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Verbindungen -gestaltete Zusammenhänge Bianca Bluhm 2020 01 Holzgestaltung Angewandte Kunst Schneeberg
BACHELOR-THESIS im Studiengang Gestaltung Studienrichtung Holzgestaltung / Möbel- & Produktdesign Thema: Verbindungen -gestaltete Zusammenhänge 01 vorgelegt von: Bianca Bluhm Seminargruppe: 162891 Matrikelnummer: 37497 eingereicht am: 31.08.2020 Angewandte Kunst Schneeberg Fakultät der Westsächsischen Hochschule Zwickau Eingangsvermerke / Vermerke Prüfende:
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung Seite 03 2. Verschiedene Verbindungen Seite 06 3. Verbindungen im Möbel- und Produktdesign Seite 12 und deren historische Entwicklung 4. Menschen, Dinge und Verbindungen Seite 31 6. Fazit Seite 35 02 7. Anhang Seite 37
1. Einleitung Hände Aussehen Nabelschnur Liebe Sicherheitsnadel Schwüre Arme Uniform Schnallen Griffe Saugnapf Züge Henkel Leim Berührungen Emotionen - Kabel Reißverschluss Handschellen Gravitation Knöpfe Treppen Trauer Kettenglieder Seile Gaffer Tape Schloss Karabinerhaken Soßenbinder 03 Nachname Geheimnisse Erlebnisse Gefühle Musik Grip Adhäsion Spinnweben Anziehungskraft Blicke Finger Schlüsselringe Erinnerungen Büroklammer Magnet Und Formschluss Schnürsenkel Klettverschluss Nähte Vertrauen Klebeband Knoten Herkunft Wir Netzwerke Familie Leine Sprache Community + Haken Brücken Klammer Sprachen Ziele Gummi Vereine Verschmelzung Gürtel Glaube Türen Team Bügel Schrauben Gene Gurte Gesten Addition Ideale Lasche Internet Nägel Satelliten Beziehungen Züge &
Die Entstehung unseres Universums war vor etwa 13,5 Milliarden Jahren. Rund 300 000 Jahre danach entstanden aus der Verbindung von Energie und Materie die Atome. Diese verbanden sich wiederum zu Molekülen und aus der Verbindung von Molekülen entstanden Organismen. Die Homo Sapiens sind eine Art dieser Organismen und sie begannen vor etwa 70 000 Jahren sich zu Kulturen und Gesellschaften zu verbinden.1 Ohne Verbindungen würde nichts existieren. Betrachtet man das heutige Leben und den Alltag der Menschen sind Verbindungen wichtig wie eh und je. Menschen sind miteinander verbunden durch Sprache, Gefühle oder durch erfundene Konstrukte, wie Staaten oder Religionen. Durch die Digitalisierung ist die ganze Weltbevölkerung verbunden. Das 04 Internet macht es möglich, dass Menschen jederzeit und von jedem Ort miteinander kommunizieren können. Das ‚World Wide Web‘ hat die Welt vernetzt. Die Kontinente und Länder sind verbunden durch Autobahnen, Wander- wege, Flug- und Zugstrecken. Ozeane wurden durch Kanäle verbunden. Über elektromagnetische Wellen und Raumflugkörper sind wir mit dem Weltall verbunden. _________________ 1 Vgl. Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit.34. Aufl., München 2013, S.11
Die Erde ist mit dem Mond verbunden und von ihm abhängig. Der Mond hat Einfluss auf die Laufbahn der Erde und wichtige Prozesse auf der Erde, wie zum Beispiel die Gezeiten. So sind wir Menschen mit den Dingen um uns herum verbunden. Dinge bestimmen unseren Alltag, unseren Tagesablauf. Wie der Erdtrabant sich verlässlich um die Erde dreht, sind wir von allen Dingen umgeben, die wir brauchen, um zu überleben, um uns zu unter- halten, um uns mit anderen zu verbinden. Diese Dinge bestehen wiederum aus Teilen und Verbindungen. In der folgenden Arbeit wird versucht einen Einblick in dieses Themen- feld mit Hauptaugenmerk auf Produkte und Möbel zu gewinnen. 05 _________________
2. Verschiedene Verbindungen Verbindungen sind so vielseitig, wie die Materialen und Objekte, die sie verbinden. Da es so viele unterschiedliche Arten von ihnen gibt, ist es schwer diese zu kategorisieren. Es gibt eine Menge verschiedener Einteilungen. So kann man generell zwischen dynamischen und starren Verbindungen unterschieden. Dabei versteht man unter dynamischen Verbindungen, bewegliche und leicht lösbare Verbindungen. Ein gutes Beispiel hierfür wäre eine Wäscheklammer oder ein Scharnier. Eine starre Verbindung wäre eine verleimte Holzverbindung oder zwei miteinander verschweißte Metallplatten. Eine andere, komplexere Kategorisierung gelang Studierenden einer 06 Masterklasse der ‚Ecole cantonale d‘art de Lausanne‘.1 Für die ‚U-JOINT‘ Ausstellung 2018 in Mailand erarbeiteten sie eine Übersicht, die ‚Taxonomy of Joints‘. Dabei handelt es sich um eine ca. 40 Meter lange Infografik, die Verbindungen in vier Kategorien auf- teilt. Auf diese Punkte wird nun im Folgenden näher eingegangen.2 FUSION KLEBEN MECHANISCHE VERBINDUNG HOLZVERBINDUNGEN _________________ 1 (24.08.2020, 16:59) 2 (24.08.2020, 16:46)
FUSION Bei einer Fusion werden Materialien verschmolzen, diese gehen eine Fusion ein. Die Fügeteile werden dabei zu einem unlösbaren Ganzen. Stoffschlüssige Verbindungen sind im Normalfall nicht einfach wieder lösbar. Nur durch Zerstörung können die Fügeteile wieder getrennt werden. Eine Fertigungstechnik dieser Art ist das Schweißen. Durch eine externe Hitzeerzeugung (Schmelzschweißen) oder durch Reibung und Druck (Pressschweißen) werden so metallische Bauteile miteinander verbunden.1 Im 3D Druck gibt es die Fertigungstechnik ‚Fused Deposition Modeling‘, auch Schmelzschichtungsverfahren genannt. Es ist ein ‚Rapid Prototyping‘ Verfahren bei dem mit schmelzfähigem Kunststoff gearbeitet wird. Dieser Kunststoff wird heiß und im flüssigen Aggregatzustand schichtweise aufgetragen, wobei ein massives 07 homogenes Objekt entsteht.2 Löten zählt, wie auch das Schweißen, zu den thermischen Fügetechni- ken. Beim Schmelzlöten wird ein Lot verflüssigt und somit entsteht die Verbindung. Eine weitere Technik ist das Diffusionslöten, wobei sich die Atome des Lotes und des festen Fügeteiles vermischen und so eine Legierungszone entsteht. Doch auch nicht metallische Werkstoffe können gelötet werden. Keramische und gläserne Teile können mit Metalllot oder einem Glaslot verbunden werden.3 _________________ 1 Vgl. Hans J. Fahrenwaldt, Volkmar Schuler: Praxiswissen Schweißtechnik: Werkstoffe, Prozesse, Fertigung., Wiesbaden 2011, S.1 2 Vgl. (24.08.2020,18:44) 3 Vgl. (wie Anm. 1), S. 114
KLEBEN Beim Verkleben geht es um das flächige Verbinden gleichartiger oder unterschiedlicher Werkstücke. Dafür wird eine meist artfremde Substanz verwendet, welche an den Klebeflächen aufgebracht wird. Bei Klebstoffen handelt es sich um Prozesswerkstoffe, welche sich während der Fertigung noch verändern, beispielsweise aushärten. Kleben ist die am meisten verbreitete Fügetechnik. In viele Fertigungs- abläufe kann das Kleben problemlos eingebaut werden, dies trifft sowohl auf Handwerksbetriebe, als auch auf die industrielle Produktion zu. Denn durch das Kleben können jegliche Materialien miteinander verbunden werden, beachtet man nur die geforderten Voraussetzungen der Materialien zum Kleben.1 08 _________________ 1 Vgl. Gerd Habenicht: Kleben - erfolgreich und fehlerfrei. Wiesbaden 2006, S. 1
MECHANISCHE VERBINDUNGEN Bei mechanischen Verbindungen handelt es sich um ein sehr diverses Feld von Fügetechniken. Diese Verbindungen werden durch Kraft- schluss, Formschluss oder Schwerkraft erzeugt. Außerdem kann man zwischen integrierten Verbindungen und Verbindungen, welche nur mit einer zusätzlichen Komponente funktionieren, unterscheiden. Kraftschlüssige Verbindungen: Die Fügeteile werden durch Haftreibung miteinander verbunden. Diese Kraft wirkt den Verschiebekräften entgegen, solange dies gewährleistet ist, handelt es sich um eine feste Verbindung. Lässt jedoch der Druck und somit die Haftreibung nach, kann sich die Verbindung lösen. Kraft- schlüssige Verbindungen kann man also häufig als dynamisch und flexibel bezeichnen. 09 Formschlüssige Verbindungen: Diese Verbindungen bestehen aus mindestens zwei ineinandergreifen- den Fügeteilen, sowie unter Umständen noch einem zusätzlichen Ver- bindungselement. Die Fügeteile können dafür vorgeformt sein oder sich bei Prozess umformen. Fällt hierbei der Druck ab, bleibt die Verbindung dennoch bestehen. _________________ 1 Vgl. (24.08.2020,18:55)
„Für manche ist eine Schraube das kleinste Pearl Screws, Möbelstück.“ 1 Soft Baroque, 2014 Anniina Koivu 10 _________________ 1 Anniina Koiva, U-JOINTS: DESIGNER MIT CONNECTIONS / von Stephan Burkoff, 23.04.2018 < https://www.baunetz-id.de/stories/u-joints- designer-mit-connections-18382695> (24.08.2020, 13:34)
HOLZVERBINDUNGEN Bei Holzverbindungen handelt es sich meist auch um formschlüssige Verbindungen. Es gibt je nach Einsatzbereich verschiedene Verbin- dungsarten. Im Tischlerhandwerk des europäischen Einflusses wird zwischen folgenden Verbindungen unterschieden: Zinkungen Überblattung Schlitz und Zapfen Federn und Dübel Außerdem gibt es Verbindungen aus dem Zimmereibereich, welche sich grob in folgende Kategorien einteilen lassen: Längsverbindungen (Blatt, Stoß) 11 Eckverbindungen (Zapfen, Zinkung, Gehrung, Blatt) Verkämmungen Querverbindungen (Zapfen) Schrägverbindungen (Versatz, Zapfen)1 Diese traditionellen Verbindungen kommen so oder in ähnlicher Bau- weise in allen Kulturen vor. Es gibt jedoch auch internationale Unter- schiede. In Japan zum Beispiel gilt ein ganz anderer Hauptaugenmerk auf die Holzverbindungen im Möbelbau. Diese sollen nach japanischer Tradition eher verdeckt sein, um das Erscheinungsbild schlicht und elegant zu halten. In Europa gelten offen gestaltete Holzverbindungen als Qualitätsmerkmal, denn sie zeigen die Handwerklichkeit und die Beschaffenheit des Materials.2 _________________ 1 (24.08.2020, 14:17) 2 Festool GmbH, Magazin Holzidee 10, 2010, S. 13
3. Verbindungen im Möbel- und Produktdesign und deren historische Entwicklung Bis zur industriellen Revolution zählten Möbelstücke und viele andere Produkte aus dem täglichen Gebrauch zum Kunsthandwerk. Handwer- kende fertigten jedes Stück einzeln. Faktoren, wie das Geschick, die Virtuosität, vorhandene Materialien und Maschinen beeinflussten die Fertigung, die Gestalt und auch den Wert eines jeden Gegenstandes. Je höher die Handwerklichkeit, desto höher der Wert. So war es natür- lich ein Ziel der Handwerkenden einen hohen Wert zu erzielen. In der Möbeltischlerei war das Maß für das Niveau der Verarbeitung lange Zeit die Verbindung der Konstruktionselemente. Es ging um die 12 perfekte Integrität, sowie um eine nahtlose Einheit der Verbindungen und der Oberflächen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die traditionelle Schwalbenschwanz- verbindung, welche zu den Zinkenverbindungen aus dem Tischlerhand- werk zählt. Bei sauberer Verarbeitung gehen die verbundenen Flächen nahtlos ineinander über und sind so auch nicht mehr lösbar.1 Mit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Design wie es heute bekannt ist. Nach einer langen Tradition des Kunsthandwerks wurde auf technische Innovation und auf die Industrie-angepasste-Gestaltung gesetzt. Durch maschinelle Produktion war eine günstige und schnelle Herstellung möglich. Immer gleiche Teile in standardisierten Arbeitsschritten führten zu industriellen Serienprodukten. Diese Produktionsweise führte jedoch auch zu einem Qualitätsverlust. _________________ 1 (24.08.2020, 16:56)
Die aus dem Kunsthandwerk gewohnte Dekoration wurde oft willkürlich und pseudohandwerklich auf die Objekte projiziert. Gewohnte historische und kunsthandwerkliche Stile waren den Kunden vertraut und die Massenindustrie wurde zunächst darauf zugeschnitten dies nachzuahmen. „[...][D]as erfolgreichste Möbel des 19. Jahrhunderts.“1 Der Stuhl Nr. 14 von Thonet – Le Corbusier feierte ihn als „Vorbild für anonyme und standardisierte Universalform.“2 Die schlichte Ästhetik und der günstige Preis machten den Stuhl weltbekannt. Die Revolution des Einrichtungsstils nahm seinen Lauf. Das Bugholz, welches unter heißem Dampf und extremer Kraft gebo- gen wurde, gab dem Stuhl seine unverwechselbare, geschwungene Form. Außerdem revolutionär war die Bauweise. Nur sechs Einzelteile 13 und sechs Schrauben sind nötig, um das Möbel zu montieren. Ist der Stuhl zusammengebaut sind die Schrauben nicht versteckt. Das hat den Grund, dass der Stuhl erst am Bestimmungsort von den neuen Be- sitzenden zusammengeschraubt und montiert werden sollte. Demnach ist es der einfachen Verbindung zu verdanken, dass es der Stuhl zur Weltberühmtheit geschafft hat, denn die Einzelteile konnten als ‚Flatpack‘ in alle Länder verschickt werden. In eine Seekiste passten 36 zerlegte Stühle, zusammen mit den jeweils sechs Schrauben. Bis heute wird dieses Prinzip bei den Stühlen der Firma Thonet verfolgt. Jede nicht versteckte Schraube ist als Verehrung des Entwurfs des Stuhl Nr. 14 von Michael Thonet aus dem Jahr 1859/1860 zu sehen.3 _________________ 1 Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 25 2 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 25 3 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm.2)
Stuhl Nr. 14 / Michael Thonet, 1859 14 _________________
In der gleichen Ära der Industrialisierung, nämlich im Jahr 1899, meldete der Norweger Johan Vaaler in Deutschland ein Patent an. Die Büroklammer – ein alltäglicher Konnektor aus 9,85 Zentimeter langem Draht mit einem Durchmesser von 0,8 Millimeter. Erfunden wurde die Klammer schon 32 Jahre zuvor in den USA. Genutzt wurde sie, um Kleidungsstücke mit Preisschildern zu verse- hen. Seit den 1890ern wird die Büroklammer, wie man sie heute kennt hergestellt, seitdem werden damit Dokumente sicher verbunden und zusammen gehalten. In den 1940er Jahren hatte die Büroklammer noch eine andere Funktion. Sie verband Menschen. Im Jahr 1940 wurde Norwegen von den Nazis besetzt. In dieser Zeit galt das Tragen einer Büroklammer am Kragen als ein Symbol des Widerstandes gegen die Fremdherrschaft. Für die norwegische Bevölkerung hieß es ‚Wir halten zusammen‘. 15 Zusammen gegen die Besatzung, für den norwegischen König und für die Solidarität untereinander. 1 Mit dem Fortschritt der Industrialisierung mehrte sich die Kritik, gerade auch in Deutschland, an der schlechten Qualität vieler Produkte. Des Weiteren wurden sozialpolitische Probleme angesprochen und die Arbeitsbedingungen in den Fabriken beleuchtet. In den kunsthandwerklichen Betrieben hielt der Jugendstil ein, eine kulturelle Erneuerung, welche vor allem ein Elitepublikum mit Unikaten bedienen sollte. Parallel schlossen sich Handwerkende zusammen, um die Situation in den Fabriken, aber auch die Erzeugnisse, zu verbessern. Aus den Zusammenschlüssen entwickelte sich eine Reformbewegung, welche die Werkstätten für Handwerkskunst in München und Dresden-Hellerau hervorbrachte. Daraus resultierend wurde die Kunst auf die Maschinen- produktion zugeschnitten.2 _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 31 2 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 33, 34
So entstanden beispielsweise die Maschinenmöbel von Paul Riemerschmidt. Diese Möbel waren hochwertig und für die breite Masse gemacht. Die Formen sind verwandt mit den Objekten des Jugendstils, sie bestechen jedoch durch schlichte Oberflächen und eine sachliche und funktionalistische Anmutung.1 Die Maschinenmöbel, welche ab dem Jahr 1906 in Hellerau gefertigt wurden, waren außerdem zerlegbar und sollten, wie der Stuhl Nr. 14, vom Kunden aufgebaut werden. Aus diesem Grund sind auch hier die Verbindungs- und Konstruktionselemente offen zu sehen. Diese Elemente sollten gleichzeitig einen gestalterischen Zweck erfüllen, so entstand zum Beispiel durch Schrauben eine reduzierte Dekoration. Damit verband die Schraube nicht nur Einzelteile verschiedener Möbel, sondern zudem unterschiedliche Stile miteinander. Diese 16 Entwicklungen ebneten der ‚Sachlichkeit‘ den Weg. Die Produktgestaltung wurde einfacher, reduzierter, sowie technischer. In Folge erlebte die Ästhetik durch den ersten Weltkrieg einen Bruch, da dieser die Schattenseite des technischen Fortschrittes mehr als deutlich machte. Durch den Einfluss der russischen Avantgarde, erfanden sich viele Gestaltende ihre Zukunft neu. Nach dem Krieg sollte eine bessere Gesellschaft entstehen. Kunst und Technik wurden neu verbunden. So wurde im Jahr 1919 in Weimar von Walter Gropius eine Kunst- schule der Moderne gegründet – ‚Das Staatliche Bauhaus‘. Es verlieh den Avantgardist*innen der klassischen Moderne einen gemeinsamen Nenner. Die Lehre zielte darauf ab den traditionellen Ballast aus den Köpfen der Studierenden zu schlagen, um Platz für die neuen Formen zu machen.2 3 _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 35 2 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 51, 52 3 Vgl. Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 34, 35
Zunächst wurden in den Werkstätten Einzelstücke handwerklich herge- stellt, doch mit der Losung Gropius’ von 1922: „Kunst und Technik - etine neue Einheit“ 1, rückte die industrielle Fertigung und deren Ästhetik in den Fokus. Die dadurch neu entstandene Formsprache des Bauhauses war geprägt durch künstlerische Abstraktion, industrieller Rationalität und Funktionalität. Verbindungen und Konstruktionsele- mente wurden aus diesen gründen auch hier nicht verborgen, sondern hervorgehoben und offen zur Schau gestellt. ‚Ehrliches Design‘ wurde gefordert und umgesetzt.2 Im Jahr 1926 entwickelte Mart Stam den ersten Stuhl ohne Hinterbeine. Das erste Modell bestand aus zehn gleich langen Gasrohrstücken und zehn dazugehörigen Montageverbindern. Daher der Name ‚Gasrohr- stuhl‘. Dieser Entwurf spiegelte die industrielle Produktion, die absolute 17 Einfachheit und die reine Funktion der Materialien wider. Ein einfaches Brett diente bei diesem Entwurf als Sitzfläche. Ein Jahr zuvor entwarf Marcel Breuer den Stahlclubsessel B3, so war das Bild von einer offenen Stahlrohrkonstruktion schon bekannt, doch das Prinzip der Standfläche, welche ausschließlich mit den Vorderbeinen verbunden war, neu. Eine Weiterentwicklung dieses Stuhles bestand aus einem einzigen gebogenen Eisenrohr. Die Sitzflächen dieses Modelles wurden mit ge- flochtenem Gummi oder Hanfgurten versehen. Dieser Stuhl war Vorbild für nachfolgende Designklassiker, wie den ersten federnden Freischwinger aus Stahlrohr – MR10 – entworfen im Jahr 1927 von Ludwig Mies van der Rohe. Ein Jahr später folgte der Freischwinger – B32 – von Marcel Breuer. Diesem gelang es die noch ungewohnte Formsprache, welche nur schwer in der Bevölkerung an- kam, mit einem sehr vertrauten Element zu verbinden.3 _________________ 1 Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 52 2 Vgl. Eisele 2014 (wie Amn. 1), S. 53 3.Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 69
Gasrohrstuhl / Mart Stam, 1926 18 _________________
Breuer übernahm für die Sitzfläche und Rückenlehne das Geflecht des Thonet Stuhl Nr. 14. Dies brach die Strenge der Stahlkonstruktion auf und machte den Stuhl bequemer als die vorherigen Modelle.1 Während in Nazideutschland der Bevölkerung die Bauernstube als Vor- bild für nationalistisches Wohnen propagiert wurde und Hitler in einer „dilettantischen Nachahmung des Versailler Spiegelsaals“2, umgeben von schweren Möbeln aus deutscher Eiche, deutschen Soldaten und Marmor, die Vernichtung von unzähligen Menschen plante, verbreiteten die geflohenen Gestaltenden und deren Zeugen, die Lehren der Moderne und des Bauhauses in aller Welt.3 In diesem furchtbaren II. Weltkrieg wurden auch die Geschwister Sophie und Hans Scholl umgebracht, da sie Teil der Widerstandsgrup- pe ‚Weiße Rose‘ waren. Die älteste der Geschwister war Inge Scholl, später Inge Aicher-Scholl. 19 Obwohl in der neuen ‚Adenauer Republik‘ barocke Stilmöbel der bürgerliche Standard waren, wurde modernes Design immer beliebter. Zehn Jahre nach Kriegsende gründete Inge Aicher-Scholl die ‚Freie Hochschule für Gestaltung‘ und stellte so die Verbindung zu Demokra- tie, Weltoffenheit und Moderne wieder her. Die Ausbildung war eng mit dem Prinzip des Bauhauses verbunden. Gropius war zu dieser Zeit Leiter des ‚Institute of Design‘ in Chicago und auch am Programm der ‚hfg‘ maßgeblich beteiligt. Die Lehre war geprägt von dem Widerstand gegen die Wohlstandsgesellschaft und moralisch Gestrige.4 _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 77 2 Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 42 3 Vgl. Rudhof 2001 (wie Anm. 2), S. 42, 43 4 Vgl. Rudhof 2001 (wie Anm. 2), S. 44
Die Gestaltung zielte auf funktionalen Minimalismus, sowie eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie ab. Mit Beginn der Sechziger Jahre entwickelte sich daraus das ‚System Design‘, welches die Bauhauslehren ablöste. Im ‚System Design‘ ging es nicht mehr nur um das eine, in sich schlüssige Ding. Nun ging es um technologische Prozesse, komplexe Systemwelten und Kombinationen. Um einzelne Elemente, die zusammen oder für sich funktionieren. Aus diesen Prinzipien ergaben sich viele Anwendungs- und Anpas- sungsmöglichkeiten der Objekte und so auch ein hoher Grad an Individualisierung.1 Max Bill, ein ehemaliger Bauhäusler und Mitgründer der ‚HfG‘, vereinte diese Maßstäbe bereits im Jahr 1954 in einem Produkt. Dieses ent- 20 stand aus der Not heraus, entwickelte sich aber zu einem Vorreiter. Bei der Gründung der ‚HfG‘ mangelte es der Schule an finanziellen Mit- teln. Deshalb gab es schlicht nicht genügend Sitzmöglichkeiten für die Studierenden. Zusammen mit Hans Gugelot und Paul Hildiger entwarf Max Bill den ‚Ulmer Hocker‘. Drei Fichtenholzbretter, rechtwinklig gezinkt und mit einem Rundstab aus Buchenholz stabilisiert. Eine Buchenholzkufe schützt zudem das Hirnholz vor dem Schürfen auf dem Boden. Der Hocker ist auf ein Minimum reduziert und hat doch unzählige Funktionen. Als Sitzmöglichkeit bietet der Hocker zwei verschiedene Sitzhöhen. Man kann ihn auch als Beistelltisch, Pult oder in gestürzter Position als Transporthilfe verwenden. Kombiniert man mehrere Hocker kann man eine ganze Sitzlandschaft entstehen lassen oder ein Regal- system aufbauen.2 3 _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 168 2 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 171 3 Vgl. Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 46
Ulmer Hocker / Max Bill, Hans Gugelot, Paul Hildinger, 1954 21 _________________
Die Hocker, welche in der Hochschule hergestellt wurden, standen in den Wohnungen der Studierenden, in der Bibliothek, in den Werkstätten und in den Hörsälen. Ein simpler Hocker aus Holz wurde so Verbindungsstück zwischen den Menschen und der Lehre der Moderne, dem Neuanfang und der Weiter- entwicklung der Gestaltung. Außerdem diente er als Vorbild für spätere Systemmöbel.1 Mit einer neuen Generation, somit neuen, undogmatischen Vorstellung vom Leben und der Gestaltung, gab es einen Bruch mit der Einheitlichkeit. Eine Revolution fand statt, was dazu führte, dass die alten Werte über Bord geworfen wurden. Werte, wie Spaß, Fantasie, Respektlosigkeit, Witz und Ironie, leiteten die neue Ästhetik.2 Passend zu diesem neuen Zeitgeist, fand ein vorher noch nicht dage- 22 wesenes Material Einzug in die Designwelt – Kunststoff galt als das Mittel für die Neugestaltung aller Lebensstrukturen.3 ‚Die heiligen Kühe des Funktionalismus müssen geopfert werden‘, unter diesem Titel veröffentlichte ‚form‘ im Jahr 1968 einen Artikel von Werner Nehls. Und sie wurden geopfert. Nichts mehr sollte an frühere Zeiten erinnern. Die Formsprache im Produktdesign, aber auch Funktionen und Räume in der Architektur wurden neu gedacht.4 _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 168 2 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 195 3 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 196 4 Vgl. Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 49
Der ‚Bofinger-Stuhl‘, welcher im Jahr 1966 von dem ‚Architekturbüro Bätzner‘ entwickelt wurde, war der erste Stuhl aus einem einzigen Stück Kunststoff. Der Herstellungsprozess wurde so gestaltet, dass der Stuhl innerhalb von fünf Minuten in einer 10-Tonnen-Presse tiefgezogen und ohne Nachbearbeitung fertig gestellt wurde. Der Stuhl kam durch die Form ganz ohne Verbindungen aus – keine einzige Schraube, keine Klebestellen. Womöglich war es der erste Stuhl dieser Komplexität, ohne jegliche Verbinder. Denn trotz der einfachen Anmutung, bot der Stuhl viele funktionale Vorzüge. Er war mit vier Kilogramm besonders leicht und konnte dadurch hoch gestapelt werden, was die platzsparende Lagerung ermöglichte. Außerdem war der Stuhl durch das mit Glasfaser verstärkte Polyestherharz witterungs- beständig, weshalb er nicht nur im Innenbereich Anwendung fand.1 23 In den 1970er Jahren wurde das Design noch konsum- und gesell- schaftskritischer. Das ‚Anti Design‘ und das ‚Radical Design‘ gingen aus den Revolten gegen das ‚hedonistische Establishment‘ hervor. Es wurde eine Opposition zum Normalen geschaffen. Die Kehrseite der Moderne, des Rationalen und des Funktionalismus wurde den kritisch Gestaltenden, vor allem durch Trabantensiedlungen oder auch Neubausiedlungen vor Augen geführt. „Waschbetonkübel auf Abstandsgrün“ 2 wurde diese Architektur geschimpft. Die Form verkam, nach dem Verständnis der neuen Generation, zu Bedeutungslosigkeit und die Grenze der Reduzierung war erreicht.3 Das Ende der Moderne wurde ausgerufen und der Übergang zur Postmoderne begann. _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 225 2 Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 54 3 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 245, 246
Bofinger Stuhl / Architekturbüro Bätzner, 1966 24 _________________
In der Postmoderne wurde das Spektrum des Designs besonders beleuchtet. Feste Regeln und Prinzipien wurden weiterhin stark hinter- fragt und überwunden. Design sollte Zeichen setzen, sollte Geschichten erzählen. Mehrdeu- tigkeit, Verwirrung, Flüchtigkeit, Unbestimmtheit, Flexibilität, Zufall und Spiel waren Faktoren der Zeit.1 Das ‚Radio in a Bag‘, welches im Jahr 1981 von Daniel Weil, einem englischen Architekten und Industriedesigner entwickelt wurde, visuali- sierte Auflösung der Moderne und die Freiheiten der Postmoderne. Der technische Fortschritt brachte die Mikroelektronik mit sich, diese passte schnell nicht mehr zu den überdimensionalen Gerätehüllen. So änderte sich auch die Ration zwischen Mensch und technischem Objekt. Die Deutung des Design wurde hinterfragt, da das Zugestaltende immer unsichtbarer wurde. 25 Daniel Weil machte das Radio zweidimensional. Er platzierte die Elek- tronik in einer transparenten Plastiktüte und zog die Luft heraus. Die Einzelteile waren nun nur durch die Tüte miteinander verbunden. Die Notwendigkeit klassischer Konstruktionen und Verbindungen wurde hinterfragt. Für die Auflösung, dieser eigentlich so wichtigen Grundbau- steine der Gestaltung, stand dieses Radio in der Tüte.2 Es erscheint mehr wie eine Grafik, als wie ein Gebrauchsgegenstand. Die Benutzung zwingt die Konsumierenden zum Nachdenken. Dieser Bruch mit Gewohnheiten ist auch ein wichtiges Merkmal von dem ‚Neuen Deutschen Design‘. Die Kritik an der Gesellschaft wurde direkt durch die ausdrucksstarken Objekte projiziert.3 Dies wiederum änderte sich mit den 1990er Jahren. _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 282 2 Vgl. Eisele 2014 (wie Anm. 1), S. 293 3 Vgl. Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 64
Radio in a Bag / Daniel Weil, 1981 26 _________________
Nach den aufregenden Jahren der Revolte, der Exzentrik und der symbolschwangeren Alltagsgegenstände wurden die Rufe nach mehr Schlichtheit und Handwerk im Design laut. Das ‚Neue Deutsche Design‘ entwickelte sich zur ‚Neuen Einfachheit‘. Wichtige Faktoren waren und sind bis heute Funktionalität, Herstellung, Material, Konstruktion, sowie eine geringe Umweltbelastung.1 Ein Pionier der ‚Neuen Einfachheit‘ war der Designer Axel Kufus mit dem ‚FNP-Regalsystem‘, welches er im Jahr 1989 entwickelte. Das Regal, welches laut Nils Holger Moormann, einfacher nicht sein kann, wird werkzeuglos, ohne Schrauben und nach dem Prinzip aufgebaut: „seite hält schiene / schiene hält boden / 27 boden hält schiene / schiene hält seite“ (Axel Kufus)2 Das Regal besteht ausschließlich aus geschlitzten Böden, Wangen und eingesteckten Aluminiumschienen. Dieser Materialmix, sowie die schlichten Verbindungen lassen das Regal so stringent und linear er- scheinen. Die Vereinfachung aller Faktoren war die Maxime hinter dem Entwurf. Die Montage und Demontage, Auslieferung, Herstellung und die Verbindungen wurden darauf angepasst.3 _________________ 1 Vgl. Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 284 2 Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014, S. 323 3 Vgl. Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 71, 72
FNP - Regalsystem / Axel Kufus, 1989 28 _________________
Kanthölzer und Polycapralactonwachs sind die Bestandteile des ‚Work- shop Chairs‘ von Jerszy Seymour. Beide Materialien sind komplett biologisch abbaubar. Das Wachs ist eine Art thermoplastischer Kunststoff, welcher ab einer Temperatur von 58°C weich wird und dient als Kontruktionsmittel.1 Die Verbindungen werden aus diesem Material mit den eigenen Händen geformt. Der Aufbau wird zur sinnlichen Erfahrung. Die Freiheit, Kreativität und Energie des Einzelnen wird zum Werkzeug und hat Einfluss auf die Ge- staltung. Jede Person, jede*r Amatuer*in2 kann diesen Stuhl herstellen. Das ist ein wichtiges Prinzip in Seymours Arbeiten, die Inter- aktion Aller an Allem. Diese Prinzipien machen ‚Workshop Chair‘ zum ‚Social Furniture‘.3 Die Idee sowie die Bauweise stehen im Kontrast zur Professionalität 29 und Perfektion der digitalen Moderne. _________________ 1 Vgl. FANCY A JOINT? (24.08.2020, 18:19) 2 Vgl. Bette Katalog, System und Freiheit, Berlin 2017, S. 37, 38
„Wir wollen die Welt aufbauen, nicht dekorieren.“ Enzo Mari 1t Workshop Chair / Jerszy Seymour, 2009 30 _________________ 1 Enzo Mari, Bette Katalog, System und Freiheit, Berlin 2017, S. 37, 38
4. MENSCHEN, DINGE UND VERBINDUNGEN Menschen und Dinge können ohne Verbindungen nicht sein. Menschen sind sozial eingebunden in Freundeskreise, Familien, Ver- eine, Schulklassen oder in Communities. Diese Verbindungen sind für viele Menschen sehr wichtig und identitätsstiftend. Vor allem die Familie ist für die meisten eine nicht wegzudenkende Verbindung zu anderen Menschen. Noch im 19. Jahrhundert war die Familie und eine enge Gemeinschaft überlebensnotwendig. Die Angehörigen sorgten füreinander und lebten miteinander in einem Haus. Viele Menschen lebten in einem Gebäude, von ihrer Geburt bis zum Tod. So war alles für sesshafte, an einen Ort 31 gebundene Menschen konzipiert.1 Die Möbel waren massive Arbeiten aus Tischlereien. Sie waren für die Ewigkeit gebaut. Zwischenmenschliche, vor allem familiäre Verbindungen waren so fest verbunden, wie die Möbel in ihrem Haus. Dies änderte sich mit der gewaltigen Umwälzungen, die mit der In- dustrialisierung einher ging. Fortan bestimmte für viele nicht mehr die traditionelle Landwirtschaft den Wohnort, sowie die sozialen Bindungen der Menschen, sondern der Arbeitsplatz in der Industrie. Der Alltag war nicht länger an die natürlichen Tages- und Jahreszeiten gebunden, sondern an die Rhythmen der Fließbänder und die Zeiten der Stechuhr. Soziale Verbindungen wurden lockerer und dynamischer.2 Diese Dynamik machte sich auch nach und nach in der Gestaltung der Dinge des Alltags bemerkbar. Möbel wurden nicht mehr nur gestaltet, um fest an einem Ort zu stehen. Andere Dinge wurden für eine mobile Gesellschaft erfunden. _________________ 1 Vgl. Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit.34. Aufl., München 2013, S.434 2 Vgl. Harari 2013 (wie Anm. 1), S. 437, 438
In der postindustriellen Gesellschaft entwickelte sich diese Mobilität im kulturellen, geistigen, räumlichen, sozialen und virtuellen Kontext weiter. Gleichzeitig wurde den Menschen durch Ungebundenheit die Privat- sphäre immer wichtiger und so auch die Beziehung zu den Dingen, die sie umgeben.1 Mit diesen Dingen sind Menschen eng verbunden, denn der Alltag hängt von ihnen ab. Möbel haben in diesem Kontext verschiedene, ebenfalls verbindende Funktionen. Eine Bank im Park verbindet Fremde, der Bürostuhl verbindet Arbeiten- de mit ihrem Arbeitsplatz. Das gemütliche Bett verbindet die schlafende Person mit den eigenen Träumen und dem nächsten Tag. Ein großer Esstisch verbindet die Familie beim gemeinsamen Abendbrot und ein Hocker verbindet das Kind mit dem Süßigkeitenfach ganz oben im Kü- chenschrank. 32 Zu einigen Dingen haben Menschen eine besonders feste Verbindung, welche von Emotionen, Empathie und Interaktionen abhängt.2 Im Gegensatz dazu steht jedoch die Schnelllebigkeit und das Konsumverhalten in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der Produkte in Massen und immer verfügbar sind. Damit stets neue Produkte gekauft werden, zeugen sie von keiner langen Haltbarkeit und müssen schnell ausgetauscht werden. Eine Veränderung der konsumorientierten Produktionsweise würde zu einer Steigerung der Wertschätzung und zu einem bewussteren Umgang beitragen und die Produktkultur nachhaltig entwickeln. Diese sozialen Aspekte in Designprozesse einzubinden könnte die Mensch-Ding-Beziehungen positiv beeinflussen. _________________ 1 Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001, S. 80 2 Weniger, Marta: Empahthie und Design. Düsseldorf 2019
Das Gefühl gebraucht zu werden löst bei vielen Menschen eben sol- che Empfindungen aus. Zu einem Möbel, welches den Menschen aktiv braucht, um ‚zu überleben‘, könnte theoretisch schnell eine enge Ver- bindung aufgebaut werden. Eine Zimmerpflanze braucht den Menschen, um zu überleben. Sie ist auf das regelmäßige Gießen, das gelegentliche Düngen und Umtopfen angewiesen. Im Gegenzug produziert die Pflanze Sauerstoff und sorgt für ein gutes Raumklima. Möbel werden gekauft, aufgebaut und dann zu Alltagsgegenständen, zu vergessenen und eingestaubten Artefakten oder zu Dekoration. Ein Möbel, das der Mensch gießen muss, könnte also Emotion, Empathie und Interaktion generieren und eine feste Mensch-Ding- Beziehung entstehen lassen. 33 Wenn unbehandeltes Vollholz, insbesondere Hirnholz, in Berührung mit Wasser kommt, quillt es. Ist dieses Stück Holz in einer formschlüssigen Verbindung, welche im trockenen Zustand locker sitzt, wird sie fest, sobald Wasser hinzukommt. Wird die Verbindung nicht bewässert, schwindet das Holz wieder und die Verbindung lockert sich. Diese Verbindung im Möbelkontext, würde den Menschen demzufolge brauchen, um stabil zu bleiben. Der Hocker, der Tisch und auch die Bank könnte nur sein, wenn sie versorgt und bewässert werden. Die Mensch-Ding-Beziehung würde so von beiderseitigen Bedürfnissen gesteuert. Der Mensch ist abhängig von den Funktionen des Möbel- stücks und das Möbelstück ist Abhängigkeit von der Interaktion des Menschen. _________________
Diese Art der Verbindung wäre von grundlegender EInfachheit. Durch die elementaren Materialien Holz und Wasser, würden die natürlichen Eigenschaften des Holzes genutzt werden. Der einfache Aufbau wäre eine Erfahrung der Natur für alle Nutzenden. In diesem Kontext könnte man auch hier von einem ‚Social Furniture‘ sprechen. 34
5. FAZIT Durch die theoretische Auseinandersetzung ist klar geworden, dass sich Verbindungen im Möbel- und Produktdesign, vor allem nach der Industrialisierung stetig weiter entwickelt haben. Mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen änderten sich ästhetische, funktionale und moralische Ansprüche. Vor der industriellen Revolution wurden noch keine Möbelstücke in die ganze Welt verschickt. Doch es wurde möglich gemacht, durch innovative Designlösungen und Verbindungen. Möbel, wie der Stuhl Nr. 14 sind heute auf der ganzen Welt bekannt, weil sie modular konstruiert wurden und mit wenigen Schrauben 35 aufgebaut werden konnten. Der Ulmer Hocker entstand aus der Not heraus und wurde zum Symbol der ‚HfG‘ Ulm. Die Variabilität des Möbels eröffnete neue Welten und war so auch die Verbindung in eine neue Gesellschaft nach dem Krieg. Dinge und deren Verbindungen sind Spiegel ihrer Zeit. Als Weiterführung der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema, ist es mein Ziel geworden eine Verbindung zu entwickeln, welche auf die aktuellen Debatten um die Beziehungen zwischen Mensch und Ding eingeht. Diese soll dazu beitragen, dass wir die Dinge um uns herum bewusster wahrnehmen und uns mit ihnen verbundener fühlen. Auf folgende Verbindungen bin ich in diesem Kontext gestoßen: Verbindungen zwischen Menschen Verbindungen zwischen Menschen und Dingen Verbindungen zwischen den Teilen der Dinge _________________
Ein Objekt, dessen Verbindungen, wie im letzten Kapitel beschrieben, aus den natürlichen Komponenten Holz und Wasser bestehen, ist auf die Interaktion des Menschen angwiesen. Das würde bedeuten, dass die konstruktive Verbindung, die Mensch-Ding-Verbindung voraussetzt und stärkt. Bei Abwesenheit der Person, würde zudem noch die zwischenmensch- liche Ebene hinzukommen. Denn ohne die Interaktion würde das Objekt die Konstruktion und Funktion verlieren, also müsste eine andere Per- son diesen Part übernehmen. Diese Verbindung wäre ein Perspektivwechsel und die Objekte, welche in meiner praktischen Arbeit entstehen, sollen verbinden. Denn ohne Verbindungen kann nichts existieren. 36 _________________
6. ANHANG Literaturverzeichnis Bücher: Eisele, Petra: Klassiker des Produktdesigns. Reclam, Stuttgart 2014 Rudhof, Bettina: Design. Rotbuch 3000, hg. von Martin Hoffmann, Hamburg 2001 Harari, Yuval Noah: Eine kurze Geschichte der Menschheit. 37 34. Aufl., München 2013 Mareis, Claudia: Theorien des Designs. zur Einfürhrung, 2. Aufl., Hamburg 2016 Hans J. Fahrenwaldt, Volkmar Schuler: Praxiswissen Schweißtechnik: Werkstoffe, Prozesse, Fertigung., Wiesbaden 2011 Artikel: Interview mit Jerszy Sermour Social Furniture. Bette Katalog, System und Frei heit, Berlin 2017 Holzverbindungen im japanischen Möbelbau Festool GmbH, Magazin Holzidee 10, Wendlingen 2010
Internet: < https://www.designboom.com/design/u-joints-exhibition-plusde- sign-gallery-milan-design-week-04-17-2018/> < https://www.hs-pforzheim.de/fileadmin/user_upload/uploads_redak- teur/Forschung/heedPF/Dokumente/Empathie_und_Objekt_FIN.pdf> (Masterthesis: Empathie und Objekt. Marta Weniger, Hochschule Pforzheim, 2019)
Abbildungsnachweise Abb. 1 Pearl Screws, Soft Baroque, 2014 < https://64.media.tumblr.com/fcc300d00a7d1aaf198100e 3de031703/tumblr_inline_p589mpUCoC1t35e77_500.jpg> (22.08.2020, 10:23) Abb. 2 Stuhl Thonet (22.08.2020, 10:36) Abb. 3 Welded gas pipe cantilever pipe chair, Mart Stam, 1926 (22.08.2020, 16:34) 39 Abb. 4 Unterricht auf der Terrasse der HfG Ulm 1955, Fotografie: Ernst Scheidegger / Archiv hfg (22.08.2020, 15:57) Abb. 5 Philip Rosenthal (Mitte) aus dem Rat für Formgebung prä- sentiert Ludwig Erhard (rechts) 1966 einen Bofinger-Stuhl. Links im Bild steht Bauhaus-Gründer Walter Gropius. Fotografie: Rosenthal (23.08.2020, 12:27) Abb. 6 Radio in a Bag, Weil, Daniel, 1981 Abb. 7 FNP Regalsystem, 1989
Abb. 8 Workshop Chair 40
Selbstständigkeitserklärung zur ,Thesis‘ mit dem Thema: Verbindungen - gestaltete Zusammenhänge Ich, Bianca Bluhm, erkläre gegenüber der Fakultät Angewandte Kunst Schneeberg (AKS/WHZ), dass ich die vorliegende Bachelor-Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Quellen und Hilfsmittel angefertigt habe. Die vorliegende Arbeit ist frei von Plagiaten. 41 Alle Ausführungen, die wörtlich oder inhaltlich (sinngemäß) aus anderen Quellen entnommen sind, habe ich als solche eindeutig kenntlich gemacht und nachgewiesen. Diese Arbeit wurde in gleicher oder ähnlicher Form weder von mir noch von jemand anderen als Prüfungsleistung (d.h. weder an der AKS/WHZ noch andernorts) eingereicht und ist auch noch nicht veröffentlicht worden. Schneeberg, 31.08.2020
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