Der Informatiker als "deus ex mathematica" - Peter Eulenhöfer

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Der Informatiker als „deus ex mathematica“

Peter Eulenhöfer

Innerhalb von nur zwei Jahren wurde die Informatik als und Forschungsgebiet
und Studiengang in der Bundesrepublik Deutschland Ende der sechziger
Jahre etabliert. Der Aufbau der Informatik war ein Schwerpunkt der drei
Datenverarbeitungsprogramme der Bundesregierung, die sich über den
Zeitraum von 1967 bis 1979 erstreckten. Aus diesen Förderprogrammen
wurden – im Rahmen eines zu diesem Zweck geschaffenen Überregionalen
Forschungsprogramms Informatik – die Finanzmittel für die Einrichtung der
Disziplin bereit gestellt. Erklärtes Ziel war es, mit Hilfe des Studienfachs Infor-
matik einem prognostizierten Mangel an hochqualifizierten Fachkräften im
Bereich der Datenverarbeitung (DV) entgegenzuwirken.
    In die anfallenden Entscheidungsprozesse waren Akteure aus der DV-
Industrie, der Wissenschafts- und Technologiepolitik und nicht zuletzt den
Hochschulen – insbesondere aus den Disziplinen Mathematik und
Elektrotechnik – eingebunden. Trotz des heterogenen Akteursfeldes wurde
innerhalb kurzer Zeit ein kollektives Verständnis über die Prinzipien der
Disziplin erzielt. Dies spiegelt sich in den erstellten Curricula, in
Forschungsprogrammen oder in Publikationen über die neue Wissenschaft
Informatik wider. Kritik an der Konzeption der Disziplin wurde zwar auch
laut,1 doch letztlich sind die damals etablierten Prinzipien der Informatik bis
heute stabil geblieben bzw. fortgeschrieben worden. Sie prägen die
Ausgestaltung der Disziplin in den Hochschulen der Bundesrepublik Deutsch-
land auch heute noch.2
    Die Interessenkonstellationen und Entscheidungsprozesse im Rahmen der
staatlichen DV-Förderung sind vergleichsweise gut dokumentiert und
analysiert (vgl. Mainzer 1979, Bundesministerium für Forschung und
Technologie 1982, Arbeitsgemeinschaft „Programmbewertung der DV-
Förderung“ 1982). Im Hinblick auf quantitative Aspekte der Diszi-
plinentwicklung, beispielsweise Anzahl und Verteilung von Lehrstühlen, For-
schungsgruppen und Studierenden, sind diese Untersuchungen aufschluß-
reich. Die Herausbildung und Weiterentwicklung der inhaltlichen und metho-
dischen Prinzipien der Informatik wird in diesen Analysen allerdings nur
ansatzweise hinterfragt.
    Im Hinblick auf die Frage, wie es zu den spezifischen Methoden und
Inhalten der Disziplin kam, sind die in der Literatur zu findenden
Retrospektiven auf die Informatikentwicklung aufschlußreicher.
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   Verbreitet ist die Vorstellung eines präexistenten Wissens- und
Technikbereichs Informatik, die vor allem von Protagonisten3 der damaligen
Informatiketablierung geteilt wird. Diese teleologische Auffassung geht davon
aus, daß die Grundideen der Informatik tief in der Wissenschaftstradition wur-
zeln, bereits ansatzweise in Arbeiten aus vorigen Jahrhunderten angelegt
waren, aber erst durch heutige, geniale Wissenschaftler und Techniker in einer
solchen Klarheit offengelegt werden konnten, daß sie eine eigenständige
Disziplin rechtfertigen (vgl. Bauer 1974). Die Prinzipien der Informatik
erscheinen so als eine wissenschaftshistorische Notwendigkeit und Selbstver-
ständlichkeit.
   Weniger in Publikationen, dafür um so häufiger in persönlichen Gesprä-
chen mit Akteuren aus der Gründungsphase, findet sich die Auffassung, daß
einflußreiche und politisch geschickt agierende Wissenschaftler – allen voran
der Münchener Mathematiker F. L. Bauer – ihr spezifisches Infor-
matikkonzept durchgesetzt und erfolgreich verteidigt haben. Dieser Position
folgend sind die Informatikprinzipien Ergebnis eines wissenschaftspolitischen
Machtkampfes. Ich möchte diesen Erklärungsansätzen eine andere Sichtweise
auf die Herausbildung der Prinzipien der Informatik entgegensetzen und die
inhaltlichen und methodischen Grundsätze der Informatik als Ergebnis eines
der Informatiketablierung vorausgegangenen Sinnfindungsprozesses im
Bereich der bundesdeutschen Rechenautomatenforschung interpretieren. In
diesem wissenschaftlich-technischen Diskurs bildeten sich grundlegende
Orientierungsmuster aus, die später als implizite Handlungsmotive die
Etablierung der Informatik mitgeformt haben.4
   Der Einrichtung der Disziplin Informatik Ende der sechziger Jahre ging
eine zwanzig Jahre währende                wissenschaftliche Debatte      über
„programmgesteuerte       Rechenanlagen“,        „elektronisches    Rechnen“,
„Datenverarbeitung“ oder „Informationsverarbeitung“ voraus, die trotz
wandelnder Begrifflichkeiten eine hohe personelle, institutionelle und
konzeptionelle Kontinuität aufwies. Ursprünglich wurde dieser Diskus-
sionsprozeß von denjenigen bundesdeutschen Wissenschaftlern und Techni-
kern getragen, die nach dem zweiten Weltkrieg eigene digitale oder analoge
Rechenanlagen konstruierten. Im Hinblick auf Digitalrechner sind hier
insbesondere die Arbeiten am Institut für Praktische Mathematik der TH Darm-
stadt, am Nachrichtentechnischen und Mathematischen Institut der TU Mün-
chen, am Max-Planck-Institut für Physik in Göttingen und die Arbeiten der
Zuse KG zu nennen. Einen institutionellen Rahmen für die Aktivitäten stellte
die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 1951 eingerichtete
„Kommission für Rechenanlagen“ dar. Die von diesem Kreis organisierten
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Kolloquien und Konferenzen dienten den involvierten Instituten einerseits
zum wissenschaftlichen Austausch untereinander. Andererseits wurde damit
das Ziel verfolgt, in anderen Wissenschaften, der Industrie und der Politik
Interesse für die Rechenautomatenentwicklung und -nutzung zu wecken.
Diese Debatte ist in Form von Konferenzberichten, Zeitschriftenartikeln, publi-
zierten Vorträgen, Berichten und Programmen zur Forschungsförderung gut
dokumentiert.
    Im folgenden zeige ich an Hand dieser Dokumente die Herausbildung von
grundlegenden Orientierungsmustern und Bedeutungszuschreibungen im
Vorfeld der Informatiketablierung auf. Ich werde analysieren, wie die Autoren
in ihren Texten über die Rechenanlagentechnik, über die mit Hilfe dieser Auto-
maten zu lösenden Probleme und über die für die Nutzung der Anlagen
benötigten Fachkräfte schreiben. Bei allen drei Aspekten erweist sich die
Vorstellung einer besonderen Art von Gegenständen, die ich hier
Hybridobjekte5 nennen will, als konstitutiv.
    Erstens zeigt sich, daß die technischen Artefakte, die Rechenautomaten, in
den fünfziger Jahren üblicherweise als Objekte beschrieben wurden, in denen
maschinelle und menschliche Tätigkeiten vereint erscheinen. Diesen
Automaten wurde ein besonderer Status zugesprochen; sie galten nicht als
Maschinen im herkömmlichen Sinne, sondern als Hybridobjekte, als selbsttätig
agierende mathematische Objekte.
    Zweitens gingen die Autoren bei der Beschreibung von Einsatzbereichen
der Rechenautomaten davon aus, daß die zu lösenden Probleme bereits immer
in symbolischer Gestalt, als mathematische Formel, vorlagen. Das
Rechenprogramm erschien als eine mathematische Umformulierung dieses Pro-
blems. Damit erhielten Programme ebenfalls den Status von Hybridobjekten, in
denen das Problem, dessen Beschreibung und dessen konstruktive Lösung
tendenziell     identifiziert werden.     Zugleich     wurden    mannigfaltige
gesellschaftliche Aufgaben als derartige von Rechenautomaten zu
bewältigende Rechenprobleme interpretiert.
    Drittens ergibt sich aus dieser Deutung der Rechenautomaten und Rechen-
programme ein Personaldilemma: Wer ist in der Lage mit diesen neuartigen
Objekten, den Hybridobjekten, umzugehen? Wer kann den nicht mit her-
kömmlichen Zugangsweisen erfaßbaren Techniktyp handhaben, und wer
transformiert die zu lösenden Probleme derart, daß sie mit den
Rechenautomaten verarbeitet werden können? Wer macht also die potentielle
Rechenkraft der Automaten nutzbar für gesellschaftliche Zwecke? So wie im
klassischen griechischen Theater ein Gott als deus ex machina per
Theaterkran vom Himmel fährt und die ausweglose Situation rettet, wird in
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vielen Texten zur Rechenautomaten plötzlich ein deus ex mathematica, ein
speziell qualifizierter Mathematiker, als Retter in der Not präsentiert: Er ist
einerseits in der Lage, die mathematischen Automaten zu beherrschen, und
andererseits ist ihm die mathematische Problemwelt zugänglich.
   Das Orientierungsmuster, daß sich in dieser aufeinander abgestimmten
Deutung von Artefakten, Einsatzbereichen und Fachkräften zeigt, war – wie
im folgenden zu zeigen sein wird – konstitutiv auch für die Etablierung der
Informatik.

Technische Artefakte

Genau wie in den USA wurden auch in der Bundesrepublik Deutschland in
den vierziger und fünfziger Jahren zur Beschreibung des Aufbaus und der
Funktionsweise von Rechenautomaten Analogien zu menschlichen
Tätigkeiten und dem menschlichen Gehirn herangezogen. In der US-
amerikanischen Debatte, beispielsweise in Arbeiten John von Neumanns,
wurden – ausgehend von neurophysiologischen oder systemtheoretischen
Konzepten – Parallelen zwischen menschlichem Organismus und Rechenan-
lagen postuliert.6 Eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen
Biologen, Mathematikern und Nachrichtentechnikern läßt sich in der
Bundesrepublik Deutschland, im Gegensatz zu den USA, nicht ausmachen.
Die Kooperation in der Bundesrepublik beschränkte sich, auch institutionell,
auf Wissenschaftler aus der Mathematik, insbesondere der Numerischen
Mathematik7, der Nachrichtentechnik, der Physik und der Mechanik.
Entsprechend hat die anthropomorphe Deutung der Rechenautomaten in der
Bundesrepublik Deutschland auch andere Ursprünge als in den USA.8

    Die Prinzipien der Rechenautomaten wurden hierzulande ausgehend vom
Vorbild sogenannter Rechenabteilungen formuliert. In solchen hochgradig
organisierten „Rechenfabriken“ führten Menschen nach vorgegebenen
Anweisungen mehrschrittige Rechnungen mit einfachen Rechenmaschinen
aus. Bekanntlich wurden diese Menschen damals Rechnerinnen bzw.
Rechner genannt; die meisten von ihnen waren Frauen (vgl. Hoffmann 1987).
Viele Akteure aus der frühen bundesdeutschen Rechenautomatenentwick-
lung, insbesondere diejenigen aus dem Bereich der Praktischen Mathematik,
waren mit dieser Rechenpraxis vertraut. Einige der prominentesten haben
beispielsweise während des zweiten Weltkriegs in ihren Mathematischen
Instituten Rechenabteilungen für Kriegszwecke betrieben (vgl. Petzold 1992,
S. 226ff.). In vielen Publikationen aus den späten vierziger und den fünfziger
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Jahren findet sich die Vorstellung, daß in den neuartigen Rechenautomaten die
in solchen Rechenabteilungen anfallenden menschlichen und maschinellen
Tätigkeiten vereint seien. Ich nenne dies die Interpretation der Rechenauto-
maten als Hybridobjekte. Sie zeigt sich beispielsweise in der folgenden
Definition      aus     einem       Forschungsbericht      der     Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG 1958a, S. 16f):
   „Für die Rechenautomaten, deren Wesen hier aufgezeigt werden soll, ist charakte-
   ristisch, daß sie neben der bloß rechnenden Tätigkeit von Bürorechenmaschinen
   auch die Zahleneingabe, Programmsteuerung, Zahlenspeicherung                    und
   Auslieferung der Ergebnisse leisten, daß sie also alle Tätigkeiten des menschlichen
   Rechners übernehmen. Die einzelnen Rechenoperationen laufen nach einer
   bestimmten, vorher festgelegten Reihenfolge (Programm) ohne Dazwischentreten
   des Menschen ab.“
Für Alwin Walther und Hans-Joachim Dreyer ergaben sich auch Einzelheiten
des Konzepts eines Rechenautomaten aus dieser Hybridsicht (1953, S. 1):
   „Ein Rechenautomat zieht die zahlenmäßig rechnende Tätigkeit der gewöhnlichen
   Rechenmaschine zusammen mit der eingebenden, steuernden und auf-
   schreibenden Tätigkeit des menschlichen Rechners. Schematisch ist also ein pro-
   grammgesteuerter Rechenautomat nach Bild 1 aufgebaut aus Rechenwerk,
   Kommandowerk, Speicherwerk, Eingabewerk E und Auslieferungswerk A.“
Das im Zitat erwähnte Bild 1 hat dabei folgende Gestalt:

         Rechen-                                         Speicher-
         werk                                            werk

                              Kommandowerk
                              (Programm-
                              steuerung

                                                          E      A

  Abb. 1 „Schematischer Aufbau eines Rechenautomaten“ (Walther et al.
  1953)
Die herkömmliche Rechenmaschine wurde demnach als eine spezielle
Komponente, als Rechenwerk, in den Rechenautomaten integriert. Auch die
Tätigkeit des menschlichen Rechners wurde im Automatenkonzept direkt
abgebildet. Dabei wurde vorausgesetzt, daß diese Tätigkeit in mehrere
Aufgabenbereiche zerfällt. Diese Teiltätigkeiten wurden mit den restlichen
Komponenten eines Rechenautomaten verglichen, wobei die Autoren
durchaus verschiedene Zuordnungen vornahmen.9
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   Das Verständnis der neuartigen Rechenanlagen in den fünfziger Jahren
setzte in ambivalenter Weise auf einer vertrauten Technologie, den
elementaren Rechenmaschinen, und deren Einbettung in Rechenbüros auf.
Die „gewöhnlichen Rechenmaschinen“ bzw. „Bürorechenmaschinen“
dienten einerseits als Vorbild; andererseits bildeten sie einen Gegenhorizont,
von dem man sich abgrenzen konnte. Auch mit den neuartigen Rechenan-
lagen sollte gerechnet werden, doch das charakteristische Merkmal der
neuartigen Technologie sahen die meisten Autoren in der Möglichkeit,
Rechnungen „automatisch“ und „programmgesteuert“ auszuführen.10 Diese
Sichtweise zeigt sich auch in der verwendeten Terminologie: Für die neuen
Artefakte wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie der Begriff
„Maschine“ isoliert benutzt – zumeist war von Rechenautomaten die Rede –,
und wenn sie als Rechenmaschinen, Rechengeräte oder Rechenanlagen
bezeichnet wurden, dann stets ergänzt durch Attribute wie beispielsweise
„programmgesteuert“.
   In den Texten aus den fünfziger Jahren finden sich regelmäßig Passagen, in
denen die Überlegenheit der neuen Rechenautomaten gegenüber dem
herkömmlichen Rechnen betont wurde. Die bundesdeutschen Akteure stellten
diese Differenz als einen revolutionären Fortschritt dar und unterstrichen ihn
mit beeindruckenden Zahlen. Beispielsweise heißt es bei (Cremer 1953, S. v):
   „Die     Rechenautomaten     unterscheiden  sich von den        gewöhnlichen
   Rechenmaschinen bereits durch ihre ungeheure Rechengeschwindigkeit. Diese
   übertrifft die Geschwindigkeit eines gewöhnlichen Rechners weit mehr als die
   Geschwindigkeit eines D-Zuges die des Fußgängers. Eine Elementaroperation
   erfordert meist nur 1/1000 Sekunde und noch weniger. Ihre Rechenkraft ist
   ungeheuer, so daß Rechnungen mit vielen Milliarden Rechenschritten in ver-
   hältnismäßig kurzer Zeit durchgeführt werden können. Eine große elektronische
   Rechenmaschine kann 2000 und mehr Rechner mit den besten elektrischen
   Bürorechenmaschinen ersetzen.“

Die Rechenautomaten wurden also in ihrer Leistungsfähigkeit nicht nur mit
der vorher verfügbaren Technologie verglichen, sondern explizit mit der
Arbeitsleistung von Menschen. Erst die Interpretation der Rechenautomaten
als Hybride menschlicher und maschineller Tätigkeiten macht diese doppelte
Vergleichbarkeit möglich. In solchen Vergleichen wird die Hybridsicht daher
stets implizit mitformuliert.
    Im Hinblick auf die Herausbildung von Prinzipien der Informatik ist eine
Tendenz in den Begriffs- und Modellbildungsprozessen der fünfziger Jahre
besonders hervorzuheben: Die als in die Rechenanlagen integriert aufgefaßte
menschliche Tätigkeit wurde schrittweise uminterpretiert und von der
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Bindung an lebendige menschliche Wesen losgelöst. Bei Cremer läßt sich
diese Entwicklung im folgenden Ausschnitt erkennen (Cremer 1953, S. vi f.):
   „Die Rechenautomaten unterscheiden sich aber von den gewöhnlichen Rechenma-
   schinen nicht nur durch die Rechengeschwindigkeit, sondern vor allem durch die
   erstaunlich klingende Eigenschaft, ‚bedingte Befehle‚ ausführen zu können. Unter
   einem ‚bedingten Befehl‚ wird dabei ein Befehl verstanden, die Rechnung je nach
   dem Ausfall der sich bei der Rechnung ergebenden Zwischenresultate in verschie-
   dener Weise, gegebenenfalls nach ganz anderen Methoden, fortzusetzen. Man
   glaubte früher, daß zu solchen Entscheidungen die menschliche Intelligenz unent-
   behrlich sei. Von den Rechnern und Rechnerinnen wird daher gehobene Bildung
   verlangt, besondes dann, wenn sie etwa von Fall zu Fall unter verschiedenen
   Rechenmethoden die zweckmäßigste auswählen sollen. Es ist eine ganz
   erstaunliche Erkenntnis, daß das alles auch eine programmgesteuerte Maschine
   selbsttätig machen kann. Natürlich kann die Maschine den denkenden Menschen
   nicht ersetzen. Es zeigt sich aber, daß viele ‚Entscheidungen‚, zu deren
   Durchführung man bisher den menschlichen Verstand für notwendig hielt,
   tatsächlich auch mechanisch ausgelöst werden können. Das liegt einfach daran,
   daß diese ‚Entscheidungen‚ auf die Frage zurückgeführt werden können, ob eine
   während der Rechnung sich ergebende Zahl größer oder kleiner als eine andere
   ausfällt. Die Maschine kann nun so konstruiert werden, daß sie auf ein solches
   Ergebnis auf vorgeschriebene, gegebenenfalls ganz verschiedene Weisen
   reagiert.“
Die Konzeption der Rechenanlagen als Hybrid menschlicher und maschineller
Tätigkeiten geht, wie das Zitat zeigt, einher mit einer Neubewertung des
menschlichen Rechnens. Cremer identifiziert das Ausführen „bedingter
Befehle“ mit den bislang als anspruchsvoll eingeschätzten Anteilen des
menschlichen Rechnens, dem Treffen von Entscheidungen. Durch die
Entwicklung von Rechenautomaten ist, Cremer folgend, der Nachweis
erbracht, daß diese intelligenten Entscheidungen letztlich nur „Ent-
scheidungen“ sind, die sich auf den Größenvergleich zwischen zwei Zahlen
reduzieren lassen. Was Cremer als „erstaunlich“ erscheinen läßt, sind damit
weniger die Möglichkeiten der neuen Maschine als vielmehr die bisherige
Fehlbewertung der menschlichen geistigen Leistungen beim Rechnen, die er
mit der Formel „Man glaubte früher“ als Anachronismus hinstellt.
   An Cremers Zitat läßt sich auch die Bedeutung der mathematischen
Terminologie in der Konzeption der Rechenautomaten als Hybridobjekte
aufzeigen. Auf der einen Seite wird die Maschine mit anthropomorphen und
mathematischen Metaphern beschrieben: Dem Rechenautomaten wird, wie
bereits der herkömmliche Rechenmaschine, die Fähigkeit zugesprochen,
„zahlenmäßig rechnen“ zu können. Auf der anderen Seite werden
menschliche Handlungen in technischen und vor allem auch mathematischen
Termini neu bewertet: Das Treffen von Entscheidungen beim menschlichen
Rechnen wird als ein Zahlenvergleich interpretiert. Die mathematischen
Begriffe, Notationen und Operationen bilden dabei die Ebene, auf der die
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Tätigkeiten von Mensch und Maschine vergleichbar und in einem
Rechenautomaten verschmelzbar werden.
    Ein spezieller Aspekt in Cremers Zitat soll nicht unerwähnt bleiben. Wie die
meisten Autoren verwendet Cremer bei Personengruppen grundsätzlich die
männliche Form: Er redet von Mathematikern, Forschern, Konstrukteuren und
Ingenieuren. Nur die Rechnerinnen erwähnt er explizit – überwiegend waren
Frauen mit dieser Tätigkeit betraut. Bemerkenswert ist nun, daß Cremer gerade
in der Textpassage, in der er die zum Rechnen benötigte Intelligenz in Frage
stellt und das Treffen von Entscheidungen beim Rechnen als mechanisierbar
charakterisiert, professionelles Rechnen als weibliche Domäne kennzeichnet.
Wie ich im letzten Abschnitt aufzeigen werde, wurde die Art des Denkens, die
zur Konstruktion und zum Beherrschen der Rechenautomaten notwendig
schien – wohlgemerkt Aufgaben für die nahezu ausschließlich Männer zustän-
dig waren – als höchst anspruchsvoll und keineswegs mechanisierbar
eingeschätzt. Es drängt sich die These auf, daß bei den Autoren die von ihnen
differenzierten Formen menschlicher Tätigkeit geschlechtlich konnotiert sind:
Während die weiblich konnotierten Tätigkeiten abgewertet werden,
erscheinen die männlich konnotierten Tätigkeiten intellektuell heroisiert.
    Neben der Deutung der Rechenautomaten als Hybrid menschlicher und
maschineller Tätigkeiten läßt sich auch in der bundesdeutschen Debatte eine
anthropomorphe Interpretation aufzeigen, bei der direkte Analogien zwischen
technischen Bauteilen und dem menschlichen Körper aufgestellt werden.11 Als
Beispiel sei hier eine Passage von Konrad Zuse (1953, S. 65f.) angeführt:
   „Alle zukünftigen Rechenmaschinen, mögen sie noch so nahe an den
   menschlichen Geist heranreichen oder ihn gar übertreffen, sind grundsätzlich auch
   mit Relais zu bauen, wobei allerdings ein Gesichtspunkt hinzukommt: Je
   komplizierter diese Geräte werden, um so mehr Relais gebraucht man. Unser
   eigener Kopf hat etwa 10 Milliarden Relais; also müßten wir eine ganze Stadt wie
   Aachen mit Relais vollbauen, um unseren eigenen Kopf nachzubilden. Wir haben
   aber heute noch nicht die Relaistechnik, um zu solchen Abbildungen gewisser
   Hirnfunktionen zu kommen; einfach quantitativ können wir es noch nicht. Ich
   glaube, mathematisch wäre es ziemlich leicht, unter Einsatz mehrerer guter
   Mathematiker innerhalb weniger Jahre dies zu erreichen. Aber es wird auf der
   anderen Seite der konstruktiven Lösungen bedürfen, um dieses Ziel zu
   erreichen.“
Auch Walther (1958, S. 16) greift in einem Vortrag vor dem Hessischen
Forschungsrat Gehirn- und Gedächtnis-Metaphern auf, um den
konzeptionellen Aufbau eines Rechenautomaten zu erläutern. Er macht sie
sich jedoch nicht zu eigen, sondern distanziert sich durch Verwendung von
Anführungszeichen und passivischen Formulierungen:
   „Das Kommandowerk, welches das Rechenwerk gemäß dem Rechenprogramm
   arbeiten läßt, wird auch ‚Befehlswerk‚ oder ‚Steuerwerk‚ genannt. Populär, freilich
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   zu weitgehend, ist der Ausdruck ‚Gehirn‚. Im Speicherwerk, zuweilen als
   ‚Gedächtnis‚ bezeichnet, werden Zahlen untergebracht und daraus abgerufen.
   Auch das Rechenprogramm wird dort gespeichert. Rechenwerk, Kommandowerk
   und Speicherwerk hängen gegenseitig eng zusammen. Ihre Dreiheit bildet den
   eigentlichen Rechenautomaten, mit einem übertriebenen Wort das ‚Elek-
   tronengehirn‚. Zur Verbindung mit der Außenwelt sind noch ein Eingabewerk
   und ein Auslieferungswerk vorhanden.“
Die Interpretation der Rechenautomaten als Hybride aus menschlichen und
maschinellen Tätigkeiten wurde – so meine These – bei der Etablierung der
Informatik Ende der sechziger Jahre fortgeschrieben. Belege dafür finden sich
in einer Reihe von Aufsätzen, in der sich Protagonisten der Informatik zur
Frage „Was ist Informatik?“ äußerten (vgl. Bauer 1974, Brauer 1973,
Zemanek 1971). Die Informatik befaßt sich demnach nicht mit konkreter
Computertechnik, sondern primär mit Zeichensystemen (Bauer) und
abstrakten Objekten (Zemanek), beispielsweise Algorithmen, Programmen oder
der Struktur von Informationsverarbeitungssystemen. In den Artefakten der
Informatik sind, so die Auffassung in den Texten, geistig-symbolische und
materiell-maschinenhafte Aspekte zu einem als neuartig dargestellten
Objektkonzept verschmolzen – in meiner Terminologie wiederum zu einem
Hybridobjekt.
   Während die Autoren der fünfziger Jahre in den Rechenautomaten
maschinelle und menschliche Tätigkeiten kombiniert sahen, scheint in den
Informatikobjekten aus der ursprünglichen Kombination eine vollständige
Verschmelzung geworden zu sein. Die menschlichen Tätigkeiten sind durch
den skizzierten Uminterpretationsprozeß auf eine geistige, symbolische Essenz
reduziert, und die materiellen Maschinen werden als technische Umsetzung
mathematischer Prinzipien gedeutet. Die Mathematik gilt als dasjenige, was
Mensch und Maschine gemeinsam haben.12 Auf dieser formalen Ebene
erscheinen geistige Tätigkeiten und materielle Aspekte austauschbar. Den
Informatikobjekten wird daher ein besonderer ontologischer Status zuge-
sprochen: Sie sind zugleich Beschreibung und technische Realisierung,
zugleich Formel und Gerät, zugleich Deskription und Aktion.13 Konstitutives
Merkmal dieses Objektkonzeptes ist die Verwendung mathematisch-formaler
Notationen. Dementsprechend sind die Hybridobjekte, die menschliches
Beschreiben und maschinelles Ausführen in sich vereinen, mathematisch-
formaler Natur.14

Einsatzbereiche von Rechenautomaten

Die Art und Weise, wie in der Etablierungsphase der Informatik Ende der
sechziger Jahre das Verhältnis der Disziplin zu Anwendungsbereichen von
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DV-Anlagen thematisiert wurde, hat ebenfalls Ursprünge in der Debatte über
Rechenautomaten zwanzig Jahre zuvor.
    Wie bereits erwähnt wurden die programmgesteuerten Rechenanlagen vor
dem Hintergrund bestehender Rechenabteilungen interpretiert; entsprechend
sollten zunächst mit Hilfe der neuen Rechengeräte die gleichen Probleme
bearbeitet werden, die zuvor von rechnenden Menschen erledigt wurden, nur
eben schneller. Dabei handelte es sich vorrangig um Rechenprobleme aus der
Physik und der Technik. Diese Problemstellungen waren als mathematische
Formeln gegeben; dafür sorgten die Naturwissenschaftler und Ingenieure.
Schon die von den Autoren aus der Rechenanlagenforschung verwendete
Terminologie        –      „Probleme“,       „Problemstellungen“      oder
„Aufgabenstellungen“ – macht deutlich, daß sie von etwas Vorgelegtem und
extern Formulierten ausgingen. Im Rahmen der Praktischen Mathematik
mußten zumeist nur die zur schrittweisen Berechnung der Lösungen solcher
Probleme notwendigen Iterationsverfahren entwickelt werden.
    Die Akteure gaben in den fünfziger Jahren ihrer Überzeugung Ausdruck,
daß mit den Rechenautomaten prinzipiell alle Rechenprobleme bewältigt
werden können, wobei sie die Beschränkungen der zu dieser Zeit
konzipierten Anlagen durchaus einräumten. Cremer schrieb beispielsweise
(Cremer 1953, S. v):
   „Die großen programmgesteuerten Rechenautomaten (Ziffernmaschinen) können
   grundsätzlich Rechnungen jeder Art und jeder erforderlichen Genauigkeit
   durchführen. (Praktisch sind natürlich auch hier gewisse, sehr weit gesteckte
   Grenzen gegeben.)“
Im Entwickeln der Rechenverfahren und der Erstellung der Programme sahen
die Akteure keine grundlegenden Schwierigkeiten. Im Gegenteil: Das
Programm wurde aufgefaßt als eine spezielle Darstellung, als eine alternative
mathematische Formulierung des ursprünglichen Problems, in die es sich in
„natürlicher“ Weise transformieren läßt. Zuse verwendet zum Beispiel eine
Molekül-Metapher15, um diese Vorstellung auszudrücken (Zuse 1953, S. 62):
   „Programmsteuerung ist an sich die Auflösung einer Formel, die beliebig kompli-
   ziert sein kann, in ihre einzelnen rechnerischen Moleküle, d. h. die Aufzählung
   der einzelnen Operationen und derjenigen Werte, mit denen diese Operationen
   durchgeführt werden sollen.“
Mit genügend Zeit und einer ausreichenden mathematischen Begabung, so
die Sicht der Autoren, lasse sich diese mathematische Umformulierungsarbeit
stets leisten. Der Einsatz eines Rechenautomaten blieb dieser Auffassung
zufolge vollständig im Rahmen der Mathematik. In der Folgezeit wurden auch
in der Bundesrepublik die Probleme der Programmierung erkannt;
beispielsweise ging die Entwicklung der in mehrfacher Hinsicht innovativen
Programmiersprache ALGOL maßgeblich auf bundesdeutsche Akteure zurück.
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Doch bei dieser Initiative stand weiterhin die Programmierung numerischer
Probleme im Mittelpunkt (vgl. Eulenhöfer 1996).
   Das potentielle Einsatzfeld der Rechenautomaten wurde von Beginn an
sehr weit gefaßt. Es galt als selbstverständlich, daß sie alle bisherigen
Rechenprobleme übernehmen könnten. Erwartet wurde darüber hinaus, mit
Hilfe der Rechenautomaten bislang nicht zu bewältigende numerische
Aufgabenstellungen bearbeiten zu können. Schon in den fünfziger Jahren
wurde aber auch über mögliche Einsatzfelder außerhalb der ursprünglichen
Numerik spekuliert. In einer Publikation der Deutschen Forschungsge-
meinschaft (DFG 1958b, S. 1) heißt es über die neuartigen Rechenautomaten:
   „Mit ihnen lassen sich Probleme schnell und erfolgreich bearbeiten,           die
   anzugreifen bisher einen großen Zeit- und Arbeitsaufwand erforderte oder      für
   deren Lösung gar keine Möglichkeiten bestanden. Darüber hinaus ist            das
   elektronische   Rechnen     ein   erster  Schritt   in   ein    neues,         als
   ‚Informationsverarbeitung‚ bezeichnetes Gebiet, zu dem beispielsweise         die
   automatische Sprachübersetzung gehört.“
Während Mitte       der fünfziger Jahre noch            von    zukünftigen
Anwendungspotentialen die Rede war, wurde 1962 in einem Bericht über den
„Stand des elektronischen Rechnens und der Datenverarbeitung“ die
Verbreitung der Rechenanlagen in vielfältige gesellschaftliche Bereiche als
derzeit laufender Prozeß beschrieben (Deutsche Arbeitsgemeinschaft für
Rechenanlagen 1962, S. 7):
   „Die modernen elektronischen Rechenanlagen nehmen an Bedeutung ständig zu.
   Sie halten Einzug auf allen Gebieten der Forschung und Wissenschaft, der Wirt-
   schaft, Industrie und Verwaltung, wo entweder langwierige und komplizierte
   Berechnungen durchzuführen sind oder in großer Menge anfallende Daten
   verarbeitet werden müssen.“
Ende der sechziger Jahre, das heißt zur Zeit der Etablierung der Informatik als
Wissenschaftsdisziplin, war für den damaligen Bundesminister für
Wissenschaftliche Forschung der umfassende Einsatz von Computern bereits
eine Selbstverständlichkeit, und er erhob das weitere Engagement in diesem
Technologiesektor zu einer nationalen Schicksalsfrage (Stoltenberg 1968,
S. 809):
   „Computer sind für die Organisation des Betriebsablaufes und der Administration
   unentbehrlich geworden, in der Fertigung regeln sie die Maschinen und auf der
   Straße den Verkehr. Sie helfen dem Konstrukteur bei der Lösung seiner
   Aufgaben, dem Arzt bei der medizinischen Diagnostik und dem Wissenschaftler
   bei Experimenten an der vordersten Front der Forschung. Es stellt sich deshalb die
   Frage, ob ein moderner Industriestaat seine eigenen Aufgaben überhaupt noch
   schöpferisch angehen und lösen kann, wenn er auf die aktive Mitwirkung an dieser
   neuen revolutionären Technik verzichtet.“16
Die Vorstellung, daß mit einer Rechenanlage oder einem Computer
grundsätzlich Rechnungen ausgeführt werden, ist während des betrachteten
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Zeitraums erhalten geblieben. Verändert hat sich dagegen die Interpretation
gesellschaftlicher Aufgabenbereiche und Problemstellungen. Sie sind es, die
als Rechenprobleme umgedeutet wurden. In den von mir betrachteten
Publikationen werden zwar regelmäßig auch die Begriffe Daten- und Informa-
tionsverarbeitung verwendet, doch die mit den elektronischen
Rechenautomaten befaßten Wissenschaftler stellen diese Gebiete als
Spezialbereiche oder Weiterentwicklungen des Elektronischen Rechnens dar.
Die Datenverarbeitung war für die Akteure wissenschaftlich kaum von
Interesse, da sie vom mathematischen Standpunkt her keine besonderen
Ansprüche stellte: Es handelte sich lediglich darum, einfache Rechnungen
oder Sortieroperationen durchzuführen, allerdings mit einer großen Zahlen-
oder Datenmenge. Im Gegensatz dazu sahen sie in den mathematisch
formulierten und anspruchsvollen Aufgabenstellungen der Informa-
tionsverarbeitung ein adäquate Fortsetzung des bisherigen wissenschaftlichen
Rechnens. Diese positive Haltung gegenüber der Informationsverarbeitung
hat nicht zuletzt in der später für das Wissenschaftsfeld gewählten Bezeich-
nung „Informatik“ ihren Niederschlag gefunden.
    Die mathematische Sicht auf die Einsatzbereiche wurde im Zuge der
Etablierung der Informatik im wesentlichen fortgeschrieben. Die Protagonisten
stellen zwar heraus, daß die meisten Anwendungen der Rechenanlagen im
kaufmännischen Bereich liegen (vgl. Bauer 1974), doch nicht solche realen
Anwendungen sind in ihrem Verständnis Gegenstand der Informatik, sondern
sogenannte „abstrahierte Anwendungen“. Nach Brauer (1973, S. 12) ist es
beispielsweise Aufgabe der Informatik, „von Besonderheiten spezieller
Anwendungen abzusehen und dadurch zu den allgemeinen Gesetzen, die der
Informationsverarbeitung zugrunde liegen, vorzustoßen“. Zemanek (1971,
S. 158) fordert von dem neuen Gebiet den „Einschluß abstrahierter
Anwendungsfragen“, und für Bauer (1974, S. 335) ist es eine der Haupt-
aufgaben der Informatik, „sozusagen abstrahierte Anwendungen“ zu finden.
Diese abstrahierten Anwendungen werden als formal beschreibbar aufgefaßt,
womit die Problemsicht der Informatik an die Tradition der mathematisch
formulierten Problemstellungen aus der frühen Rechenautomatenforschung
anknüpft. „Der Informatiker operiert“, Brauer (1973, S. 12) zufolge, „mit
abstrakten Zeichen, Objekten und Begriffen und untersucht formale
Strukturen (Datenstrukturen, Sprachstrukturen, Systemstrukturen) und deren
Transformationen.“ Zu einer vergleichbaren Einschätzung kommt Zemanek
(1971, S 161): „Beim Informatiker sind die Gebilde, über die er spricht, bereits
abstrakt und auf dem Papier, nämlich Programme und Beschreibungen.“ Das
Konstrukt der „abstrahierten Anwendungen“ ermöglicht es den Protagoni-
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sten, auch bei der Formulierung von Grundprinzipien der Informatik davon
auszugehen, daß die im Rahmen dieser Disziplin relevanten Probleme in einer
eindeutigen Beschreibung, im Idealfall in mathematischer Notation, vorliegen.
Im Selbstverständnis der Informatik wird zwischen einem Problem und dessen
Beschreibung nicht grundsätzlich unterschieden. Darüber hinaus werden in
den betrachteten Texten aus den siebziger Jahren die Programme, die die
Lösung der Probleme bilden, auf der gleichen abstrakt-formalen Ebene
angesiedelt wie die Beschreibungen (Zemanek) oder als Ergebnis eines
formalen Transformationsprozesse (Brauer) aufgefaßt. Tendenziell werden im
Grundverständnis der Informatik auf diese Weise Probleme, Beschreibungen
und konstruktive Lösungen identifiziert. Prägnanter Ausdruck dieser Sicht ist
die in der Informatik häufig zu hörende Äußerung: Erst wenn man ein Problem
programmiert hat, hat man es völlig verstanden.

Fachkräfte

In den von mir untersuchten Beiträgen zum Thema „Elektronische
Rechenautomaten“ finden sich regelmäßig Passagen über die Personen, die als
zum Umgang mit diesen Anlagen befähigt angesehen wurden. Hier
kristallisierten sich in den fünfziger Jahren Vorstellungen über das
Qualifikationsprofil, den professionellen Habitus und die gesellschaftliche Stel-
lung dieser Experten heraus, die später auch bei der Etablierung der Informatik
zum Tragen kommen sollten.
    Einig waren sich die Autoren der Zeit vor allem darin, daß durch die
elektronischen Rechenautomaten keinesfalls die Mathematiker überflüssig
geworden seien. Die Entwicklung der neuen Rechentechnik wurde sogar in
doppelter Weise mit einer neuen Ära der Mathematik verknüpft. Zum einen
wurde aufgrund der Rechenanlagentechnik ein Boom in der Mathematik
erwartet, einhergehend mit neuen Aufgabenfeldern für Mathematiker. Bei
Cremer (1953, S. vii) heißt es hierzu:
   „Die modernen Rechenautomaten werden den Mathematiker nicht entbehrlich
   machen, ebenso wenig wie die Erfindung der Eisenbahn die Söhne der alten
   Postillione arbeitslos gemacht hat. Im Gegenteil! Das Bedürfnis zur Durchführung
   von Großrechnungen wird in Zukunft wachsen, und man wird mehr Mathematiker
   benötigen als früher.“
Andererseits wurde der zukünftige Nutzen der Rechenautomaten davon
abhängig gemacht, daß genügend und entsprechend qualifizierte
Mathematiker zur Verfügung standen, die mit ihnen umgehen und das ihnen
innewohnende Potential entfalten konnten. 1958 sah die DFG bereits einen
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Mangel an geeigneten Mathematikern, sogenannten „Rechenmaschinen-
Mathematikern“ (DFG 1958b, S. 8):
   „Der neue Beruf des Rechenmaschinen-Mathematikers, wie überhaupt des prakti-
   schen Mathematikers, ist heute noch so schwach besetzt, daß Aufklärung und
   Werbung unerläßlich sind. Noch vor wenigen Jahren war der Bedarf an Mathema-
   tikern, abgesehen von den Lehramtsanwärtern, so gering, daß der Beruf als nicht
   aussichtsreich galt. Die Industrie lehnte Bewerbungen von Mathematikern meist
   ab. Inzwischen hat das stürmische Vordringen der Rechenanlagen einen derartigen
   Mangel herbeigeführt, daß schon die personelle Besetzung der ersten Hochschul-
   Rechenzentren problematisch ist. Auch bei Industrie und Wirtschaft besteht große
   Nachfrage nach Mathematikern für die kommerziellen Rechenanlagen, die etwa
   der Lohn- und Gehaltsabrechnung für Zehntausende von Werksangehörigen, der
   Lagerüberwachung und -abrechnung, der Produktionsplanung und weiteren wirt-
   schaftlichen und kaufmännischen, mathematisch noch kaum durchgearbeiteten
   Aufgaben dienen.“
Für Richard Courant, der als Leiter     des New Yorker „Institute for Applied
Mathematics“ auf einer Sitzung des      Forschungsrates des Landes Nordrhein-
Westfalen einen Gastvortrag hielt,      hing die Zukunft der Rechenanlagen
entscheidend von der Ausbildung         geeigneten Fachpersonals ab (Courant
1956, S. 16):
   „Leider gibt es noch bei weitem nicht die nötigen Menschen, welche nützlichen
   Gebrauch von diesen Maschinen machen können. Alles kommt darauf an, die
   technische Entwicklung einzuholen, indem man junge Talente und andere tüchtige
   Menschen zu Meistern heranbildet, welche diese Maschinen-Ungeheuer zähmen,
   steuern, beherrschen.“
Die Rechenmaschinen-Mathematiker werden als Retter in der
wissenschaftlich-technischen und damit gesellschaftlichen Notlage dargestellt:
Sie schaffen die Verbindung zwischen der neuartigen, leistungsfähigen
Rechentechnik und den gesellschaftlichen Problemstellungen.
   Das gleiche Motiv wurde auch bei der Einrichtung der Informatik
aufgegriffen. Wie oben ausgeführt, wurden die Artefakte der Informatik als
Hybridobjekte aufgefaßt. Daran geknüpft war die Annahme, daß
herkömmlichen Ingenieuren und reinen Mathematikern aufgrund ihrer
wissenschaftlichen Zugangsweise nur ein Aspekt dieser neuartigen Objekte
zugänglich sei. Als notwendig wurde ein ingenieurartiger Umgang mit
mathematisch-formalen Objekten angesehen. Gleichzeitig wurde dem Ausbau
der Daten- und Informationsverarbeitung eine besondere gesellschaftliche
Bedeutung beigemessen, der durch einen Mangel an geeigneten Fachkräften
ernsthaft gefährdet werden könnte. Dem Informatiker, konzipiert als ein in der
Mathematik verankerter „Ingenieur abstrakter Objekte“ (Zemanek 1971),
wurde in dieser kritischen Situation die Rolle des „deus ex mathematica“
zugewiesen.
Deus ex mathematica                                                                     17

   Ich habe bisher mit Absicht den Terminus „der Informatiker“ benutzt, denn
in den von mir untersuchten Dokumenten wird bis Ende der sechziger Jahre
für hochqualifizierte Fachkräfte ausschließlich die männliche Form benutzt.
Diese Sprechweise läßt sich nicht mit einem Hinweis auf den damals üblichen
Sprachgebrauch begründen, da für andere Berufsgruppen sowohl die
männliche als auch die weibliche Form Verwendung fand. Im Zusammenhang
mit Cremers Aussagen über „bedingte Befehle“ und die „Entscheidungen“
von Rechnerinnen und Rechnern hatte ich bereits dargestellt, daß die
menschliche Tätigkeit, die als in die Rechenautomaten integriert gesehen wur-
de, von den Autoren implizit als Frauenarbeit gekennzeichnet wurde. Als Re-
chenanlagen-Mathematiker, als Beherrscher der Rechenautomaten, werden
dagegen nur Männer vorgestellt. Das zeigt ein Blick in Berichte über die
geschlechtliche Rollenverteilung in konkrete Arbeitszusammenhängen.17
Walther berichtet beispielsweise vor dem Forschungsrat des Landes Hessen
über die Praxis in seinem Institut und präsentiert dazu einige aufschlußreiche
Fotos (Walther 1958, S. 21):
   „Die Bilder 8 bis 11 veranschaulichen, wie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
   meines Instituts praktisch vorgehen. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter legt zu
   einem gegebenen Problem die Rechenmethode fest, entwickelt sie vielleicht eigens
   neu und schreibt dann in einer oft mühsamen und langwierigen Arbeit das
   Programm auf Papier auf. Bei nicht zu schwierigen Aufgaben geschieht das durch
   einen Programmierer oder eine Programmiererin.“
Für den innovativen und anspruchsvollen Teil ist demnach ein Mann
zuständig, einfache Aufgaben werden Walther folgend mitunter auch an
Frauen deligiert. Er fährt fort (Walther 1958, S. 21f.):
   „In Bild 8 liest Gerti Diefenbach von einem Blatt das Programm und die Daten ab
   und stellt danach mit dem Motorlocher, der eine Tastatur ähnlich wie eine Schreib-
   maschine hat, die Lochkarten her. In Bild 9 werden sie durch Elke Geist in die
   Abfühleinrichtung des Eingabe- und Auslieferungsgerätes eingelegt. So wandern
   die Lochkarteninhalte auf die Magnettrommel. Sie befindet sich unten im
   zentralen Teil der IBM 650, an dem in Bild 10 Dipl.-Math. Gerhard Hund und
   Dipl.-Phys. Heinz Schappert beraten, ob alles in bester Ordnung ist. Nach Drücken
   des Startknopfes läuft die Rechnung ab, und das Gerät in Bild 9 stanzt die
   Ergebnis-Lochkarten. Diese werden durch Rose Maniel zur Tabelliermaschine in
   Bild 11 getragen und dort ausgedruckt.“
Die drei erwähnten Frauen werden an der Peripherie gezeigt, und sie werden
für einfache Tätigkeiten – ablesen, lochen, einlegen, tragen – eingesetzt. Die
beiden Männer, durch ihre Titel als Wissenschaftler apostrophiert, sind vor
dem als „zentral“ bezeichneten Bestandteil der Anlage, mit Bedienpult,
Kommandowerk und Rechenwerk, abgebildet. Auf dem Foto blicken sie sich
– eine Hand an einem Drehregler, eine andere Hand über einem
aufgeschlagenen Buch – lächelnd in die Augen. Sie sind untätig, aber ihnen
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wird die Verantwortung für das perfekte Funktionieren der gesamten Anlage
zugeschrieben.
    Diese Zitate veranschaulichen, in welch subtiler, sicherlich in den meisten
Fällen kaum intendierten           Weise    in    den      Publikationen    zur
Rechenanlagenforschung die Aussagen über technische Artefakte,
wissenschaftliche Konzepte und Tätigkeitsfelder mit anderen gesellschaft-
lichen Diskursen verflochten wurden. In den letzten Beispielen habe ich das
im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht illustriert, doch es lassen sich auch
Verbindungen zu anderen Diskursen aufzeigen, beispielsweise zum Körper-,
Sprach-, und Formalisierungsdiskurs. Die aus dieser diskursiven Verflechtung
hervorgegangenen        Orientierungsmuster      und       Sinnzuschreibungen
dokumentieren sich in der Vorstellung von Hybridobjekten und haben auf
diese Weise die Informatik als Wissens- und Handlungsfeld mitgeformt.

Literatur

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   Entwicklung der Datenverarbeitung in der Bundesrepublik Deutschland.
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   Einführung eines neuen Studiengangs Informatik. Überregionales
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Deus ex mathematica                                                                                     17

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   DFG, 3, S. 1-10.
Eulenhöfer, Peter (1996): Leitbilder in der Genese der Theorie der
   Programmiersprachen? In: Hellige, Hans Dieter (Hrsg.): Technikleitbilder auf
   dem Prüfstand. Berlin, S. 99-119.
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Petzold, Hartmut (1992): Moderne Rechenkünstler. Die Industrialisierung der
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Pösch, Heinrich (1947): Eine automatische Rechenmaschine mittels Röhren.
   In: Zeitschrift für angewandte Mathematik und Mechanik, 25-27, S. 140-
   141.
Stoltenberg, Gerhard (1968): Großzügige Förderung der Datenverarbeitung.
   In: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 94,
   S. 809-811.
Walther, Alwin; Dreyer, Hans-Joachim (1953): Grundzüge und Besonderheiten
   der Darmstädter Rechenautomaten-Entwicklung. In: Biermann, Ludwig
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Walther, Alwin (1958): Bedeutung und Auswirkung der modernen
   Rechenanlagen. 5. Veröffentlichung des Forschungsrates des Landes
   Hessen. Bad Homburg.
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Zuse, Konrad (1953): Über programmgesteuerte Rechengeräte für industrielle
   Verwendung. In: Cremer, Hubert (Hrsg.): Probleme der Entwicklung
   programmgesteuerter Rechengeräte und Integrieranlagen. Aachen. S. 57-
   75.

1
         Als Beispiel sei nur die kleine Bundestagsanfrage an den Bundesminister für Bildung und Wis-
senschaft aus dem Jahr 1970 genannt, in der unter anderem gefragt wurde (Bundestagsdrucksache
VI/1396): „Wird die Bundesregierung darauf hinwirken, daß bei der Festlegung des Studiengangs
Informatik die von den Datenverarbeitungsanwendern in Wirtschaft und Verwaltung gewünschte
Anwendungsorientierung dieses Ausbildungsganges nicht zu kurz kommt?“
Deus ex mathematica                                                                                       17

2
          Die 1968/69 formulierten GAMM/NTG-Empfehlungen zur Informatikausbildung der Gesell-
schaft für Angewandte Mathematik und Mechanik und der Nachrichtentechnischen Gesellschaft sind
beispielsweise auch noch im 1996 neu bearbeiteten Studienführer Informatik abgedruckt.
3
          Da ich bei meinen Recherchen zur Rechenanlagenforschung und frühen Informatik in der
Bundesrepublik Deutschland nur auf Publikationen von Männern gestoßen bin, verwende ich mit
Absicht die männlichen Sprachformen.
4
          Zum Begriff des Orientierungsmuster vergleiche den Beitrag von Bohnsack in diesem Band.
5
          Der Begriff Hybridobjekt ist das Ergebnis der Analyse einer Reihe von Texten aus unter-
schiedlichen Bereichen des Wissens- und Technikfeldes Informatik. Die Hybridsicht läßt sich
keineswegs nur in der bundesdeutschen Debatte im Vorfeld der Informatik beobachten. Mit
Hybridobjekten in der US-amerikanischen Diskussion, insbesondere in von Neumanns Arbeiten, befaßt
sich Stach in ihrem Beitrag zu diesem Band.
6
          Vergleiche dazu die Arbeiten von Katharina Schmidt-Brücken und Heike Stach in diesem Band.
7
          Anfang der fünfziger Jahre wurde in der bundesdeutschen Rechenautomaten-Diskussion auf das
Gebiet der mathematischen Logik kaum Bezug genommen. Insbesondere fanden diejenigen formal-
logischen Arbeiten, die heute von vielen als theoretische Vorwegnahme des Computers eingeschätzt
werden, beispielsweise die von Turing aus dem Jahr 1936, keine Erwähnung. Eine Ausnahme bildet die
Arbeit von Pisula (1953), in der Analogien zwischen den sogenannten Turingmaschinen und den damals
in Göttingen konstruierten Rechenanlagen konstatiert werden, allerdings auf eine andere Weise als heute
in der Informatik üblich. Die nachträgliche Konstruktion einer formal-logischen Vorgeschichte muß
jedoch als ein wesentliches Element der Herausbildung eines disziplinären Selbstverständnisses der
Informatik interpretiert werden.
8
          Die gesamte Kybernetik-Diskussion wurde von den bundesdeutschen Rechenautomaten-
Akteuren mit großer Skepsis rezipiert und bleibt in ihren Publikationen im wesentlichen unbe-
rücksichtigt. Es dürfte sich lohnen, diese Differenz in den Wissenskulturen genauer zu beleuchten.
9
          Während das Kommandowerk durchgängig mit dem menschlichen Steuern des Rechenablaufs,
das Eingabewerk mit dem Eingeben, das Auslieferungswerk mit dem Aufschreiben identifiziert wurde,
führte man für das Speicherwerk unterschiedliche Analogien an: Teilweise wurde es mit dem beim
Rechnen verwendeten Blatt Papier identifiziert, teilweise mit dem menschlichen Gedächtnis.
10
          Die Frage, ob die programmgesteuerten Rechenautomaten elektronisch oder elektromechanisch
realisiert waren, ob sie dezimal oder dual arbeiteten, ob das Programm im Speicher abgelegt war oder
durch ein externes Band gegeben wurde, waren dem nachgeordnet und bei der Sinngebung in den fünf-
ziger Jahren weniger relevant. Größere Bedeutung hatte dagegen die Unterscheidung von digitalen und
analogen Rechengeräten, auf die an dieser Stelle aber nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. dazu
Petzold 1992).
11
          Vergleiche zu diesen Analogien den Beitrag von Stach in diesem Band.
12
          Ein aufschlußreiches Beispiel für diese Verquickung von Mensch, Maschine und Mathematik
liefern die in der Umgangssprache verbreiteten Worte „Rechner“ bzw. „Computer“. Bis in die fünfziger
Jahren wurden ausschließlich rechnende Menschen auf diese Weise tituliert. Heute ist es eine übliche
Bezeichung für die technischen Artefakte, obwohl für die meisten Benutzerinnen und Benutzer kein
Rechenvorgang mehr beobachtbar ist. Charakteristischerweise ist dieser Begriff, der in geradezu
selbstverständlicher Weise sowohl für Menschen als auch für Maschinen benutzt wird, ein ursprünglich
mathematischer Terminus.
13
          Dazu paßt, wie die Informatik von ihren Protagonisten in die Wissenschaftslandschaft einge-
ordnet wurde. Besonders prägnant drückt das Bauer (1974, S. 336) mit seiner Charaktersierung der
Informatik als „Ingenieur-Geisteswissenschaft (oder eine Geistes-Ingenieurwissenschaft, wem das besser
gefällt)“ aus.
14
          Immer wieder findet sich in Texten, die der Vorgeschichte der Informatik zugerechnet werden,
eine Verquickung von Mensch, Maschine und Mathematik. Dabei werden Analogien zwischen Mensch
und Maschine selten direkt formuliert, sondern in mathematischer Form. Der Mathematik scheint in
diesen Fällen die Funktion eines „ethischen Filters“ zuzukommen: Auf diese Weise konnten die
bundesdeutschen Rechenautomatenforscher die für das Gebiet konstitutiven Mensch-Maschine-Analo-
gien wissenschaftlich und seriös formulieren, ohne auf die hierzulande zunächst weitgehend tabuisierten
kybernetischen oder neurophysiologischen Konzepte zurückzugreifen.
15
          Diese materielle Deutung eines Symbolsystems belegt erneut die Flexibilität im Umgangen
mit fundamentalen Dichotomien, die den Diskurs zu Rechenautomaten und zur Informatik kennzeichnet.
16
          Auffällig ist die, auch in den obigen Zitaten verwendete, militärisch anmutende Metaphorik.
Probleme werden „an vorderster Front der Forschung“ „angegriffen“, Rechenanlagen „halten Einzug“
und dergleichen mehr. Die programmgesteuerten Rechenanlagen erscheinen dadurch als eine neue
Deus ex mathematica                                                                                   17

Waffengattung im Kampf gegen bisher unangreifbare Aufgaben und im Wirtschaftskampf gegen andere
Nationalökonomien.
17
         Eine solche Rollenzuschreibung ist freilich nicht nur im Bereich des „Elektronischen Rech-
nens“ offensichtlich.
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