Völkerrecht in der Coronakrise - Betrifft Justiz

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Völkerrecht in der Coronakrise - Betrifft Justiz
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Völkerrecht in der Coronakrise

                                 Die Krise wirft ein Schlaglicht auf strukturelle
                                 Schwächen des Völkerrechts und seiner
                                 Institutionen

                                 von Anne Peters

                                 I. Die Pandemie als Globalisierungs-             an die Mitgliedstaaten u.a. zu staatlichen
                                    phänomen                                      Response-Strategien, der staatlichen Kom-
                                                                                  munikation und nicht zuletzt zum inter-
                                 Die aktuelle Corona-Pandemie ist ein             nationalen Personen- und Warenverkehr.
                                 Produkt der Globalisierung. Während              Verbindliche Maßnahmen kann die WHO
                                 vor Jahrhunderten Pest und Cholera noch          selbst nicht treffen, sie ist keine Gesund-
                                 Jahrzehnte für die Ausbreitung brauch-           heitspolizei.
                                 ten, dauerte es nur wenige Monate bis zur
                                 kompletten Durchseuchung der Welt mit            Die Vereinten Nationen publizierten
                                 Covid-19.                                        schon im April 2020 einen gut 50-seiti-
                                                                                  gen Bericht, der die UN-Unterstützungs-
                                 II. Völkerrecht als Handlungs-                   maßnahmen für Staaten im Kontext der
Prof. Dr. Dr. h.c. Anne Peters                                                    Bekämpfung von Covid-19 skizziert. Die
ist Direktorin am Max-               leitlinie
                                                                                  Leitlinie nennt fünf Aktionsbereiche: Auf-
Planck-Institut für aus-
ländisches öffentliches                                                           rechterhaltung der Funktionalität der Ge-
Recht und Völkerrecht,           Die aktuelle Gesundheitskrise unterzieht         sundheitssysteme, Aufrechterhaltung der
Heidelberg.                      nicht nur das öffentliche und private Le-        minimalen sozialen Absicherung, Schutz
                                 ben einem Stresstest, sondern auch das           von Arbeitsplätzen und insbesondere
                                 Völkerrecht. Völkerrechtliche Verfahren          KMUs, finanzielle Anreize und Förderung
                                 und Institutionen haben als Vehikel und          des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
                                 Gefäß für proaktive Maßnahmen zur Be-            Ferner wurden zahlreiche Organe, Insti-
                                 kämpfung der Krankheit gedient. Seit der         tutionen und Programme der Vereinten
                                 Feststellung des internationalen Gesund-         Nationen in ihrem Zuständigkeitsbereich
                                 heitsnotstandes (Public Health Emer-             aktiv. Das Büro für die Koordination hu-
                                 gency of International Concern, PHEIC)           manitärer Angelegenheiten erließ einen
                                 richtete der Generaldirektor der WHO ab          »globalen Nothilfeplan«, die UN-General-
                                 dem 30. Januar 2020 in ca. dreimonati-           versammlung verabschiedete Beschlüsse
                                 gen Abständen befristete Empfehlungen            zu »globaler Solidarität im Kampf gegen

                                 Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von: Anne Peters, Die Pandemie und das Völkerrecht, Jahrbuch
                                 des öffentlichen Rechts der Gegenwart: Neue Folge 69 (2021). Dort auch umfangreiche Nachweise.

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das Coronavirus« und zur »internationa-       schlossen privatrechtliche Verträge nach      Gesundheitspolitik das Menschenrecht
len Zusammenarbeit für den Zugang zu          englischem Recht. Das Arrangement ist         auf Leben verletzen.
Medikamenten und Impfung«, um nur             keine internationale Organisation, steht
einige zu nennen.                             aber unter dem Schirm der Gavi-Allianz.
                                                                                                   Pflicht zur Erarbeitung von
                                              Hier wirkt eine PPP in Richtung des ge-
                                                                                                          Notfallplänen
Der Sicherheitsrat verabschiedete Resolu-     rechteren Zugangs zu Impfungen. Es sieht
tion 2532, in der er die Ausbreitung des      allerdings gegenwärtig nicht danach aus,
Coronavirus als mögliche Friedensge-          dass reiche Staaten COVAX ausreichend         Der UN-Menschenrechtsausschuss liest
fährdung (»likely to endanger the main-       alimentieren würden; vielmehr haben sie       aus diesem Menschenrecht auch staatli-
tenance of international peace and securi-    bei Pharmaunternehmen weitaus mehr            che Pflichten zur Verbesserung der allge-
ty«) qualifizierte. Die Resolution forderte   Impfstoff bestellt, als sie für die eigene    meinen Lebensumstände einschließlich
(»demands«) einen Waffenstillstand in al-     Bevölkerung benötigen. Der WHO DG             des Schutzes vor lebensbedrohlichen
len Konflikten, mit denen der Sicherheits-    (Generaldirektor) warnt vor einem »kata-      Krankheiten und die Pflicht zur Erarbei-
rat befasst ist, mit Ausnahme der Militär-    strophalen moralischen Versagen«.             tung von Notfallplänen heraus.
operationen gegen den Islamischen Staat.
Sie rief ferner den UN-Generalsekretär        III. Völkerrecht als Rechts- und              Das Menschenrecht auf Gesundheit (Art.
auf, die Friedenstruppen unter seinem                                                       12 lit. c) des Sozialpakts) verpflichtet die
                                                   Haftungsmaßstab
Kommando mit humanitären Maßnah-                                                            Vertragsparteien ausdrücklich zu »pre-
men im Covidkontext zu betrauen. Trotz                                                      vention, treatment and control of epi-
                                              1. Mangelnde Völkerrechtstreue
dieses Aufrufs zur Waffenruhe wurde al-                                                     demic (…) diseases«. Diese Vorschrift
                                                 bei der Pandemievorbeugung
lerdings in diversen Konfliktgebieten, et-                                                  stellt eine verbindliche Rechtsnorm dar.
wa in Nagorny Karabach und im Jemen,             und -bekämpfung                            Diese Rechtspflicht wird allerdings durch
weiter gekämpft.                                                                            die weichmachende Kautel der bloß all-
                                              Im Vorfeld und im Verlauf der Pandemie        mählichen Realisierung im Rahmen des
                                              sind eine Reihe völkerrechtlicher Verhal-     Möglichen (Art. 2 Abs. 1 IPwskR) und
      Einheit und Unteilbarkeit aller
                                              tensmaßstäbe relevant geworden, die zum       durch die unbestimmten Rechtsbegriffe
             Menschenrechte
                                              Teil nicht beachtet wurden.                   (»Vorsorge, Behandlung und Kontrolle«)
                                                                                            relativiert. Das Recht auf Gesundheit ist
Auch die Menschenrechtsinstitutionen          a) Mangelnde Vorsorge                         deswegen nur schlecht für eine unmittel-
der Vereinten Nationen, also die zahl-                                                      bare Anwendung geeignet und außer im
reichen Vertragsausschüsse, der Men-          Nach Art.13 der WHO-Gesundheitsvor-           Extremfall einer völligen Untätigkeit des
schenrechtsrat, das Hochkommissariat          schriften (IHR) zum »Public Health Re-        Staates in Europa nicht vor staatlichen
für Menschenrechte und andere, haben          sponse« waren die Mitgliedstaaten der         Gerichten einklagbar. Lateinamerikani-
schnell reagiert. Sie betonten unter an-      WHO verpflichtet, bis zum 15. Juni 2012       sche Gerichte wenden dieses Recht je-
derem die Einheit und Unteilbarkeit           ihre »capacity to respond promptly and        doch direkt an.
aller Menschenrechte (also z. B. die Be-      effectively to public health risks and pu-
deutung der Meinungs- und Informati-          blic health emergencies of international      Möglicherweise wurde auch das allgemei-
onsfreiheit für den Schutz des Rechts auf     concern« herzustellen. Die bis 2012 auf-      ne völkerrechtliche Schädigungsverbot
Gesundheit), erläuterten die rechtlichen      zubauenden »core capacity requirements«       (No harm principle) verletzt, das Anfang
Anforderungen an staatliche Notstandser-      sind detailliert in Annex 1 der IHR be-       des 20. Jahrhunderts für grenzüberschrei-
klärungen und wiesen immer wieder auf         schrieben. Bis 2014 hatten nur 64 Staaten     tende Schadstoffemissionen entwickelt
die Notwendigkeit einer menschenrechts-       diese Rechtspflicht vollumfänglich erfüllt.   wurde. Eine Verursachung der materiel-
basierten Strategie der Pandemiebekämp-                                                     len Pandemieschäden in einem juristi-
fung hin.                                     Mangelhafte staatliche Gesundheitsmaß-        schen Sinne wird sich in der komplexen
                                              nahmen beeinträchtigten das Menschen-         Situation jedoch kaum etablieren lassen.
Eine weitere Innovation ist COVAX,            recht auf Leben (Art. 6 IPBürgR; Art. 2       Ein alternativer Ansatz stellt auf die Ver-
ein internationaler Mechanismus zur           EMRK; Art. 4 AMRK) und auf Gesundheit         letzung von ergebnisunabhängigen Ver-
Beschleunigung der Entwicklung, Her-          (Art. 12 des IPwskR). Das Recht auf Leben     fahrenspflichten (insbesondere Pflichten
stellung und fairen Verteilung von Co-        verlangt von den EMRK-Parteien, dass sie      zur Unterhaltung einer Infrastruktur, Ver-
vid-19-Diagnostik, -Behandlung und            Menschen unter ihrer Hoheitsgewalt kei-       haltens- bzw. Due Diligence-Pflichten zur
-Impfstoff. Die EU und China beteiligen       nen an sich vermeidbaren Risiken aus-         Anzeige von Krankheitsausbrüchen) ab.
sich daran, die USA sind unter Präsident      setzen. Die Konventionsstaaten sind zur
Biden beigetreten, Russland bleibt fern.      ausreichenden Regulierung von Kranken-        b) Überreaktionen
Finanzkräftige Staaten haben sich zum         häusern verpflichtet. Es darf auch nicht
Kauf von Impfstoff über COVAX verpflich-      Einzelnen eine der Bevölkerung allge-         Einzelne staatliche Pandemiebekämp-
tet, von dem dann ein Teil an ärmere Teil-    mein zur Verfügung gestellte Behandlung       fungsmaßnahmen verletzten unter
nehmerstaaten abgegeben wird. Die Staa-       verweigert werden. Im Extremfall können       Umständen Liberalisierungspflichten
ten treten als Wirtschaftsakteure auf und     strukturelle staatliche Versäumnisse in der   aus WTO-Recht und EU-Recht. Völker-

Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021                                                                                                 57
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rechtsbrüche lagen etwa möglicherweise         wurden, außer in Lateinamerika, zahlrei-        Pandemiekontrolle und -bekämpfung,
darin, dass Staaten wie Deutschland im         che Notstandserklärungen nach der ersten        zur kontinuierlichen Überwachung der
März 2020 im Alleingang ihre Grenzen           Pandemiewelle zurückgenommen.                   Situation und zur Weitergabe von Infor-
schlossen, obwohl der WHO DG hiervon                                                           mationen an die WHO und andere Staa-
ausdrücklich abgeraten hatte. Allerdings       2. Sanktionen                                   ten. Die WHO jedoch kann nur informie-
ist gut vertretbar, dass die unilateralen      Das Völkerrecht wird es kaum ermögli-           ren und Empfehlungen aussprechen. Die
Grenzschließungen durch die Ausnah-            chen, Rechtsbrecher zur juristischen Ver-       nationale Gesundheitspolitik unterliegt
meklausel von Art. 43 IHR gedeckt waren.       antwortung zu ziehen. Eine umfassende           weiterhin der Souveränität der Staaten
Ähnliches gilt für die EU-Pflichten zur        oder gar obligatorische internationale          (Art. 3 Abs. 4 IHR).
Gewährung von Waren- und Personen-             Gerichtsbarkeit fehlt; nationale Gerichte
verkehrsfreiheit.                              dürfen auf Klagen gegen andere Staaten          Die WHO leidet an den typischen Schwä-
                                               nicht eintreten, und sonstige Sanktionen        chen internationaler Organisationen. Sie
Auch das Welthandelsrecht hat funkti-          sind kaum verfügbar. Die möglichen Ver-         ist schlecht für ihre Koordinationsaufga-
oniert. So meldeten die Mitglieder der         letzungen des allgemeinen Schädigungs-          ben ausgerüstet und noch schlechter für
Welthandelsorganisation (WTO) ihre             verbots, der Menschenrechte und der             die Orchestrierung einer echten Zusam-
Exportbeschränkungen und Verbote der           internationalen Gesundheitsvorschriften         menarbeit. Ihre Möglichkeiten zur Über-
Ausfuhr von medizinischem Material             sind somit praktisch nicht juristisch sank-     wachung der Rechtstreue und zur Sankti-
nach dem vorgesehen Schema. Es kann            tionierbar. Staatenklagen zum Internatio-       onierung von Fehlverhalten der Mitglied-
am Maßstab des GATT geprüft werden,            nalen Gerichtshof sind mangels passen-          staaten sind gering.
ob diese Ausfuhrbeschränkungen not-            der Zuständigkeitsnorm nicht zulässig.
wendig waren, »um einer kritischen Lage        Haftungsklagen gegen einen Staat vor            Die WHO ist ferner finanziell von den
vorzubeugen, die aus einem Mangel an           den Gerichten eines anderen Staates, wie        Mitgliedstaaten abhängig. Beispielsweise
(…) wichtigen Erzeugnissen« entstehen          die Sammelklagen, die in den USA gegen          leisten die USA 24 Prozent der nach dem
könnte (Art. XI Abs. 2 lit. a) GATT) oder,     China erhoben wurden, sind wegen der            staatlichen Bruttosozialprodukt bemes-
sofern die Maßnahmen nicht von dieser          entgegenstehenden Staatenimmunität              senen festen Pflichtbeiträge. Diese ma-
Vorschrift gedeckt waren, ausnahmsweise        aussichtslos.                                   chen aktuell jedoch nur 17 Prozent des
zum Schutz von Menschenleben zulässig                                                          WHO-Gesamtbudgets aus. Denn wegen
wären (Art. XX lit. b) GATT).                                                                  Finanzknappheit erschließt die WHO
                                               IV. Spiegel der Schwächen des                   laufend weitere, auch private Geldquel-
Im Gefolge der Pandemie haben einige               Völkerrechts                                len (»voluntary contributions«). Die Zu-
Staaten, insbesondere China, durch Über-                                                       sammenarbeit mit privaten Akteuren wie
wachung, Zensur und Verhaftungen aus           Damit wirft die Krise ein Schlaglicht auf       der Bill and Melinda Gates-Stiftung, aber
liberaler Sicht Menschenrechte verletzt.       strukturelle Schwächen des Völkerrechts         auch mit Pharmakonzernen, ist nicht oh-
Ob hierin wirklich Völkerrechtsbrüche          und seiner Institutionen. Zu einigen            ne Risiken. Sie kann zu Intransparenz und
liegen, hängt von der Rechtsbindung der        wichtigen wesensmäßig transnationalen           Interessenkonflikten führen.
jeweiligen Staaten ab. Beispielsweise hat      Problemen existieren keine rechtlichen
China den IPBürgR nur unterzeichnet            Vorgaben. Beispielsweise besteht keine
                                                                                                      Folge der rücksichtslosen
und nicht ratifiziert, ist also nicht an die   völkerrechtliche Verpflichtung zur Wei-
                                                                                                       Ausbeutung der Natur
konkreten Vertragsnormen, sondern nur          tergabe genetischer Proben, und Regeln
an zugrundeliegendes Gewohnheitsrecht          über den fairen Zugang zu medizinischer
gebunden.                                      Behandlung existieren nur in rudimentä-         Von den drei klassischen Befolgungs-
                                               ren Ansätzen.                                   faktoren (Reputation, Retaliation und
                                                                                               Reziprozität) hat lediglich die Sorge um
       Eine umfassende oder gar
                                               Die aktuell im Fokus stehenden Inter-           die Reputation eine große Rolle gespielt:
      obligatorische internationale
                                               national Health Regulations (IHR) der           China versorgt zahlreiche arme Staaten
          Gerichtsbarkeit fehlt
                                               WHO sind vergleichsweise ungewöhnli-            großzügig mit Impfstoff.
                                               ches Völker-Sekundärrecht, da sie formal
Zahlreiche Staaten haben den öffentli-         rechtsverbindlich sind. Sie wurden auf der      V. Pandemie und Fundamentalkritik
chen Notstand erklärt, um Menschen-            58. Sitzung der WHO im Mai 2005 per
rechtsgarantien zeitweilig auszusetzen.        Akklamation verabschiedet, ohne einen           Die Pandemie gibt Anlass zur Fundamen-
Sofern die formellen und materiellen           einzigen Vorbehalt oder Ablehnung eines         talkritik am Völkerrecht. Die Krankheit ist
Voraussetzungen gewahrt waren, durften         Staates, was nach Art. 21 lit. a) und Art. 22   eine Folge der rücksichtslosen Ausbeu-
sich diese Staaten damit von der Beach-        WHO-Verfassung zulässig gewesen wäre.           tung der Natur, insbesondere der Wild-
tung etwa des Rechts auf Versammlungs-         Somit traten sie für alle 194 WHO-Mit-          tiere, durch Menschen. Die Schwierigkei-
oder Bewegungsfreiheit freizeichnen. Das       gliedstaaten zum 15. Juni 2007 in Kraft.        ten vieler staatlicher Gesundheitssysteme
Recht auf Leben ist allerdings notstands-      Jedoch sind sie inhaltlich relativ schwach:     gehen teilweise auf ihren Rückbau unter
fest und kann durch derartige Erklärun-        So verpflichten sie die WHO-Mitgliedstaa-       dem Druck oder aufgrund von Konditio-
gen nicht suspendiert werden. Im Übrigen       ten zum Aufbau eigener Kapazitäten zur          nalitäten der internationalen Finanzinsti-

58                                                                                                         Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021
[ Blickpunkt ]

                                                                                                                      Foto: Jens Heise

tutionen zurück. Diese Erwägung befeuert     Eine zweite Grundsatzkontroverse dreht         dikamenten, die mittels einer Zwangsli-
die harsche Kritik am angeblich »neolibe-    sich um den völkerrechtlich flankierten        zenz hergestellt wurden. Es bleibt jedoch
ralen« Völkerrecht und Aufrufe zu einer      Patentschutz. Spätestens seit dem Aus-         dabei, dass die zwangslizenzierenden
radikalen Erneuerung dieser Rechtsord-       bruch von AIDS/HIV in den 1980er Jah-          Staaten den Patentinhaber angemessen
nung.                                        ren ist der Interessenkonflikt zwischen        entschädigen müssen. Es ist fraglich, ob
                                             den Sitzstaaten der Pharmaindustrie und        eine Berufung auf »essentielle Sicher-
Anlässlich der Pandemie wurde ein Mora-      dem globalen Süden, zwischen Eigen-            heitsinteressen« (Art. 73 (b)(iii) TRIPS)
torium für Investitionsschutzschiedskla-     tumsschutz und Zugang zu lebenswichti-         ärmere Staaten hiervon befreien könnte.
gen gefordert. Anlass ist die Befürchtung,   gen Medikamenten, ein zentraler Kampf-         Im Zuge der Pandemie haben zahlreiche
dass Lockdowns und ähnliche Maßnah-          schauplatz.                                    Staaten patentrechtliche Hürden beseitigt.
men, die auch ausländische Investoren                                                       Dennoch erschwert selbst der reformierte
schädigen, von diesen in Investor-Staa-      Art. 31 des TRIPS-Abkommens von 1994           TRIPS-Rahmen der Bevölkerung des glo-
ten-Schiedsklagen angegriffen werden         erlaubt den TRIPS-Mitgliedern unter en-        balen Südens den Zugang zu Medikamen-
könnten. Die Investitionsschutzabkom-        gen Voraussetzungen, anderen Produzen-         ten weiterhin.
men enthalten allerdings typischerweise      ten die Erzeugung, Nutzung und Verkauf
ähnliche Ausweichklauseln für Notsitua-      etwa eines Medikaments ohne die Zustim-        Eine radikalere Strategie wäre eine Of-
tionen wie das GATT. Staatliche Beschrän-    mung des Patentinhabers zu erlauben. Bis       fenlegung von Wissen und Daten, und
kungen der Wirtschaftstätigkeit der Inves-   2017 durfte die nicht vom Rechteinhaber        damit die Vergemeinschaftung des geis-
toren dürften in der Regel von solchen       autorisierte Nutzung nur »predominant-         tigen Eigentums in einem »Pool« gewe-
vertraglichen Ausnahmeklauseln gedeckt       ly for the supply of the domestic market«      sen. Unter der Überschrift »C-TAP: Covid
sein. Im Extremfall kommt außerdem ei-       erfolgen (Art. 31 lit. f) TRIPS). Damit half   Technology Access Tool« hatte die WHO
ne Berufung auf einen Notstand und da-       diese Vorschrift nur solchen Staaten, die      auf Initiative von Costa Rica und 36 wei-
mit Befreiung von der Staatenverantwor-      eigene Produktionskapazitäten besitzen.        teren Staaten hierzu aufgerufen. Im Fall
tung in Betracht. Diese Mechanik wurde       Die seit 2017 geltende Vorschrift des Art.     von Covid-19 haben sich die Staaten, in
in der argentinischen Finanzkrise bereits    31bis TRIPS erlaubt nun (unter weiteren        denen die leistungsfähigen Unternehmen
durchgespielt.                               Voraussetzungen) den Export von Me-            sitzen, diesem Anliegen aber verweigert.

Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021                                                                                               59
[ Blickpunkt ]

VI. Katalysator der Völkerrechtsent-           ted Nations Environment Programme)             Staatliche Reaktionen auf die Epidemie
    wicklung                                   definiert den Ansatz als »the collaborative    hätten das Völkerrecht – über mögliche
                                               effort across multiple disciplines to attain   einfache Rechtsbrüche hinaus – gesamt-
In der Vergangenheit wurden völkerrecht-       optimal health for people, animals and         haft und grundlegend unterminieren
liche Reformen vor allem durch Kriege          the environment.«                              können. Grenzschließungen, Hamster-
und schwere Wirtschafts- oder Finanz-                                                         käufe von Impfstoff und Verbote des
krisen ausgelöst. Auch die SARS-Epide-         Die WHO-Versammlung forderte den               Exports von Medizingütern hätten ein
mie von 2003 hatte zu einer gründlichen        WHO DG zu einem One Health-Ansatz              derartiges Ausmaß erreichen können,
Überarbeitung der IHR geführt. Dass            auf und zur fortgesetzten engen Zusam-         dass sie eine grundsätzliche Abkehr von
Covid-19 eine erneute formale Revision         menarbeit mit dem Office International         den internationalen Prinzipien der So-
des internationalen Gesundheitsrechts          des Epizooties (OIE) und der Food and          lidarität und Handelsfreiheit darstellen
auslösen wird, ist gegenwärtig unwahr-         Agriculture Organization (FAO), um den         würden.
scheinlich. Der Abschlussbericht des           zoonotischen Ursprung des Virus zu iden-
unabhängigen Panels vom Mai 2021               tifizieren und gezielte Interventionen und
                                                                                                   Eine systemische Schwächung
schlägt u.a. die Gründung eines „globa-        Forschung in Gang zu setzen. Die dem-
                                                                                                        des Völkerrechts ist
len Gesundheitsrats“ durch die UN-Ge-          nach erforderliche umfassende Sichtweise
                                                                                                          nicht eingetreten
neralversammlung vor sowie eine neue           muss nicht nur die Speziesgrenzen über-
Pandemie-Rahmenkonvention. Die Auto-           schreiten, sondern auch die Nord-Süd-Di-
rität des DG solle durch eine verlängerte      mension einbeziehen, wie die aktuelle          Dies ist aber nicht passiert. Die unilatera-
Amtszeit mit Ausschluss der Wiederwahl         Krise eindrücklich zeigt.                      len Maßnahmen waren überwiegend von
gestärkt werden. Die Finanzierung der                                                         den in den völkerrechtlichen Instrumen-
WHO müsse unabhängig von Sponsoren                                                            ten selbst vorgesehenen Ausnahme- und
gesichert sein.                                VII. Das post-pandemische                      Ventilklauseln gedeckt. Damit ist eine
                                                    Völkerrecht                               systemische Schwächung des Völkerrechts
Eine sanfte Entwicklung des ungeschrie-                                                       nicht eingetreten.
benen Völkerrechts und von einigen tra-        Das fortschreitende Eindringen von Men-
genden Prinzipien scheint sich jedoch          schen in natürliche Lebensräume wird           Es sieht gegenwärtig nicht so aus, als ob
anzubahnen. So scheint das Menschen-           neue Krankheitserreger freilegen, gegen        Corona einen Wendepunkt zu einer »neu-
recht auf Gesundheit stärker als je zuvor      die der Mensch nicht immun ist. Die In-        en« Völkerrechtsordnung darstellt. Spezi-
aktiviert zu werden. Auch ist die Einheit      tergouvernementale Plattform für Biodi-        ell für den Teilbereich des globalen Ge-
und Unteilbarkeit aller Menschenrechte         versität weist darauf hin, dass Säugetiere     sundheitsrechts könnte ein solcher »global
stärker ins Bewusstsein gerückt worden.        und Vögel Wirtstiere für Millionen noch        reset«, wie das WHO Panel zur Untersu-
                                               unentdeckter Viren sind, von denen ge-         chung der Pandemie es ausdrückt, jedoch
                                               schätzt 540.000 bis 850.000 den Men-           anstehen. Die gegenwärtigen Tendenzen
                  Schlagwort
                                               schen befallen können. Gefahren drohen         weisen allerdings in unterschiedliche
                 »One Health«
                                               auch von Haustieren, da der übermäßige         Richtungen: Mehr Überwachungsstaat,
                                               Einsatz von Antibiotika in der Massen-         aber auch mehr Transparenz; mehr »Impf-
Ferner scheint das Prinzip der internati-      tierhaltung zur Antibiotikaresistenz von       nationalismus«, aber auch mehr globale
onalen Solidarität, das bisher vor allem       Tier und Mensch führt. Nicht alle Zoono-       Solidarität, wie insbesondere die globale
von den Staaten des globalen Südens            sen weiten sich zu Pandemien aus, aber         Kraftanstrengung zur Entwicklung und
und China propagiert worden war, mehr          die meisten Pandemien (wie etwa die Vo-        Verteilung des Impfstoffs zeigt. Im Kon-
Akzeptanz bei den westlichen Staaten           gelgrippe, die Schweinegrippe und jetzt        text solcher antagonistischen Tendenzen
zu finden. Die Impfverteilungsplattform        Covid-19) sind zoonotischen Ursprungs.         nimmt das Völkerrecht eine zwiespältige
COVAX basiert maßgeblich auf dem Ge-           Ihre pandemische Ausweitung ist die            Rolle ein. Es kann Gesundheit, Fairness
danken einer globalen Gesundheits-Soli-        Folge unserer globalisierten Lebenssitu-       und Gerechtigkeit im Weltmaßstab för-
darität. Der juristische Gehalt des Prinzips   ation. Das heißt auch, dass die Krank-         dern oder behindern. Was wir daraus ma-
der Solidarität, das von einigen Beobach-      heit nachhaltig nur überwunden werden          chen, liegt in unserer Verantwortung. 
tern schon früher als »emergentes Struk-       kann, wenn sie überall unter Kontrolle
turprinzip der Völkerrechtsordnung«            ist. Dabei bleiben, unter Berücksichti-
qualifiziert wurde, dürfte in dieser Praxis    gung des Subsidiaritätsgedankens, die
weiter gestärkt worden sein. Neu hat das       vorrangigen Regulierungsebenen natio-
Schlagwort »One Health« den Weg in             nal und regional. Staaten, internationale
Rechtstexte gefunden: Es besagt, dass die      Organisationen, Zivilgesellschaft und
Gesundheit von Menschen, Tieren und            Wirtschaftsakteure können und sollen
der gesamten Biosphäre gegenseitig von-        zwar einzeln Lösungen ausprobieren, die
einander abhängen und deshalb auch nur         Pandemie kann aber nur in einer globa-
gesamtheitlich gesichert werden können.        len gemeinschaftlichen Aktion überwun-
Eine neuere Publikation des UNEP (Uni-         den werden.

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