Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...

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Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraum-
typen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten
WERNER KUNZ

1. Einleitung                             hin zum lokalen Aussterben der Wiesen-       zu Landschaftsveränderungen geführt
                                          vögel (Beckers et al. 2018) und dem          haben. Der eine Grund für den Arten-
Wir leben heute in Deutschland in den     überall im Offenland wahrgenommenen          schwund ist die veränderte Nutzung von
Jahrzehnten eines z.T. dramatischen       Insektenschwund. Für viele Arten liegt       Feldern, Wiesen und Weiden. Felder,
Rückgangs vieler Tierarten, von der       das daran, dass wir kaum noch magere         Wiesen und Weiden waren jahrhunderte-
Abnahme ehemals häufiger Arten wie        Offenflächen haben. Dies scheint einer der   lang die Heimat von einem großen Teil
Haus- und Feldsperling über die zurück-   Hauptgründe des Artenschwunds zu sein.       der mitteleuropäischen Säugetierarten,
gehenden Bestände wohl aller Agrararten      Für das Verschwinden magerer              Vögel und Insekten. Äcker, Wiesen und
wie Hase, Rebhuhn und Grauammer bis       Offenflächen gibt es drei Ursachen, die      Weiden sind (insbesondere erst seit einem

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Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
halben Jahrhundert) nicht mehr das, was       Auf der Erde leben heute fast 8 Milliar-
sie sonst immer waren. Die Nutzung            den Menschen und 4 Milliarden Rinder,
dieser Flächen wurde bis zur Perfektion       Schafe und Ziegen (Ripple et al. 2019)
intensiviert, wodurch die landwirtschaft-     (https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbe-
lichen Flächen für die meisten Arten          völkerung; Zugriff: Dezember 2019)
unbewohnbar wurden (Künast et al.             (Abb. 1). Die Zahl der Menschen und
2019). Der zweite Grund für den Arten-        seiner Haustiere ist größer als die Zahl
schwund liegt im genauen Gegenteil: Es        aller heute auf der Erde wild lebenden
ist nicht die Zunahme der Nutzung der         Säugetiere. Auch Deutschland hat mit ca.
Flächen, sondern die Abnahme. Die Nut-        83 Millionen Menschen so viele Einwoh-
zung vieler Weidegründe wurde aufge-          ner wie nie zuvor (Statistisches Bundes-
geben. Es werden keine Schweine, Kühe         amt; in: „Zeit Online“ 27.06.2019). Diese
und Pferde mehr in den Wald getrieben.        Zahl übersteigt um das Vierfache die
Dadurch kam es zur Verdichtung und            Individuenzahl der häufigsten Brutvo-
Verdunklung der Wälder und zur Ver-           gelart Deutschlands, des Buchfinken mit
buschung der mageren Heiden oder Tro-         nur 20 Millionen Individuen (bei stark       Abb. 1 Die Zahl der Menschen und seiner
ckenrasen, wodurch diese Lebensräume          abnehmender Tendenz) (Sudfeldt et            Haustiere (Rind, Schaf und Ziege) ist heute
für viele Arten ebenfalls fast unbewohn-      al. 2009).                                   größer als die Zahl aller auf der Erde
bar wurden (Görner 2019). Eine                    Aus der Sicht des Artenschutzes ist      wild lebenden Säugetiere (aus: https://
wesentliche Schuld am Artenschwund            die Hauptursache des Artenschwundes          de.wikipedia.org/wiki/Weltbevölkerung; stark
trägt auch die Aufforstung, wodurch           eindeutig: Auf der Erde leben heute zu       verändert).
ebenfalls offene Magerflächen vernichtet      viele Menschen, deren Ernährung nur
wurden. Der dritte Grund ist die vorher       noch durch weitere Vernichtung der von
nie dagewesene Stickstoffbelastung auch       den Arten bewohnten Habitate möglich
der Regionen, die abseits der Landwirt-       ist. Eine drastische Reduktion der Bevöl-
schaft liegen. Dadurch leben wir heute        kerungszahl wäre das wirksamste Mittel       Teile der vorhandenen Landschaft noch
in einer Landschaft übermäßigen Grüns         (wenn nicht das einzig wirklich wirksame     naturnah geblieben sind. In diesen Län-
aus Gras, Büschen und Bäumen, wäh-            Mittel) gegen den gegenwärtigen Arten-       dern ist der Ruf nach mehr Natur auch
rend Erd-, Sand- und Steinflächen fast        schwund (wie auch gegen die Erderwär-        gleichzeitig der richtige Weg zur Erhal-
verschwunden sind (Lethmate 2005).            mung). Jedoch gibt es offenbar keine         tung vieler Arten; in Mitteleuropa ist
   Viele Menschen glauben, die Erhaltung      realistische Chance, gegen die weitere       dies nicht der Fall. Artenschutz in den
natürlicher Lebensräume durch Umset-          Zunahme der Weltbevölkerung vorzuge-         Tropenwäldern kann mit Artenschutz in
zung der FFH-Richtlinie der Europäi-          hen, weil religiöse Ideologien dies nicht    Deutschland nicht in einen Topf gewor-
schen Gemeinschaft wäre ein wirksames         beabsichtigen und weil linke Ideologien      fen werden.
Mittel gegen den Artenschwund. Es stellt      eine Verbesserung der Zukunft eher in           Natur im engeren Sinne sind Lebens-
sich jedoch heraus, dass die Erhaltung        einer Umverteilung des Vermögens als         räume, der nicht die Zeichen menschli-
der im Anhang I in der FFH-Richtlinie         in einer Reduktion der Bevölkerungszahl      cher Gestaltung tragen. Sieht die Natur
von 1992 definierten Lebensraumtypen          sehen.                                       in einem Gebiet noch überwiegend so
zwar viele Pflanzengesellschaften vor             Während in frühen Jahrhunderten          aus, wie sie wäre, wenn der Mensch nicht
der Vernichtung retten kann, für viele        der Mensch viele Tierarten ausgerottet       eingegriffen hätte, dann sprechen wir von
Tierarten aber nur geringe Erfolge brin-      hat, indem er sie totgeschlagen hat (vom     „naturnahen“ Gebieten. Beides, Natur
gen kann, weil die von den Tieren benö-       Mammut bis zum Riesenalk), rottet der        und naturnahe Gebiete, gibt es in Mit-
tigten Habitate durch andere Merkmale         Mensch insbesondere seit dem letzten         teleuropa fast nur noch an Extremstand-
gekennzeichnet sind, die in den in der        Jahrhundert die Tiere dadurch aus, indem     orten, z.B. an steilen Berghängen, in
FFH-Richtlinie definierten Lebensräu-         er ihnen die Lebensräume wegnimmt.           der Zone oberhalb der Baumgrenze und
men nicht genannt sind. Die von vielen        Der Mensch verändert die Lebens-             an einigen Stellen an der Meeresküste
Tierarten in Mitteleuropa benötigten          räume fast überall auf der Erdoberfläche     (Küster 2010). Die meisten Gebiete
Habitate sind nicht die unberührte Natur,     für seine eigenen Bedürfnisse, so dass       Mitteleuropas sind vom Menschen schon
sondern es sind Menschen-gemachte             manche andere Art dort nicht mehr leben      seit Jahrtausenden verändert worden.
Habitate. Daher ist Naturschutz im enge-      kann und selten geworden oder ausge-         Selbst das was als Naturschutzgebiet
ren Sinne nicht der richtige Weg für den      storben sind.                                bezeichnet wird, ist keine Natur. Vielfach
Schutz vieler gefährdeter Arten.                  Aber die anthropogene Verände-           sind es ehemals durch Schafe beweidete
   Um zu verstehen, warum wir in Mittel-      rung der Lebensräume hat nicht alle          Heiden oder Trockenrasen, ehemalige
europa so viele Arten verlieren, müssen       Tierarten verdrängt. Gerade in Europa        Fischzucht-Teiche, Torfstiche oder Kies-
wir wissen, woher sie kommen; d.h. aus        mit seiner Jahrtausende alten Kulturge-      gruben. Die Schutzgebiete heißen nicht
welchen Biotopen unsere heute in Mit-         schichte haben sich auch viele Arten an      Naturschutzgebiete, weil dort unberührte
teleuropa vorkommenden Arten nach der         die vom Menschen geformten Habitate          Natur ist, sondern weil dort seltene Arten
Eiszeit eingewandert sind. Es kommt im        anpasst. Ein nicht unerheblicher Teil der    leben, ein Unterschied, der von vielen
Artenschutz nicht so sehr darauf an, die      heute in Deutschland lebenden Tierarten      Menschen nicht wahrgenommen wird.
„natürlichen“ Habitate Mitteleuropas zu       würde hier gar nicht vorkommen, wären           Entsprechend ist die Zusammenset-
erhalten, sondern es kommt stattdessen        die Lebensräume nicht durch den Men-         zung vieler Lebensgemeinschaften aus
darauf an, in Mitteleuropa die Habitate zu    schen gestaltet oder verändert worden.       Tier- und Pflanzenarten in Mitteleuropa
schaffen und zu erhalten, die die eigentli-   Dazu gehören die Tiere des Ackers wie        als eine Anpassung an vom Menschen
che Heimat von Mitteleuropas Arten sind       Hasen und Rebhühner und die Tiere            gestaltete (oder zumindest mitgestaltete)
und die heute noch die Kernvorkommen          der Gebäude wie Hausrotschwänze und          Habitate zu verstehen, nicht als eine
dieser Arten sind (Hensle 2002).              Mauersegler. Um diese Arten zu erhalten,     Anpassung an Habitate, die wir in Mittel-
                                              ist kein Naturschutz nötig, weil nicht die   europa hätten, wenn die Natur „ursprüng-
2. Die Herkunft vieler Tierarten              Vernichtung der Natur, sondern die Zer-      lich“ wäre, d.h. nicht die Zeichen
   Mitteleuropas                              störung der Kulturlandschaft verhindert      menschlicher Eingriffe zeigen würde
                                              werden muss. Das gilt für viele andere       (Kunz 2013, Kunz 2016). Naturschüt-
Wir leben heute im Zeitalter des Anthro-      Teile der Welt nicht. Der erforderliche      zer nehmen das oft nicht zur Kenntnis
pozäns (Kueffer 2016). Der Mensch             Artenschutz in Mitteleuropa unterschei-      oder widersetzen sich sogar gegenüber
wird in den nächsten paar Jahrzehnten die     det sich daher deutlich vom Artenschutz      einer derartigen Auffassung (Häpke
Zehn-Milliarden-Grenzen überschreiten.        in den Ländern, in denen bedeutende          1990).

Artenschutzreport, Heft 44/2021                                                                                                     39
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Wie ist es zu erklären, dass in unse-         tergrund. Es sind Einwanderer aus frem-          meist um Arten, die auch heute noch ihre
rer Heimat gerade dort viele Arten leben,        den Ländern, die hier nach der letzten           Kerngebiete im Osten und Süden haben
wo die ursprüngliche Natur durch den             Eiszeit leere Lebensräume vorgefunden            und die ihr Verbreitungsgebiet lediglich
Menschen umgestaltet worden ist? Die             haben. Kaninchen, Wiedehopfe und                 ausgeweitet haben (Schmitt 2009). Es
Antwort auf diese Frage ergibt sich aus          Rotkopfwürger kamen aus den Offen-               handelt sich um Ost- und Südeuropäer,
den Herkunftsländern dieser Arten. Die           ländern des Mittelmeerraumes, Hasen,             die in Deutschland nur ein peripheres
Eiszeiten haben in Mitteleuropa mehr als         Lerchen und Rebhühner aus den Steppen            Randvorkommen gefunden haben, das
in anderen Teilen der nördlichen Halbku-         des Ostens, und Birkhühner und mehrere           klimatisch und in seiner Habitatqualität
gel einen Großteil der hier entstandenen         Entenarten aus der Taiga-/Tundrazone             oft nicht so optimal war wie in den Kern-
Arten vernichtet, weil die Gebirge im            des Nordens (Berndt 2018). Die meis-             gebieten der Arten im Osten oder Süden.
Südwesten, Süden und Südosten die Aus-           ten heute in Deutschland vorkommen-              Um zu verstehen, welche Biotope viele
weichmöglichkeiten erschwert haben.              den Tagfalter sind keine endemischen             „unserer“ Arten brauchen, muss man in
Von den ursprünglich wirklich einheimi-          Mitteleuropäer (Schmitt 2009, Van                die Herkunftsländer schauen.
schen Arten des späten Tertiärs sind nur         Swaay et al. 2010, Schmitt 2011).                   Der postglaziale Mensch hat die
wenige übrig geblieben. Mitteleuropa                 Die postglaziale Einwanderung vieler         Einwanderung dieser Arten möglich
unterscheidet sich noch heute von vielen         Arten in die leeren Räume Mitteleuropas          gemacht, indem er die aufkommenden
anderen Teilen der Welt dadurch, dass es         ist nicht überwiegend als Rückzug vertrie-       Wälder zurückgedrängt hat. die den Ein-
hier nur wenige endemische Arten gibt.           bener Arten zu verstehen, die nach Ende          wanderern aus dem Osten oder Süden
Die meisten heute hier lebenden Arten            der Eiszeit ihre Refugien geräumt haben          entgegengestanden haben. Der Mensch
(die wir als Angehörige unserer Heimat           und nun wieder in ihre Heimat zurück-            hat durch Brandrodung, Ackerbau und
betrachten) haben einen Migrationshin-           gekehrt sind. Vielmehr handelt es sich           die Nutzung der Wälder als Viehwei-
                                                                                                  den (Hudewälder) offene lichte Flächen
                                                                                                  geschaffen hat, die den Lebensräumen
                                                                                                  der Herkunftsländer dieser Tierarten
                                                                                                  ähnelten.
                                                                                                     Was bedeutet das? Viele der heute in
                                                                                                  Mitteleuropa lebenden Arten (gerade
                                                                                                  die gefährdeten Arten) bewohnen Hab-
                                                                                                  itate, die nicht die Habitate sind, die hier
                                                                                                  heute entstehen würden, wenn man die
                                                                                                  Natur sich selbst überlassen würde und
                                                                                                  dem Aufwuchs von dichten Büschen
                                                                                                  und Wäldern freien Lauf ließe. Beson-
                                                                                                  ders schutzbedürftige Arten in Mittel-
                                                                                                  europa sind nicht die Bewohner von
                                                                                                  geschlossenen Wäldern (Witticke &
                                                                                                  Görner 2013, Böhnert & Kneis
                                                                                                  2018, Schulze et al. 2019). Aber
                                                                                                  solche Wälder würden hier weitgehend
                                                                                                  alle bestehenden Biotope ersetzen, wenn
                                                                                                  man „Natur Natur sein lassen“ würde
                                                                                                  (Bibelriether 2017). Naturschutz
                                                                                                  im Sinne eines „Prozessschutzes“ (d.h.
                                                                                                  ohne menschliche gestalterische Ein-
                                                                                                  griffe in die Natur) wäre der falsche Weg,
                                                                                                  gegen den Rückgang vieler bedrohter
                                                                                                  Arten anzukämpfen.

                                                                                                  3. Die historische Wende im
                                                                                                     Landschaftsbild: das Verschwinden
                                                                                                     des Offenlandes
                                                                                                  Da es in Deutschland ohnedies seit Jahr-
                                                                                                  hunderten kaum noch ursprüngliche
                                                                                                  Natur gibt, entsteht die Frage, warum
                                                                                                  wir gegenwärtig überhaupt einen Arten-
                                                                                                  schwund haben. An der Zerstörung der
                                                                                                  Natur kann es nicht liegen. In der Tat sind
                                                                                                  heute in Deutschland viele Arten nicht
                                                                                                  deswegen rückläufig, weil wir die Natur
                                                                                                  vernichten, sondern weil wir unsere seit
                                                                                                  Jahrhunderten aufgebauten Kultur-ge-
                                                                                                  stalteten Landschaften verlieren. Dies
                                                                                                  widerspricht dem verbreiteten Verständ-
                                                                                                  nis von Natur. Deutschland besaß vor
                                                                                                  ca. 150 bis 200 Jahren ein Maximum
                                                                                                  an Artenvielfalt, als die Ausbeutung
                                                                                                  der Natur ein Höchstmaß erreicht hatte
Abb. 2 An Stellen, wo noch vor einigen Jahrzehnten magere Offenböden anzutreffen waren            (Schulze-Hagen 2005, Schul-
(oben), ist heute Alles von Gras überwuchert (unten). Vegetationsarme Erdböden mit Steinen        ze-Hagen 2008, SEGERER 2018).
erwärmen sich schnell in der Sonne und werden von Tagfaltern aufgesucht (hier der Kleine          Danach begann sich die Landschaft dras-
Feuerfalter Lycaena phlaeas); dichte Grasflächen sind für Insekten zu feucht und zu kühl. Oben:   tisch zu verändern, zunächst allmählich
hier durch Tagebau künstlich entstandener Lebensraum im Bereich Garzweiler / Königshovener        und dann seit den sechziger Jahren des
Mulde 2015; unten: Grevenbroich Kreis Neuss 2012 (Aufn.: W. Kunz).                                zwanzigsten Jahrhunderts ganz rapide

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Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
(Görner 2019). Dadurch setzte der             geführt als ihm wieder entnommen wird.         Hanglagen und Bachtäler stark zurück-
Rückgang des Jahrhunderte alten Arten-        Auch abseits der Nutzflächen werden die        gegangen ist. Es wird kein Vieh mehr in
reichtums der deutschen Landschaft ein.       Böden über die Atmosphäre durch stick-         die Wälder getrieben, und es wird kein
   Unsere über tausendjährige karge           stoffhaltige Niederschläge gedüngt, so         Brennholz und keine Streu mehr aus
Offenlandschaft verschwand und wurde          dass die Landschaft fast unaufhaltsam          den Wäldern entnommen, so dass aus
mehr und mehr durch eine grüne Land-          zuwächst. Alles ist zu grün geworden.          lichten, durchsonnten Nieder- und Mit-
schaft ersetzt, die vielerorts von Gras,      Wo früher karge, blütenreiche Wegrän-          telwäldern dunkle Hochwälder gewor-
Gebüsch und Wald bedeckt ist. Wohl            der waren, dominiert heute hoher, dichter      den sind, in denen kein Haselhuhn mehr
alle Trockenhänge sind mittlerweile           Brennnesselbewuchs, der den meisten            leben kann und die Waldschmetterlinge
mit Gebüsch zugewachsen (solange sie          Insektenarten keinen Lebensraum mehr           keine Blumen an den Waldwegen mehr
nicht künstlich entbuscht werden), ehe-       bietet (Abb. 3). Wo früher steinige, fel-      finden. Trotz der Tatsache, dass wir heute
mals offene Sand- und Schotterflächen         sige Trockenhänge waren, ist heute Alles       in Deutschland einen Waldreichtum
sind von Gras überwuchert (Abb. 2),           durch Gras und Gebüsch überwuchert.            haben, wie es ihn seit über einem Jahr-
und lichte Nieder- und Mittelwälder sind      Schmetterlinge können sich nicht mehr          tausend nicht gegeben hat, verschwin-
heute kaum noch zu finden; sie wurden         in der Sonne auf warmen Stein- und             den die meisten Wald-Schmetterlinge
durch dunkle Hochwälder ersetzt, deren        Erdflächen aufwärmen, und dort wo              (Ulrich 2002). Orchideenreiche Tro-
Waldwege beschattet sind und keine            Insekten noch vorkommen, können sie            ckenrasen und die einst vom Goldregen-
Blumen mehr haben. An solche Bio-             durch Vögel wie Würger, Schmätzer und          pfeifer bewohnten Weiden Nordwest-
tope sind die postglazialen Einwanderer       Gartenrotschwänze nicht mehr von der           deutschlands und Hollands sind ver-
der heutigen mitteleuropäischen Fauna         Ansitzwarte aus erbeutet werden, weil          schwunden, weil die Hänge und Weiden
nicht angepasst, so dass viele Arten als      die Vögel sie im Gras nicht mehr laufen        nicht mehr von Schafen und Ziegen
Folge der Landschaftsveränderung ver-         sehen können (Anonymus 2010, MAR-              beweidet werden (Van Noorden
schwinden oder stark zurückgehen, so          TINEZ 2010).                                   1998, Bunzel-Drüke et al. 2008).
z.B. die meisten Tagfalter, und unter                                                        Selbstverständlich waren die Trocken-
den Vogelarten alle ehemals verbreiteten      3.) Als weiterer Faktor kommt hinzu,           hänge der Schwäbischen Alb jahrhunder-
Würger (4 Arten), Ammern (4 Arten) und        dass die Nutzung der Wälder, Heiden,           telang der Bodenerosion ausgesetzt und
Pieper (3 Arten). Das an lichte Mittel-
wälder angepasste Westliche Haselhuhn
(Tetrastes bonasia rhenana), immerhin
eine eigene Unterart, wurde durch unge-
hemmte Aufforstung und Sukzession nun
fast ausgerottet (Herkenrath et al.
2018).
   Die historische Kultur- und Siedlungs-
landschaft wurde in Mitteleuropa durch
drei Faktoren zerstört, die als Hauptver-
ursacher des Artenschwunds betrachtet
werden können:
1.) In die gesamte Landschaft und in die
Siedlungsräume sind mehr Ordnung und
Sauberkeit eingetreten. Es fehlen die
ungenutzten Flächen. Die Landwirtschaft
hat ihre Anbau- und Erntemethoden per-
fektioniert und bearbeitet den letzten
Quadratmeter, so dass für die Tiere nichts
mehr übrig ist oder liegenbleibt. Es fehlen
die eingestreuten Restflächen, die „ver-
nachlässigten“ Ecken und Winkel. Im
Ackerland verschwanden die vielen Une-
benheiten, die Pfützen, Schlamm-, Sand-
und Schotterflächen (um die ehemals
herumgepflügt wurde). Diese Flächen
waren früher halt „eh da“ (Künast et
al. 2019). In Feld und Flur liegen kaum
noch Ernteabfälle herum, und es gibt
keine verfallenden Feldscheunen mehr,
weil diese sofort entsorgt werden. In den
Dörfern gibt es immer weniger bröckeln-
des Gemäuer, und in den Gebäudefassa-
den und Dachstühlen sind keine Risse,
Hohlräume und Schlupflöcher mehr für
Insekten, Fledermäuse und Vögel. Wir
sanieren Alles und räumen Alles auf,
anstatt es den Arten zu überlassen.
2.) Ein zweiter Faktor, der die Land-
schaft in den letzten Jahrzehnten stark
verändert hat, ist das Übermaß an Stick-
stoff-Düngung. Nachdem die Land-
wirtschaft dem Boden jahrtausendelang         Abb. 3 Wenn Wegränder karg bewachsen sind, dann sind sie auch blütenreich (oben: Tagebau
mehr Stickstoff entzogen hat als sie ihm      Garzweiler / Königshovener Mulde 2012). Solche Wegränder findet man heute nur noch selten.
durch Düngung wieder hinzugefügt hat,         An ihre Stelle ist das satte Grün überdüngter Brennnesseln getreten, ein heute vielerorts zu
drehte sich der Spieß auf einmal um: dem      findendes Wegrandhabitat, das alles Leben erstickt (unten: Grevenbroich Kreis Neuss 2012)
Boden wird heute mehr Stickstoff hinzu        (Aufn.: W. Kunz).

Artenschutzreport, Heft 44/2021                                                                                                        41
Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
stellten eine Gefahr für die Umwelt dar;       Tagfalter- und Wildbienenarten. Deshalb       2007). Die Überprüfung, ob ein Habitat
aber für die Arten waren sie ein Paradies.     gilt es, die in den letzten Jahrzehnten von   für die gewählte Art potentiell geeignet
Umweltschutz hat oft wenig mit Arten-          der EU erlassenen Richtlinien zur Erhal-      ist, soll mithilfe dieses Manuals erfol-
schutz zu tun.                                 tung der Artenvielfalt auf den Prüfstand      gen. Jedem dieser 231 Lebensraumtypen
                                               zu stellen; denn diese Richtlinien gehen      (LTR) wurde dabei ein vierstelliger Code
Viele Habitate haben ihren früheren            von der Erwartung aus, dass ein „guter        zugewiesen (Natura-2000-Code). Die
Artenreichtum allein dadurch erhalten,         Erhaltungszustand“ natürlicher Lebens-        erste Ziffer des Codes beschreibt dabei
dass sie land- und forstwirtschaftlich         räume in den EU-Mitgliedsstaaten eine         die übergeordnete Habitatgruppe. Das
genutzt wurden. Das gilt für viele Tag-        wichtige Voraussetzung für die Erhaltung      Gebiet der Europäischen Union beinhal-
falter (Anthes et al. 2003b, Habel             der Artenvielfalt ist.                        tet neun übergeordnete Habitatgruppen
et al. 2016), Wildbienen (Cölln &                 Die Europäische Union hat 1979 zur         (1 – 9). Die nachfolgenden Ziffern unter-
Jakubzik 2010) und für viele Vogel-            Erhaltung der wildlebenden Vogelar-           teilen die 9 Gruppen in Untergruppen.
arten (Fartmann et al. 2017). Werden           ten die „Richtlinie 79/409/EWG“ und
                                               zur Erhaltung der wildlebenden Tiere          Gruppe 1 = Lebensräume in Küstenbe-
Wälder so bewirtschaftet wie in histori-                                                                reichen und halophytische
scher Zeit, so sind sie artenreicher als die   und Pflanzen dann 1992 die „Richtlinie
                                               92/43/EWG“ erlassen. Die letztere Richt-                 Vegetation
Wälder, die man zu „Urwäldern“ machen
möchte (Schulze & Ammer 2015,                  linie ist die Fauna-Flora-Habitat-Richtli-    Gruppe 2 = Dünen an Meeresküsten
Schulze et al. 2019). Hartholzauen-            nie (FFH-Richtlinie). Beide Richtlinien                  und im Binnenland
wälder, die jahrhundertelang durch Hol-        verfolgen das Ziel, die Arten durch Erhalt    Gruppe 3 = Süßwasser-Habitate
zentnahme genutzt wurden und deren             ihrer „natürlichen Lebensräume“ lang-
                                               fristig sicherzustellen.                      Gruppe 4 = Heiden und Buschvegeta-
Eichen für die Schweinemast geschont
                                                  Die FFH-Richtlinie von 1992 defi-                     tion
wurden, zeigen ein hohes Maß an Bio-
diversität, die heute durch den gesetzlich     niert im Anhang I zahlreiche „natürliche      Gruppe 5 = Hartlaubgebüsche
vorgeschriebenen Prozessschutz gefähr-         Lebensraumtypen“ (abgekürzt: LRT), für
                                               deren Erhaltung die EU-Länder angewie-        Gruppe 6 = Natürliches und naturnahes
det ist (Reichhoff 2018). Schmet-                                                                       Grasland
terlings-reiche Gebiete waren in den           sen sind, besondere Schutzgebiete auszu-
vergangenen Jahrhunderten (und die             weisen. Solche Lebensraumtypen liegen         Gruppe 7 = Hoch- und Niedermoore
letzten Reste solcher Habitate sind es         auf Flächen, die zu FFH-Gebieten oder         Gruppe 8 = Fels-Lebensräume und
auch heute noch) überwiegend Brachfel-         EU-Vogelschutzgebieten erklärt worden                    Höhlen
der oder beweidete Trockenrasen, also          sind. Die Mitgliedsstaaten verpflichten
                                               sich, diese Lebensräume nicht nur zu          Gruppe 9 = Wälder
gerade nicht die natürlichen Biotope. In
historischen Berichten findet man mehr-        erhalten, sondern gegebenenfalls auch
                                               wieder herzustellen oder neu zu schaffen.     Viele der Untergruppen sind regional
fach den Flurnamen „Ziegenberg“ als                                                          begrenzt, sodass sie im Gebiet der Euro-
Ort, wo damals viele Schmetterlinge vor-       Gegenwärtig sind im Anhang I insge-
                                               samt 231 LRTs aufgelistet und detailliert     päischen Union oft nur in exponierten
gekommen sind, die heute verschwunden                                                        oder peripheren Regionen vorkommen,
sind, weil die Ziegen weg sind (Rob-           beschrieben, wovon 93 in Deutschland
                                               vorkommen (Stand Oktober 2018, Bun-           z.B. nur in höheren Gebirgszonen, an
recht 2019).                                                                                 den Meeresküsten, im subarktischen,
   Die bereits im neunzehnten Jahr-            desamt für Naturschutz). Bundesweit
                                               sind aktuell 4544 FFH-Gebiete gemeldet,       mediterranen, pannonischen oder ponti-
hundert beginnende, aber erst nach den                                                       schen Bereich oder auf den Kanaren und
Zweiten Weltkrieg flächendeckende              die sich auf fast 5,5 Millionen Hektar der
                                               Landesfläche verteilen. Davon nimmt die       Azoren. Deutschland besitzt 93 der 231
Zerstörung der Jahrhunderte alten his-                                                       europäischen Lebensraumtypen.
torischen Offenlandschaft durch Nut-           terrestrische Fläche über 3,3 Millionen
                                               Hektar ein; das entspricht einem Anteil          Hier in dieser Veröffentlichung
zungsintensivierung und Aufforstung ist                                                      werden die Salz- und Süßwasserbiotope
eine der Hauptursachen des mitteleuro-         von 9,3 % der Landesfläche.
                                                  Zusätzlich zu den 4544 in Deutsch-         nicht berücksichtigt (Gruppen 1 bis 3).
päischen Artenschwundes. Im gegen-                                                           Von den übrig bleibenden terrestrischen
wärtigen öffentlichen Bewusstsein gelten       land liegenden FFH-Gebieten kommen
                                               noch 742 Vogelschutzgebiete der EU-Vo-        Lebensraumtypen werden hier einige
zwar die Gifte als Hauptverursacher des                                                      aufgezählt:
Artenschwundes, doch scheint es sicher,        gelschutz-Richtlinie von 1979 hinzu,
dass wir heute auch ohne Gifte als Folge       welche mit über 4 Millionen Hektar sogar      Gruppe 4: Atlantische feuchte Erica-Hei-
der Überdüngung der Landschaft ein             11,3 % der terrestrischen Landesfläche            den; trockene Calluna-Heiden.
ähnliches Artensterben allein wegen der        Deutschlands ausmachen. FFH-Gebiete           Gruppe 5: Submediterrane und gemäßigte
Biotopvernichtung hätten.                      und EU-Vogelschutzgebiete können sich             Hartlaubgebüsche; trocken-warme
                                               dabei räumlich überlagern, sodass in              Berberitzen-, Felsenmispel-, Felsen-
                                               Deutschland insgesamt eine Fläche von             birnen- und Sanddorngebüsche; sub-
4. Die EU-FFH-Richtlinie und die               15,5 % als Schongebiete (sog. „Natura
   Vogelschutz-Richtlinie zur Erhal-                                                             mediterrane Halbtrockenrasen auf
                                               2000-Gebiete“) gemeldet sind. Der hohe            karbonatischem Boden mit Wachol-
   tung „natürlicher Lebensräume“              Anteil an Schongebieten in Deutschland
   für den langfristigen Erhalt wild-                                                            der; subkontinentale Halbtrockenra-
                                               wird von Politikern und Behörden häufig           sen auf karbonatischem Boden mit
   lebender Pflanzen- und Tierarten            als Argument benutzt, ihr erfolgreiches           Wacholder.
                                               Engagement zur Erhaltung der Biodi-
Macht man sich bewusst, dass Mittel-           versität unter Beweis zu stellen. Dies        Gruppe 6: Sandtrockenrasen mit
europa nach der Eiszeit durch Arten aus        erweckt aber eine falsche Erwartung.              geschlossener Narbe; Schwermetall-
den Offenländern des Ostens und des            Es sollte öfter die Frage gestellt werden,        rasen; submediterraner Trockenra-
Mediterranraums besiedelt wurde (wo sie        warum wir derzeit einen zunehmenden               sen auf karbonatischem Untergrund;
heute noch das Kerngebiet ihrer Verbrei-       Artenschwund haben, obwohl wir so                 subkontinentaler Halbtrockenrasen
tung haben), so wird deutlich, dass der        viele Schutzgebiete haben.                        auf karbonatischem Boden: gemäht,
Ruf nach mehr Naturnähe unserer mit-                                                             beweidet (Mähweide) oder brach-
teleuropäischen Lebensräume nicht der                                                            gefallen; natürlicher Steppenrasen
erste Weg sein kann, um bedrohte Arten         5. Beispiele für die
                                                  EU-Lebensraumtypen                             (kontinental, auf tiefgründigem
in Mitteleuropa zu retten. Mehr Natur-                                                           Boden); gemähter, beweideter (incl.
nähe bedeutet in Mitteleuropa mehr Vege-       Die verschiedenen zu bewahrenden                  Mähweide) oder brachgefallener
tation und mehr Wald. Aber genau das           Lebensraumtypen wurden von der EU-                Borstgrasrasen; Pfeifengraswiesen
fehlt den verschwindenden Arten nicht.         Kommission 2007 in einem Interpre-                auf kalkreichen Standorten; krau-
Zumindest gilt das nicht für viele Vogel-,     tationsmanual aufgelistet (Anonymus               tiger Ufersaum an besonnten oder

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Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
beschatteten Gewässern (z.B. mit          pen für die Existenz bedrohter Tierarten     FFH-Richtlinie im Anhang I aufgelisteten
   Cardamine amara, Bitteres Schaum-         zu wenig relevant sind, dass es also in      LRTs finden sich keine Industriebrachen,
   kraut);    feuchter    Staudensaum;       Wirklichkeit darauf ankommt, Lebens-         Eisenbahnflächen, Autobahnböschungen,
   nährstoffreiche Feucht- bzw. Nass-        raumtypen mit anderen Charakteristika        Flugplätze, Truppenübungsplätze, ehe-
   grünlandbrache;      nährstoffreiche,     auszuwählen, um dem Artenschwund             malige Munitionsdepots, Fischzucht-Tei-
   extensive Feucht- bzw. Nasswiesen;        Einhalt zu gebieten. Letztere Auffassung     che und Torfstiche, Tagebauflächen,
   artenreiche, frische Mähwiesen oder       wird im Folgenden vertreten, erläutert       Zement- und Quarzabbauflächen, Hude-
   Weiden.                                   und begründet. Es erstaunt, wie wenig        weiden oder Kiesgruben. Das aber sind
Gruppe 7: Sphagnum-Hochmoore; diver-         die Öffentlichkeit und die Politik darauf    zum Teil die Lebensräume, auf denen
   se Niedermoore; Schneidenröh-             reagieren, dass die Schutzgebiete ihren      viele der gefährdeten Arten überlebt
   richte; kalkreiche oder temporäre         Sinn, wofür sie eingerichtet wurden, nur     haben, nachdem sie die Agrar- und Grün-
   Sicker- und Sumpfquellen.                 sehr unvollkommen erfüllen.                  landnutzflächen verlassen mussten.
                                                Es gibt hauptsächlich drei Gründe,
Gruppe 8: Geröll und Schutthalden; stei-     warum die FFH-Lebensraumtypen den            2.) Ein weiterer Kritikpunkt, warum die
   nige Felsabhänge mit Felsspalten-         Rückgang der Biodiversität kaum aufhal-      FFH-Lebensraumtypen so wenig Erfolg
   vegetation; natürliche Höhlen oder        ten können:                                  bringen, ist die weitgehend statische
   Halbhöhlen.                                                                            Definition der Habitate. Die Dynamik
Gruppe 9: bodensaurer Buchenwald der         1.) Das Problem mit den bedrohten            und Veränderlichkeit der Habitate wird
   planaren Stufe; Stieleichen-Hainbu-       Arten Mitteleuropas ist, dass viele dieser   zu wenig berücksichtigt. Es ist vorge-
   chenwald feuchter bis frischer Stand-     Arten Lebensräume brauchen, die nicht        schrieben, den „guten Erhaltungszustand
   orte;     Sommerlinden-Bergulmen-         die „natürlichen Lebensräume“ Mittel-        der LRTs“ zu bewahren (worüber die
   Blockschuttwald;      Ahorn-Linden-       europas sind. Agrar- und Wiesenvögel         EU-Mitgliedsstaaten auch in regelmä-
   Hangschuttwald;       Eschen-Ahorn-       oder auch viele Tagfalterarten brauchen      ßigen Abständen berichtspflichtig sind)
   Schlucht- bzw. -Hangwald; Som-            keine „natürlichen Lebensräume“. Sie         (Gunnemann & Fartmann 2001).
   merlinden-Hainbuchen-Schuttwald;          brauchen die Lebensräume ihrer Her-          Aber viele Tierarten brauchen gerade
   Birken-, Latschen-, Spirken oder          kunftsländer, aus denen sie postglazial      Habitate, die durch Dynamik und Verän-
   Waldkiefern-Moorwald; Weichholz-          eingewandert sind; und dort sind die         derlichkeit überhaupt erst entstehen. Die
   auenwald mit weitgehend ungestörter       „natürlichen Lebensräume“ etwas Ande-        Vorstellung von einer statischen Erhal-
   Überflutungsdynamik; Weichholzau-         res als bei uns. Die „natürlichen Lebens-    tung der Habitate hat kreationistische
   enwald ohne Überflutung; Schwar-          räume“ Osteuropas, Westasiens und des        Denkansätze.
   zerlenwald (an Fließgewässern);           Mediterranraums sind größtenteils keine         Ein großer Teil der Habitate in Mit-
   Hartholzauenwald mit weitgehend           geschlossenen dichten Hochwälder, die        teleuropa hat keine dauerhafte Existenz.
   ungestörter Überflutungsdynamik;          bei uns auf den meisten Flächen entstehen    Die Natur entwickelt sich weiter, sie
   Hartholzauenwald ohne Überflu-            würden, wenn man die Natur sich selber       hält nicht an. Jeder Biotop unterliegt
   tung.                                     überlässt. Als Hasen, Rebhühner, unsere      einer Sukzession. Natur-Katastrophen
                                             drei Lerchenarten (Hauben-, Heide- und       oder menschliche Zerstörungen schaffen
                                             Feldlerche), mehrere Pieper (Brach- und      Habitate, von denen viele jeweils nur für
6. Die Lebensraumtypen der                   Wiesenpieper), Ammern (Grau-, Zaun-,         vorübergehende Zeit für bestimmte Arten
   FFH-Richtlinie sind auf die               Zipp- und Goldammer) und die meisten         als Lebensräume geeignet sind, weil sie
   prioritären Habitatansprüche vieler       Tagfalterarten nacheiszeitlich bei uns       sich mit der Zeit verändern. Viele Arten
   Vogel- und Tagfalterarten nicht           eingewandert sind, wurde dies mög-           finden ihren Lebensraum dort nur vorü-
   zugeschnitten                             lich, weil der Mensch die „natürlichen       bergehend, nämlich dann wenn gerade
                                             Lebensräume“ Mitteleuropas beseitigt         das     passende     Sukzessionsstadium
Vergegenwärtigt man sich, dass mehr          hat. Deswegen kann man nicht erwar-          erreicht ist. Danach müssen sie wieder
als ein Sechstel unserer Landesfläche in     ten, dass wir das Verschwinden all dieser    verschwinden. Und sie würden ganz ver-
Deutschland als Schutzgebiete ausgewie-      Arten bei uns verhindern können, indem       schwinden, wenn nicht Naturzerstörun-
sen sind, die zur Bewahrung der Biodi-       wir hier „natürliche Lebensräume“ wie-       gen den Kreislauf immer wieder von vorn
versität erhalten bleiben sollen, dann ist   derherstellen.                               beginnen würden. Solche Lebensräume
schwer begreiflich, warum wir in den            Die Ursache für den Schwund dieser        haben mit einem „guten Erhaltungszu-
letzten 30 Jahren mehr als Dreiviertel       Arten in den letzten Jahrzehnten ist nicht   stand“ nichts zu tun (Wegener 2013).
an Biomasse der Fluginsekten verloren        die Zerstörung der Natur, sondern die        Dieses Kommen und Gehen widerspricht
haben (Hallmann et al. 2017) und             Tatsache, dass die landwirtschaftlichen      der Wunschvorstellung von „nature con-
warum dieser Trend fast unvermindert         Offenflächen durch Nutzungsintensivie-       servation“.
anhält. Mehrere rezente Publikationen        rung und Überdüngung unbewohnbar                Viele Insekten benötigen Habitate
weisen nach, dass der Insektenschwund        gemacht wurden, so dass viele dieser         mit niedriger lückiger Vegetation. Da in
auch in geschützten Gebieten stattfindet,    Arten auf Industriebrachen, Rohstoffa-       solchen Lebensräumen die Vegetation
so dass die Schutzgebiete das Ziel, wofür    bbauflächen oder Truppenübungsplätze         jedoch mit fortschreitendem Alter oft
sie eingerichtet wurden, nur ungenügend      ausweichen mussten.                          immer flächendeckender wird, kann der
erfüllen (Filz et al. 2013, Hallmann            Das Natura-2000-Netz ist aber auf         Lebensraum nur durch Pflegemaßnah-
et al. 2017, Rada et al. 2018). Die von      die Sicherstellung „natürlicher“ Lebens-     men erhalten werden. Die FFH-Richt-
der EU definierten FFH-Lebensraumty-         räume zugeschnitten. Jedoch sind die         linie verpflichtet die Mitgliedsstaaten
pen wirken sich zwar positiv auf bedrohte    Hauptgründe, warum die Schutzgebiete         zwar zu einer angebrachten Pflege der
Arten aus (im Vergleich zu solchen           so ineffektiv sind, nicht das Fehlen         LRTs, schreibt allerdings nicht vor, wie
Gebieten, die nicht unter Schutz stehen);    „natürlicher“ Lebensräume. Es müssen         die erforderlichen Maßnahmen ausse-
jedoch ist dieser Effekt relativ gering.     stattdessen Wiesen bereitgestellt werden,    hen müssen. Dies liegt im Ermessen
   Es scheint sicher zu sein, dass die       die nicht so dicht und hoch mit verfilz-     des jeweiligen Staates. Das führt dazu,
Lebensraumtypen in den FFH- und              tem Gras überdeckt sind und wo die           dass viele Pflegemaßnahmen entweder
Vogelschutzgebieten nicht das leisten,       weite Sicht nicht überall von Hecken und     gar nicht oder unzureichend oder falsch
was sie leisten sollen. Das kann daran       Feldgehölzen verstellt ist, wenn es darum    durchgeführt werden. Zum Beispiel sind
liegen, dass die Richtlinien zur Erhaltung   geht, auf vielen Flächen Mitteleuropas       myrmekophile Bläulingsarten (Plebejus
dieser Gebiete unzureichend beachtet         das Aussterben von Kiebitz, Bekassine,       argus und mehrere Maculinea-Arten)
und verwirklicht sind. Es kann aber auch     Rotschenkel, Raubwürger oder Braun-          darauf angewiesen, dass die Vegetation in
daran liegen, dass die vorgeschriebenen      kehlchen zu verhindern (Fischer              ihrem Lebensraumtyp mosaikartig unter-
Habitatmerkmale der Lebensraumty-            & Müller 2018). Unter den in der             schiedliche Dichten ausweist und freie

Artenschutzreport, Heft 44/2021                                                                                                 43
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Erdflächen enthält, u.a. auch deshalb,          mutlich wegen der zu dichten und hohen          nicht auf viele Tagfalter- und Vogelar-
weil sie auf das Vorkommen bestimm-             Vegetation. Bei einer Besichtigung im           ten), besteht darin, dass die im Anhang I
ter Ameisen angewiesen sind, die offene         Mai 2018 empfahl ich als Pflegekon-             der FFH-Richtlinie aufgelisteten Lebens-
Erde brauchen (Abb. 4). Solche Struktu-         zept zur Rückgewinnung dieser Arten,            raumtypen fast rein pflanzensoziologisch
ren des Habitats können durch Abplag-           einige kleine ausgewiesene Bereiche             definiert sind. Das aufgezählte Pflanzen-
gen der Humusschicht mit land- oder             auf den Wiesen mit Forstgerät von der           artenspektrum eines jeweiligen Lebens-
forstwirtschaftlichem Gerät oder durch          dichten Vegetation zu befreien und in           raumtyps entspricht in vielen Fällen
Beweidung oder Mahd geschaffen                  lockere, kurzgrasig bewachsene Sand-            ungefähr einer pflanzensoziologischen
werden, jedoch muss die Mahd zum rich-          und Schlammflächen umzugestalten, um            Gesellschaft nach REINHOLD TÜXEN
tigen Zeitpunkt, in der richtigen Intensität    die verlorenen Arten zurückzugewinnen.          und     JOSIAS       BRAUN-BLANQUE
und mit dem richtigen Gerät durchgeführt        Mir wurde daraufhin deutlich gemacht,           (Braun-Blanquet 1964). Schon
werden. Solange diese Bedingungen für           dass dies nicht erlaubt sei, weil es den        die Namen vieler LRT-Untergruppen
bestimmte Zielarten nicht definiert sind,       EU-Richtlinien widerspricht, da durch           zeigen, dass die Lebensraumtypen durch
ist die Bewahrung eines LRTs für die            solche Maßnahmen der vorgeschriebene            Pflanzengesellschaften definiert sind.
Erhaltung der genannten Bläulingsarten          „guten Erhaltungszustand“ der LRTs                 Damit wird unmittelbar klar, dass die
sinnlos.                                        beeinträchtigt wird. Die Vorschrift geht        beabsichtigte und in der EU-Richtlinie
   Dafür ein Beispiel: Das EU-LIFE-Pro-         dabei von der Erwartung aus, dass ein           geforderte Erhaltung dieser LRTs zwar
jekt „Rhöner Bergwiesen“ unterliegt den         „guter Erhaltungszustand“ des LRTs              eine Sicherung der Existenzgrundlage
Vorgaben von Natura 2000: weite Teile           auch einen guten Erhaltungszustand der          vieler Pflanzenarten ist, aber nicht der
sind als FFH-Gebiete oder EU-Vogel-             dort vorkommenden Tierarten begüns-             meisten Tierarten, weil diese an etwas
schutzgebiete geschützt (https://projekte.      tigt. Die Vorschrift nimmt dabei nicht zur      anderes gebunden sind als an Pflanz-
brrhoen.de/life-projekt-hessische-rhoen;        Kenntnis, dass viele Tierarten in ihren         engesellschaften. Das wird sofort deut-
Zugriff: Dez. 2019). Trotzdem kam               Habitaten gerade die frisch entstandenen        lich, wenn man auf die Zahl der Arten
es in jüngster Zeit auf einigen Wiesen          Störstellen (also eine Schädigung des           schaut, die im Interpretationsmanual
zum Verschwinden von drei wertvollen            „guten Erhaltungszustands“) benötigen.          der EU-Kommission für die einzelnen
Brutvögeln, die charakteristisch für diese                                                      Lebensräume aufgelistet sind (Anony-
Habitate waren, nämlich Bekassine, Rot-         3.) Der dritte Grund, warum die FFH-Le-         mus 2007). Bei der Beschreibung der
rückenwürger und Braunkehlchen (mdl.            bensraumtypen in vielen Beispielen              einzelnen Lebensraumtypen sind meist
Mitteilung JONAS THIELEN, Projekt-              nicht auf die Habitat-Bedürfnissen vieler       sehr vielen Pflanzenarten aufgezählt;
manager Biosphärenreservat Rhön), ver-          Tierarten zugeschnitten sind (zumindest         aber es sind jeweils nur wenige Tierar-
                                                                                                ten namentlich genannt, zumindest nicht
                                                                                                für die terrestrischen Lebensraumtypen.
                                                                                                In vielen Fällen ist bestimmten LRTs
                                                                                                gar keine Tierart zugeordnet, in mehre-
                                                                                                ren Fällen sind nur eine einzige Tierart
                                                                                                oder wenige Tierarten aufgeführt. Außer-
                                                                                                dem sind die Zuordnungen der Tierarten
                                                                                                manchmal sehr allgemein gehalten (z.B.
                                                                                                „Odonata“, oder es sind nur Gattungsna-
                                                                                                men genannt). Manchmal sind auch Ubi-
                                                                                                quitisten aufgezählt, die undifferenziert
                                                                                                in vielen Biotopen vorkommen, einem
                                                                                                einzelnen bestimmten LRT daher kaum
                                                                                                zuzuordnen sind, wie z.B. der Schwal-
                                                                                                benschwanz (Papilio machaon) für den
                                                                                                LRT 6210. Die einzigen brauchbaren
                                                                                                Zuordnungen sind hoch-spezialisierte
                                                                                                Tierarten, wie z.B. Höhlenkrebse im
                                                                                                LRT 8310 oder vier Tagfalterarten: der
                                                                                                Hochmoor-Gelbling (Colias palaeno),
                                                                                                der Hochmoor-Perlmuttfalter (Boloria
                                                                                                aquilonaris) (Abb. 5), das Moor-Wie-
                                                                                                senvögelchen (Coenonympha tullia) und
                                                                                                der Hochmoor-Bläuling (Vacciniina opti-
                                                                                                lete), die in der Beschreibung des LRT
                                                                                                7110 (Hochmoore) aufgelistet sind.
                                                                                                   Diese vier Tagfalterarten kommen in
                                                                                                der Tat überwiegend nur in einem ein-
                                                                                                zigen Lebensraumtyp vor (LRT 7110
                                                                                                = Hochmoore). Der Grund für die enge
                                                                                                Bindung an diesen einen bestimmten LRT
                                                                                                liegt in den Bedürfnissen der Entwick-
                                                                                                lungsstadien dieser Falter. Ihre Raupen
                                                                                                fressen Wollgras, bestimmte Seggen und
                                                                                                einige verschiedene Ericaceen-Arten, die
                                                                                                eng an fast nur einen einzigen Lebens-
                                                                                                raumtyp gebunden sind. Die Raupenfut-
                                                                                                terpflanzen von Vacciniina optilete z.B.
                                                                                                sind Moosbeere, Rauschbeere und Ros-
                                                                                                marinheide. Diese Pflanzen wachsen fast
                                                                                                ausschließlich auf Moorflächen.
Abb. 4 oben: Vegetationsarmer Kalkmagerrasen am Rande eines stillgelegten Steinbruchs bei          Solch enge Bindungen von Tierar-
Dahlem / Eifel (2012), ein optimaler Lebensraum für den Bläuling Plebejus argus (unten: 2012)   ten an bestimmte Pflanzengesellschaf-
(Aufn.: W. Kunz).                                                                               ten sind jedoch die Ausnahmen. Die

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Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
Futterpflanzen der Raupen der meisten
Schmetterlinge kommen in verschiede-
nen Habitaten vor, so dass die Falter nicht
an bestimmte Lebensraumtypen gebun-
den sind. Hinzu kommt, dass die Imagi-
nes der meisten Schmetterlingsarten an
Nektarpflanzen saugen, die fast überall
vertreten sind. Zum Beispiel sind Distel-
blüten und die Flockenblume Centaurea
scabiosa die wichtigsten Nektarpflanzen
für den Mosel-Apollofalter (Parnassius
apollo), der in LRTs der Gruppe 81 (Fels-
hänge) lebt. Disteln und Flockenblumen
sind aber keineswegs definierende Cha-
rakterpflanzen für die LRTs der Gruppe
81.
    Die Tatsache, dass im Interpretations-
manual der EU-Kommission (Anonymus
2007) für die Lebensräume so wenige
Tierarten aufgelistet sind, hat einen klaren
Grund: Ein Großteil der Tierarten ist den
LRTs von vornherein nicht zuzuordnen,
weil viele Tierarten keine Pflanzengesell-     Abb. 5 Der Hochmoor-Perlmuttfalter (Boloria aquilonaris) auf dem Heidekraut einer Moorflä-
schaften brauchen, sondern Habitate, die       che bei Dahlem / Eifel (2008) (Aufn.: W. Kunz).
nicht durch Pflanzenarten gekennzeich-
net sind, sondern viel stärker durch die
physischen Strukturen des Lebensrau-
mes: z.B. ob es sonnenexponierte Flä-
chen gibt, ob genügend warme, trockene,        und Agrarlandschaft entfernen (GEISS-         Habitatbedürfnisse zumindest vieler
felsige Stellen als „Störstellen“ in das       LER-STROBEL, Vortrag auf dem                  Vogel- und Schmetterlingsarten als weit-
Habitat eingestreut sind, ob Abbruch-          Plenumtreffen „Netzwerk Naturschutz“          gehend unbrauchbar eingestuft werden.
kanten vorhanden sind, ob die Flächen          am 11.11.2016 in Rottenburg).                 Der gegenwärtig festzustellende Arten-
windgeschützt sind, ob Ansitzwarten vor-          Zu den Hauptursachen für den dra-          schwund auch in den FFH-Gebieten
handen sind, ob die Vegetation geschlos-       matischen Rückgang fast aller in Wiesen       hat seine Ursache nicht in der mangeln-
sen ist oder ob sie niedrigwüchsig und         brütenden Vögel (von Uferschnepfen,           den Umsetzung der vorgeschriebenen
lückig ist, ob Sandflächen, Schlammstel-       Rotschenkeln und Bekassinen bis zum           FFH-Lebensraumtypen, sondern darin,
len, Pfützen und Gewässer in der Nähe          Braunkehlchen) sind die Verfestigung          dass diese für die Bedürfnisse vieler Tier-
sind, ob Waldsäume in der Nähe sind            des Bodens und der dichte Aufwuchs            arten nicht exakt genug definiert sind.
oder nicht (wobei es oft auf eine Min-         der Vegetation, wodurch der ehemals
destnähe oder eine Mindestentfernung           lockere Wiesenbewuchs mit freien Erd-         7. Maßgeschneiderte Pflege und
der Gehölze ankommt), ob Hecken in der         und Schlammflächen in eine verfilzte             Herstellung von Habitaten
Umgebung vorhanden sind oder nicht,            Grasbedeckung umgewandelt wurde                  für bedrohte Zielarten
ob die Sträucher genügend ausgelichtet         (Beckers et al. 2018, Fischer &
                                               Müller 2018). Davon betroffen sind            7.1 Zielart Kreuzdornzipfelfalter –
und eingekürzt sind, ob die Wälder eine                                                           Satyrium spini
untere Krautschicht tragen, ob die Bäume       gerade auch einige EU-Vogelschutzge-
in den Wäldern genügend Abstand vonei-         biete, da sie zu sehr geschont werden und
                                               zu wenig in die Vegetation eingegriffen       Satyrium spini (Abb. 6) ist deutschland-
nander haben, damit der Boden besonnt                                                        weit in der Roten Liste in die Kategorie
ist, ob die Wälder ein geschlossenes           wird. Im Westerwald verschwindet das
oberes Kronendach haben oder ob es             Braunkehlchen stärker in den Vogel-
ein mittleres Kronendach gibt usw. Zum         schutzgebieten als in der Gesamtland-
Beispiel benötigt der Waldlaubsänger tief      schaft (Folz & Kunz 2015).
angeordnete Kronendächer als mittlere             Viele Vögel benötigen Hohlräume
Etagen im Wald, wobei die Baumarten            als Nistplätze. Dabei ist es dem Stein-
des Waldes keine entscheidende Rolle           schmätzer z.B. egal, ob dies Hohlräume
spielen (Schäffer 2016). Solche Fak-           in Steinhaufen, in Holzhaufen oder in
toren sind viel wichtiger als Pflanzenge-      aufgeschichteten getrockneten Torfhau-
sellschaften.                                  fen sind oder ob es Kaninchenbauten
    Für viele Tagfalterarten sind oft offene   sind (Kämpfer & Fartmann 2019).
Böden mit kurzer, spärlicher und unre-         Diese Ansprüche an Nist-Habitate haben
gelmäßiger Vegetation entscheidend             mit Pflanzengesellschaften (nach denen
(Abb. 2 und 4), wobei die Pflanzenarten,       die EU-LRTs definiert sind) nichts zu tun.
aus denen sich die Vegetation zusammen-        Bezeichnend ist, dass die im Anhang I
setzt, unbedeutend sein können. Das gilt       der FFH-Richtlinie aufgelisteten Lebens-
ebenso für viele Vogelarten. Ein Haupt-        raumtypen in einigen Fällen in Deutsch-
faktor, der heute viele Lebensräume            land noch recht häufig vertreten sind, die
für Wiesen-Limikolen unbewohnbar               ihnen zugeordneten Tagfalter- und Vogel-
                                               arten dort aber nicht mehr vorkommen.         Abb. 6 Der Kreuzdornzipfelfalter (Satyrium
gemacht hat, ist die Anpflanzung von                                                         spini) stellt hohe Ansprüche an seinen Lebens-
Hecken und Feldgehölzen. Viele Wie-            Sie können dort nicht vorkommen, weil
sen-Limikolen (wie auch die Wiesen-            die entscheidenden Habitat-Charakte-          raum: Es müssen sehr warme felsdurchsetzte
weihe) meiden „Kulissen“ (BECKERS              ristika (die bestimmte Tierarten brau-        Trockenhänge mit krüppeligen Sträuchern
et al. 2018). Um Kiebitz und Rotschenkel       chen) in den FFH- Lebensraumtypen             größeren Abstands und minderer Höhe sein.
zu erhalten, muss man keine Pflanzen-          nicht definiert sind. Daher müssen die        Sobald solche Habitate der „Natur überlas-
gesellschaft erhalten, sondern man muss        von der EU-Kommission vorgeschrie-            sen werden“ und zuwachsen, verschwindet
Hecken und Feldgehölze aus der Wiesen-         benen FFH-Lebensraumtypen für die             der Falter (Aufn.: W. Kunz, Pyrenäen 2019).

Artenschutzreport, Heft 44/2021                                                                                                         45
Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
3 (= gefährdet) eingestuft (Reinhardt          • Das bedeutet, dass nur ein frühes Ver-     (Anonymus 2007), so findet man unter
& Bolz 2011). In Nordrhein-Westfalen             buschungsstadium des Trockenrasens         den LRTs der infrage kommenden Hab-
gibt es nur noch ein einziges Vorkommen          ein geeignetes Habitat für den Kreuz-      itat-Gruppen 4 (Heiden und Buschvege-
(Helbing et al. 2015b). Der Kreuz-               dornzipfelfalter sein kann. Mensch-        tation), 5 (Hartlaubgebüsche) und 6
dornzipfelfalter braucht einen Kalk-             liche Eingriffe in die natürliche          (natürliches und naturnahes Grasland)
magerrasen mit Kreuzdorn-Sträuchern              Sukzession sind absolut notwendig.         keine einzige Lebensraumbeschrei-
(Rhamnus sp.). Im mittleren und südli-           Sobald die Verbuschung zu dicht und        bung, die auf die Habitate des Golde-
chen Deutschland gibt es viele solche            zu hoch wird, kann die Art in diesem       nen Scheckenfalters zugeschnitten wäre.
Habitate, aber nur wenige sind im rich-          Habitat nicht mehr leben. Die Befol-       Euphydryas aurinia ist also keinem
tigen Sukzessionsstadium, und nur diese          gung jeglicher „Naturschutz-Ideolo-        FFH-Lebensraumtyp zuzuordnen. Das ist
sind von Satyrium spini besetzt. Grund           gie“ von „Natur Natur sein lassen“         insbesondere deswegen bemerkenswert,
ist die gegenwärtige Verbuschung fast            vernichtet den Falter.                     weil diese Art in den Anhang II der Fau-
aller Trockenrasen, weil die Beweidung                                                      na-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH 92/43/
abgenommen und die Eutrophierung der           Ein Vergleich zwischen den Gelege-           EWG) aufgenommen wurde (EU-Code
Landschaft zugenommen hat.                     dichten sowie Gelegegrößen des Kreuz-        1065). Die im Anhang II aufgeführten
   Der Falter bewohnt wärmebegüns-             dornzipfelfalters auf Natur-belassenen       Arten gelten als Arten von gemeinschaft-
tigte,   felsdurchsetzte Trockenrasen          Flächen mit solchen (ansonsten gleichar-     lichem Interesse, für deren Erhaltung
mit Sträuchern. Die Haupt-Raupenfut-           tigen) Flächen, wo aber durch Pflege-        besondere Schutzgebiete auszuweisen
terpflanze ist der Purgier-Kreuzdorn           maßnahmen die Kreuzdornbüsche stark          sind. Damit verpflichtet sich die Euro-
Rhamnus cathartica. Trockenrasen mit           ausgelichtet und eingekürzt wurden, hat      päische Staatsgemeinschaft zum Schutz
Kreuzdorn gibt es vor allem im mittleren       gezeigt, dass die Falter sehr schnell auf    dieses Falters in besonderem Maße. Der
und südlichen Bereich Deutschlands an          die Pflegemaßnahmen reagierten. Die          EU-Kommission ist die Schutzbedürftig-
vielen Stellen; der Falter kommt aber nur      Gelegedichten waren auf den entbusch-        keit dieser Art also sehr wohl bewusst;
an wenigen Stellen vor. Das Habitat muss       ten Flächen im Schnitt 80-mal höher          nur sind die dafür erforderlichen „beson-
also weitere Bedingungen erfüllen, damit       als auf den unbehandelten Flächen, und       deren Schutzgebiete“ in den im Anhang I
Satyrium spini dort leben kann (Löff-          auf einigen Flächen hat sich die Art als     der FFH-Richtlinie aufgelisteten Lebens-
ler et al. 2013, Helbing et al. 2015b):        Folge der Pflegemaßnahmen wieder neu         raumtypen nicht enthalten.
                                               angesiedelt (Helbing et al. 2015a).             Die Beschreibungen der Lebens-
• Kalkreiches Trockengrasland allein           Hier wurde unter Beweis gestellt, dass       räume, in denen der Goldene Schecken-
  genügt nicht; es sind eingestreute           die Lebensraumbeschreibungen der             falter heute noch vorkommt, sind schwer
  warme bis heiße, trockene und felsige        EU-FFH-Richtlinie unzureichend sind;         zu einer einheitlichen Habitat-Beschrei-
  Stellen wichtig.                             denn alle Maßnahmen, die ein Optimal-        bung zusammenzufassen, dazu ist der
• Es müssen geräumige Lichtungen,              habitat schufen und zur erfolgreichen        Falter an viel zu heterogene Habitate
  sonnenexponierte Flächen und Wald-           Wieder-Ansiedlung von S. spini führten,      angepasst. Die Präferenzen der Falter für
  säume vorhanden sein.                        beinhalteten keine pflanzensoziologische     die Orte der Eiablage sind von Ort zu Ort
                                               Änderung im Sinne eines FFH-Gebie-           verschieden, und vor allem gibt es Unter-
• Das reine Vorhandensein der Rau-             tes.                                         schiede zwischen Habitat-Merkmalen der
  pen-Futterpflanze (Rhamnus spp.)                                                          Feuchtgebiete gegenüber den Trockenge-
  genügt nicht. Für die Eiablage benö-                                                      bieten, in denen die Art jeweils lebt. Wäh-
  tigt Satyrium spini unbedingt klein-         7.2 Zielart Goldener Scheckenfalter –
                                                   Euphydryas aurinia                       rend der voralpine Feuchtstamm vielfach
  wüchsige bis krüppelige (am besten                                                        auf ein angepasstes Mahdregime ange-
  kniehohe) Kreuzdornpflanzen über             Der Goldene Scheckenfalter (Abb. 7) ist      wiesen ist, meidet der saarländische Tro-
  Fels, Geröll und unbewachsener Erde          ein „Verschiedenbiotopbewohner“ (Wei-        ckenstamm gemähte Flächen und sucht
  (Weidemann 1988). Diese Sträu-               demann 1988), der sowohl feuchte als         eher junge und jung gebliebene Brachen
  cher dürfen eine maximale Höhe von           auch trockene Regionen und kalkreiche        auf (Ulrich 2003). Es zeichnen sich
  1,30 m nicht überschreiten und müssen        wie auch kalkarme Standorte besiedelt.       folgende Habitat-Präferenzen ab:
  außerdem einen gewissen Mindestab-           Während im Alpenvorland ausschließlich
  stand voneinander haben.                     Feuchtbiotope besiedelt sind (z.B. das       • Die Vegetation sollte in jedem Fall
                                               Murnauer Moos bei Garmisch-Partenkir-          niedrigwüchsig und lückig sein, egal
                                               chen) (Anthes et al. 2003a, Anthes             es sich dabei um feuchte oder trockene
                                               et al. 2003b), waren die ehemals in der        Lebensräume handelt (Anthes &
                                               Eifel vorkommenden Individuen und              Nunner 2006).
                                               sind die heute noch im Saarland behei-       • Der Anspruch an die Struktur der
                                               mateten Individuen Trockenbewohner             Eiablage-Pflanzen sowie der umge-
                                               (Ulrich 2003).                                 benden Vegetation ist hoch. Hoch-
                                                  Der Goldene Scheckenfalter ist viel-        gewachsene Nahrungspflanzen mit
                                               leicht das beste Beispiel für die drama-       vielen Blättern werden bevorzugt,
                                               tische Entwicklung des gegenwärtigen           jedoch muss der Bewuchs rund um die
                                               Artenschwunds in Mitteleuropa. Ohne            Eiablage-Pflanze nicht zu dicht sein,
                                               wirklich sehr stark an ein eng definiertes     damit die Futterpflanze für die Eiab-
                                               Habitat gebunden zu sein, verschwand           lage durch den Falter frei angeflogen
                                               die noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts        werden kann (Anthes et al. 2003b).
                                               annähernd flächendeckend über alle             Wichtig sind also die Störstellen inner-
                                               Bundesländer verbreitete Art innerhalb         halb des Habitats. Wiederum zeichnet
                                               des letzten halben Jahrhunderts (1950 –        sich ab, dass gleichmäßige Flächen
                                               2002) aus mehr als drei Vierteln seiner        schuld am Rückgang vieler Arten sind
Abb. 7 Der in ganz Schleswig-Holstein aus-
                                               ursprünglichen Verbreitungsgebiete und         („Habitat-Heterogenität-Hypothese“)
                                               steht nun auf der Roten Liste in der Kate-     (Topp 2011).
gestorbene Goldene Scheckenfalter (Euphy-      gorie 2 (= stark gefährdet) (Anthes
dryas aurinia) konnte im Jahr 2014 wieder      et al. 2003a). In den Niederlanden und       • Ein reichhaltiges Nektarangebot für
erfolgreich angesiedelt werden, indem bei      Belgien ist der ehemals weit verbreitete       die Imagines ist wichtig, jedoch gibt
Lütjenholm eine Fläche entwaldet und in eine   Falter bereits ganz ausgestorben.              es keine Präferenzen für bestimmte
Heide umgestaltet wurde (Aufn.: W. Kunz,          Schaut man in das FFH-Manual der            Pflanzenarten oder pflanzensoziologi-
Rumänien 2017).                                in Europa zu schützenden Lebensräume           sche Gesellschaften.

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Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
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