Bewegung, be-         hang der Tatsache sehen, dass Katholiken im
                                               obachten.                                         Kulturkampf so beweisen wollen, dass sie

                                                                                                                         ACADEMIA 4/2020 23
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Wer ging uns voraus?
                                                         Beweisen,
  „gute Deutsche“ sind. So lässt sich erklären,
  dass man bei Namensgebungen im Rahmen
                                                          dass wir                                                gründung und fächert
                                                                                                                  sich pluralistisch auf.
  der eigenen Tradition auf Vorbilder aus ei-
  nem anderen Kontext zurückgreift. Diese
  Tendenz manifestiert sich auch in Couleur-
                                                     gute Deutsche                                                Damals aber müssen die
                                                                                                                  einzelnen Verbindungen
                                                                                                                  durch die Universitäten
  karten und Couleurliedern.

  ? Aha, also ein Parallelstrang neben dem
                                                              sind                                                genehmigt werden. Die-
                                                                                                                  se kontrollieren die
                                                                                                                  Maßgabe, dass es Na-
  Katholizitätsprinzip?                                                                                           men und Farben nur je-
                                                  diesem Kontext ist auch die Annahme des     weils einmal geben darf. Je mehr Verbindun-
  ! Ja, die katholischen Verbindungen sind        Prinzips Patria durch den CV im Jahr 1907   gen es an einem Hochschulort gibt, desto
  eben katholische Selbsthilfeorganisationen,     zu sehen.                                   erfindungsreicher muss man daher bei der
  die im entstehenden Nationalstaat um                                                        Wahl sein. Und das wiederum führt dazu,
  Gleichberechtigung und Anerkennung rin-         ? Aber eigentlich bestand doch keine Not,   dass immer mehr völkerwanderungszeitliche
  gen. Dabei lässt es sich bis zum Ersten Welt-   sich derart germanophil zu positionieren.   Namen „ausgegraben“ werden. Das geht so
  krieg beobachten, dass die katholischen Ver-                                                weit, dass auch sarmatische Namen wie Ala-
  bindungen in den kleindeutsch-preußischen       ! Eines kommt hinzu: Das Verbindungswe-     nia oder keltische wie Vindelicia angenom-
  Nationalstaat sozusagen hineinwachsen. In       sen insgesamt expandiert seit der Reichs-   men werden. In anderen Verbänden, auch bei

                                                                                                         Foto: imago images/imagebroker
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Wer ging uns voraus?

den Burschenschaften, gibt es zudem slawi-          zungsprozesse und weiteres ausdrückt. Was          die Germanen als Identifikationsfigur für
sche Namen wie Obotritia oder Redaria, die          hat dies aber inhaltlich mit dem zu tun, was       Deutsche entdeckt. Das rührt aus der Mittel-
sich auf elbslawische Stämme beziehen. Es           wir heute über die Germanen wissen? Wie se-        alterromantik her, wobei der Fokus auf die
ist bemerkenswert, dass hier nicht-germani-         riös waren die Kenntnisse damals, im Lichte        spätantiken und frühmittelalterlichen Volks-
sche Namen historistisch in einen letztlich         heutiger Erkenntnisse, über die Germanen?          stämme gelegt wurde. Es ist ein idealisiertes
„nationalen“ Kontext eingebunden werden.                                                               Germanenbild, das mit der historischen Wirk-
                                                    ! Was damals von den Germanen gewusst              lichkeit nicht viel zu tun hat. Es knüpft an die
? Namen annehmen ist ein symbolisches               wurde und was wir heute wissen, unterscheidet      Rezeption der „Germania“ des römischen His-
Handeln, das Annäherungsprozesse,Abgren-            sich grundlegend. Im 19. Jahrhundert werden        torikers Tacitus (ca. 58-120 n.Chr.) an. Diese
                                                                                                       ethnographische Schrift war im 15. Jahrhun-
                                                                                                       dert wiederentdeckt worden. Schon im 16.
1 Tacitus schrieb die „Germania“. Das ethnographische Werk prägte später das Bild der Deutschen.       Jahrhundert wurden von deutschen Humanis-
2 Johann Gottfried Herder (1744-1803) meinte, dass Nationen organisch wie aus einer Wurzel wachsen.    ten Traditionslinien zwischen den Germanen
3 Franz Bopp (1791-1867) prägte den Begriff der indogermanischen Sprachen.
4 Heinrich Heine (1797-1856) nahm die Germanentümelei in Burschenschaften nicht ganz ernst.
                                                                                                       und „den Deutschen“ im Heiligen Römischen
5 Felix Dahn (1834-1912) schrieb Professoren-Romane, z.B. „Ein Kampf um Rom“.                          Reich gezogen. Das ist also keine Erfindung
6 Richard Wagner (1813-1883) inszenierte sich dürerisch-mittelalterlich. Von den vorgeblichen          des 19. Jahrhunderts. Aber die Romantik för-
  Germanen und ihren Mythen nahm er reichlich Stoff für seine (sprachlich viel stabreimenden) Werke.   derte dies seit dem späten 18. Jahrhundert
                                                                                                       ganz maßgeblich.          (Fortsetzung Seite 26 )
                     / tock&people

                                                                                                                  Foto: imago images/imagebroker
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                                                                                                                                                        Foto: imago images/Panthermedia

                                                                                                                                                       ACADEMIA 4/2020 25
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Wer ging uns voraus?

         Der           ? Solche gelehrten Zusammenhänge hat-
                       ten diese deutliche Auswirkung?
                                                                       schen Germanenkult Berücksichtigung fin-
                                                                       det – als Teil einer romantisch-historistischen
                                                                       Weltwahrnehmung, wie sie sich im 19. Jahr-

     Arianer           ! Was wir nicht vergessen dürfen: das Werk
                       Richard Wagners (1813-1883). Wagner hat
                       mit seinen Opern, vor allem mit dem „Ring
                                                                       hundert herausgebildet hat.

                                                                       ? Wie können wir eine solche romantisch-

  als katho-           des Nibelungen“, und den Bayreuther Fest-
                       spielen eine Tradition begründet, wie „die
                       Germanen“ (angeblich) aussahen. Der typi-
                                                                       historistische Welt bewerten?

                                                                       ! Zunächst einmal: Es gibt Vergleichbares

     lischer           sche „Theater-Germane“ mit dem Flügel-
                       helm ist eine historistische Erfindung, die
                       gleichwohl damals für historisch gehalten
                                                                       auch in anderen Ländern. In Frankreich
                                                                       spielt bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die
                                                                       Tradition eine herausragende Rolle, wonach

    Held der           wurde. Auf dem Umweg über die Wagner-
                       Opern, aber auch über „Professoren-Roma-
                       ne“ wie „Ein Kampf um Rom“ von Felix
                                                                       die Franzosen von den Franken abstammen
                                                                       und sie die Erben der historischen Franken
                                                                       seien. Im 19. Jahrhundert ändert sich dies.

      Gothia           Dahn (1834-1912) hat sich die Vorstellung ei-
                       ner idealisierten germanischen Vorzeit im
                       Bürgertum verbreitet. Und davon blieb auch
                                                                       Nun werden die keltischen Gallier als iden-
                                                                       titätsstiftende Ahnherren „entdeckt“. Napo-
                                                                       léon III. (regiert 1848/52 bis 1870) fördert
                       der Katholizismus nicht unberührt, weil das     den Vercingetorix-Kult. In Alise-Sainte-Rei-
                       katholische Bürgertum aufstiegsorientiert       ne, wo man Alesia vermutete, den Ort, wo
                       war.                                            Vercingetorix 52 v. Chr. von Caesar besiegt
                                                                       wurde, errichtete man ein entsprechendes
                       ? Die Verbindungen hatten aber, ander-          Denkmal. Bei den Engländern übernehmen
                       seits, keine Berührungsängste mit sprach-       die Angelsachsen und der keltisch-anglonor-
                       lichen Gallikanismen oder Französismen,         mannische Artus-Sagenkreis diese Funktion.
                       wenigstens was zentrale couleurstudenti-        Ähnliches gab es auch in Spanien, wo sich
                       sche Begriffe angeht. Auch das Latein, wel-     die christlichen Kleinkönigreiche im Mittel-
                       ches den sprachlichen Urgrund der Ro-           alter als Erben der Westgoten inszenierten.
                       mania, der romanischen Sprachenwelt und         Im altspanischen Adel spielte diese Goten-
                       große Teile ihrer Kultur bildet, war ja wohl-   Tradition bis in die Neuzeit eine Rolle und
                       gelitten. All das hat im Couleurstudenten-      wurde v.a. vom entstehenden kastilisch-spa-
                       tum überlebt und wurde sogar weiterge-          nischen Nationalismus aufgegriffen. Typisch
                       führt. Es ist auf uns überkommen. Wie passt     für all diese Versuche, und somit nicht nur
                       das mit einem gewissen Germanenfimmel           typisch deutsch, ist es, die eigene nationale
                       zusammen?                                       Tradition sehr weit zurück zu verlängern, um
                                                                       den in Wahrheit jungen Nationalstaaten
                       ! Das Kneiplatein, um es konkret anzuspre-      durch die Behauptung einer ungebrochenen
                       chen, war prägend, weil es an das Lateinische   Kontinuität historische Tiefe zu geben. Im
                       als Sprache der Gebildeten anknüpfte. Die       deutschen Nationalismus ist dies aufs engste
                       lateinische Universitätssprache gab es bis      mit dem Germanenkult verknüpft.
                       weit in das 20. Jahrhundert hinein. Promo-
                       tionen mussten noch lange grundsätzlich ins     ? Die Nation diente nicht zuletzt dazu, um
                       Lateinische übersetzt werden. Daher rührt       den noch kleinteiligeren Partikularismus
                       auch die Latinisierung der (germanischen)       der deutschen Einzelstaaten zu überwin-
                       Verbindungsnamen: Burgundia, Langobar-          den. Warum dann aber beim „nation buil-
                       dia oder Nibelungia. Man hätte sich natürlich   ding“ die häufige Bezugnahme auf Stäm-
                       auch gemäß der deutschen Norm benennen          me?
                       können. Das geschieht erst im Laufe des 20.
                       Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert ist das La-    ! Das ist schon richtig. Allerdings gibt es
                       teinische noch derart dominant, dass dieses     zwei Konzepte von Nation: Einerseits die
                       Merkmal selbst im verbindungsstudenti-          Nation als Willensgemeinschaft. Sie betrifft

  26 4/2020 ACADEMIA
Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?
Wer ging uns voraus?

                                                                                     vor allem die französische Sphäre. Ernest
                                                                                     Renan (1832-1892) sagte dazu 1882, die
                                                                                     Existenz einer Nation sei ein tägliches Ple-
                                                                                     biszit. Andererseits die Nation als Abstam-
                                                                                     mungsgemeinschaft. Diese Vorstellung fin-
                                                                                     den wir v.a. bei Völkern, die im 19.
                                                                                     Jahrhundert noch keinen eigenen Staat hat-
                                                                                     ten, etwa bei uns in Deutschland, aber auch
                                                                                     im slawischen Ostmitteleuropa. Sie geht
                                                                                     nicht zuletzt auf Johann Gottfried Herders
                                                                                     (1744-1803) Vorstellung von den Völkern als
                                                                                     „Gedanken Gottes“ zurück. Das hat eine
                                                                                     weitreichende geistesgeschichtliche Traditi-
                                                                                     on begründet, die in Überresten bis in die
                                                                                     Gegenwart reicht. Demnach entwickeln sich
                                                                                     Nationen gleichsam wie Pflanzen organisch
                                                                                     aus einer Wurzel. Man kann solche Vorstel-
                                                                                     lungen einer „objektiven“ Nationszugehö-
                                                                                     rigkeit ethnozentrisch oder rassistisch-biolo-
                                                                                     gistisch aufladen, wobei Herder dies
                                                                                     natürlich nicht im Sinne hatte. Die Vorstel-
                                                                                     lung, dass Völker etwas historisch Gewach-
                                                                                     senes im Sinne uralter Abstammungsge-
                                                                                     meinschaften sind, entsteht im späten 18.
                                                                                     Jahrhundert und prägt seit dem 19. Jahrhun-
                                                                                     dert viele Nationalismen.

                                                                                     ? Was heißt das aber konkret für unsere
                                                                                     Germanen?

                                                                                     ! Die germanischen Völker waren in dieser
                                                                                     Perspektive Teil eines einheitlich gedachten
                                                                                     germanischen Gesamtvolkes. Und mit der
                                                                                     Vielfalt der germanischen Völker wurde im
                                                                                     19. Jahrhundert die Tradition des deutschen
                                                                                     Föderalismus parallel gesetzt. Die Vorstel-
Fotos: oben+unten imago images/Steffen Schellhorn; Mitte imago images/stock&people

                                                                                     lung von den deutschen Stämmen ist noch in
                                                                                                               (Fortsetzung Seite 30 )

                                                                                       Beilagen zum Grab eines Germanen um
                                                                                       Christi Geburt (oben), gefunden in Allstedt in
                                                                                       Sachsen-Anhalt.

                                                                                       Germanenschmuck, der bei einer
                                                                                       Ausgrabung in Kleingräfendorf (ebenfalls
                                                                                       Sachsen-Anhalt) ans Tageslicht kam.

                                                                                       Germanisch-römische Fibel, 1. Jahrhundert,
                                                                                       aus Pfriemsdorf im Landkreis Anhalt-
                                                                                       Bitterfeld.

                                                                                                               ACADEMIA 4/2020 27
Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?
Wer ging uns voraus?

                                                   1 Germanen im Wald bei der rituellen Opferung - so das Geschichtsbild um 1910, als das Bild entstand.
                                                   2 Kämpfer der Germanen bei der Schlacht auf den Katalaunischen Gefielden im Jahre 451.
                                                   3 So stellte man sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein germanisches Zechgelage vor.
                                                   4 Hermann der Cherusker hört auf die Weissagungen einer Seherin.
                                                   5 Und hier hält sich der flügelbehelmte Hermann bei den Priestern und Druiden auf.

                                                     1                                                                      2

  die Verfassung der Weimarer Republik ein-        der Germanen“ in elf Bänden heraus. Damit            tichis ein Gefangener gebracht. In ihm er-
  gegangen, wo in der Präambel die Rede ist        prägte er die Vorstellung von einem germa-           kennt Hildebrand seinen Enkel. Er ist der
  vom deutschen Volk, das einig in seinen          nischen Volk, dessen unterschiedliche Aus-           Sohn seines früh verstorbenen Sohnes, der
  (deutschen) Stämmen sei. Die Germanen            prägungen er beschreibt.                             eine Römerin geheiratet hatte. Diese habe ih-
  stellte man sich als ein ursprünglich einheit-                                                        ren Sohn zu einem Römer erzogen. Das be-
  liches Volk vor, das aber (leider) in unter-     ? Die Begriffe Germanien oder Germanen               greift Hildebrand im Roman als Verrat am
  schiedliche Völkerschaften zerfallen sei. In     sind Konstrukte, die so nie existiert haben?         Volk der Goten, und er lässt seinen eigenen
  dieser Perspektive waren alle germanischen                                                            Enkel töten. Die Begründung ist bezeich-
  Völker Vorfahren der Deutschen. Diese his-       ! Ja. Aus heutiger Perspektive ist die Ger-          nend und, mit unserem Wissen um die natio-
  toristische Parallelisierung machte es mög-      manen-Vorstellung des 19. Jahrhunderts ein           nalistischen Exzesse in der Geschichte des
  lich, den Germanenkult für das Projekt           ahistorisches Konstrukt. Die Historiker, die         20. Jahrhunderts, geradezu beklemmend:
  „Deutsches Reich“ im Sinne eines nationa-        sich mit den „Germanen“ beschäftigen, ha-            Hildebrand sagt nämlich, dass Volksverräter
  listischen Imperialismus zu instrumentalisie-    ben sich heute von diesen Konstruktionen             hingerichtet werden müssten. Dahinter steht
  ren. Aufgabe sei es, die Nation zu einen und     weitgehend verabschiedet: Es gab schlicht-           die Auffassung Dahns, die Goten seien eine
  damit das zu tun, was in Spätantike und Mit-     weg kein „germanisches Volk“ und die Völ-            „objektive“ ethnische Gemeinschaft gewe-
  telalter nicht gelungen sei.                     kerschaften, die wir als Burgunder oder Lan-         sen. Das ist historisch falsch. Dahn hat hier
                                                   gobarden, West- oder Ostgoten bezeichnen,            die Logik des ethnisch fundierten Nationa-
  ? Und das haben alle so gesehen?                 waren in der Regel auch keine „ethnischen“           lismus seiner Zeit auf die Spätantike über-
                                                   Gemeinschaften, sondern durchaus hetero-             tragen.
  ! Naja, das konnte man natürlich auch ganz       gene Kampf- und Kultgemeinschaften, die
  anders sehen. So polemisierte bereits Hein-      immer wieder neue Gruppen aufnahmen.                 ? Was ist das eigentlich, eine Ethnie?
  rich Heine (1797-1856), obwohl selbst zeit-      Unser heutiger Volksbegriff ist auf solche
  weise Bonner Burschenschafter, gegen die         Großgruppen nur schwer oder gar nicht an-            ! Die Vorstellung aus der Romantik ist, dass
  Germanentümelei der frühen Burschen-             wendbar.                                             Völker ähnlich wie Familien strukturiert
  schaften. Dennoch hat sich die referierte do-                                                         sind, dass sie auf Blutsverwandtschaft und
  minante Sichtweise klar durchgesetzt. Auch       ? Wie wirkte sich die anachronistische               damit auf einer gemeinsamen Abstammung
  die Forschung an den Universitäten war da-       Sichtweise des 19. Jahrhunderts aus?                 beruhen. Volks- und Staatsnationen seien in-
  mals stark davon beeinflusst. Ein Mann wie                                                            sofern im Wesentlichen Abstammungsge-
  Felix Dahn, der nicht nur Romane, sondern        ! Bei Felix Dahn gibt es in dem Roman „Ein           meinschaften. Die moderne Migrationsfor-
  als historisch arbeitender Jurist auch wissen-   Kampf um Rom“ eine bezeichnende Szene:               schung hat nun gezeigt, dass man sich in
  schaftliche Werke verfasste, brachte zwi-        Dem alten Hildebrand wird im Zuge der                großen Teilen Europas von der Vorstellung
  schen 1861 und 1909 das Werk „Die Könige         Kämpfe gegen die Oströmer unter König Wi-            verabschieden muss, dass es so etwas wie ei-

  30 4/2020 ACADEMIA
Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?
Wer ging uns voraus?

                     3                                                                4   5
                                                                                                                       Fotos: imago images/United Archives

ne echte Abstammungsgemeinschaft wirk-          ineins. Beides sind Begriffe für Volk. Ethnos   tisch die Verwandtschaft von Sprachen in
lich gibt. Insofern sprechen wir zwar von ei-   ist, in der Perspektive der alten Griechen,     Eurasien. Ein Großteil der europäischen so-
nem ethnisch fundierten Nationalismus als       eine Form von Sprachgemeinschaft (in Ab-        wie einige asiatische Sprachen sind in der
historisches Phänomen. Aber heute hat sich      grenzung zu den „Barbaren“), während de-        Tat miteinander verwandt. Bopp hat, typisch
mehrheitlich die Überzeugung durchgesetzt,      mos die Bürger einer politischen Gemein-        für das 19. Jahrhundert, versucht, eine Art
dass jener ein Kon-                                                    schaft sind. Deshalb     Ursprache zu rekonstruieren, die er als indo-
strukt ist. Warum sind                                                 sprechen wird von        germanisch bezeichnet hat. Damit versinn-
z.B. die Österreicher
heute eine eigene
                          Falsch ist der                               Demokratie und nicht
                                                                       von Ethnokratie. Bür-
                                                                                                bildlichte er deren maximale geographische
                                                                                                Ausdehnung von Indien bis zu den germani-
Nation? Weil sie eine
eigene Nation sein
                         Theater-Germane                               gerrechte korrelierten
                                                                       nicht notwendiger-
                                                                                                schen Sprachen. Damit einher ging ur-
                                                                                                sprünglich auch die Vorstellung von einer Art
wollen. Im 19. Jahr-
hundert postulierten
                             mit dem                                   weise mit gemeinsa-
                                                                       mer Sprache oder Ab-
                                                                                                indogermanischem Urvolk mit einer ge-
                                                                                                meinsamen Sprache. Aus dieser hätten sich
Nationalisten: Alle,
die Deutsch spre-          Flügelhelm                                  stammung. Ein Blick
                                                                       auf die Römer zeigt,
                                                                                                die meisten Sprachen Europas und auch vie-
                                                                                                le asiatische Sprachen entwickelt, etwa die
chen und germani-                                                      dass das römische        germanischen und romanischen, aber z.B.
scher Abstammung sind, sind Deutsche. Die       Bürgerrecht allen möglichen Menschen            auch die indoiranischen Sprachen und das
Ineinssetzung von (fiktiver) Abstammung,        verliehen wurde. Der heilige Paulus z.B. war    Armenische.
Sprache und Nation, die es in Deutschland,      Jude und Römer.
aber auch anderen Völkern gibt, kann man                                                        ? Gerade das Konzept, dass nationale und
heute nicht mehr ernsthaft vertreten.           ? Wie kann es aber sein, dass Sprachen un-      sprachliche Einheit zusammengehören,
                                                tereinander, auch wenn sie variieren, er-       wurde aber von der nationalen Großgruppe
? Was aber ist eine Ethnie genau im Ge-         hebliche Verwandtschaftsgrade aufweisen?        aufgebracht oder doch massiv gefördert, die
gensatz zum Volk? Eine Form von Gesell-         Es wurde rekonstruiert, dass, wenn diese        nicht auf die Nation als Abstammungsge-
schaft, in der Menschen irgendwie zusam-        Sprachen verwandt sind, dann die Men-           meinschaft setzt: von Frankreich.
menleben und bestimmte Bräuche                  schen, die nun relativ unterschiedliche
entwickeln?                                     Sprachen sprechen, oder zumindest deren         ! Das war eine etwas andere Entwicklung:
                                                Vorfahren irgendwann doch miteinander           Die Entstehung der modernen französischen
! Der Begriff ethnos stammt aus dem Grie-       zu tun gehabt haben müssen.                     Nation ist im Zusammenhang mit dem
chischen. Schon die Griechen unterscheiden                                                      Machtgewinn der französischen Krone seit
aber zwischen ethnos und demos. Das 19.         ! Der Sprachwissenschaftler Franz Bopp          dem 13. Jahrhundert zu sehen. Dass es den
Jahrhundert setzt ethnos und demos stark        (1791-1867) erforschte erstmals systema-        Kapetingern gelingt, große Teile des damali-

                                                                                                                       ACADEMIA 4/2020 31
Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?
Wer ging uns voraus?

   Die Statue des gallischen Vercingétorix (be-
   kannt u.a. aus „Asterix und Obelix“) im bur-
   gundischen Alise-Ste-Marie. Was für das
   Deutsche Reich die Germanen, waren für
   Frankreich lange die keltischen Gallier:
   eine Geschichtskonstruktion mit Zielen.

  gen Frankreich unter die unmittelbare Herr-
  schaft der Krone zu bringen, führt dazu, dass
  sich die Sprache der Île de France in der glei-
  chen Weise ausbreitet. Dadurch werden re-
  gionale sprachliche Unterschiede eingeeb-
  net. Die Katharer-Kriege können zwar als
  Religionskriege gedeutet werden, aber sie
  waren auch ein Instrument, um den wider-
  spenstigen süd- und westfranzösischen Adel
  zu unterwerfen. Andere romanische Spra-
  chen wie das Okzitanische starben zwar
  nicht aus, aber sie sanken, obwohl z.B. das
  Provenzalische im Hochmittelalter eine Li-
  teratursprache gewesen war, faktisch zu Dia-
  lekten herab, ähnlich dem Niederdeutschen
  bei uns. Diese Homogenisierungstendenzen
  beginnen bereits im Mittelalter. Dass sich
  Frankreich spätestens unter Ludwig XIV. als
  ein einheitlicher Staat mit einer einheitlichen
  Sprache versteht, ist im Grunde ein Vorgang,
  der durch politische Integration entstanden
  ist und diese wiederum verstärkt hat. Sprach-
  liche Minderheiten wie Bretonen, Basken,
  Katalanen, Flamen, Okzitanier oder Elsässer
  wurden zur Anpassung gezwungen. Deshalb
  konnte sich in Frankreich früh eine Vorstel-
  lung von Einheit der Nation herausbilden,
  obwohl diese zunächst gar nicht derart ein-
  heitlich war.

  ? Und man musste, nachdem der Prozess
  weit fortgeschritten war, nicht mehr auf das
  Konzept der Abstammung zurückgreifen.

  ! Ja, die Vorstellung von einer gemeinsamen
  Abstammung war gegenüber der bereits er-
  reichten staatlichen Einheit sekundär. Es gab
                                                    Foto: imago images/UIG

  sie zwar, aber das war nie so dominant wie in
  Deutschland, weil viel eher klar war, wer
  Franzose ist. In Deutschland dagegen war
  das schwieriger. Auch das französische Mo-

  32 4/2020 ACADEMIA
Verbindung germanisch - Wer ging uns voraus?
Wer ging uns voraus?

dell ist allerdings nicht ohne Probleme: Das     „staatlicher“ Einheit. Das ist das Erbe des
Ius soli – Franzose ist, wer in Frankreich ge-   christlichen Mittelalters. Es stellt sich aber –
boren ist – macht Einbürgerung relativ ein-      bis heute – immer wieder die Frage: Was hält
fach. Dennoch ist das heutige Frankreich         staatliche Gemeinschaft im Kern zusam-
vermutlich heterogener als Deutschland,          men? Im 19. Jahrhundert wird diese Frage in
auch wegen der Einwanderung aus den frü-         Deutschland mehrheitlich dahingehend be-
heren Kolonien. Für unsere Frage ist wichtig:    antwortet, dass wir eine Abstammungsge-
In Frankreich, partiell auch in England und      meinschaft sind und alle eine Sprache spre-
Spanien gab es vormoderne Formen von In-         chen. Deshalb sind wir eine Nation. Diese
tegration, die dazu führten, dass die Frage      Vorstellung wird mit den Mitteln von Schul-
der Zugehörigkeit nicht so kontrovers disku-
tiert zu werden brauchte wie in Deutschland,
                                                 pflicht und Wehrpflicht durchgesetzt. Eine
                                                 wirklich einheitliche sprachliche Norm des
                                                                                                    Französisch:
wo viel weniger Klarheit herrscht. Nehmen
wir Bayern: Es gibt im 19. Jahrhundert auch
                                                 Hochdeutschen entsteht übrigens erst im 19.
                                                 Jahrhundert. Das hat enorme Integrationsef-        ursprünglich
die Vorstellung einer bayerischen Staatsnati-    fekte. Es gibt aber auch Ausgrenzungsbestre-
on, die sich zwar nicht als getrennt von der     bungen, etwa gegenüber Juden oder nationa-         gar nicht so
deutschen Kulturnation begreift (König Lud-      len Minderheiten, die von Nationalisten als
wig I. sagte: „Wir wollen Deutsche sein und      Fremde bzw. Feinde angesehen werden.               romanisch
Bayern bleiben“), für die aber Deutschland
immer nur als ein Staatenbund vorstellbar
war.

? Deshalb gibt es in München ein Natio-
nalmuseum – mit Bezug zur Ideen einer
bayerischen Nation.

! Ja, und deshalb gibt es in München auch
ein entsprechendes Nationaltheater. Bezugs-
punkt war ursprünglich tatsächlich eine
bayerische Nation. Das gibt es in anderen
Bundesländern nicht, abgesehen vielleicht
von Sachsen. Aber man kann solche Ge-
schichtsbilder natürlich hinterfragen: etwa

                                                                                                                                                       Foto: imago images/Danita Delimont
die Vorstellung von einer mehr als tausend-
jährigen bayerischen Geschichte, wie sie die
Präambel der Bayerischen Verfassung von
1946 beschwört und die implizit Franken
und Schwaben einbezieht. Das ist eine ge-
schichtspolitische Konstruktion, die auf
Ludwig I. zurückgeht und die postulierte,
dass die Geschichte der Franken, Schwaben
und Pfälzer, die als „Stämme“ begriffen wur-     ? Es gibt das Neuhochdeutsche, das Mit-
den, gleichsam in die staatsbayerische Ge-       telhochdeutsche und das Althochdeutsche.
                                                                                                    Die Kathedrale im südfranzösischen Albi wirkt
schichte einmündet.                              Was lässt sich aus den damit einhergehen-          wie eine Festung. Es heißt, dies sei Ausdruck
                                                 den (auch linguistischen) Kategorisierun-          der Haltung der Kirche in den Albigenser-
? Gibt es eigentlich die Möglichkeit, Ge-        gen zur Beantwortung der Frage schließen,          kriegen (1209-1229). Tatsächlich waren sie nicht
schichte ohne solche Konstruktivismen zu         was die Germanen einmal waren, wie wir             nur Religionskriege, sondern die französische
denken?                                          sie verstehen können? Einfach gesagt: Was          Krone wollte die Adligen dieser Region unter-
                                                                                                    werfen - zur Festigung des Staates.
                                                 war vor dem Althochdeutschen?
! Das kommt darauf an: Staatlichkeit im
Sinne einer res publica geht davon aus, dass     ! Was wir heute als Althochdeutsch be -
Menschen miteinander in Gemeinschaft le-         zeichnen, ist auch eine Konstruktion. Es
ben und gewisse gemeinsame Ziele verfol-         gab althochdeutsche Dialekte. Eine einheit-
gen. Dann wäre die Frage, was die Grundla-       liche Schriftsprache oder eine auch nur ge-
ge eines solchen Zusammenlebens ist. Das         sprochene einheitliche Sprache hat es sehr
kann alles Mögliche sein. In dem, was wir        vermutlich nicht gegeben. Wenn Germa-
als „mittelalterlichen Staat“ bezeichnen,        nisten das Hildebrandslied (9. Jahrhundert)
spielt etwa Religion eine sehr wesentliche       oder die Straßburger Eide (842) analysie-
Rolle. Bis ins 17. Jahrhundert war religiöse     ren, können sie dialektale Besonderheiten
Einheit ein ganz wichtiger Ausdruck von          herausarbeiten.        (Fortsetzung Seite 35 )

                                                                                                                             ACADEMIA 4/2020 33
Wer ging uns voraus?

   Inszenierung
   der „Walküre“
   2001 in der
   Deutschen Oper
   Berlin durch
   Goetz Friedrich.
   Die Oper gehört
   zu Richard
   Wagners
   „Ring des
   Nibelungen“.
   Unten: Der
   „Siegfried“
   in einer Insze-
   nierung an der
   Bayerischen
   Staatsoper
   München 2012.

                       Fotos: imago images/stock&people

  34 4/2020 ACADEMIA
Wer ging uns voraus?

Was davor war, ist nur bruchstückhaft bekannt.
Wir haben Sprachdenkmäler des Gotischen
in der (W)Ulfila-Bibel (4. Jahrhundert). Wie
                                                  Parallel
Theoderich der Große (451/56-526) sprach,
wissen wir nicht genau. Die germanischen
Völker verschriftlichten ihre Rechtssysteme
bezeichnenderweise auf Latein. Für Begriff-
                                                  zur
lichkeiten, die es im Lateinischen nicht gibt,
wurden germanische Wörter eingesetzt. Auf
solchen Textsplittern beruhen weitgehend
                                                  deutschen
unsere Kenntnisse spätantiker und frühmittel-
alterlicher germanischer Sprachen. Gebildete
Germanen schrieben auf Latein. Paulus Dia-
                                                  Tradition
conus (725/30 bis ca. 800), ein langobardi-
scher Geschichtsschreiber und Mönch, ver-
fasste seine Geschichte der Langobarden in
                                                  föderaler
lateinischer Sprache, obwohl er wahrschein-
lich des Langobardischen noch mächtig war.        Einzelstaaten
? Wie können wir uns diese Konkurrenz
von Sprachen in etwa vorstellen?
                                                  dann deutsche Namen angesagt: Kaiser-                              Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im
! Als die germanischen Völker allmählich          pfalz, Trifels, Elbmark, Greiffenstein... Nach                     Kampf gegen die Hunnen fiel. Merkwürdig
katholisch wurden, haben sie sich mit den         dem Zweiten Weltkrieg gibt es keine eindeu-                        ist dabei aber: Die Westgoten waren wie die
Romanen vermischt. Damit haben sie auch           tige Tendenz mehr.                                                 meisten spätantiken Germanenvölker antitri-
deren Kultur und Sprache(n) angenommen.                                                                              nitarische Arianer oder, wie man eigentlich
Wir wissen, dass am Hofe Theoderichs des          ? Wie denkst Du über Umbenennungen?                                korrekt sagen müsste, Homöer. Trotzdem be-
Großen noch Ostgotisch gesprochen wurde.                                                                             singt unser Bundeslied den einer häretischen
Allerdings sprachen die gebildeten Goten,         ! Wir müssen uns bewusst sein, dass die an-                        Strömung des Christentums angehörenden
auch der König selbst, mit den italischen Un-     gebliche Germanentradition ein Konstrukt                           Westgotenkönig als Vorkämpfer des Chris-
tertanen und den senatorischen Führungseli-       ist. Deshalb sollten Verbindungen aber nicht                       tentums, wobei hier eindeutig der Katholi-
ten natürlich Latein, und Latein war auch die     ihre Namen ändern müssen. Man sollte den                           zismus gemeint ist.
Amtssprache im Reich der Ostgoten. Man            historischen Hintergrund kennen und das
nimmt an, dass später die Langobarden unter       Ganze auch nicht so bierernst nehmen.                              ? Was folgt daraus?
sich noch Langobardisch sprachen. In ande-
ren sozialen Kontexten sank dieses aber zu        ? Bitte?                                                           ! Daran lässt sich sehr schön ersehen, wie
einer Art Soziolekt herab. In einer romani-                                                                          man im späten 19. Jahrhundert in der Lage
schen Umgebung wurden die germanischen            ! Ein Beispiel aus meiner eigenen Verbin-                          war, bestimmte Widersprüche auszublenden.
Sprachen zunehmend nicht mehr benötigt,           dung Gothia Würzburg: Warum heißen wir                             Aus Versatzstücken der historischen Wahr-
dies auch deshalb, weil das Lateinische für       eigentlich so? Das hat vermutlich mit dem                          heit wird ein Geschichtsbild konstruiert, das
eine überlegene Kulturtradition stand. In den     bereits erwähnten Roman Felix Dahns „Ein                           geeignet ist, die katholischen Ideale der Got-
mehrheitlich romanischen Reichsteilen des         Kampf um Rom“ zu tun. Das Buch war po-                             hia Würzburg zu symbolisieren, und das zu-
Frankenreichs – das, was heute Frankreich         pulär und die darin dargestellten Goten wur-                       dem auch noch gut hineinpasst in den histo-
ist – wurde das sogenannte Westfränkisch          den als heroisch empfunden. In unserem                             ristischen Zeitgeist. Die Hunnen sind hierbei
seit dem 9. Jahrhundert endgültig verdrängt,      Bundeslied geht es aber nun gerade nicht um                        natürlich die weltanschaulichen Gegner des
es hinterließ jedoch Spuren im Französi-          die Ostgoten, sondern um den Westgotenkö-                          Politischen Katholizismus. Diese kreative
schen.                                            nig Theoderich I., der 451 als Verbündeter                         Form von Eklektizismus ist für die Zeit des
                                                  des römischen Feldherrn Aëtius in der                              späten Kaiserreichs durchaus typisch.
? Was machen wir jetzt als CV und als CVer
mit „unseren“ Germanen? Welche Bedeu-
tung sollen sie heute für uns haben?
                                                                                       Der Autor: Prof. Dr. Matthias Stickler (GW) lehrt Neuere und Neueste
! Das alles ist in erster Linie eben ein histo-                                        Geschichte an der Universität Würzburg. Er forscht u.a. zur Universitäts-
risches Phänomen. Wenn Verbindungen heu-                                               und Studentengeschichte. Seit 2011 ist er Wissenschaftlicher Leiter des Insti-
te gegründet werden, sind germanische Na-                                              tuts für Hochschulkunde an der Universität Würzburg. Weitere Schwerpunkte
                                                  Foto: privat

men eher selten (lacht). Wir haben aber                                                seiner momentanen wissenschaftlichen Arbeit sind die Geschichte der
gesehen: Es gibt Konjunkturen, was die Na-                                             Habsburger mo narchie, vergleichende Genozidforschung und die Ge-
mensgebungen betrifft. Als „Norm“ enden                          schichte von Flucht und Vertreibung sowie der Vertriebenenintegration (siehe https://www.phil.
die germanischen Namen mit dem Ende des                          uni-wuerzburg.de/hochschulkunde).
Ersten Weltkriegs. In den 1920er-Jahren sind

                                                                                                                                               ACADEMIA 4/2020 35
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