Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraumtypen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten - Prof. Dr ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Vom begrenzten Nutzen der Natura2000 / FFH-Lebensraum- typen für gefährdete Tagfalter- und Vogelarten WERNER KUNZ 1. Einleitung hin zum lokalen Aussterben der Wiesen- zu Landschaftsveränderungen geführt vögel (Beckers et al. 2018) und dem haben. Der eine Grund für den Arten- Wir leben heute in Deutschland in den überall im Offenland wahrgenommenen schwund ist die veränderte Nutzung von Jahrzehnten eines z.T. dramatischen Insektenschwund. Für viele Arten liegt Feldern, Wiesen und Weiden. Felder, Rückgangs vieler Tierarten, von der das daran, dass wir kaum noch magere Wiesen und Weiden waren jahrhunderte- Abnahme ehemals häufiger Arten wie Offenflächen haben. Dies scheint einer der lang die Heimat von einem großen Teil Haus- und Feldsperling über die zurück- Hauptgründe des Artenschwunds zu sein. der mitteleuropäischen Säugetierarten, gehenden Bestände wohl aller Agrararten Für das Verschwinden magerer Vögel und Insekten. Äcker, Wiesen und wie Hase, Rebhuhn und Grauammer bis Offenflächen gibt es drei Ursachen, die Weiden sind (insbesondere erst seit einem 38 Artenschutzreport, Heft 44/2021
halben Jahrhundert) nicht mehr das, was Auf der Erde leben heute fast 8 Milliar- sie sonst immer waren. Die Nutzung den Menschen und 4 Milliarden Rinder, dieser Flächen wurde bis zur Perfektion Schafe und Ziegen (Ripple et al. 2019) intensiviert, wodurch die landwirtschaft- (https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbe- lichen Flächen für die meisten Arten völkerung; Zugriff: Dezember 2019) unbewohnbar wurden (Künast et al. (Abb. 1). Die Zahl der Menschen und 2019). Der zweite Grund für den Arten- seiner Haustiere ist größer als die Zahl schwund liegt im genauen Gegenteil: Es aller heute auf der Erde wild lebenden ist nicht die Zunahme der Nutzung der Säugetiere. Auch Deutschland hat mit ca. Flächen, sondern die Abnahme. Die Nut- 83 Millionen Menschen so viele Einwoh- zung vieler Weidegründe wurde aufge- ner wie nie zuvor (Statistisches Bundes- geben. Es werden keine Schweine, Kühe amt; in: „Zeit Online“ 27.06.2019). Diese und Pferde mehr in den Wald getrieben. Zahl übersteigt um das Vierfache die Dadurch kam es zur Verdichtung und Individuenzahl der häufigsten Brutvo- Verdunklung der Wälder und zur Ver- gelart Deutschlands, des Buchfinken mit buschung der mageren Heiden oder Tro- nur 20 Millionen Individuen (bei stark Abb. 1 Die Zahl der Menschen und seiner ckenrasen, wodurch diese Lebensräume abnehmender Tendenz) (Sudfeldt et Haustiere (Rind, Schaf und Ziege) ist heute für viele Arten ebenfalls fast unbewohn- al. 2009). größer als die Zahl aller auf der Erde bar wurden (Görner 2019). Eine Aus der Sicht des Artenschutzes ist wild lebenden Säugetiere (aus: https:// wesentliche Schuld am Artenschwund die Hauptursache des Artenschwundes de.wikipedia.org/wiki/Weltbevölkerung; stark trägt auch die Aufforstung, wodurch eindeutig: Auf der Erde leben heute zu verändert). ebenfalls offene Magerflächen vernichtet viele Menschen, deren Ernährung nur wurden. Der dritte Grund ist die vorher noch durch weitere Vernichtung der von nie dagewesene Stickstoffbelastung auch den Arten bewohnten Habitate möglich der Regionen, die abseits der Landwirt- ist. Eine drastische Reduktion der Bevöl- schaft liegen. Dadurch leben wir heute kerungszahl wäre das wirksamste Mittel Teile der vorhandenen Landschaft noch in einer Landschaft übermäßigen Grüns (wenn nicht das einzig wirklich wirksame naturnah geblieben sind. In diesen Län- aus Gras, Büschen und Bäumen, wäh- Mittel) gegen den gegenwärtigen Arten- dern ist der Ruf nach mehr Natur auch rend Erd-, Sand- und Steinflächen fast schwund (wie auch gegen die Erderwär- gleichzeitig der richtige Weg zur Erhal- verschwunden sind (Lethmate 2005). mung). Jedoch gibt es offenbar keine tung vieler Arten; in Mitteleuropa ist Viele Menschen glauben, die Erhaltung realistische Chance, gegen die weitere dies nicht der Fall. Artenschutz in den natürlicher Lebensräume durch Umset- Zunahme der Weltbevölkerung vorzuge- Tropenwäldern kann mit Artenschutz in zung der FFH-Richtlinie der Europäi- hen, weil religiöse Ideologien dies nicht Deutschland nicht in einen Topf gewor- schen Gemeinschaft wäre ein wirksames beabsichtigen und weil linke Ideologien fen werden. Mittel gegen den Artenschwund. Es stellt eine Verbesserung der Zukunft eher in Natur im engeren Sinne sind Lebens- sich jedoch heraus, dass die Erhaltung einer Umverteilung des Vermögens als räume, der nicht die Zeichen menschli- der im Anhang I in der FFH-Richtlinie in einer Reduktion der Bevölkerungszahl cher Gestaltung tragen. Sieht die Natur von 1992 definierten Lebensraumtypen sehen. in einem Gebiet noch überwiegend so zwar viele Pflanzengesellschaften vor Während in frühen Jahrhunderten aus, wie sie wäre, wenn der Mensch nicht der Vernichtung retten kann, für viele der Mensch viele Tierarten ausgerottet eingegriffen hätte, dann sprechen wir von Tierarten aber nur geringe Erfolge brin- hat, indem er sie totgeschlagen hat (vom „naturnahen“ Gebieten. Beides, Natur gen kann, weil die von den Tieren benö- Mammut bis zum Riesenalk), rottet der und naturnahe Gebiete, gibt es in Mit- tigten Habitate durch andere Merkmale Mensch insbesondere seit dem letzten teleuropa fast nur noch an Extremstand- gekennzeichnet sind, die in den in der Jahrhundert die Tiere dadurch aus, indem orten, z.B. an steilen Berghängen, in FFH-Richtlinie definierten Lebensräu- er ihnen die Lebensräume wegnimmt. der Zone oberhalb der Baumgrenze und men nicht genannt sind. Die von vielen Der Mensch verändert die Lebens- an einigen Stellen an der Meeresküste Tierarten in Mitteleuropa benötigten räume fast überall auf der Erdoberfläche (Küster 2010). Die meisten Gebiete Habitate sind nicht die unberührte Natur, für seine eigenen Bedürfnisse, so dass Mitteleuropas sind vom Menschen schon sondern es sind Menschen-gemachte manche andere Art dort nicht mehr leben seit Jahrtausenden verändert worden. Habitate. Daher ist Naturschutz im enge- kann und selten geworden oder ausge- Selbst das was als Naturschutzgebiet ren Sinne nicht der richtige Weg für den storben sind. bezeichnet wird, ist keine Natur. Vielfach Schutz vieler gefährdeter Arten. Aber die anthropogene Verände- sind es ehemals durch Schafe beweidete Um zu verstehen, warum wir in Mittel- rung der Lebensräume hat nicht alle Heiden oder Trockenrasen, ehemalige europa so viele Arten verlieren, müssen Tierarten verdrängt. Gerade in Europa Fischzucht-Teiche, Torfstiche oder Kies- wir wissen, woher sie kommen; d.h. aus mit seiner Jahrtausende alten Kulturge- gruben. Die Schutzgebiete heißen nicht welchen Biotopen unsere heute in Mit- schichte haben sich auch viele Arten an Naturschutzgebiete, weil dort unberührte teleuropa vorkommenden Arten nach der die vom Menschen geformten Habitate Natur ist, sondern weil dort seltene Arten Eiszeit eingewandert sind. Es kommt im anpasst. Ein nicht unerheblicher Teil der leben, ein Unterschied, der von vielen Artenschutz nicht so sehr darauf an, die heute in Deutschland lebenden Tierarten Menschen nicht wahrgenommen wird. „natürlichen“ Habitate Mitteleuropas zu würde hier gar nicht vorkommen, wären Entsprechend ist die Zusammenset- erhalten, sondern es kommt stattdessen die Lebensräume nicht durch den Men- zung vieler Lebensgemeinschaften aus darauf an, in Mitteleuropa die Habitate zu schen gestaltet oder verändert worden. Tier- und Pflanzenarten in Mitteleuropa schaffen und zu erhalten, die die eigentli- Dazu gehören die Tiere des Ackers wie als eine Anpassung an vom Menschen che Heimat von Mitteleuropas Arten sind Hasen und Rebhühner und die Tiere gestaltete (oder zumindest mitgestaltete) und die heute noch die Kernvorkommen der Gebäude wie Hausrotschwänze und Habitate zu verstehen, nicht als eine dieser Arten sind (Hensle 2002). Mauersegler. Um diese Arten zu erhalten, Anpassung an Habitate, die wir in Mittel- ist kein Naturschutz nötig, weil nicht die europa hätten, wenn die Natur „ursprüng- 2. Die Herkunft vieler Tierarten Vernichtung der Natur, sondern die Zer- lich“ wäre, d.h. nicht die Zeichen Mitteleuropas störung der Kulturlandschaft verhindert menschlicher Eingriffe zeigen würde werden muss. Das gilt für viele andere (Kunz 2013, Kunz 2016). Naturschüt- Wir leben heute im Zeitalter des Anthro- Teile der Welt nicht. Der erforderliche zer nehmen das oft nicht zur Kenntnis pozäns (Kueffer 2016). Der Mensch Artenschutz in Mitteleuropa unterschei- oder widersetzen sich sogar gegenüber wird in den nächsten paar Jahrzehnten die det sich daher deutlich vom Artenschutz einer derartigen Auffassung (Häpke Zehn-Milliarden-Grenzen überschreiten. in den Ländern, in denen bedeutende 1990). Artenschutzreport, Heft 44/2021 39
Wie ist es zu erklären, dass in unse- tergrund. Es sind Einwanderer aus frem- meist um Arten, die auch heute noch ihre rer Heimat gerade dort viele Arten leben, den Ländern, die hier nach der letzten Kerngebiete im Osten und Süden haben wo die ursprüngliche Natur durch den Eiszeit leere Lebensräume vorgefunden und die ihr Verbreitungsgebiet lediglich Menschen umgestaltet worden ist? Die haben. Kaninchen, Wiedehopfe und ausgeweitet haben (Schmitt 2009). Es Antwort auf diese Frage ergibt sich aus Rotkopfwürger kamen aus den Offen- handelt sich um Ost- und Südeuropäer, den Herkunftsländern dieser Arten. Die ländern des Mittelmeerraumes, Hasen, die in Deutschland nur ein peripheres Eiszeiten haben in Mitteleuropa mehr als Lerchen und Rebhühner aus den Steppen Randvorkommen gefunden haben, das in anderen Teilen der nördlichen Halbku- des Ostens, und Birkhühner und mehrere klimatisch und in seiner Habitatqualität gel einen Großteil der hier entstandenen Entenarten aus der Taiga-/Tundrazone oft nicht so optimal war wie in den Kern- Arten vernichtet, weil die Gebirge im des Nordens (Berndt 2018). Die meis- gebieten der Arten im Osten oder Süden. Südwesten, Süden und Südosten die Aus- ten heute in Deutschland vorkommen- Um zu verstehen, welche Biotope viele weichmöglichkeiten erschwert haben. den Tagfalter sind keine endemischen „unserer“ Arten brauchen, muss man in Von den ursprünglich wirklich einheimi- Mitteleuropäer (Schmitt 2009, Van die Herkunftsländer schauen. schen Arten des späten Tertiärs sind nur Swaay et al. 2010, Schmitt 2011). Der postglaziale Mensch hat die wenige übrig geblieben. Mitteleuropa Die postglaziale Einwanderung vieler Einwanderung dieser Arten möglich unterscheidet sich noch heute von vielen Arten in die leeren Räume Mitteleuropas gemacht, indem er die aufkommenden anderen Teilen der Welt dadurch, dass es ist nicht überwiegend als Rückzug vertrie- Wälder zurückgedrängt hat. die den Ein- hier nur wenige endemische Arten gibt. bener Arten zu verstehen, die nach Ende wanderern aus dem Osten oder Süden Die meisten heute hier lebenden Arten der Eiszeit ihre Refugien geräumt haben entgegengestanden haben. Der Mensch (die wir als Angehörige unserer Heimat und nun wieder in ihre Heimat zurück- hat durch Brandrodung, Ackerbau und betrachten) haben einen Migrationshin- gekehrt sind. Vielmehr handelt es sich die Nutzung der Wälder als Viehwei- den (Hudewälder) offene lichte Flächen geschaffen hat, die den Lebensräumen der Herkunftsländer dieser Tierarten ähnelten. Was bedeutet das? Viele der heute in Mitteleuropa lebenden Arten (gerade die gefährdeten Arten) bewohnen Hab- itate, die nicht die Habitate sind, die hier heute entstehen würden, wenn man die Natur sich selbst überlassen würde und dem Aufwuchs von dichten Büschen und Wäldern freien Lauf ließe. Beson- ders schutzbedürftige Arten in Mittel- europa sind nicht die Bewohner von geschlossenen Wäldern (Witticke & Görner 2013, Böhnert & Kneis 2018, Schulze et al. 2019). Aber solche Wälder würden hier weitgehend alle bestehenden Biotope ersetzen, wenn man „Natur Natur sein lassen“ würde (Bibelriether 2017). Naturschutz im Sinne eines „Prozessschutzes“ (d.h. ohne menschliche gestalterische Ein- griffe in die Natur) wäre der falsche Weg, gegen den Rückgang vieler bedrohter Arten anzukämpfen. 3. Die historische Wende im Landschaftsbild: das Verschwinden des Offenlandes Da es in Deutschland ohnedies seit Jahr- hunderten kaum noch ursprüngliche Natur gibt, entsteht die Frage, warum wir gegenwärtig überhaupt einen Arten- schwund haben. An der Zerstörung der Natur kann es nicht liegen. In der Tat sind heute in Deutschland viele Arten nicht deswegen rückläufig, weil wir die Natur vernichten, sondern weil wir unsere seit Jahrhunderten aufgebauten Kultur-ge- stalteten Landschaften verlieren. Dies widerspricht dem verbreiteten Verständ- nis von Natur. Deutschland besaß vor ca. 150 bis 200 Jahren ein Maximum an Artenvielfalt, als die Ausbeutung der Natur ein Höchstmaß erreicht hatte Abb. 2 An Stellen, wo noch vor einigen Jahrzehnten magere Offenböden anzutreffen waren (Schulze-Hagen 2005, Schul- (oben), ist heute Alles von Gras überwuchert (unten). Vegetationsarme Erdböden mit Steinen ze-Hagen 2008, SEGERER 2018). erwärmen sich schnell in der Sonne und werden von Tagfaltern aufgesucht (hier der Kleine Danach begann sich die Landschaft dras- Feuerfalter Lycaena phlaeas); dichte Grasflächen sind für Insekten zu feucht und zu kühl. Oben: tisch zu verändern, zunächst allmählich hier durch Tagebau künstlich entstandener Lebensraum im Bereich Garzweiler / Königshovener und dann seit den sechziger Jahren des Mulde 2015; unten: Grevenbroich Kreis Neuss 2012 (Aufn.: W. Kunz). zwanzigsten Jahrhunderts ganz rapide 40 Artenschutzreport, Heft 44/2021
(Görner 2019). Dadurch setzte der geführt als ihm wieder entnommen wird. Hanglagen und Bachtäler stark zurück- Rückgang des Jahrhunderte alten Arten- Auch abseits der Nutzflächen werden die gegangen ist. Es wird kein Vieh mehr in reichtums der deutschen Landschaft ein. Böden über die Atmosphäre durch stick- die Wälder getrieben, und es wird kein Unsere über tausendjährige karge stoffhaltige Niederschläge gedüngt, so Brennholz und keine Streu mehr aus Offenlandschaft verschwand und wurde dass die Landschaft fast unaufhaltsam den Wäldern entnommen, so dass aus mehr und mehr durch eine grüne Land- zuwächst. Alles ist zu grün geworden. lichten, durchsonnten Nieder- und Mit- schaft ersetzt, die vielerorts von Gras, Wo früher karge, blütenreiche Wegrän- telwäldern dunkle Hochwälder gewor- Gebüsch und Wald bedeckt ist. Wohl der waren, dominiert heute hoher, dichter den sind, in denen kein Haselhuhn mehr alle Trockenhänge sind mittlerweile Brennnesselbewuchs, der den meisten leben kann und die Waldschmetterlinge mit Gebüsch zugewachsen (solange sie Insektenarten keinen Lebensraum mehr keine Blumen an den Waldwegen mehr nicht künstlich entbuscht werden), ehe- bietet (Abb. 3). Wo früher steinige, fel- finden. Trotz der Tatsache, dass wir heute mals offene Sand- und Schotterflächen sige Trockenhänge waren, ist heute Alles in Deutschland einen Waldreichtum sind von Gras überwuchert (Abb. 2), durch Gras und Gebüsch überwuchert. haben, wie es ihn seit über einem Jahr- und lichte Nieder- und Mittelwälder sind Schmetterlinge können sich nicht mehr tausend nicht gegeben hat, verschwin- heute kaum noch zu finden; sie wurden in der Sonne auf warmen Stein- und den die meisten Wald-Schmetterlinge durch dunkle Hochwälder ersetzt, deren Erdflächen aufwärmen, und dort wo (Ulrich 2002). Orchideenreiche Tro- Waldwege beschattet sind und keine Insekten noch vorkommen, können sie ckenrasen und die einst vom Goldregen- Blumen mehr haben. An solche Bio- durch Vögel wie Würger, Schmätzer und pfeifer bewohnten Weiden Nordwest- tope sind die postglazialen Einwanderer Gartenrotschwänze nicht mehr von der deutschlands und Hollands sind ver- der heutigen mitteleuropäischen Fauna Ansitzwarte aus erbeutet werden, weil schwunden, weil die Hänge und Weiden nicht angepasst, so dass viele Arten als die Vögel sie im Gras nicht mehr laufen nicht mehr von Schafen und Ziegen Folge der Landschaftsveränderung ver- sehen können (Anonymus 2010, MAR- beweidet werden (Van Noorden schwinden oder stark zurückgehen, so TINEZ 2010). 1998, Bunzel-Drüke et al. 2008). z.B. die meisten Tagfalter, und unter Selbstverständlich waren die Trocken- den Vogelarten alle ehemals verbreiteten 3.) Als weiterer Faktor kommt hinzu, hänge der Schwäbischen Alb jahrhunder- Würger (4 Arten), Ammern (4 Arten) und dass die Nutzung der Wälder, Heiden, telang der Bodenerosion ausgesetzt und Pieper (3 Arten). Das an lichte Mittel- wälder angepasste Westliche Haselhuhn (Tetrastes bonasia rhenana), immerhin eine eigene Unterart, wurde durch unge- hemmte Aufforstung und Sukzession nun fast ausgerottet (Herkenrath et al. 2018). Die historische Kultur- und Siedlungs- landschaft wurde in Mitteleuropa durch drei Faktoren zerstört, die als Hauptver- ursacher des Artenschwunds betrachtet werden können: 1.) In die gesamte Landschaft und in die Siedlungsräume sind mehr Ordnung und Sauberkeit eingetreten. Es fehlen die ungenutzten Flächen. Die Landwirtschaft hat ihre Anbau- und Erntemethoden per- fektioniert und bearbeitet den letzten Quadratmeter, so dass für die Tiere nichts mehr übrig ist oder liegenbleibt. Es fehlen die eingestreuten Restflächen, die „ver- nachlässigten“ Ecken und Winkel. Im Ackerland verschwanden die vielen Une- benheiten, die Pfützen, Schlamm-, Sand- und Schotterflächen (um die ehemals herumgepflügt wurde). Diese Flächen waren früher halt „eh da“ (Künast et al. 2019). In Feld und Flur liegen kaum noch Ernteabfälle herum, und es gibt keine verfallenden Feldscheunen mehr, weil diese sofort entsorgt werden. In den Dörfern gibt es immer weniger bröckeln- des Gemäuer, und in den Gebäudefassa- den und Dachstühlen sind keine Risse, Hohlräume und Schlupflöcher mehr für Insekten, Fledermäuse und Vögel. Wir sanieren Alles und räumen Alles auf, anstatt es den Arten zu überlassen. 2.) Ein zweiter Faktor, der die Land- schaft in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat, ist das Übermaß an Stick- stoff-Düngung. Nachdem die Land- wirtschaft dem Boden jahrtausendelang Abb. 3 Wenn Wegränder karg bewachsen sind, dann sind sie auch blütenreich (oben: Tagebau mehr Stickstoff entzogen hat als sie ihm Garzweiler / Königshovener Mulde 2012). Solche Wegränder findet man heute nur noch selten. durch Düngung wieder hinzugefügt hat, An ihre Stelle ist das satte Grün überdüngter Brennnesseln getreten, ein heute vielerorts zu drehte sich der Spieß auf einmal um: dem findendes Wegrandhabitat, das alles Leben erstickt (unten: Grevenbroich Kreis Neuss 2012) Boden wird heute mehr Stickstoff hinzu (Aufn.: W. Kunz). Artenschutzreport, Heft 44/2021 41
stellten eine Gefahr für die Umwelt dar; Tagfalter- und Wildbienenarten. Deshalb 2007). Die Überprüfung, ob ein Habitat aber für die Arten waren sie ein Paradies. gilt es, die in den letzten Jahrzehnten von für die gewählte Art potentiell geeignet Umweltschutz hat oft wenig mit Arten- der EU erlassenen Richtlinien zur Erhal- ist, soll mithilfe dieses Manuals erfol- schutz zu tun. tung der Artenvielfalt auf den Prüfstand gen. Jedem dieser 231 Lebensraumtypen zu stellen; denn diese Richtlinien gehen (LTR) wurde dabei ein vierstelliger Code Viele Habitate haben ihren früheren von der Erwartung aus, dass ein „guter zugewiesen (Natura-2000-Code). Die Artenreichtum allein dadurch erhalten, Erhaltungszustand“ natürlicher Lebens- erste Ziffer des Codes beschreibt dabei dass sie land- und forstwirtschaftlich räume in den EU-Mitgliedsstaaten eine die übergeordnete Habitatgruppe. Das genutzt wurden. Das gilt für viele Tag- wichtige Voraussetzung für die Erhaltung Gebiet der Europäischen Union beinhal- falter (Anthes et al. 2003b, Habel der Artenvielfalt ist. tet neun übergeordnete Habitatgruppen et al. 2016), Wildbienen (Cölln & Die Europäische Union hat 1979 zur (1 – 9). Die nachfolgenden Ziffern unter- Jakubzik 2010) und für viele Vogel- Erhaltung der wildlebenden Vogelar- teilen die 9 Gruppen in Untergruppen. arten (Fartmann et al. 2017). Werden ten die „Richtlinie 79/409/EWG“ und zur Erhaltung der wildlebenden Tiere Gruppe 1 = Lebensräume in Küstenbe- Wälder so bewirtschaftet wie in histori- reichen und halophytische scher Zeit, so sind sie artenreicher als die und Pflanzen dann 1992 die „Richtlinie 92/43/EWG“ erlassen. Die letztere Richt- Vegetation Wälder, die man zu „Urwäldern“ machen möchte (Schulze & Ammer 2015, linie ist die Fauna-Flora-Habitat-Richtli- Gruppe 2 = Dünen an Meeresküsten Schulze et al. 2019). Hartholzauen- nie (FFH-Richtlinie). Beide Richtlinien und im Binnenland wälder, die jahrhundertelang durch Hol- verfolgen das Ziel, die Arten durch Erhalt Gruppe 3 = Süßwasser-Habitate zentnahme genutzt wurden und deren ihrer „natürlichen Lebensräume“ lang- fristig sicherzustellen. Gruppe 4 = Heiden und Buschvegeta- Eichen für die Schweinemast geschont Die FFH-Richtlinie von 1992 defi- tion wurden, zeigen ein hohes Maß an Bio- diversität, die heute durch den gesetzlich niert im Anhang I zahlreiche „natürliche Gruppe 5 = Hartlaubgebüsche vorgeschriebenen Prozessschutz gefähr- Lebensraumtypen“ (abgekürzt: LRT), für deren Erhaltung die EU-Länder angewie- Gruppe 6 = Natürliches und naturnahes det ist (Reichhoff 2018). Schmet- Grasland terlings-reiche Gebiete waren in den sen sind, besondere Schutzgebiete auszu- vergangenen Jahrhunderten (und die weisen. Solche Lebensraumtypen liegen Gruppe 7 = Hoch- und Niedermoore letzten Reste solcher Habitate sind es auf Flächen, die zu FFH-Gebieten oder Gruppe 8 = Fels-Lebensräume und auch heute noch) überwiegend Brachfel- EU-Vogelschutzgebieten erklärt worden Höhlen der oder beweidete Trockenrasen, also sind. Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, diese Lebensräume nicht nur zu Gruppe 9 = Wälder gerade nicht die natürlichen Biotope. In historischen Berichten findet man mehr- erhalten, sondern gegebenenfalls auch wieder herzustellen oder neu zu schaffen. Viele der Untergruppen sind regional fach den Flurnamen „Ziegenberg“ als begrenzt, sodass sie im Gebiet der Euro- Ort, wo damals viele Schmetterlinge vor- Gegenwärtig sind im Anhang I insge- samt 231 LRTs aufgelistet und detailliert päischen Union oft nur in exponierten gekommen sind, die heute verschwunden oder peripheren Regionen vorkommen, sind, weil die Ziegen weg sind (Rob- beschrieben, wovon 93 in Deutschland vorkommen (Stand Oktober 2018, Bun- z.B. nur in höheren Gebirgszonen, an recht 2019). den Meeresküsten, im subarktischen, Die bereits im neunzehnten Jahr- desamt für Naturschutz). Bundesweit sind aktuell 4544 FFH-Gebiete gemeldet, mediterranen, pannonischen oder ponti- hundert beginnende, aber erst nach den schen Bereich oder auf den Kanaren und Zweiten Weltkrieg flächendeckende die sich auf fast 5,5 Millionen Hektar der Landesfläche verteilen. Davon nimmt die Azoren. Deutschland besitzt 93 der 231 Zerstörung der Jahrhunderte alten his- europäischen Lebensraumtypen. torischen Offenlandschaft durch Nut- terrestrische Fläche über 3,3 Millionen Hektar ein; das entspricht einem Anteil Hier in dieser Veröffentlichung zungsintensivierung und Aufforstung ist werden die Salz- und Süßwasserbiotope eine der Hauptursachen des mitteleuro- von 9,3 % der Landesfläche. Zusätzlich zu den 4544 in Deutsch- nicht berücksichtigt (Gruppen 1 bis 3). päischen Artenschwundes. Im gegen- Von den übrig bleibenden terrestrischen wärtigen öffentlichen Bewusstsein gelten land liegenden FFH-Gebieten kommen noch 742 Vogelschutzgebiete der EU-Vo- Lebensraumtypen werden hier einige zwar die Gifte als Hauptverursacher des aufgezählt: Artenschwundes, doch scheint es sicher, gelschutz-Richtlinie von 1979 hinzu, dass wir heute auch ohne Gifte als Folge welche mit über 4 Millionen Hektar sogar Gruppe 4: Atlantische feuchte Erica-Hei- der Überdüngung der Landschaft ein 11,3 % der terrestrischen Landesfläche den; trockene Calluna-Heiden. ähnliches Artensterben allein wegen der Deutschlands ausmachen. FFH-Gebiete Gruppe 5: Submediterrane und gemäßigte Biotopvernichtung hätten. und EU-Vogelschutzgebiete können sich Hartlaubgebüsche; trocken-warme dabei räumlich überlagern, sodass in Berberitzen-, Felsenmispel-, Felsen- Deutschland insgesamt eine Fläche von birnen- und Sanddorngebüsche; sub- 4. Die EU-FFH-Richtlinie und die 15,5 % als Schongebiete (sog. „Natura Vogelschutz-Richtlinie zur Erhal- mediterrane Halbtrockenrasen auf 2000-Gebiete“) gemeldet sind. Der hohe karbonatischem Boden mit Wachol- tung „natürlicher Lebensräume“ Anteil an Schongebieten in Deutschland für den langfristigen Erhalt wild- der; subkontinentale Halbtrockenra- wird von Politikern und Behörden häufig sen auf karbonatischem Boden mit lebender Pflanzen- und Tierarten als Argument benutzt, ihr erfolgreiches Wacholder. Engagement zur Erhaltung der Biodi- Macht man sich bewusst, dass Mittel- versität unter Beweis zu stellen. Dies Gruppe 6: Sandtrockenrasen mit europa nach der Eiszeit durch Arten aus erweckt aber eine falsche Erwartung. geschlossener Narbe; Schwermetall- den Offenländern des Ostens und des Es sollte öfter die Frage gestellt werden, rasen; submediterraner Trockenra- Mediterranraums besiedelt wurde (wo sie warum wir derzeit einen zunehmenden sen auf karbonatischem Untergrund; heute noch das Kerngebiet ihrer Verbrei- Artenschwund haben, obwohl wir so subkontinentaler Halbtrockenrasen tung haben), so wird deutlich, dass der viele Schutzgebiete haben. auf karbonatischem Boden: gemäht, Ruf nach mehr Naturnähe unserer mit- beweidet (Mähweide) oder brach- teleuropäischen Lebensräume nicht der gefallen; natürlicher Steppenrasen erste Weg sein kann, um bedrohte Arten 5. Beispiele für die EU-Lebensraumtypen (kontinental, auf tiefgründigem in Mitteleuropa zu retten. Mehr Natur- Boden); gemähter, beweideter (incl. nähe bedeutet in Mitteleuropa mehr Vege- Die verschiedenen zu bewahrenden Mähweide) oder brachgefallener tation und mehr Wald. Aber genau das Lebensraumtypen wurden von der EU- Borstgrasrasen; Pfeifengraswiesen fehlt den verschwindenden Arten nicht. Kommission 2007 in einem Interpre- auf kalkreichen Standorten; krau- Zumindest gilt das nicht für viele Vogel-, tationsmanual aufgelistet (Anonymus tiger Ufersaum an besonnten oder 42 Artenschutzreport, Heft 44/2021
beschatteten Gewässern (z.B. mit pen für die Existenz bedrohter Tierarten FFH-Richtlinie im Anhang I aufgelisteten Cardamine amara, Bitteres Schaum- zu wenig relevant sind, dass es also in LRTs finden sich keine Industriebrachen, kraut); feuchter Staudensaum; Wirklichkeit darauf ankommt, Lebens- Eisenbahnflächen, Autobahnböschungen, nährstoffreiche Feucht- bzw. Nass- raumtypen mit anderen Charakteristika Flugplätze, Truppenübungsplätze, ehe- grünlandbrache; nährstoffreiche, auszuwählen, um dem Artenschwund malige Munitionsdepots, Fischzucht-Tei- extensive Feucht- bzw. Nasswiesen; Einhalt zu gebieten. Letztere Auffassung che und Torfstiche, Tagebauflächen, artenreiche, frische Mähwiesen oder wird im Folgenden vertreten, erläutert Zement- und Quarzabbauflächen, Hude- Weiden. und begründet. Es erstaunt, wie wenig weiden oder Kiesgruben. Das aber sind Gruppe 7: Sphagnum-Hochmoore; diver- die Öffentlichkeit und die Politik darauf zum Teil die Lebensräume, auf denen se Niedermoore; Schneidenröh- reagieren, dass die Schutzgebiete ihren viele der gefährdeten Arten überlebt richte; kalkreiche oder temporäre Sinn, wofür sie eingerichtet wurden, nur haben, nachdem sie die Agrar- und Grün- Sicker- und Sumpfquellen. sehr unvollkommen erfüllen. landnutzflächen verlassen mussten. Es gibt hauptsächlich drei Gründe, Gruppe 8: Geröll und Schutthalden; stei- warum die FFH-Lebensraumtypen den 2.) Ein weiterer Kritikpunkt, warum die nige Felsabhänge mit Felsspalten- Rückgang der Biodiversität kaum aufhal- FFH-Lebensraumtypen so wenig Erfolg vegetation; natürliche Höhlen oder ten können: bringen, ist die weitgehend statische Halbhöhlen. Definition der Habitate. Die Dynamik Gruppe 9: bodensaurer Buchenwald der 1.) Das Problem mit den bedrohten und Veränderlichkeit der Habitate wird planaren Stufe; Stieleichen-Hainbu- Arten Mitteleuropas ist, dass viele dieser zu wenig berücksichtigt. Es ist vorge- chenwald feuchter bis frischer Stand- Arten Lebensräume brauchen, die nicht schrieben, den „guten Erhaltungszustand orte; Sommerlinden-Bergulmen- die „natürlichen Lebensräume“ Mittel- der LRTs“ zu bewahren (worüber die Blockschuttwald; Ahorn-Linden- europas sind. Agrar- und Wiesenvögel EU-Mitgliedsstaaten auch in regelmä- Hangschuttwald; Eschen-Ahorn- oder auch viele Tagfalterarten brauchen ßigen Abständen berichtspflichtig sind) Schlucht- bzw. -Hangwald; Som- keine „natürlichen Lebensräume“. Sie (Gunnemann & Fartmann 2001). merlinden-Hainbuchen-Schuttwald; brauchen die Lebensräume ihrer Her- Aber viele Tierarten brauchen gerade Birken-, Latschen-, Spirken oder kunftsländer, aus denen sie postglazial Habitate, die durch Dynamik und Verän- Waldkiefern-Moorwald; Weichholz- eingewandert sind; und dort sind die derlichkeit überhaupt erst entstehen. Die auenwald mit weitgehend ungestörter „natürlichen Lebensräume“ etwas Ande- Vorstellung von einer statischen Erhal- Überflutungsdynamik; Weichholzau- res als bei uns. Die „natürlichen Lebens- tung der Habitate hat kreationistische enwald ohne Überflutung; Schwar- räume“ Osteuropas, Westasiens und des Denkansätze. zerlenwald (an Fließgewässern); Mediterranraums sind größtenteils keine Ein großer Teil der Habitate in Mit- Hartholzauenwald mit weitgehend geschlossenen dichten Hochwälder, die teleuropa hat keine dauerhafte Existenz. ungestörter Überflutungsdynamik; bei uns auf den meisten Flächen entstehen Die Natur entwickelt sich weiter, sie Hartholzauenwald ohne Überflu- würden, wenn man die Natur sich selber hält nicht an. Jeder Biotop unterliegt tung. überlässt. Als Hasen, Rebhühner, unsere einer Sukzession. Natur-Katastrophen drei Lerchenarten (Hauben-, Heide- und oder menschliche Zerstörungen schaffen Feldlerche), mehrere Pieper (Brach- und Habitate, von denen viele jeweils nur für 6. Die Lebensraumtypen der Wiesenpieper), Ammern (Grau-, Zaun-, vorübergehende Zeit für bestimmte Arten FFH-Richtlinie sind auf die Zipp- und Goldammer) und die meisten als Lebensräume geeignet sind, weil sie prioritären Habitatansprüche vieler Tagfalterarten nacheiszeitlich bei uns sich mit der Zeit verändern. Viele Arten Vogel- und Tagfalterarten nicht eingewandert sind, wurde dies mög- finden ihren Lebensraum dort nur vorü- zugeschnitten lich, weil der Mensch die „natürlichen bergehend, nämlich dann wenn gerade Lebensräume“ Mitteleuropas beseitigt das passende Sukzessionsstadium Vergegenwärtigt man sich, dass mehr hat. Deswegen kann man nicht erwar- erreicht ist. Danach müssen sie wieder als ein Sechstel unserer Landesfläche in ten, dass wir das Verschwinden all dieser verschwinden. Und sie würden ganz ver- Deutschland als Schutzgebiete ausgewie- Arten bei uns verhindern können, indem schwinden, wenn nicht Naturzerstörun- sen sind, die zur Bewahrung der Biodi- wir hier „natürliche Lebensräume“ wie- gen den Kreislauf immer wieder von vorn versität erhalten bleiben sollen, dann ist derherstellen. beginnen würden. Solche Lebensräume schwer begreiflich, warum wir in den Die Ursache für den Schwund dieser haben mit einem „guten Erhaltungszu- letzten 30 Jahren mehr als Dreiviertel Arten in den letzten Jahrzehnten ist nicht stand“ nichts zu tun (Wegener 2013). an Biomasse der Fluginsekten verloren die Zerstörung der Natur, sondern die Dieses Kommen und Gehen widerspricht haben (Hallmann et al. 2017) und Tatsache, dass die landwirtschaftlichen der Wunschvorstellung von „nature con- warum dieser Trend fast unvermindert Offenflächen durch Nutzungsintensivie- servation“. anhält. Mehrere rezente Publikationen rung und Überdüngung unbewohnbar Viele Insekten benötigen Habitate weisen nach, dass der Insektenschwund gemacht wurden, so dass viele dieser mit niedriger lückiger Vegetation. Da in auch in geschützten Gebieten stattfindet, Arten auf Industriebrachen, Rohstoffa- solchen Lebensräumen die Vegetation so dass die Schutzgebiete das Ziel, wofür bbauflächen oder Truppenübungsplätze jedoch mit fortschreitendem Alter oft sie eingerichtet wurden, nur ungenügend ausweichen mussten. immer flächendeckender wird, kann der erfüllen (Filz et al. 2013, Hallmann Das Natura-2000-Netz ist aber auf Lebensraum nur durch Pflegemaßnah- et al. 2017, Rada et al. 2018). Die von die Sicherstellung „natürlicher“ Lebens- men erhalten werden. Die FFH-Richt- der EU definierten FFH-Lebensraumty- räume zugeschnitten. Jedoch sind die linie verpflichtet die Mitgliedsstaaten pen wirken sich zwar positiv auf bedrohte Hauptgründe, warum die Schutzgebiete zwar zu einer angebrachten Pflege der Arten aus (im Vergleich zu solchen so ineffektiv sind, nicht das Fehlen LRTs, schreibt allerdings nicht vor, wie Gebieten, die nicht unter Schutz stehen); „natürlicher“ Lebensräume. Es müssen die erforderlichen Maßnahmen ausse- jedoch ist dieser Effekt relativ gering. stattdessen Wiesen bereitgestellt werden, hen müssen. Dies liegt im Ermessen Es scheint sicher zu sein, dass die die nicht so dicht und hoch mit verfilz- des jeweiligen Staates. Das führt dazu, Lebensraumtypen in den FFH- und tem Gras überdeckt sind und wo die dass viele Pflegemaßnahmen entweder Vogelschutzgebieten nicht das leisten, weite Sicht nicht überall von Hecken und gar nicht oder unzureichend oder falsch was sie leisten sollen. Das kann daran Feldgehölzen verstellt ist, wenn es darum durchgeführt werden. Zum Beispiel sind liegen, dass die Richtlinien zur Erhaltung geht, auf vielen Flächen Mitteleuropas myrmekophile Bläulingsarten (Plebejus dieser Gebiete unzureichend beachtet das Aussterben von Kiebitz, Bekassine, argus und mehrere Maculinea-Arten) und verwirklicht sind. Es kann aber auch Rotschenkel, Raubwürger oder Braun- darauf angewiesen, dass die Vegetation in daran liegen, dass die vorgeschriebenen kehlchen zu verhindern (Fischer ihrem Lebensraumtyp mosaikartig unter- Habitatmerkmale der Lebensraumty- & Müller 2018). Unter den in der schiedliche Dichten ausweist und freie Artenschutzreport, Heft 44/2021 43
Erdflächen enthält, u.a. auch deshalb, mutlich wegen der zu dichten und hohen nicht auf viele Tagfalter- und Vogelar- weil sie auf das Vorkommen bestimm- Vegetation. Bei einer Besichtigung im ten), besteht darin, dass die im Anhang I ter Ameisen angewiesen sind, die offene Mai 2018 empfahl ich als Pflegekon- der FFH-Richtlinie aufgelisteten Lebens- Erde brauchen (Abb. 4). Solche Struktu- zept zur Rückgewinnung dieser Arten, raumtypen fast rein pflanzensoziologisch ren des Habitats können durch Abplag- einige kleine ausgewiesene Bereiche definiert sind. Das aufgezählte Pflanzen- gen der Humusschicht mit land- oder auf den Wiesen mit Forstgerät von der artenspektrum eines jeweiligen Lebens- forstwirtschaftlichem Gerät oder durch dichten Vegetation zu befreien und in raumtyps entspricht in vielen Fällen Beweidung oder Mahd geschaffen lockere, kurzgrasig bewachsene Sand- ungefähr einer pflanzensoziologischen werden, jedoch muss die Mahd zum rich- und Schlammflächen umzugestalten, um Gesellschaft nach REINHOLD TÜXEN tigen Zeitpunkt, in der richtigen Intensität die verlorenen Arten zurückzugewinnen. und JOSIAS BRAUN-BLANQUE und mit dem richtigen Gerät durchgeführt Mir wurde daraufhin deutlich gemacht, (Braun-Blanquet 1964). Schon werden. Solange diese Bedingungen für dass dies nicht erlaubt sei, weil es den die Namen vieler LRT-Untergruppen bestimmte Zielarten nicht definiert sind, EU-Richtlinien widerspricht, da durch zeigen, dass die Lebensraumtypen durch ist die Bewahrung eines LRTs für die solche Maßnahmen der vorgeschriebene Pflanzengesellschaften definiert sind. Erhaltung der genannten Bläulingsarten „guten Erhaltungszustand“ der LRTs Damit wird unmittelbar klar, dass die sinnlos. beeinträchtigt wird. Die Vorschrift geht beabsichtigte und in der EU-Richtlinie Dafür ein Beispiel: Das EU-LIFE-Pro- dabei von der Erwartung aus, dass ein geforderte Erhaltung dieser LRTs zwar jekt „Rhöner Bergwiesen“ unterliegt den „guter Erhaltungszustand“ des LRTs eine Sicherung der Existenzgrundlage Vorgaben von Natura 2000: weite Teile auch einen guten Erhaltungszustand der vieler Pflanzenarten ist, aber nicht der sind als FFH-Gebiete oder EU-Vogel- dort vorkommenden Tierarten begüns- meisten Tierarten, weil diese an etwas schutzgebiete geschützt (https://projekte. tigt. Die Vorschrift nimmt dabei nicht zur anderes gebunden sind als an Pflanz- brrhoen.de/life-projekt-hessische-rhoen; Kenntnis, dass viele Tierarten in ihren engesellschaften. Das wird sofort deut- Zugriff: Dez. 2019). Trotzdem kam Habitaten gerade die frisch entstandenen lich, wenn man auf die Zahl der Arten es in jüngster Zeit auf einigen Wiesen Störstellen (also eine Schädigung des schaut, die im Interpretationsmanual zum Verschwinden von drei wertvollen „guten Erhaltungszustands“) benötigen. der EU-Kommission für die einzelnen Brutvögeln, die charakteristisch für diese Lebensräume aufgelistet sind (Anony- Habitate waren, nämlich Bekassine, Rot- 3.) Der dritte Grund, warum die FFH-Le- mus 2007). Bei der Beschreibung der rückenwürger und Braunkehlchen (mdl. bensraumtypen in vielen Beispielen einzelnen Lebensraumtypen sind meist Mitteilung JONAS THIELEN, Projekt- nicht auf die Habitat-Bedürfnissen vieler sehr vielen Pflanzenarten aufgezählt; manager Biosphärenreservat Rhön), ver- Tierarten zugeschnitten sind (zumindest aber es sind jeweils nur wenige Tierar- ten namentlich genannt, zumindest nicht für die terrestrischen Lebensraumtypen. In vielen Fällen ist bestimmten LRTs gar keine Tierart zugeordnet, in mehre- ren Fällen sind nur eine einzige Tierart oder wenige Tierarten aufgeführt. Außer- dem sind die Zuordnungen der Tierarten manchmal sehr allgemein gehalten (z.B. „Odonata“, oder es sind nur Gattungsna- men genannt). Manchmal sind auch Ubi- quitisten aufgezählt, die undifferenziert in vielen Biotopen vorkommen, einem einzelnen bestimmten LRT daher kaum zuzuordnen sind, wie z.B. der Schwal- benschwanz (Papilio machaon) für den LRT 6210. Die einzigen brauchbaren Zuordnungen sind hoch-spezialisierte Tierarten, wie z.B. Höhlenkrebse im LRT 8310 oder vier Tagfalterarten: der Hochmoor-Gelbling (Colias palaeno), der Hochmoor-Perlmuttfalter (Boloria aquilonaris) (Abb. 5), das Moor-Wie- senvögelchen (Coenonympha tullia) und der Hochmoor-Bläuling (Vacciniina opti- lete), die in der Beschreibung des LRT 7110 (Hochmoore) aufgelistet sind. Diese vier Tagfalterarten kommen in der Tat überwiegend nur in einem ein- zigen Lebensraumtyp vor (LRT 7110 = Hochmoore). Der Grund für die enge Bindung an diesen einen bestimmten LRT liegt in den Bedürfnissen der Entwick- lungsstadien dieser Falter. Ihre Raupen fressen Wollgras, bestimmte Seggen und einige verschiedene Ericaceen-Arten, die eng an fast nur einen einzigen Lebens- raumtyp gebunden sind. Die Raupenfut- terpflanzen von Vacciniina optilete z.B. sind Moosbeere, Rauschbeere und Ros- marinheide. Diese Pflanzen wachsen fast ausschließlich auf Moorflächen. Abb. 4 oben: Vegetationsarmer Kalkmagerrasen am Rande eines stillgelegten Steinbruchs bei Solch enge Bindungen von Tierar- Dahlem / Eifel (2012), ein optimaler Lebensraum für den Bläuling Plebejus argus (unten: 2012) ten an bestimmte Pflanzengesellschaf- (Aufn.: W. Kunz). ten sind jedoch die Ausnahmen. Die 44 Artenschutzreport, Heft 44/2021
Futterpflanzen der Raupen der meisten Schmetterlinge kommen in verschiede- nen Habitaten vor, so dass die Falter nicht an bestimmte Lebensraumtypen gebun- den sind. Hinzu kommt, dass die Imagi- nes der meisten Schmetterlingsarten an Nektarpflanzen saugen, die fast überall vertreten sind. Zum Beispiel sind Distel- blüten und die Flockenblume Centaurea scabiosa die wichtigsten Nektarpflanzen für den Mosel-Apollofalter (Parnassius apollo), der in LRTs der Gruppe 81 (Fels- hänge) lebt. Disteln und Flockenblumen sind aber keineswegs definierende Cha- rakterpflanzen für die LRTs der Gruppe 81. Die Tatsache, dass im Interpretations- manual der EU-Kommission (Anonymus 2007) für die Lebensräume so wenige Tierarten aufgelistet sind, hat einen klaren Grund: Ein Großteil der Tierarten ist den LRTs von vornherein nicht zuzuordnen, weil viele Tierarten keine Pflanzengesell- Abb. 5 Der Hochmoor-Perlmuttfalter (Boloria aquilonaris) auf dem Heidekraut einer Moorflä- schaften brauchen, sondern Habitate, die che bei Dahlem / Eifel (2008) (Aufn.: W. Kunz). nicht durch Pflanzenarten gekennzeich- net sind, sondern viel stärker durch die physischen Strukturen des Lebensrau- mes: z.B. ob es sonnenexponierte Flä- chen gibt, ob genügend warme, trockene, und Agrarlandschaft entfernen (GEISS- Habitatbedürfnisse zumindest vieler felsige Stellen als „Störstellen“ in das LER-STROBEL, Vortrag auf dem Vogel- und Schmetterlingsarten als weit- Habitat eingestreut sind, ob Abbruch- Plenumtreffen „Netzwerk Naturschutz“ gehend unbrauchbar eingestuft werden. kanten vorhanden sind, ob die Flächen am 11.11.2016 in Rottenburg). Der gegenwärtig festzustellende Arten- windgeschützt sind, ob Ansitzwarten vor- Zu den Hauptursachen für den dra- schwund auch in den FFH-Gebieten handen sind, ob die Vegetation geschlos- matischen Rückgang fast aller in Wiesen hat seine Ursache nicht in der mangeln- sen ist oder ob sie niedrigwüchsig und brütenden Vögel (von Uferschnepfen, den Umsetzung der vorgeschriebenen lückig ist, ob Sandflächen, Schlammstel- Rotschenkeln und Bekassinen bis zum FFH-Lebensraumtypen, sondern darin, len, Pfützen und Gewässer in der Nähe Braunkehlchen) sind die Verfestigung dass diese für die Bedürfnisse vieler Tier- sind, ob Waldsäume in der Nähe sind des Bodens und der dichte Aufwuchs arten nicht exakt genug definiert sind. oder nicht (wobei es oft auf eine Min- der Vegetation, wodurch der ehemals destnähe oder eine Mindestentfernung lockere Wiesenbewuchs mit freien Erd- 7. Maßgeschneiderte Pflege und der Gehölze ankommt), ob Hecken in der und Schlammflächen in eine verfilzte Herstellung von Habitaten Umgebung vorhanden sind oder nicht, Grasbedeckung umgewandelt wurde für bedrohte Zielarten ob die Sträucher genügend ausgelichtet (Beckers et al. 2018, Fischer & Müller 2018). Davon betroffen sind 7.1 Zielart Kreuzdornzipfelfalter – und eingekürzt sind, ob die Wälder eine Satyrium spini untere Krautschicht tragen, ob die Bäume gerade auch einige EU-Vogelschutzge- in den Wäldern genügend Abstand vonei- biete, da sie zu sehr geschont werden und zu wenig in die Vegetation eingegriffen Satyrium spini (Abb. 6) ist deutschland- nander haben, damit der Boden besonnt weit in der Roten Liste in die Kategorie ist, ob die Wälder ein geschlossenes wird. Im Westerwald verschwindet das oberes Kronendach haben oder ob es Braunkehlchen stärker in den Vogel- ein mittleres Kronendach gibt usw. Zum schutzgebieten als in der Gesamtland- Beispiel benötigt der Waldlaubsänger tief schaft (Folz & Kunz 2015). angeordnete Kronendächer als mittlere Viele Vögel benötigen Hohlräume Etagen im Wald, wobei die Baumarten als Nistplätze. Dabei ist es dem Stein- des Waldes keine entscheidende Rolle schmätzer z.B. egal, ob dies Hohlräume spielen (Schäffer 2016). Solche Fak- in Steinhaufen, in Holzhaufen oder in toren sind viel wichtiger als Pflanzenge- aufgeschichteten getrockneten Torfhau- sellschaften. fen sind oder ob es Kaninchenbauten Für viele Tagfalterarten sind oft offene sind (Kämpfer & Fartmann 2019). Böden mit kurzer, spärlicher und unre- Diese Ansprüche an Nist-Habitate haben gelmäßiger Vegetation entscheidend mit Pflanzengesellschaften (nach denen (Abb. 2 und 4), wobei die Pflanzenarten, die EU-LRTs definiert sind) nichts zu tun. aus denen sich die Vegetation zusammen- Bezeichnend ist, dass die im Anhang I setzt, unbedeutend sein können. Das gilt der FFH-Richtlinie aufgelisteten Lebens- ebenso für viele Vogelarten. Ein Haupt- raumtypen in einigen Fällen in Deutsch- faktor, der heute viele Lebensräume land noch recht häufig vertreten sind, die für Wiesen-Limikolen unbewohnbar ihnen zugeordneten Tagfalter- und Vogel- arten dort aber nicht mehr vorkommen. Abb. 6 Der Kreuzdornzipfelfalter (Satyrium gemacht hat, ist die Anpflanzung von spini) stellt hohe Ansprüche an seinen Lebens- Hecken und Feldgehölzen. Viele Wie- Sie können dort nicht vorkommen, weil sen-Limikolen (wie auch die Wiesen- die entscheidenden Habitat-Charakte- raum: Es müssen sehr warme felsdurchsetzte weihe) meiden „Kulissen“ (BECKERS ristika (die bestimmte Tierarten brau- Trockenhänge mit krüppeligen Sträuchern et al. 2018). Um Kiebitz und Rotschenkel chen) in den FFH- Lebensraumtypen größeren Abstands und minderer Höhe sein. zu erhalten, muss man keine Pflanzen- nicht definiert sind. Daher müssen die Sobald solche Habitate der „Natur überlas- gesellschaft erhalten, sondern man muss von der EU-Kommission vorgeschrie- sen werden“ und zuwachsen, verschwindet Hecken und Feldgehölze aus der Wiesen- benen FFH-Lebensraumtypen für die der Falter (Aufn.: W. Kunz, Pyrenäen 2019). Artenschutzreport, Heft 44/2021 45
3 (= gefährdet) eingestuft (Reinhardt • Das bedeutet, dass nur ein frühes Ver- (Anonymus 2007), so findet man unter & Bolz 2011). In Nordrhein-Westfalen buschungsstadium des Trockenrasens den LRTs der infrage kommenden Hab- gibt es nur noch ein einziges Vorkommen ein geeignetes Habitat für den Kreuz- itat-Gruppen 4 (Heiden und Buschvege- (Helbing et al. 2015b). Der Kreuz- dornzipfelfalter sein kann. Mensch- tation), 5 (Hartlaubgebüsche) und 6 dornzipfelfalter braucht einen Kalk- liche Eingriffe in die natürliche (natürliches und naturnahes Grasland) magerrasen mit Kreuzdorn-Sträuchern Sukzession sind absolut notwendig. keine einzige Lebensraumbeschrei- (Rhamnus sp.). Im mittleren und südli- Sobald die Verbuschung zu dicht und bung, die auf die Habitate des Golde- chen Deutschland gibt es viele solche zu hoch wird, kann die Art in diesem nen Scheckenfalters zugeschnitten wäre. Habitate, aber nur wenige sind im rich- Habitat nicht mehr leben. Die Befol- Euphydryas aurinia ist also keinem tigen Sukzessionsstadium, und nur diese gung jeglicher „Naturschutz-Ideolo- FFH-Lebensraumtyp zuzuordnen. Das ist sind von Satyrium spini besetzt. Grund gie“ von „Natur Natur sein lassen“ insbesondere deswegen bemerkenswert, ist die gegenwärtige Verbuschung fast vernichtet den Falter. weil diese Art in den Anhang II der Fau- aller Trockenrasen, weil die Beweidung na-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH 92/43/ abgenommen und die Eutrophierung der Ein Vergleich zwischen den Gelege- EWG) aufgenommen wurde (EU-Code Landschaft zugenommen hat. dichten sowie Gelegegrößen des Kreuz- 1065). Die im Anhang II aufgeführten Der Falter bewohnt wärmebegüns- dornzipfelfalters auf Natur-belassenen Arten gelten als Arten von gemeinschaft- tigte, felsdurchsetzte Trockenrasen Flächen mit solchen (ansonsten gleichar- lichem Interesse, für deren Erhaltung mit Sträuchern. Die Haupt-Raupenfut- tigen) Flächen, wo aber durch Pflege- besondere Schutzgebiete auszuweisen terpflanze ist der Purgier-Kreuzdorn maßnahmen die Kreuzdornbüsche stark sind. Damit verpflichtet sich die Euro- Rhamnus cathartica. Trockenrasen mit ausgelichtet und eingekürzt wurden, hat päische Staatsgemeinschaft zum Schutz Kreuzdorn gibt es vor allem im mittleren gezeigt, dass die Falter sehr schnell auf dieses Falters in besonderem Maße. Der und südlichen Bereich Deutschlands an die Pflegemaßnahmen reagierten. Die EU-Kommission ist die Schutzbedürftig- vielen Stellen; der Falter kommt aber nur Gelegedichten waren auf den entbusch- keit dieser Art also sehr wohl bewusst; an wenigen Stellen vor. Das Habitat muss ten Flächen im Schnitt 80-mal höher nur sind die dafür erforderlichen „beson- also weitere Bedingungen erfüllen, damit als auf den unbehandelten Flächen, und deren Schutzgebiete“ in den im Anhang I Satyrium spini dort leben kann (Löff- auf einigen Flächen hat sich die Art als der FFH-Richtlinie aufgelisteten Lebens- ler et al. 2013, Helbing et al. 2015b): Folge der Pflegemaßnahmen wieder neu raumtypen nicht enthalten. angesiedelt (Helbing et al. 2015a). Die Beschreibungen der Lebens- • Kalkreiches Trockengrasland allein Hier wurde unter Beweis gestellt, dass räume, in denen der Goldene Schecken- genügt nicht; es sind eingestreute die Lebensraumbeschreibungen der falter heute noch vorkommt, sind schwer warme bis heiße, trockene und felsige EU-FFH-Richtlinie unzureichend sind; zu einer einheitlichen Habitat-Beschrei- Stellen wichtig. denn alle Maßnahmen, die ein Optimal- bung zusammenzufassen, dazu ist der • Es müssen geräumige Lichtungen, habitat schufen und zur erfolgreichen Falter an viel zu heterogene Habitate sonnenexponierte Flächen und Wald- Wieder-Ansiedlung von S. spini führten, angepasst. Die Präferenzen der Falter für säume vorhanden sein. beinhalteten keine pflanzensoziologische die Orte der Eiablage sind von Ort zu Ort Änderung im Sinne eines FFH-Gebie- verschieden, und vor allem gibt es Unter- • Das reine Vorhandensein der Rau- tes. schiede zwischen Habitat-Merkmalen der pen-Futterpflanze (Rhamnus spp.) Feuchtgebiete gegenüber den Trockenge- genügt nicht. Für die Eiablage benö- bieten, in denen die Art jeweils lebt. Wäh- tigt Satyrium spini unbedingt klein- 7.2 Zielart Goldener Scheckenfalter – Euphydryas aurinia rend der voralpine Feuchtstamm vielfach wüchsige bis krüppelige (am besten auf ein angepasstes Mahdregime ange- kniehohe) Kreuzdornpflanzen über Der Goldene Scheckenfalter (Abb. 7) ist wiesen ist, meidet der saarländische Tro- Fels, Geröll und unbewachsener Erde ein „Verschiedenbiotopbewohner“ (Wei- ckenstamm gemähte Flächen und sucht (Weidemann 1988). Diese Sträu- demann 1988), der sowohl feuchte als eher junge und jung gebliebene Brachen cher dürfen eine maximale Höhe von auch trockene Regionen und kalkreiche auf (Ulrich 2003). Es zeichnen sich 1,30 m nicht überschreiten und müssen wie auch kalkarme Standorte besiedelt. folgende Habitat-Präferenzen ab: außerdem einen gewissen Mindestab- Während im Alpenvorland ausschließlich stand voneinander haben. Feuchtbiotope besiedelt sind (z.B. das • Die Vegetation sollte in jedem Fall Murnauer Moos bei Garmisch-Partenkir- niedrigwüchsig und lückig sein, egal chen) (Anthes et al. 2003a, Anthes es sich dabei um feuchte oder trockene et al. 2003b), waren die ehemals in der Lebensräume handelt (Anthes & Eifel vorkommenden Individuen und Nunner 2006). sind die heute noch im Saarland behei- • Der Anspruch an die Struktur der mateten Individuen Trockenbewohner Eiablage-Pflanzen sowie der umge- (Ulrich 2003). benden Vegetation ist hoch. Hoch- Der Goldene Scheckenfalter ist viel- gewachsene Nahrungspflanzen mit leicht das beste Beispiel für die drama- vielen Blättern werden bevorzugt, tische Entwicklung des gegenwärtigen jedoch muss der Bewuchs rund um die Artenschwunds in Mitteleuropa. Ohne Eiablage-Pflanze nicht zu dicht sein, wirklich sehr stark an ein eng definiertes damit die Futterpflanze für die Eiab- Habitat gebunden zu sein, verschwand lage durch den Falter frei angeflogen die noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts werden kann (Anthes et al. 2003b). annähernd flächendeckend über alle Wichtig sind also die Störstellen inner- Bundesländer verbreitete Art innerhalb halb des Habitats. Wiederum zeichnet des letzten halben Jahrhunderts (1950 – sich ab, dass gleichmäßige Flächen 2002) aus mehr als drei Vierteln seiner schuld am Rückgang vieler Arten sind Abb. 7 Der in ganz Schleswig-Holstein aus- ursprünglichen Verbreitungsgebiete und („Habitat-Heterogenität-Hypothese“) steht nun auf der Roten Liste in der Kate- (Topp 2011). gestorbene Goldene Scheckenfalter (Euphy- gorie 2 (= stark gefährdet) (Anthes dryas aurinia) konnte im Jahr 2014 wieder et al. 2003a). In den Niederlanden und • Ein reichhaltiges Nektarangebot für erfolgreich angesiedelt werden, indem bei Belgien ist der ehemals weit verbreitete die Imagines ist wichtig, jedoch gibt Lütjenholm eine Fläche entwaldet und in eine Falter bereits ganz ausgestorben. es keine Präferenzen für bestimmte Heide umgestaltet wurde (Aufn.: W. Kunz, Schaut man in das FFH-Manual der Pflanzenarten oder pflanzensoziologi- Rumänien 2017). in Europa zu schützenden Lebensräume sche Gesellschaften. 46 Artenschutzreport, Heft 44/2021
Sie können auch lesen