Völkerrecht in der Coronakrise - Betrifft Justiz
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[ Blickpunkt ] Völkerrecht in der Coronakrise Die Krise wirft ein Schlaglicht auf strukturelle Schwächen des Völkerrechts und seiner Institutionen von Anne Peters I. Die Pandemie als Globalisierungs- an die Mitgliedstaaten u.a. zu staatlichen phänomen Response-Strategien, der staatlichen Kom- munikation und nicht zuletzt zum inter- Die aktuelle Corona-Pandemie ist ein nationalen Personen- und Warenverkehr. Produkt der Globalisierung. Während Verbindliche Maßnahmen kann die WHO vor Jahrhunderten Pest und Cholera noch selbst nicht treffen, sie ist keine Gesund- Jahrzehnte für die Ausbreitung brauch- heitspolizei. ten, dauerte es nur wenige Monate bis zur kompletten Durchseuchung der Welt mit Die Vereinten Nationen publizierten Covid-19. schon im April 2020 einen gut 50-seiti- gen Bericht, der die UN-Unterstützungs- II. Völkerrecht als Handlungs- maßnahmen für Staaten im Kontext der Prof. Dr. Dr. h.c. Anne Peters Bekämpfung von Covid-19 skizziert. Die ist Direktorin am Max- leitlinie Leitlinie nennt fünf Aktionsbereiche: Auf- Planck-Institut für aus- ländisches öffentliches rechterhaltung der Funktionalität der Ge- Recht und Völkerrecht, Die aktuelle Gesundheitskrise unterzieht sundheitssysteme, Aufrechterhaltung der Heidelberg. nicht nur das öffentliche und private Le- minimalen sozialen Absicherung, Schutz ben einem Stresstest, sondern auch das von Arbeitsplätzen und insbesondere Völkerrecht. Völkerrechtliche Verfahren KMUs, finanzielle Anreize und Förderung und Institutionen haben als Vehikel und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Gefäß für proaktive Maßnahmen zur Be- Ferner wurden zahlreiche Organe, Insti- kämpfung der Krankheit gedient. Seit der tutionen und Programme der Vereinten Feststellung des internationalen Gesund- Nationen in ihrem Zuständigkeitsbereich heitsnotstandes (Public Health Emer- aktiv. Das Büro für die Koordination hu- gency of International Concern, PHEIC) manitärer Angelegenheiten erließ einen richtete der Generaldirektor der WHO ab »globalen Nothilfeplan«, die UN-General- dem 30. Januar 2020 in ca. dreimonati- versammlung verabschiedete Beschlüsse gen Abständen befristete Empfehlungen zu »globaler Solidarität im Kampf gegen Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung von: Anne Peters, Die Pandemie und das Völkerrecht, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart: Neue Folge 69 (2021). Dort auch umfangreiche Nachweise. 56 Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021
[ Blickpunkt ] das Coronavirus« und zur »internationa- schlossen privatrechtliche Verträge nach Gesundheitspolitik das Menschenrecht len Zusammenarbeit für den Zugang zu englischem Recht. Das Arrangement ist auf Leben verletzen. Medikamenten und Impfung«, um nur keine internationale Organisation, steht einige zu nennen. aber unter dem Schirm der Gavi-Allianz. Pflicht zur Erarbeitung von Hier wirkt eine PPP in Richtung des ge- Notfallplänen Der Sicherheitsrat verabschiedete Resolu- rechteren Zugangs zu Impfungen. Es sieht tion 2532, in der er die Ausbreitung des allerdings gegenwärtig nicht danach aus, Coronavirus als mögliche Friedensge- dass reiche Staaten COVAX ausreichend Der UN-Menschenrechtsausschuss liest fährdung (»likely to endanger the main- alimentieren würden; vielmehr haben sie aus diesem Menschenrecht auch staatli- tenance of international peace and securi- bei Pharmaunternehmen weitaus mehr che Pflichten zur Verbesserung der allge- ty«) qualifizierte. Die Resolution forderte Impfstoff bestellt, als sie für die eigene meinen Lebensumstände einschließlich (»demands«) einen Waffenstillstand in al- Bevölkerung benötigen. Der WHO DG des Schutzes vor lebensbedrohlichen len Konflikten, mit denen der Sicherheits- (Generaldirektor) warnt vor einem »kata- Krankheiten und die Pflicht zur Erarbei- rat befasst ist, mit Ausnahme der Militär- strophalen moralischen Versagen«. tung von Notfallplänen heraus. operationen gegen den Islamischen Staat. Sie rief ferner den UN-Generalsekretär III. Völkerrecht als Rechts- und Das Menschenrecht auf Gesundheit (Art. auf, die Friedenstruppen unter seinem 12 lit. c) des Sozialpakts) verpflichtet die Haftungsmaßstab Kommando mit humanitären Maßnah- Vertragsparteien ausdrücklich zu »pre- men im Covidkontext zu betrauen. Trotz vention, treatment and control of epi- 1. Mangelnde Völkerrechtstreue dieses Aufrufs zur Waffenruhe wurde al- demic (…) diseases«. Diese Vorschrift bei der Pandemievorbeugung lerdings in diversen Konfliktgebieten, et- stellt eine verbindliche Rechtsnorm dar. wa in Nagorny Karabach und im Jemen, und -bekämpfung Diese Rechtspflicht wird allerdings durch weiter gekämpft. die weichmachende Kautel der bloß all- Im Vorfeld und im Verlauf der Pandemie mählichen Realisierung im Rahmen des sind eine Reihe völkerrechtlicher Verhal- Möglichen (Art. 2 Abs. 1 IPwskR) und Einheit und Unteilbarkeit aller tensmaßstäbe relevant geworden, die zum durch die unbestimmten Rechtsbegriffe Menschenrechte Teil nicht beachtet wurden. (»Vorsorge, Behandlung und Kontrolle«) relativiert. Das Recht auf Gesundheit ist Auch die Menschenrechtsinstitutionen a) Mangelnde Vorsorge deswegen nur schlecht für eine unmittel- der Vereinten Nationen, also die zahl- bare Anwendung geeignet und außer im reichen Vertragsausschüsse, der Men- Nach Art.13 der WHO-Gesundheitsvor- Extremfall einer völligen Untätigkeit des schenrechtsrat, das Hochkommissariat schriften (IHR) zum »Public Health Re- Staates in Europa nicht vor staatlichen für Menschenrechte und andere, haben sponse« waren die Mitgliedstaaten der Gerichten einklagbar. Lateinamerikani- schnell reagiert. Sie betonten unter an- WHO verpflichtet, bis zum 15. Juni 2012 sche Gerichte wenden dieses Recht je- derem die Einheit und Unteilbarkeit ihre »capacity to respond promptly and doch direkt an. aller Menschenrechte (also z. B. die Be- effectively to public health risks and pu- deutung der Meinungs- und Informati- blic health emergencies of international Möglicherweise wurde auch das allgemei- onsfreiheit für den Schutz des Rechts auf concern« herzustellen. Die bis 2012 auf- ne völkerrechtliche Schädigungsverbot Gesundheit), erläuterten die rechtlichen zubauenden »core capacity requirements« (No harm principle) verletzt, das Anfang Anforderungen an staatliche Notstandser- sind detailliert in Annex 1 der IHR be- des 20. Jahrhunderts für grenzüberschrei- klärungen und wiesen immer wieder auf schrieben. Bis 2014 hatten nur 64 Staaten tende Schadstoffemissionen entwickelt die Notwendigkeit einer menschenrechts- diese Rechtspflicht vollumfänglich erfüllt. wurde. Eine Verursachung der materiel- basierten Strategie der Pandemiebekämp- len Pandemieschäden in einem juristi- fung hin. Mangelhafte staatliche Gesundheitsmaß- schen Sinne wird sich in der komplexen nahmen beeinträchtigten das Menschen- Situation jedoch kaum etablieren lassen. Eine weitere Innovation ist COVAX, recht auf Leben (Art. 6 IPBürgR; Art. 2 Ein alternativer Ansatz stellt auf die Ver- ein internationaler Mechanismus zur EMRK; Art. 4 AMRK) und auf Gesundheit letzung von ergebnisunabhängigen Ver- Beschleunigung der Entwicklung, Her- (Art. 12 des IPwskR). Das Recht auf Leben fahrenspflichten (insbesondere Pflichten stellung und fairen Verteilung von Co- verlangt von den EMRK-Parteien, dass sie zur Unterhaltung einer Infrastruktur, Ver- vid-19-Diagnostik, -Behandlung und Menschen unter ihrer Hoheitsgewalt kei- haltens- bzw. Due Diligence-Pflichten zur -Impfstoff. Die EU und China beteiligen nen an sich vermeidbaren Risiken aus- Anzeige von Krankheitsausbrüchen) ab. sich daran, die USA sind unter Präsident setzen. Die Konventionsstaaten sind zur Biden beigetreten, Russland bleibt fern. ausreichenden Regulierung von Kranken- b) Überreaktionen Finanzkräftige Staaten haben sich zum häusern verpflichtet. Es darf auch nicht Kauf von Impfstoff über COVAX verpflich- Einzelnen eine der Bevölkerung allge- Einzelne staatliche Pandemiebekämp- tet, von dem dann ein Teil an ärmere Teil- mein zur Verfügung gestellte Behandlung fungsmaßnahmen verletzten unter nehmerstaaten abgegeben wird. Die Staa- verweigert werden. Im Extremfall können Umständen Liberalisierungspflichten ten treten als Wirtschaftsakteure auf und strukturelle staatliche Versäumnisse in der aus WTO-Recht und EU-Recht. Völker- Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021 57
[ Blickpunkt ] rechtsbrüche lagen etwa möglicherweise wurden, außer in Lateinamerika, zahlrei- Pandemiekontrolle und -bekämpfung, darin, dass Staaten wie Deutschland im che Notstandserklärungen nach der ersten zur kontinuierlichen Überwachung der März 2020 im Alleingang ihre Grenzen Pandemiewelle zurückgenommen. Situation und zur Weitergabe von Infor- schlossen, obwohl der WHO DG hiervon mationen an die WHO und andere Staa- ausdrücklich abgeraten hatte. Allerdings 2. Sanktionen ten. Die WHO jedoch kann nur informie- ist gut vertretbar, dass die unilateralen Das Völkerrecht wird es kaum ermögli- ren und Empfehlungen aussprechen. Die Grenzschließungen durch die Ausnah- chen, Rechtsbrecher zur juristischen Ver- nationale Gesundheitspolitik unterliegt meklausel von Art. 43 IHR gedeckt waren. antwortung zu ziehen. Eine umfassende weiterhin der Souveränität der Staaten Ähnliches gilt für die EU-Pflichten zur oder gar obligatorische internationale (Art. 3 Abs. 4 IHR). Gewährung von Waren- und Personen- Gerichtsbarkeit fehlt; nationale Gerichte verkehrsfreiheit. dürfen auf Klagen gegen andere Staaten Die WHO leidet an den typischen Schwä- nicht eintreten, und sonstige Sanktionen chen internationaler Organisationen. Sie Auch das Welthandelsrecht hat funkti- sind kaum verfügbar. Die möglichen Ver- ist schlecht für ihre Koordinationsaufga- oniert. So meldeten die Mitglieder der letzungen des allgemeinen Schädigungs- ben ausgerüstet und noch schlechter für Welthandelsorganisation (WTO) ihre verbots, der Menschenrechte und der die Orchestrierung einer echten Zusam- Exportbeschränkungen und Verbote der internationalen Gesundheitsvorschriften menarbeit. Ihre Möglichkeiten zur Über- Ausfuhr von medizinischem Material sind somit praktisch nicht juristisch sank- wachung der Rechtstreue und zur Sankti- nach dem vorgesehen Schema. Es kann tionierbar. Staatenklagen zum Internatio- onierung von Fehlverhalten der Mitglied- am Maßstab des GATT geprüft werden, nalen Gerichtshof sind mangels passen- staaten sind gering. ob diese Ausfuhrbeschränkungen not- der Zuständigkeitsnorm nicht zulässig. wendig waren, »um einer kritischen Lage Haftungsklagen gegen einen Staat vor Die WHO ist ferner finanziell von den vorzubeugen, die aus einem Mangel an den Gerichten eines anderen Staates, wie Mitgliedstaaten abhängig. Beispielsweise (…) wichtigen Erzeugnissen« entstehen die Sammelklagen, die in den USA gegen leisten die USA 24 Prozent der nach dem könnte (Art. XI Abs. 2 lit. a) GATT) oder, China erhoben wurden, sind wegen der staatlichen Bruttosozialprodukt bemes- sofern die Maßnahmen nicht von dieser entgegenstehenden Staatenimmunität senen festen Pflichtbeiträge. Diese ma- Vorschrift gedeckt waren, ausnahmsweise aussichtslos. chen aktuell jedoch nur 17 Prozent des zum Schutz von Menschenleben zulässig WHO-Gesamtbudgets aus. Denn wegen wären (Art. XX lit. b) GATT). Finanzknappheit erschließt die WHO IV. Spiegel der Schwächen des laufend weitere, auch private Geldquel- Im Gefolge der Pandemie haben einige Völkerrechts len (»voluntary contributions«). Die Zu- Staaten, insbesondere China, durch Über- sammenarbeit mit privaten Akteuren wie wachung, Zensur und Verhaftungen aus Damit wirft die Krise ein Schlaglicht auf der Bill and Melinda Gates-Stiftung, aber liberaler Sicht Menschenrechte verletzt. strukturelle Schwächen des Völkerrechts auch mit Pharmakonzernen, ist nicht oh- Ob hierin wirklich Völkerrechtsbrüche und seiner Institutionen. Zu einigen ne Risiken. Sie kann zu Intransparenz und liegen, hängt von der Rechtsbindung der wichtigen wesensmäßig transnationalen Interessenkonflikten führen. jeweiligen Staaten ab. Beispielsweise hat Problemen existieren keine rechtlichen China den IPBürgR nur unterzeichnet Vorgaben. Beispielsweise besteht keine Folge der rücksichtslosen und nicht ratifiziert, ist also nicht an die völkerrechtliche Verpflichtung zur Wei- Ausbeutung der Natur konkreten Vertragsnormen, sondern nur tergabe genetischer Proben, und Regeln an zugrundeliegendes Gewohnheitsrecht über den fairen Zugang zu medizinischer gebunden. Behandlung existieren nur in rudimentä- Von den drei klassischen Befolgungs- ren Ansätzen. faktoren (Reputation, Retaliation und Reziprozität) hat lediglich die Sorge um Eine umfassende oder gar Die aktuell im Fokus stehenden Inter- die Reputation eine große Rolle gespielt: obligatorische internationale national Health Regulations (IHR) der China versorgt zahlreiche arme Staaten Gerichtsbarkeit fehlt WHO sind vergleichsweise ungewöhnli- großzügig mit Impfstoff. ches Völker-Sekundärrecht, da sie formal Zahlreiche Staaten haben den öffentli- rechtsverbindlich sind. Sie wurden auf der V. Pandemie und Fundamentalkritik chen Notstand erklärt, um Menschen- 58. Sitzung der WHO im Mai 2005 per rechtsgarantien zeitweilig auszusetzen. Akklamation verabschiedet, ohne einen Die Pandemie gibt Anlass zur Fundamen- Sofern die formellen und materiellen einzigen Vorbehalt oder Ablehnung eines talkritik am Völkerrecht. Die Krankheit ist Voraussetzungen gewahrt waren, durften Staates, was nach Art. 21 lit. a) und Art. 22 eine Folge der rücksichtslosen Ausbeu- sich diese Staaten damit von der Beach- WHO-Verfassung zulässig gewesen wäre. tung der Natur, insbesondere der Wild- tung etwa des Rechts auf Versammlungs- Somit traten sie für alle 194 WHO-Mit- tiere, durch Menschen. Die Schwierigkei- oder Bewegungsfreiheit freizeichnen. Das gliedstaaten zum 15. Juni 2007 in Kraft. ten vieler staatlicher Gesundheitssysteme Recht auf Leben ist allerdings notstands- Jedoch sind sie inhaltlich relativ schwach: gehen teilweise auf ihren Rückbau unter fest und kann durch derartige Erklärun- So verpflichten sie die WHO-Mitgliedstaa- dem Druck oder aufgrund von Konditio- gen nicht suspendiert werden. Im Übrigen ten zum Aufbau eigener Kapazitäten zur nalitäten der internationalen Finanzinsti- 58 Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021
[ Blickpunkt ] Foto: Jens Heise tutionen zurück. Diese Erwägung befeuert Eine zweite Grundsatzkontroverse dreht dikamenten, die mittels einer Zwangsli- die harsche Kritik am angeblich »neolibe- sich um den völkerrechtlich flankierten zenz hergestellt wurden. Es bleibt jedoch ralen« Völkerrecht und Aufrufe zu einer Patentschutz. Spätestens seit dem Aus- dabei, dass die zwangslizenzierenden radikalen Erneuerung dieser Rechtsord- bruch von AIDS/HIV in den 1980er Jah- Staaten den Patentinhaber angemessen nung. ren ist der Interessenkonflikt zwischen entschädigen müssen. Es ist fraglich, ob den Sitzstaaten der Pharmaindustrie und eine Berufung auf »essentielle Sicher- Anlässlich der Pandemie wurde ein Mora- dem globalen Süden, zwischen Eigen- heitsinteressen« (Art. 73 (b)(iii) TRIPS) torium für Investitionsschutzschiedskla- tumsschutz und Zugang zu lebenswichti- ärmere Staaten hiervon befreien könnte. gen gefordert. Anlass ist die Befürchtung, gen Medikamenten, ein zentraler Kampf- Im Zuge der Pandemie haben zahlreiche dass Lockdowns und ähnliche Maßnah- schauplatz. Staaten patentrechtliche Hürden beseitigt. men, die auch ausländische Investoren Dennoch erschwert selbst der reformierte schädigen, von diesen in Investor-Staa- Art. 31 des TRIPS-Abkommens von 1994 TRIPS-Rahmen der Bevölkerung des glo- ten-Schiedsklagen angegriffen werden erlaubt den TRIPS-Mitgliedern unter en- balen Südens den Zugang zu Medikamen- könnten. Die Investitionsschutzabkom- gen Voraussetzungen, anderen Produzen- ten weiterhin. men enthalten allerdings typischerweise ten die Erzeugung, Nutzung und Verkauf ähnliche Ausweichklauseln für Notsitua- etwa eines Medikaments ohne die Zustim- Eine radikalere Strategie wäre eine Of- tionen wie das GATT. Staatliche Beschrän- mung des Patentinhabers zu erlauben. Bis fenlegung von Wissen und Daten, und kungen der Wirtschaftstätigkeit der Inves- 2017 durfte die nicht vom Rechteinhaber damit die Vergemeinschaftung des geis- toren dürften in der Regel von solchen autorisierte Nutzung nur »predominant- tigen Eigentums in einem »Pool« gewe- vertraglichen Ausnahmeklauseln gedeckt ly for the supply of the domestic market« sen. Unter der Überschrift »C-TAP: Covid sein. Im Extremfall kommt außerdem ei- erfolgen (Art. 31 lit. f) TRIPS). Damit half Technology Access Tool« hatte die WHO ne Berufung auf einen Notstand und da- diese Vorschrift nur solchen Staaten, die auf Initiative von Costa Rica und 36 wei- mit Befreiung von der Staatenverantwor- eigene Produktionskapazitäten besitzen. teren Staaten hierzu aufgerufen. Im Fall tung in Betracht. Diese Mechanik wurde Die seit 2017 geltende Vorschrift des Art. von Covid-19 haben sich die Staaten, in in der argentinischen Finanzkrise bereits 31bis TRIPS erlaubt nun (unter weiteren denen die leistungsfähigen Unternehmen durchgespielt. Voraussetzungen) den Export von Me- sitzen, diesem Anliegen aber verweigert. Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021 59
[ Blickpunkt ] VI. Katalysator der Völkerrechtsent- ted Nations Environment Programme) Staatliche Reaktionen auf die Epidemie wicklung definiert den Ansatz als »the collaborative hätten das Völkerrecht – über mögliche effort across multiple disciplines to attain einfache Rechtsbrüche hinaus – gesamt- In der Vergangenheit wurden völkerrecht- optimal health for people, animals and haft und grundlegend unterminieren liche Reformen vor allem durch Kriege the environment.« können. Grenzschließungen, Hamster- und schwere Wirtschafts- oder Finanz- käufe von Impfstoff und Verbote des krisen ausgelöst. Auch die SARS-Epide- Die WHO-Versammlung forderte den Exports von Medizingütern hätten ein mie von 2003 hatte zu einer gründlichen WHO DG zu einem One Health-Ansatz derartiges Ausmaß erreichen können, Überarbeitung der IHR geführt. Dass auf und zur fortgesetzten engen Zusam- dass sie eine grundsätzliche Abkehr von Covid-19 eine erneute formale Revision menarbeit mit dem Office International den internationalen Prinzipien der So- des internationalen Gesundheitsrechts des Epizooties (OIE) und der Food and lidarität und Handelsfreiheit darstellen auslösen wird, ist gegenwärtig unwahr- Agriculture Organization (FAO), um den würden. scheinlich. Der Abschlussbericht des zoonotischen Ursprung des Virus zu iden- unabhängigen Panels vom Mai 2021 tifizieren und gezielte Interventionen und Eine systemische Schwächung schlägt u.a. die Gründung eines „globa- Forschung in Gang zu setzen. Die dem- des Völkerrechts ist len Gesundheitsrats“ durch die UN-Ge- nach erforderliche umfassende Sichtweise nicht eingetreten neralversammlung vor sowie eine neue muss nicht nur die Speziesgrenzen über- Pandemie-Rahmenkonvention. Die Auto- schreiten, sondern auch die Nord-Süd-Di- rität des DG solle durch eine verlängerte mension einbeziehen, wie die aktuelle Dies ist aber nicht passiert. Die unilatera- Amtszeit mit Ausschluss der Wiederwahl Krise eindrücklich zeigt. len Maßnahmen waren überwiegend von gestärkt werden. Die Finanzierung der den in den völkerrechtlichen Instrumen- WHO müsse unabhängig von Sponsoren ten selbst vorgesehenen Ausnahme- und gesichert sein. VII. Das post-pandemische Ventilklauseln gedeckt. Damit ist eine Völkerrecht systemische Schwächung des Völkerrechts Eine sanfte Entwicklung des ungeschrie- nicht eingetreten. benen Völkerrechts und von einigen tra- Das fortschreitende Eindringen von Men- genden Prinzipien scheint sich jedoch schen in natürliche Lebensräume wird Es sieht gegenwärtig nicht so aus, als ob anzubahnen. So scheint das Menschen- neue Krankheitserreger freilegen, gegen Corona einen Wendepunkt zu einer »neu- recht auf Gesundheit stärker als je zuvor die der Mensch nicht immun ist. Die In- en« Völkerrechtsordnung darstellt. Spezi- aktiviert zu werden. Auch ist die Einheit tergouvernementale Plattform für Biodi- ell für den Teilbereich des globalen Ge- und Unteilbarkeit aller Menschenrechte versität weist darauf hin, dass Säugetiere sundheitsrechts könnte ein solcher »global stärker ins Bewusstsein gerückt worden. und Vögel Wirtstiere für Millionen noch reset«, wie das WHO Panel zur Untersu- unentdeckter Viren sind, von denen ge- chung der Pandemie es ausdrückt, jedoch schätzt 540.000 bis 850.000 den Men- anstehen. Die gegenwärtigen Tendenzen Schlagwort schen befallen können. Gefahren drohen weisen allerdings in unterschiedliche »One Health« auch von Haustieren, da der übermäßige Richtungen: Mehr Überwachungsstaat, Einsatz von Antibiotika in der Massen- aber auch mehr Transparenz; mehr »Impf- Ferner scheint das Prinzip der internati- tierhaltung zur Antibiotikaresistenz von nationalismus«, aber auch mehr globale onalen Solidarität, das bisher vor allem Tier und Mensch führt. Nicht alle Zoono- Solidarität, wie insbesondere die globale von den Staaten des globalen Südens sen weiten sich zu Pandemien aus, aber Kraftanstrengung zur Entwicklung und und China propagiert worden war, mehr die meisten Pandemien (wie etwa die Vo- Verteilung des Impfstoffs zeigt. Im Kon- Akzeptanz bei den westlichen Staaten gelgrippe, die Schweinegrippe und jetzt text solcher antagonistischen Tendenzen zu finden. Die Impfverteilungsplattform Covid-19) sind zoonotischen Ursprungs. nimmt das Völkerrecht eine zwiespältige COVAX basiert maßgeblich auf dem Ge- Ihre pandemische Ausweitung ist die Rolle ein. Es kann Gesundheit, Fairness danken einer globalen Gesundheits-Soli- Folge unserer globalisierten Lebenssitu- und Gerechtigkeit im Weltmaßstab för- darität. Der juristische Gehalt des Prinzips ation. Das heißt auch, dass die Krank- dern oder behindern. Was wir daraus ma- der Solidarität, das von einigen Beobach- heit nachhaltig nur überwunden werden chen, liegt in unserer Verantwortung. tern schon früher als »emergentes Struk- kann, wenn sie überall unter Kontrolle turprinzip der Völkerrechtsordnung« ist. Dabei bleiben, unter Berücksichti- qualifiziert wurde, dürfte in dieser Praxis gung des Subsidiaritätsgedankens, die weiter gestärkt worden sein. Neu hat das vorrangigen Regulierungsebenen natio- Schlagwort »One Health« den Weg in nal und regional. Staaten, internationale Rechtstexte gefunden: Es besagt, dass die Organisationen, Zivilgesellschaft und Gesundheit von Menschen, Tieren und Wirtschaftsakteure können und sollen der gesamten Biosphäre gegenseitig von- zwar einzeln Lösungen ausprobieren, die einander abhängen und deshalb auch nur Pandemie kann aber nur in einer globa- gesamtheitlich gesichert werden können. len gemeinschaftlichen Aktion überwun- Eine neuere Publikation des UNEP (Uni- den werden. 60 Betrifft JUSTIZ Nr. 146 | Juni 2021
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