Verschleppt, misshandelt, getötet
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ZEITGESCHICHTE Heimkehr aus russischer Lagerhaft: Die schwerkranke Margarethe Ottillinger bei der Ankunft im Bahnhof Wiener Neustadt. Verschleppt, misshandelt, getötet Während der Besatzungszeit von 1945 bis 1955 verschleppten die sowjetischen Besatzer mehr als 1.000 Österreicherinnen und Österreicher, darunter leitende Polizisten und Ministerialbeamte. Einige von ihnen wurden hingerichtet oder überlebten die Strapazen in der Gefangenschaft nicht. er Kriminalbeamte Anton Marek Kollegen mit, wohin er gehe und dass diese Weise den Marek zu befreien“, D leitete nach dem Zweiten Welt- krieg die Gruppe 5 der Staatspoli- zei im Bundesministerium für Inneres er nach etwa einer Stunde in das Büro zurückkehren werde. Als er nach mehr als zwei Stunden nicht zurückgekom- erinnerte sich Pammer in der ORF-Do- kumentation „Österreich II“. Die Poli- zisten kamen zu spät. Marek war be- (BMI). Die Einheit unterstand direkt men war, riefen seine Kollegen den reits in das sowjetische Gefängnis nach dem Innenminister Oskar Helmer. Die Leiter der Abteilung 2 (Staatspolizeili- Baden gebracht worden. Die Bundesre- Beamten dieser Gruppe sollten unter ches Büro), Ministerialrat Dr. Maximi- gierung protestierte erfolglos beim Al- anderem Übergriffen der Besatzungs- lian Pammer, an. Pammer ahnte, dass liierten Rat gegen die Verschleppung macht nachgehen, die Sowjets beob- Marek von den Sowjets festgehalten Mareks. achten und Beweise sammeln. Marek worden sein könnte und besprach die Anton Marek, geboren am 28. Sep- war auch mit den Einvernahmen von Situation mit dem Leiter der Staatspoli- tember 1889 in Budapest-Vasas hatte FOTO: VOTAVA/IMAGNO/PICTUREDESK.COM Flüchtlingen betraut, um zu staatspoli- zeilichen Abteilung der Polizeidirekti- beim Putschversuch der Nationalsozia- zeilich relevanten Informationen zu on Wien, Dr. Oswald Peterlunger. Ge- listen im Juli 1934 Aufständische in ei- kommen. plant war eine Blitzaktion. „Wir ... be- ner Turnhalle in der Siebensterngasse Oberinspektor Anton Marek war schlossen, dass wir die Sowjetkom- in Wien-Neubau aufgespürt. Deshalb mehrmals in der sowjetischen Stadt- mandantur mit Patrouillenwagen der wurde er nach der nationalsozialisti- kommandantur in Wien. Am 17. Juni Polizei umstellen und mit jedem Wa- schen Machtübernahme am 13. März 1948 ersuchte ihn sein sowjetischer gen, der aus der Kommandantur he- 1938 verhaftet und am 2. April 1938 Verbindungsoffizier, in die Komman- rauskommt, wenn notwendig eine Ka- als „Schutzhäftling“ in das Konzentra- dantur zu kommen. Marek teilte seinen rambolage bewerkstelligen, um auf tionslager Dachau gebracht. Am 27. ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 5-6/22 61
ZEITGESCHICHTE September 1939 wurde Marek in das de am 18. September 1951 von den KZ Flossenbürg überstellt und am 2. Sowjets in Oberösterreich festgenom- März 1940 kam er in das KZ Dachau men. Ein Militärtribunal verurteilte ihn zurück. Am 22. April 1940 wurde er am 4. Dezember 1951 zum Tode we- aus dem KZ entlassen. gen „Spionage“ für die USA. Ein Gna- Marek wurde am 7. Februar 1951 dengesuch wurde vom Politbüro des von einem sowjetischen Militärtribunal Zentralkomitees der UdSSR abgelehnt. wegen „Spionage“ und „Teilnahme an Feichtinger wurde am 1. März 1952 in einer verbrecherischen Organisation“ Moskau erschossen. Seine Asche wur- zum Tod durch Erschießen verurteilt. Margarethe Ottillinger 1949 in sowjeti- de auf dem Donskoi-Friedhof in Mos- Die Todesstrafe wurde am 19. März scher Haft. kau in einem Massengrab beigesetzt. 1951 vom Obersten Gericht der Seine Hinterbliebenen erfuhren erst im UdSSR in eine 25-jährige Freiheitsstra- Der Verschleppung entgangen. An- Frühjahr 1957 von der Hinrichtung. fe umgewandelt. Marek wurde in die dere hochrangige Beamte des Innenres- Ernst Feichtinger wurde am 12. Jänner Sowjetunion gebracht, wo er die Strafe sorts entgingen einer Verschleppung 1998 in Russland rehabilitiert. in Zwangsarbeitslagern verbüßte. Nach nach Sibirien. Im Oktober 1946 verhaf- der Unterzeichnung des Staatsvertrags teten die Sowjets den Sicherheitsdirek- Polizist, SS-ler und US-Agent. Al- am 15. Mai 1955 wurden die letzten tor von Niederösterreich, Hofrat Franz fred Fockler, geboren am 31. Jänner noch in sowjetischen Lagern gefangen Baier, weil er eine Weisung des Sow- 1907 in Wien, trat in die Wiener Si- gehaltenen Österreicher begnadigt und jetvertreters nicht weitergegeben hatte, cherheitswache ein und wurde 1934 durften nach Österreich zurückkehren. wonach „im niederösterreichischen der Alarmabteilung zugeteilt. Bei der Mit dem 70. Heimkehrertransport traf Sowjetsektor Streiks und öffentliche Niederschlagung des Putschversuches Anton Marek am 25. Juni 1955 auf Demonstrationen jeder Art für verbo- der illegalen Nazis am 25. Juli 1934 dem Bahnhof Wiener Neustadt ein. Er ten erklärt werden“. Baier wurde von war Fockler bei der Räumung der von wurde von seinem Sohn und seiner einem sowjetischen Militärgericht we- den Aufständischen besetzten Radio- Schwiegertochter empfangen; seine gen Sabotage von Befehlen der sowje- Verkehrs-AG eingesetzt. Nach der Frau war inzwischen verstorben. tischen Kommandantur zu drei Jahren Machtübernahme der Nationalsozialis- Außer Marek wurden einige andere Haft verurteilt, aber am 23. Dezember ten im März 1938 in Österreich wurde Exekutivbeamte verschleppt, unter ih- 1946 aus der Haft entlassen, nachdem die Polizei „gesäubert“. Die neuen nen der Gendarm Franz Kiridus, der die Strafe in bedingte Haft umgewan- Machthaber erwogen, auch Fockler au- ebenfalls in der Staatspolizei im BMI delt worden war. ßer Dienst zu stellen. Weil der Polizist tätig war. Kiridus wurde am 16. Juli Baiers Nachfolger als Sicherheitsdi- festgenommene Nazis aber „anständig 1948 an der Zonengrenze auf dem rektor, Hofrat Andreas Liberda, hatte behandelt“ hatte, wurde er im Dienst Semmering von sowjetischen Soldaten ebenfalls Probleme mit der russischen belassen. Fockler arrangierte sich mit festgenommen, wie Marek wegen Besatzungsmacht. Am 4. Dezember den Nationalsozialisten, trat in die SS Spionage zum Tod verurteilt und später 1949 wurde die Frau eines Gendarmen ein und war 1943 SS-Sturmscharfüh- zu 25 Jahren Haft begnadigt. Er konnte bei einem Nikolaus-Fest in einem rer. Er war auch Mitglied der National- ebenfalls nach Abschluss des Staats- Gasthaus in Hausmening von einem sozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), vertrags 1955 nach Österreich zurück- betrunkenen sowjetischen Offizier be- der zahlreiche Hilfsorganisationen der kehren. lästigt. Daraufhin kam es auf dem Nazis unterstanden. Ende 1942 wurde Im Zusammenhang mit der Ver- Heimweg zwischen dem Gendarmen Fockler über sein Ansuchen in den hö- schleppung von Marek und Kiridus und dem Offizier zu einer Auseinan- heren Vollzugsdienst der Sicherheits- wurden von den Sowjets im Herbst dersetzung. Dabei stürzte der Russe polizei aufgenommen. Er versah einige 1948 zwei weitere Männer festgenom- von einer Brücke in die Ybbs und er- Zeit Dienst in Minsk, Wien und Köln. men – Igor Mermelstein und Viktor trank. Innenminister Oskar Helmer ver- Dort nahmen ihn zu Kriegsende ameri- Ruew. Mermelstein arbeitete bei der weigerte die von den Sowjets geforder- kanische Soldaten gefangen und brach- Handelsabteilung des sowjetischen te Auslieferung des Gendarmen, weil ten ihn in die USA, wo er als Agent Elements der Alliierten Kommission. eine Untersuchung durch österrei- ausgebildet wurde. Er arbeitete im Pri- FOTO: LUDWIG BOLTZMANN INSTITUT FÜR KRIEGSFOLGEN-FORSCHUNG Er soll von einem Mitarbeiter Mareks chische Behörden die Schuldlosigkeit soners of War Interrogation Office als Agent gegen die Sowjets angewor- des Beamten ergeben habe. Daraufhin (PIO) in Washington und unterstützte ben worden sein. Ruew war Dolmet- forderten die Sowjets am 10. Dezem- die Amerikaner bei der Suche nach scher bei der sowjetischen Erdölver- ber 1949 in einer Note an die Bundes- ehemaligen Angehörigen der Gestapo, waltung im Büro für Tiefbohrungen. Er regierung die Verhaftung und Ausliefe- der SS und des SD. Er unterrichtete soll ab Mai 1948 drei Berichte über die rung des Sicherheitsdirektors Liberda. US-Offiziere auch in Verhörmethoden sowjetische Ölindustrie an Mitarbeiter Auch das verweigerte Helmer. und Kriminalistik. von Mareks Gruppe 5 übergeben ha- Nach seiner Rückkehr nach Öster- ben. Mermelstein und Ruew wurden zu Erschossen in Moskau. Ernst Feich- reich im Herbst 1945 wurde Fockler 25 Jahren Haft verurteilt. Ruew starb tinger, geboren am 16. Oktober 1914 in als Kriminalbeamter in die Bundespoli- am 13. Dezember 1953 in einem sow- Wiener Neustadt, war von 1940 bis zeidirektion Wien aufgenommen. Im jetischen Straflager. Mermelstein 1945 Soldat in der Deutschen Wehr- Frühjahr 1946 begann er, für einen US- konnte im Dezember 1956 nach Öster- macht. Nach Kriegsende trat er in die Geheimdienst zu arbeiten. Als „Alfred reich zurückkehren. Sicherheitswache ein. Der Polizist wur- Müller“ war er für die Amerikaner im 62 ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 5-6/22
V E R S C H L E P P U N G E N I N D E R B E SAT Z U N G SZ E I T Wotrubakirche in Wien-Mauer: Margarethe Ottillinger initiierte Hinweistafel der US-Besatzer auf die Grenze zur sowjetischen den Bau der Kirche auf dem Georgenberg. Zone auf der Höhenstraße in Wien (Polizeimuseum Wien). vereinigten alliierten Kommando in Sowjets in der Alliierten Kommission um den spektakulärsten Entführungs- Europa (SHAEF) in Frankfurt am Main für Österreich, zu den Amerikanern fall im Österreich der Nachkriegszeit. tätig, kehrte aber bald nach Wien zu- überlaufen konnte. Ottillinger hatte mit ihrem Chef Peter rück, wo er im „Security Office“ des Alfred Fockler wurde neben Spiona- Krauland, dem Bundesminister für US-Oberkommandos in Österreich be- ge gegen die Sowjetunion im Auftrag Vermögenssicherung und Wirtschafts- schäftigt und Mitarbeiter des US-Ge- der US-Dienste auch vorgeworfen, planung, in Linz an einer Dienstbespre- heimdienstes „Strategic Service Unit“ während seiner Zeit in Minsk als SS- chung in der „Hütte Linz“ und einer (SSU) war. Nach der Reorganisation Angehöriger an Massenerschießungen Veranstaltung teilgenommen, bei der der SSU im Sommer 1947 arbeitete er beteiligt gewesen zu sein. Er soll Bundeskanzler Leopold Figl einen in der Wien-Dependance der „External Agenten angeworben haben, darunter Vortrag gehalten hatte. Bei der Rück- Survey Division 22“ (ESD 22). Angehörige der Roten Armee. Fockler fahrt nach Wien wurde das Auto gegen Die Agententätigkeit Focklers blieb wurde zum Tod durch Erschießen ver- 15:30 Uhr bei der Ennsbrücke in St. den sowjetischen Besatzern nicht ver- urteilt. Die Todesstrafe gegen „Vater- Valentin, der Besatzungszonengrenze, borgen. Einige sowjetische Offiziere landsverräter, Spione“ und „subversive von sowjetischen Besatzungssoldaten waren zu den Amerikanern übergelau- Diversanten“ war erst im Jänner 1950 angehalten. Krauland und Ottillinger fen oder hatten ihnen Informationen wieder eingeführt worden. Anfang Ok- wurden in die sowjetische Komman- geliefert. Am 23. April 1948 hielten tober 1951 verfasste der Verurteilte ein dantur in St. Valentin gebracht. Wäh- Soldaten der Roten Armee zwischen Gnadengesuch: „Mit Urteil des Kriegs- rend der Wirtschaftsminister und der St. Pölten und Amstetten ein Auto an kollegiums des Obersten Gerichtshofes Chauffeur am Abend ihre Fahrt nach und zwangen die vier Insassen mitzu- der UdSSR vom 1.10.1951 wurde ich Wien fortsetzen konnten, wurde Ottil- kommen. Einer von ihnen war Alfred zum Tod durch Erschießen verurteilt. linger festgehalten und in die sowjeti- Fockler, der angab, zu seiner Frau und Ich bitte, das Urteil im Gnadenwege sche Kommandantur nach Baden ge- seiner Tochter nach Gmunden fahren abzuändern, und bitte dabei um Be- bracht. Ihr wurde vorgeworfen, zu wollen. Während die drei Mitreisen- rücksichtigung, dass ich in der Unter- NSDAP-Mitglied gewesen zu sein. Au- den bald freigelassen wurden, blieb suchung die Aussagen freiwillig und ßerdem habe sie für die USA spioniert Fockler in Haft. Bei den Verhören sag- vollkommen abgegeben habe ...“ und einem Russen bei der Flucht in den te er unter anderem aus, dass ein Offi- Das Oberste Gericht der UdSSR Westsektor geholfen. Die Bundesregie- zier des sowjetischen Militärstabs in leistete dem Gnadengesuch nicht Fol- rung protestierte beim sowjetischen Baden den US-Nachrichtendienst ODI ge. Alfred Fockler wurde am 1. No- Hochkommissar erfolglos gegen die in Wien gegen Bezahlung mit Informa- vember 1951 in Moskau von einem Er- willkürliche Verhaftung der Sektions- tionen beliefere. Die Verbindung zwi- schießungskommando hingerichtet. leiterin. schen dem Offizier und den Amerika- Die Leiche wurde eingeäschert und die Margarethe Ottillinger, geboren am nern habe Margarethe Ottillinger her- Asche in einem Massengrab auf einem 6. Juni 1919 in Steinbach in Nieder- gestellt, die Leiterin der wichtigen Pla- Friedhof in Moskau bestattet. Focklers österreich, studierte als eine der weni- nungssektion im Bundesministerium Rehabilitierung wurde von einem rus- gen Frauen Handelswissenschaften an für Vermögenssicherung und Wirt- sischen Gericht am 9. Juli 2002 abge- der Hochschule für Welthandel, der schaftsplanung. Sie habe als Agentin lehnt. späteren Wirtschaftsuniversität, und für die Amerikaner gearbeitet, wertvol- promovierte 1940 als 21-Jährige. Die le Informationen geliefert und auch Überlebt im Gulag. Ein halbes Jahr hochbegabte Frau hatte sich ihr Studi- FOTOS: WERNER SABITZER Kontakte zu anderen Sowjetbürgern in nach Alfred Focklers verhängnisvollen um als Werkstudentin bei einem Spedi- Österreich gehabt. Im Herbst 1946 ha- Aussagen wurde Sektionsleiterin Mar- tionsunternehmen selbst finanziert. Sie be Ottillinger dazu beigetragen, dass garethe Ottillinger am 5. November erhielt eine Anstellung bei der „Reichs- Andrej Ivanovic Didenko, ein Inge- 1948 von sowjetischen Besatzungssol- vereinigung Eisen“ und wurde 1942 nieur der Wirtschaftsabteilung der daten festgenommen. Es handelte sich stellvertretende Leiterin der Außenstel- ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 5-6/22 63
ZEITGESCHICHTE le Südost, ohne Mitglied der NSDAP Österreicherinnen und Österreicher. In gewesen zu sein. Nach dem Ende des einem neuen Verfahren wurde Ottillin- Zweiten Weltkriegs trat Ottillinger in ger von den sowjetischen Behörden das Bundesministerium für Vermö- 1956 von persönlicher Schuld freige- genssicherung und Wirtschaftsplanung sprochen und am 16. März 1994, zwei ein, wo sie 1947 Leiterin der Planungs- Jahre nach ihrem Tod, in allen ihr zur sektion wurde. Die ehrgeizige Nieder- Last gelegten Punkten rehabilitiert. Die österreicherin war eine enge Mitarbei- Wirtschaftsexpertin konnte in ihren terin des Ministers Peter Krauland und Akt einsehen und wusste, wer sie ver- die erste Frau in Österreich, die eine raten hatte. Ihrem Ex-Chef Peter Krau- Sektion in einem Ministerium leitete. land warf sie vor, er habe sich bei ihrer Sie galt als mächtigste und einfluss- Festnahme zu wenig für sie eingesetzt. Nach Margarethe Ottillinger wurde der reichste Beamtin der Republik. Sie er- Wäre er energischer gewesen, wären Platz unter der Wotrubakirche in Wien- stellte einen Plan für den wirtschaftli- Mauer benannt. ihr sieben Jahre Leiden im Gulag er- chen Wiederaufbau Österreichs, mach- spart geblieben. te eine Bestandsaufnahme der von der Nach ihrer Genesung trat Ottillinger Sowjetunion als „deutsches Eigentum“ in die Österreichische Mineralölver- beschlagnahmten Betriebe und schätzte waltung (OMV) ein, wurde 1958 Vor- deren Wert ein. Die Sowjets hatten in standsdirektorin und handelte mit den Österreich etwa 250 Industriebetriebe Sowjets die ersten Gaslieferungen nach beschlagnahmt und in der USIA zu- Österreich aus. Die Russen lieferten sammengefasst, darunter die Donau- das erste Gas am 1. September 1968 dampfschiffahrtsgesellschaft (DDSG) nach Österreich. Einige Tage davor und die Erdölindustrieanlagen in Nie- waren Truppen des Warschauer-Pakts derösterreich. Viele Anlagen und Ma- in die Tschechoslowakei einmarschiert. schinen sowie Rohstoffe und Gewinne 1982 ging Ottillinger 63-jährig in wurden in die UdSSR transportiert. Ot- Pension. Sie sammelte Geld für den tillinger wusste Bescheid, wie viel Erd- Bau der Wotrubakirche auf dem öl die Russen in Niederösterreich för- Georgenberg in Wien-Mauer, war Mit- derten. Sie erreichte mit ihren Berech- gründerin des Afro-Asiatischen Insti- nungen, dass Österreich nach Norwe- Margarethe Ottillinger wurde im Ge- tuts in Wien und beriet den Wiener gen die zweithöchste Pro-Kopf-Zuwei- meinschaftsgrab der Servitinnen auf Erzbischof Franz Kardinal König in sung der Mittel aus dem Europäischen dem Friedhof Wien-Mauer bestattet. Fragen der Beziehungen zur Ostkirche. Wiederaufbauprogramms (Marshall- Sie übersiedelte in ein Heim der Servi- Plan) erhielt. Ottillinger hatte regelmä- sisch, verteidigte sich selbst und ver- tinnen-Ordensgemeinschaft, der sie ßig Kontakt mit Briten, Franzosen und fasste immer wieder Einsprüche und kurz vor ihrem Tod als Terziarin bei- Amerikanern. Beschwerdebriefe an den Untersu- trat. Margarethe Ottillinger starb am Nach ihrer Festnahme bei der Enns- chungsrichter. Mehrmals wurde die 30. November 1992 in Wien und wur- brücke wurde Margarethe Ottillinger in Österreicherin zu Verhören nach Mos- de im Gemeinschaftsgrab der Schwes- der sowjetischen Kommandantur in kau gebracht. Im Lager erkrankte Ottil- tern des Servitinnenordens auf dem Baden wochenlang einvernommen, ge- linger mehrmals schwer. Als sie zu ei- Friedhof Mauer in Wien-Liesing be- demütigt und misshandelt, um sie zu nem Verhör nach Moskau gebracht stattet. Der Platz vor der Wotrubakir- einem „Geständnis“ zu bewegen. Sie werden sollte, kam von der Lagerlei- che wurde am 9. Juni 2013 nach ihr be- weigerte sich, vorgelegte Protokolle zu tung die Nachricht, sie könne nicht nannt. unterschreiben, wollte sich in der Zelle zum Verhör reisen, weil sie im Sterben mit einer Schnur erhängen, wurde aber liege. Sie hatte mehr als vier Wochen Tod des Ministerialrats. Am 6. De- von Wärtern daran gehindert. Sie wur- lang über 40 Grad Fieber. Da man Ot- zember 1947 wurde bei der Wiener Po- de in das Durchgangslager Neunkir- tillinger einigermaßen gesund zum lizei eine Abgängigkeitsanzeige erstat- chen gebracht, wo man mitteilte, dass Verhör bringen wollte, kamen ein Offi- tet: Der 60-jährige Dipl.-Ing. Paul Kat- sie von einem Sondergericht zu 25 Jah- zier und ein Arzt in das Lager und ver- scher, Eisenbahnexperte im Bundesmi- ren Zwangsarbeit verurteilt worden sei. sorgten die Schwerkranke mit Medika- nisterium für Verkehr, habe am Tag Die Todesstrafe war damals von Stalin menten. Ottillinger kam später in ein davor gegen 17:30 Uhr seine Dienst- für einige Jahre ausgesetzt worden. anderes Straflager. Anfang 1955 wurde stelle in der Elisabethstraße 9 verlas- Anfang Mai 1949 wurde Ottillinger in ihre Haftzeit von 25 auf 10 Jahre he- sen, sei aber nicht zu Hause eingetrof- die Sowjetunion transportiert und nach rabgesetzt. Nach sieben Jahren Lager- fen, wie er es seiner Frau telefonisch mehreren Stationen, unter anderem im haft wurde sie freigelassen. Sie kam angekündigt habe. Ministerialrat Kat- KGB-Hauptquartier („Lubjanka“) in am 25. Juni 1955 auf einer Krankentra- scher hätte am 6. Dezember zu einer FOTOS: WERNER SABITZER Moskau, in ein Straflager gebracht. Im ge auf dem Bahnhof Wiener Neustadt intereuropäischen Gütertransportkonfe- Lager mussten die Gefangenen unter an. Sie litt an einer lebensgefährlichen renz nach Genf reisen sollen, bei der es unmenschlichen Bedingungen Schwer- Rippenfellentzündung. Im gleichen unter anderem über die Frage des Ver- arbeit verrichten, oft bei extrem tiefer Heimkehrerzug befanden sich Oberin- bleibs von 14.000 österreichischen Temperatur. Ottillinger lernte Rus- spektor Anton Marek und weitere 185 Frachtwaggons gegangen wäre, die von 64 ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 5-6/22
V E R S C H L E P P U N G E N I N D E R B E SAT Z U N G SZ E I T der sowjetischen Besatzungsmacht ten des KGB. Margarita Ottilinger. nach Osteuropa gebracht worden seien. Leykam-Verlag, Graz 1992. Die Ermittlungen der Polizei erga- Karner, Stefan: Im Kalten Krieg der ben, dass am 5. Dezember kurz vor Spionage. Margarethe Ottillinger in 17:30 Uhr ein Mann in russischer Uni- sowjetischer Haft 1948-1955. Studien- form das Gebäude Elisabethstraße 9 verlag, Innsbruck, Wien, Bozen, 2016. betreten und bald darauf wieder verlas- Karner, Stefan; Stelzl-Marx, Barba- sen hatte. Es konnte nicht geklärt wer- ra (Hg.): Stalins letzte Opfer. Ver- den, was der Mann im Gebäude getan schleppte und erschossene Österrei- hatte. Ein weiterer Mann mit ausländi- cher in Moskau 1950-1955. Böhlau schem Akzent erkundigte sich beim Verlag, Wien/Oldenbourg Verlag, Portier des Amtsgebäudes, ob Paul München, 2009. Katscher das Ministerium schon ver- Knoll, Harald; Stelzl-Marx, Barba- lassen habe, was der Portier verneinte. ra: Die Fälle Marek und Kiridus. Zur Etwa eine Viertelstunde später verließ Armbinde des im April 1945 von den Sowjetischen Strafjustiz in Österreich. Katscher seine Dienststelle. Ein Zeuge Sowjekts in Wien eingesetzten Polizei- In: Karner, Stefan; Stangler Gottfried gab an, er habe gegen 17:30 Uhr gese- lichen Hilfsdienstes. (Hg.): „Österreich ist frei!“ Der hen, wie der Ministerialrat bei der Goe- Österreichische Staatsvertrag 1955. thegasse von einem Mann in russischer 1.000 Verschleppte. Zwischen 1945 Beitragsband zur Ausstellung auf Offiziersuniform und drei weiteren und 1955 wurden in der sowjetisch be- Schloss Schallaburg 2005. Verlag Ber- Soldaten angehalten worden sei. setzten Zone Österreichs mehr als ger, Horn/Wien, 2005, S. 143-147. Innenminister Oskar Helmer wandte 2.200 Zivilisten wegen angeblicher Knoll, Harald; Stelzl-Marx, Barba- sich mit einer Note vom 15. Dezember Spionage oder Kriegsverbrechen an ra: Sowjetische Strafjustiz in Öster- 1947 an die Sowjets im Alliierten Rat UdSSR-Bürgern verhaftet. Etwa 1.000 reich. Verhaftungen und Verurteilun- für Österreich und bat um Aufklärung, von ihnen wurden verurteilt und in gen 1945-1955. In: Karner, Stefan; was mit Paul Katscher passiert sei. Straflager in die Sowjetunion gebracht. Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Die Rote Auch Bundeskanzler Leopold Figl in- Die letzte Verschleppung eines Armee in Österreich. Sowjetische Be- tervenierte. Eine Antwort der Sowjets österreichischen Spitzenbeamten durch satzung 1945-1955. Beiträge. Olden- blieb aus. Auch weitere Anfragen des sowjetische Besatzer betraf Alfred So- bourg Verlag, Graz, Wien, München, Innenministeriums nach dem Verbleib kolowski. Der Chefdolmetscher der 2005, S. 275-322. Katschers wurden nicht beantwortet. Stadt Wien und Verbindungsmann zur Knoll, Harald; Stelzl-Marx, Barba- Erst viel später wurde den österrei- sowjetischen Kommandantur wurde im ra: „Wir mussten hinter eine sehr lan- chischen Behörden das Schicksal des Jänner 1955 unter einem Vorwand in ge Liste einfach das Wort ,verschwun- verschleppten Spitzenbeamten bekannt. die Kommandantur gelockt, festgehal- den‘ schreiben.“ Sowjetische Strafjus- Paul Katscher, der schon im national- ten und nach Moskau verschleppt. Als tiz in Österreich; in: Hilger, Andreas; sozialistischen Regime schwer gelitten Grund nannten die Besatzer angebliche Schmeitzner, Mike; Vollnhals, Clemens hatte, war nach Baden gebracht wor- Kriegsverbrechen Sokolowskis wäh- (Hg.): Sowjetisierung oder Neutrali- den, zum Sitz der Kommandantur der rend des Zweiten Weltkriegs. Alfred tät? Optionen sowjetischer Besatzungs- sowjetischen Besatzungsmacht in Sokolowski wurde im Oktober 1955 politik in Deutschland und Österreich Österreich. Die Sowjets hatten in Ba- freigelassen. Er kehrte nach Wien zu- 1945–1955. Vandenhoeck & Ruprecht, den alle Hotels und viele Privathäuser rück und arbeitete wieder in leitender Göttingen, 201l, S. 169–219. für ihre Dienststellen und die Unter- Funktion beim Magistrat der Stadt Rauchensteiner, Manfried; Kriech- bringung ihrer Soldaten beschlagnahmt Wien, zuletzt in der Magistratsdirekti- baumer, Robert: Die Gunst des Augen- und das Viertel mit blickdichten Plan- on (siehe: Karten für die Eisrevue; in: blicks. Neuere Forschungen zu Staats- ken abgeriegelt. Ministerialrat Kat- Öffentliche Sicherheit, Nr. 3-4/21, S. vertrag und Neutralität. Böhlau Ver- scher wurde der Spionage zum Nach- 85). Werner Sabitzer lag, Wien, Köln, Weimar, 2005. teil der Sowjetunion beschuldigt und in Schödl, Ingeborg: Im Fadenkreuz der Haft dazu gebracht, ein „Geständ- Quellen/Literatur: der Macht. Das außergewöhnliche Le- nis“ zu unterschreiben. Zu zehn Jahren Bacher, Dieter; Knoll, Harald: ben der Margarethe Ottillinger. Czer- Lagerhaft verurteilt, wurde der Spit- Spione und Stalinopfer. Die Rolle nin Verlag, Wien, 2004. zenbeamte im April 1948 in ein sowje- österreichischer Zivilisten in den Akti- Stelzl-Marx, Barbara: Stalins Sol- tisches Lager bei Lwow (Lemberg) ge- vitäten ausländischer Nachrichten- daten in Österreich. Die Innenansicht bracht, wo er am 9. Juni 1949 im Ge- dienste in Österreich 1950–1953. In: der sowjetischen Besatzung 1945- fängnisspital starb. Ein geflüchteter Austrian Center for Intelligence, Pro- 1955. Reihe Kriegsfolgen-Forschung Mithäftling berichtete, Katscher habe paganda and Security Studies (hg. von Stefan Karner), Band 6. Böh- in der U-Haft in Baden versucht, sich (ACIPPS): Journal for Intelligence, lau Verlag, Wien/Oldenbourg Verlag, zu erhängen. Im Lager Lwow ange- Propaganda and Security Studies München, 2012. FOTO: WERNER SABITZER kommen, habe er nur noch aus „Haut (JIPSS), Vol. 2, Nr. 2/2008, S. 99-108. Wetz, Ulrike: Geschichte der Wie- und Knochen“ bestanden, seine Knie Carsten, Catarina: Der Fall Ottil- ner Polizeidirektion vom Jahre 1945 und Ellenbogen seien angeschwollen linger. Eine Frau im Netz politischer bis zum Jahre 1955. Mit Berücksichti- gewesen und sein Körper habe blau- Intrigen. Herder, Wien 1983. gung der Zeit vor 1945. Phil. Diss., gelb ausgesehen. Karner, Stefan (Hg.): Geheime Ak- Wien 1971. ÖFFENTLICHE SICHERHEIT 5-6/22 65
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