"Wann aber wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben?" Das Beispiel Walter Benjamin - Ingenta Connect

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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 126–132
Erdmut Wizisla

„Wann aber wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben?“
Das Beispiel Walter Benjamin
Die Fotografin Gisèle Freund hat Walter Benjamin 1937 in einem Katalograum der Biblio-
thèque Nationale in der Rue de Richelieu in Paris aufgenommen. Benjamin steht vor einem
Regal und beugt sich über einen der großformatigen Katalogbände. Er führt das Buch nahe
an sein Gesicht und legt den Finger auf die Seite, um die Zeile nicht zu verlieren. Oder er
sitzt an einem Arbeitstisch und studiert einen der Folianten des Bandkatalogs, in den, wie
zu sehen ist, jeweils vier Karteikarten übereinander eingebunden sind. Unter den Augen der
befreundeten Fotografin lässt Benjamin die Karteikarten durch die Hände gleiten, sucht
einen Titel und überträgt die Daten auf ein Blatt, das neben dem Katalog liegt.1
   Benjamin, der Abenteurer an den Grenzen von Wissenschaft und Künsten, pflegte
einen vertrauten Umgang mit Katalogen: mit den Findhilfsmitteln öffentlicher Biblio-
theken in Berlin, Freiburg, Bern, München, Paris, Pontigny und anderen Häusern, die
dem Wissenschaftler und passionierten Bibliographen seine Studien ermöglichten, mit
Auktionskatalogen, in denen der Büchersammler Objekte seiner Begierde aufstöberte,
mit Werkverzeichnissen, die dem Kritiker Eindrücke künstlerischen Schaffens vermit-
telten, mit Katalogen von Ausstellungen, die der Rezensent besuchte, vor allem aber mit
Verzeichnissen, Listen und Aufstellungen, mit denen der Archivar seiner eigenen Arbeit
systematisierend begegnete.
   Was ein Katalog ist, dürfte bereits dem Heranwachsenden vertraut gewesen sein. Sein
Vater war Teilhaber des Auktionshauses Lepke, worauf Benjamin in seiner Berliner Kindheit
um neunzehnhundert zu sprechen kommt. Besonders der auf dem heimischen Schreibtisch
abgelegte Hammer, mit dem Emil Benjamin den Zuschlag erteilte, beeindruckte den Sohn.2
Später lernte Walter Benjamin nach und nach andere Funktionen von Katalogen kennen.
Dem Metier des Vaters blieb er jedoch treu. Als Sammler von Büchern, vor allem seltenen
Kinderbüchern, erfuhr er, wie genau Angebote von Händlern studiert werden müssen,
damit sie ihr Geheimnis preisgeben. In seinem Feuilleton Ich packe meine Bibliothek aus
gab Benjamin im Juli 1931 in der Literarischen Welt einen Bericht vom Glück des Suchens
und Findens. Sein Text betont die Bedeutung von Auktionskatalogen und verrät zugleich,
welch ein versierter Leser von derartigen Publikationen dieser Sammler war:

       Von den wichtigsten Ankäufen geht freilich über den Besuch eines Händlers gewiß nur ein Teil.
       Kataloge spielen eine viel größere Rolle. Und wenn der Käufer ein Buch, das er so nach dem
       Katalog bestellt, auch noch so gut kennt: das Exemplar bleibt immer eine Überraschung und der
       Bestellung immer etwas vom Hasard. Da gibt es neben empfindlichen Enttäuschungen die beglü-
       ckenden Funde. So entsinne ich mich, eines Tages ein Buch mit farbigen Bildern für meine alte
       Sammlung von Kinderbüchern nur darum bestellt zu haben, weil es Märchen von Albert Ludwig

1   Kostas, Frecot (2014, 92–96).
2   Benjamin (2019, Bd. 11.1, 48–50, 249 f., 366).

© 2022 Erdmut Wizisla - http://doi.org/10.3726/92171_126 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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       Grimm hatte und sein Erscheinungsort Grimma in Thüringen war. Aus Grimma aber stammte ein
       Fabelbuch, das eben dieser Albert Ludwig Grimm herausgegeben hatte. Und dieses Fabelbuch war
       in dem Exemplar, das ich besaß, mit seinen 16 Bildern das einzige erhaltene Zeugnis der Anfänge
       des großen deutschen Illustrators Lyser, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Hamburg
       gelebt hat. Nun, meine Reaktion auf den Zusammenklang der Namen war präzis gewesen. Auch
       hier wieder entdeckte ich Arbeiten von Lyser, und zwar ein Werk – „Linas Mährchenbuch“ – das
       allen seinen Bibliographen unbekannt geblieben ist und einen ausführlicheren Hinweis als diesen,
       den ersten, den ich darauf gebe, verdient.3

Geld und Sachkunde seien beim Bucherwerb wichtig, meinte Benjamin, aber nicht nur sie:

       Wer nach Katalogen kauft, muß zu den genannten Dingen noch eine feine Witterung besitzen.
       Jahreszahlen, Ortsnamen, Formate, Vorbesitzer, Einbände usw., all dieses muß ihm etwas sagen
       und nicht nur so im dürren Anundfürsich, sondern diese Dinge müssen zusammenklingen und
       nach der Harmonie und Schärfe des Zusammenklangs muß er erkennen können, ob so ein Buch
       zu ihm gehört oder nicht. – Wieder ganz andere Fähigkeiten sind es, die eine Auktion vom
       Sammler verlangt. Zum Katalogleser muß das Buch allein und allenfalls sein Vorbesitzer, wenn
       die Provenienz des Exemplares feststeht, sprechen.4

Dieses Erfahrungswissen war Benjamin nützlich, als er und seine Frau Dora Sophie eine
Zeitlang versuchten, ihre Existenz durch Erwerb und Verkauf seltener Titel zu sichern.
Seinem Verleger Richard Weißbach schrieb er am 23. März 1923: „Im übrigen bin ich
mit dem Katalog meines kleinen Bücherlagers beschäftigt, den ich in Gemeinschaft mit
meiner Frau verfertige und den ich Ihnen zur Einsicht oder Überreichung an Interessenten
seinerzeit zusenden werde.“5
    Bibliothekskataloge und Bibliographien hatten eine zentrale Bedeutung für die wissen-
schaftliche Arbeit Benjamins als Kritiker der Kunst, als Historiker der Literatur und als
Sammler und Deuter geschichtlicher Zeugnisse. Die Dissertation enthält, wie es üblich
ist, ein „Verzeichnis der zitierten Schriften“.6 Im Nachlass sind zu beinahe allen Projekten
unzählige Blätter mit bibliographischen Daten überliefert, oft mit Signaturen von Biblio-
theken in Berlin oder Paris versehen, manchmal in Notizbüchern versammelt, zuweilen in
Briefumschlägen konzentriert. Benjamin notierte Titel zu lesender und zu besprechender
Bücher, er stellte Listen von Projekten auf, ein Notizbuch enthält ein „Verzeichnis Curioser
Buchtitel“7. Zu Recht und nicht ohne List riet ihm Bertolt Brecht, Tätigkeiten wie diese als
Berufsbezeichnung anzugeben. Nachdem Benjamin im März 1933 Deutschland verlassen
hatte, drohte ihm durch die Nichtaufnahme in die Reichsschrifttumskammer der Verlust
jeder Publikationsmöglichkeit. „Lieber Benjamin“, schrieb Brecht ihm Mitte Januar 1934,
„meines Erachtens sollten Sie immer wieder darauf bestehen, daß Sie Bibliograph, das ist
Wissenschaftler, sind, und sich erkundigen, ob es dafür einen Verband gibt, dem Sie bei-
treten können. Damit gewinnen Sie mindestens Zeit.“8

3   Benjamin (1972, Bd. IV.1, 391 f.).
4   Benjamin (1972, Bd. IV.1, 392).
5   Benjamin (1996, Bd. II, 327).
6   Benjamin (2008a, Bd. 3, 132–134).
7   Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv 325/73v u. 72v.
8   Brecht (1998, Bd. 28, 404).

Peter Lang                                                     Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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   Brecht wusste vermutlich, dass Benjamin eine Zeit lang nebenher einer Beschäftigung
als Bibliograph nachgegangen war, ging es doch um die Sammlung des Rechtsanwalts
Martin Domke, dem sowohl Benjamin als auch Brecht verbunden waren. In einem Brief an
Gershom Scholem vom 3. Oktober 1931 machte Benjamin Mitteilung über diese Tätigkeit:

        Und, da wir beim Bibliographischen sind, zum Schluß noch eine erfreuliche, aber mit äußerster
        Diskretion zu behandelnde Tatsache: der größte deutsche Lichtenbergsammler hat mich, gegen ein
        monatliches Entgelt, mit der Durchführung einer von ihm begonnenen aber nicht abgeschlossenen
        Lichtenberg-Bibliographie betraut. Zweimal wöchentlich arbeite ich ein paar Stunden in seiner
        Bibliothek. Den von mir angelegten Zettelkatalog müßtest Du sehen. Da ist denn wenigstens eine
        meiner jüdischen Passionen – leider die belangloseste – zu ihrem Recht gekommen und, wie Du
        zugeben wirst, am würdigsten Gegenstande. Ich glaube, der Katalog wird ein Wunderwerk, das
        man unter den Juden öffentlich zeigen kann, etwa wie eine Synagoge aus Strohhalmen.9

Mit ‚jüdische Passion‘ spielte Benjamin darauf an, dass Notieren, Verzetteln, Katalogisieren
und natürlich Kommentieren unter Juden als genuin jüdische Arbeiten galten. In Benjamins
weiterem Familienkreis verwendete man liebevoll den Ausdruck ‚jüdische Zettelwirtschaft‘.
Das erinnert an Benjamins Klage darüber, dass, wie er sagte, „die endliche Sammlung
meiner unendlich verzettelten Produktion weniger absehbar, ja unwahrscheinlicher als
jemals“ erschien.10 Im Bild von der „Synagoge aus Strohhalmen“ drückt sich ebenfalls eine
zarte Distanz zum eigenen Handeln aus: Die bibliographische Kartei wäre wie das Modell
des Gotteshauses Ergebnis enormer Mühsal, zugleich fragil und von kurzer Haltbarkeit.
   So nützlich sie beim Erkennen künstlerischer und wissenschaftlicher Leistungen anderer
sein konnten, für Benjamin spielten Kataloge zudem eine besondere Rolle in Bezug auf die
eigene Arbeit, der er wie ein fachkundiger Archivar und Bibliograph begegnete. In einem
Brief an Scholem vom 28. Oktober 1931 benannte er die Haltung und den Anspruch des
Selbst-Dokumentaristen so: „archivalische Exaktheit, mit der ich alles von mir Gedruckte
verwahre und katalogisiere“11. Benjamin führte Inhaltsverzeichnisse und notierte Titel
von Texten, die als Sammlung erscheinen sollten, wie die „Nachtragliste“ zu seinem Buch
Einbahnstraße oder Serien von Briefen für die Anthologie Deutsche Menschen.12
   Er archivierte seine Korrespondenz. Ein Gegenstand katalogisierender Anstrengungen
war seine eigene Büchersammlung: „Komme ich dann nach Berlin, so steht auf meinem
Programm unter anderem eine Generalrevision meiner Bibliothek an Hand des endlich aus-
gearbeiteten Zettelkataloges.“13 Benjamin dokumentierte sein Tun, indem er ein „Verzeichnis
der gelesenen Schriften“14 führte, zudem eine Bibliographie seiner Veröffentlichungen,

 9 Benjamin (1998, Bd. IV, 55). Die Lichtenberg-Kartei befindet sich in der Benjamin-Sammlung der Universi-
   tätsbibliothek Gießen, vgl. Reuter (2013).
10 Benjamin (1999, Bd. V, 47), an G. Scholem, 22.2.1935. – Zum Ausdruck ‚jüdische Zettelwirtschaft‘ verwies
   Jean-Gil Chodziesner-Bonne, ein Verwandter von Benjamins Cousine Gertrud Kolmar, auf seine Tante Käte,
   von der zu jedem denkbaren Thema ständig kleine Zettel überall in der Wohnung verteilt waren. (Vgl. E-Mail
   an Erdmut Wizisla, 30.6.2006.)
11 Benjamin (1998, Bd. IV, 60).
12 Benjamin (2009, Bd. 8, 81), Benjamin (2008b, Bd. 10, 111–112).
13 Benjamin (1997, Bd. III, 198), an G. Scholem, 18.9.1926.
14 Benjamin (1989, Bd. VII.1, 437–476).

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das „Verzeichnis meiner gedruckten Arbeiten“, das im Nachlass sowohl handschriftlich
als auch in einer von ihm in Auftrag gegebenen maschinenschriftlichen Kartei überliefert
ist.15 Einem Lebenslauf von 1928 liegt ein „Verzeichnis meiner wissenschaftlichen Arbeiten
und Aufsätze“ bei.16 Dass Benjamin, als er Paris verlassen musste, einen Teil seines Archivs
in die Bibliothèque Nationale brachte, damit Mitarbeiter ihn dort verstecken konnten, ist
konsequent und zeigt das Vertrauen in die Institution Bibliothek noch unter widrigsten
Umständen. Seine Hinterlassenschaft ist katalogartig überliefert.
    Benjamins Arbeit ist nicht denkbar ohne Kataloge, unabhängig davon, ob es um Ord-
nungssysteme, Kompendien des Wissens, bibliographische Nachschlagewerke oder anderes
geht. Sein Werk ist bezogen auf Texte der Vergangenheit und Gegenwart und auf andere
Quellen. Kataloge wiesen ihm den Weg zur Literatur des Barock, der Frühromantik, der
Goethezeit, des Surrealismus, zu den Schriften von und über Baudelaire, Valéry, Gide,
Hebel, Keller, Kraus, Kafka und Brecht, um nur einige zu nennen. Es ist alles andere als
Zufall, dass die erste schicksalhafte Begegnung mit Gershom Scholem im Katalogzimmer
der Universitätsbibliothek in Berlin stattfand.17 Für die Recherchen zu seiner Passagen-
arbeit, die 1927 begannen, nutzte Benjamin später die Bibliothèque Nationale, um dort
Forschungsliteratur, Stadtbeschreibungen, Reiseberichte, Memoiren, Zeitschriften, Zeich-
nungen, Karikaturen, Stiche, Plakate, Werbematerial und vieles mehr in den Katalogen
entdecken und studieren zu können.
    In einigen Besprechungen hat Benjamin zu erkennen gegeben, welche Eigenschaften
ein idealer Katalog für ihn haben muss. Und welchen Anspruch er an Kataloge legte.
Über den dreibändigen Katalog der Sammlung Kippenberg (Leipzig 1928) schrieb er: „Der
großartig ausgestattete Katalog ist eine Art Kulturgeschichte der oberen Zehntausend des
Deutschland um die Wende des 18. Jahrhunderts.“18 Ähnlich emphatisch äußerte er sich
über ein Standardwerk zur Kunst der Antike, Recueil d’antiquités égyptiennes, étrusques,
grecques et romaines von Anne-Claude-Philippe, Comte des Caylus (Paris 1752–1767):
„Der siebenbändige Katalog, den im folgenden Jahrhundert der Graf Caylus von seinen
Sammlungen herausgebracht hat, ist die erste große Leistung der Archäologie.“19 Dass das
Verzeichnis einer Sammlung und nicht eine wissenschaftliche Abhandlung als erste Leistung
einer Disziplin aufgeführt wird, würdigt die katalogisierende Tätigkeit als Arbeit eigenen
Werts, es ist keine Zuarbeit.
    Benjamins Urteile über Kataloge, so beiläufig und anlassbezogen sie auch sein mögen,
entsprechen dem Ethos seines philosophischen Denkens und Schreibens, das auf Inspi-
ration setzt, auf die Erkenntnis der Gegenwart gerichtet ist und alles in Verbindung zu
bringen sucht – so wie Benjamins Texte rhizomartig miteinander verwoben sind. Als er
Ende 1927 Siegfried Kracauer, dem Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung, anbot,
eine Spielzeug-Ausstellung zu besprechen, lief das auf einen für unsere Zusammenhänge
bemerkenswerten Gattungshinweis hinaus:

15   Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv 427/1–11, 1450/1–15.
16   Benjamin (1985, Bd. VI, 773 f.).
17   Scholem (1975, 13).
18   Benjamin (2011, Bd. 13.1, 354).
19   Benjamin (1977, Bd. II.2, 502 f.), im Essay Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker (1937).

Peter Lang                                                           Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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        Das Märkische Museum hat vor drei Tagen eine Sonderausstellung „Das Kind“ eröffnet. Sie ist
        ausgezeichnet, umfaßt Puppentheater, Guckkästen, Puppen, Kinderbücher, Gesellschaftsspie-
        le Berliner Provenienz oder Märkischer Herkunft. Darüber würde ich Ihnen sehr gern etwas
        schreiben: und was man im Französischen einen „Catalogue raisonnée“ nennt, machen. Wobei
        das Raisonnement, wie Sie vermuten werden, nicht psychologisch (an der „Kinderseele“) sondern
        sachlich (am Spielzeug) orientiert ist. Vielleicht erinnern Sie sich meiner Glossen „Verstecktes
        Kind“, „Naschendes Kind“ etc., und wissen dann, wie das gemeint ist.20

Mit einer bloßen Anzeige wollte der Rezensent es nicht bewenden lassen. Die Exponate waren
eine Expedition wert – ein kritisches Werkverzeichnis, das zu einem Organon der Erkenntnis
werden könnte. Das zeigt sich auch in einem Brief, in dem Benjamin gegenüber Kracauer
begründete, warum er sich bei dem Bericht nicht an die Umfangsvorgabe halten konnte:

        Wenn er ein wenig ausführlicher ist als Sie ihn erbaten, so nur darum, weil ich der Frankfurter Zei-
        tung nichts rein Inventarisierendes geben wollte und unterm Schreiben mir gegenwärtig zu halten
        suchte, wo eine Arbeit, die über das Gelegentliche hinausginge, später einmal anknüpfen müßte.21

Die Abwehr des Buchhalterischen, lediglich Repetierenden ging einher mit dem Wunsch
nach einer vitalen Verknüpfung von Leben und Wissen. Und mit einem Vorgriff auf später
zu Entwickelndes.
   In der Besprechung der Spielzeug-Ausstellung, die im März 1928 in der Frankfurter Zei-
tung erschien, definierte Benjamin, was ein Katalog sein soll – dabei ist nicht ohne Ironie,
dass die Publikation zur Spielzeug-Ausstellung, um die es ging, lediglich 30 Seiten umfasste:

        All dies oft entlegene Detail stellt ein lebendigeres Gesamtbild, als eine systematischer gefügte
        Ausstellung es zu geben vermöchte. Und dieselbe glückliche Hand wie im Saal ist im Katalog zu
        spüren: kein totes Verzeichnis von Ausstellungsgegenständen, sondern ein zusammenhängender
        Text voll präziser Nachweise zu den einzelnen Stücken, aber auch mit genauen Angaben über
        Alter, Herstellung und Verbreitung ganzer Gruppen von Spielwaren.22

Benjamin war außerstande, Kataloge auf ihre Brauchbarkeit zu reduzieren. Kataloge waren
für ihn nichts Akzidentielles, nie bloßes Hilfsmittel. Was er über Bibliographien innerhalb
der Geisteswissenschaften schrieb, lässt sich auf Kataloge übertragen:

        Die Bibliographie ist gewiß nicht der geistige Teil einer Wissenschaft. Jedoch sie spielt in ihrer
        Physiologie eine zentrale Rolle, ist nicht ihr Nervengeflecht, aber das System ihrer Gefäße. Mit
        Bibliographie ist die Wissenschaft groß geworden, und eines Tages wird sich zeigen, daß sogar
        ihre heutige Krisis zum guten Teile bibliographischer Art ist.23

Kataloge, aber auch die Tätigkeit des Katalogisierens waren Voraussetzungen für Benjamins
Schreiben. Zugleich strukturieren sie seine Arbeit – nicht nur als substantielles Gerüst, son-
dern als elementares Prinzip. Sein unvollendet gebliebenes Hauptwerk, die Passagenarbeit, ist

20   Benjamin (1997, Bd. III, 315 f.), 21.12.1927.
21   Benjamin (1997, Bd. III, 334), 15.2.1928.
22   Benjamin (1972, Bd. IV.1, 511).
23   Benjamin (2011, Bd. 13.1, 146).

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ein Archiv historischer Zeugnisse, Dokumente, Eintragungen, Reflexionen, Erinnerungen,
Beschreibungen von Kunstwerken, Werken der Alltagskultur, der Werbung, der Technik.
Wie seine Figur des Lumpensammlers, des Chiffonniers, der „provokatorischste[n] Figur
menschlichen Elends“,24 liest Benjamin Bruchstücke der Vergangenheit auf, katalogisiert
und wendet sie, prüft sie auf ihre Verwendbarkeit und fügt sie in neue Zusammenhänge
ein: „Voici un homme chargé de ramasser les débris d’une journée de la capitale. Tout ce
que la grande cité a rejeté, tout ce qu’elle a perdu, tout ce qu’elle a dédaigné, tout ce qu’elle
a brisé, il le catalogue, il le collectionne.“25
   Das umfangreiche Manuskript der „Urgeschichte des 19ten Jahrhunderts“26 wird durch
ein Register eröffnet. Strukturiert wird das Reservoir durch ein System von Siglen und
Zeichen, das der Klassifikation eines Bibliothekskataloges verwandt ist. Das Wissen der
Moderne soll gezeigt werden. Benjamins Denken und Schreiben wäre von seiner Idee des
Kataloges her zu begreifen: vom Sammeln, Systematisieren, Hinführen, Öffnen, Verbinden,
vom Unabschließbaren.
   In seinem Buch Einbahnstraße dachte Benjamin über die Beziehung zwischen dem
Buch und der wissenschaftlichen Kartei resp. dem Katalog nach – in einer Weise, die die
Transformation der Wissenssysteme unserer Tage zu antizipieren scheint. In dem Abschnitt
VEREIDIGTER BÜCHERREVISOR lautet ein in Parenthese gesetzter Gedanke:

       (Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine
       veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartothekssystemen. Denn alles Wesentliche
       findet sich im Zettelkasten des Forschers, der’s verfaßte, und der Gelehrte, der darin studiert,
       assimiliert es seiner eigenen Kartothek.)27

Es ist keine Infragestellung des Kulturgutes Buch, sondern der Wunsch nach einer Überprü-
fung der Wege des Wissens – und damit eine unüberhörbare Frage nach dem Sinn der eigenen
Arbeit. Benjamin fordert flexible Formen der Informationsweitergabe, das ist ein Vorgriff auf
das Computerzeitalter.28 Unter dem Stichwort LEHRMITTEL (ebenfalls in Einbahnstraße)
entwickelt er eine Vision: „Das Durchschnittswerk des heutigen Gelehrten will wie ein Ka-
talog gelesen sein. Wann aber wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben?“29
   Bücher, die wie Kataloge geschrieben sind, wären also keine bloßen Verzeichnisse, sondern
sie stellten Zusammenhänge her, sie beschränkten sich nicht auf Inventarisierung, sondern
stießen in Grundlegendes vor, sie wären systematisch, enzyklopädisch und materialgesät-
tigt, aber eben vor allem ergänzungswürdig und in einem künstlerischen Sinne Ausdruck
lebendigen Denkens und Seins.

24 Benjamin (1982, Bd. V.1, 441).
25 Benjamin (1982, Bd. V.1, 441): „Hier ist ein Mann, der die Aufgabe hat, die Trümmer eines Tages in der
   Hauptstadt aufzusammeln. Alles, was die große Stadt verworfen hat, alles, was sie verloren hat, alles, was sie
   verschmäht hat, alles, was sie zerbrochen hat, katalogisiert er, sammelt er.“ (Herv. i. Orig.)
26 Benjamin (1982, Bd. V.1, 140).
27 Benjamin (2009, Bd. 8, 30).
28 Im folgenden Abschnitt LEHRMITTEL formuliert Benjamin einen Gedanken, der gerade zwingend an Schreib-
   computer denken lässt: „Vermutlich wird man dann neue Systeme mit variabler Schriftgestaltung benötigen.“
   (Benjamin [2009, Bd. 8, 32]).
29 Benjamin (2009, Bd. 8, 32).

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Literaturverzeichnis

Benjamin, Walter (1972): Gesammelte Schriften, Bd. IV. Hrsg. v. T. Rexroth. Frankfurt a. M.
– (1977): Gesammelte Schriften, Bd. II. Hrsg. v. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.
– (1982): Gesammelte Schriften, Bd. V. Hrsg. v. R. Tiedemann. Frankfurt a. M.
– (1985): Gesammelte Schriften, Bd. VI. Hrsg. v. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.
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– (1996): Gesammelte Briefe, Bd. II. Hrsg. v. C. Gödde, H. Lonitz. Frankfurt a. M.
– (1997): Gesammelte Briefe, Bd. III. Hrsg. v. C. Gödde, H. Lonitz. Frankfurt a. M.
– (1998): Gesammelte Briefe, Bd. IV. Hrsg. v. C. Gödde, H. Lonitz. Frankfurt a. M.
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– (2008a): Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3: Der Begriff der Kunstkritik in der
  deutschen Romantik. Hrsg. v. U. Steiner. Frankfurt a. M.
– (2008b): Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10: Deutsche Menschen. Hrsg. v. M.
  Brodersen. Frankfurt a. M.
– (2009): Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8: Einbahnstraße. Hrsg. v. D. Schött-
  ker. Frankfurt a. M.
– (2011): Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13: Kritiken und Rezensionen. Hrsg.
  v. H. Kaulen. Berlin.
– (2019): Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 11: Berliner Chronik / Berliner Kindheit
  um neunzehnhundert. Hrsg. v. B. Lindner, N. Werner. Berlin.
Brecht, Bertolt (1998): Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 28: Briefe
  1. Bearb. v. G. Glaeser. Berlin u. a.
Kostas, Gabriele, Janos Frecot (2014): Gisèle Freund. Fotografische Szenen und Porträts. Berlin.
Reuter, Peter (2013, 17–27, 180–184): Nur Buchtitel? Walter Benjamins Lichtenberg-Bibliographie.
  In: Zettelkästen. Hrsg. v. H. Gfrereis, E. Strittmatter. Marbach a. N.
Scholem, Gershom (1975): Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a. M.

Abstract

Walter Benjamin hatte eine enge Beziehung zu Katalogen: Er nutzte die Findhilfsmittel öffentlicher
Bibliotheken, er studierte Auktionsverzeichnisse, er besprach Ausstellungskataloge. Als Archivar seiner
eigenen Arbeit fertigte er Kataloge seiner Texte, Projekte, Briefschaften und Buchbestände an. Der
Aufsatz zeigt, dass Kataloge nicht nur eine Voraussetzung von Benjamins Arbeit waren, sondern dass
sein Schreiben katalogisch ist – als lebendig gewordene Durchdringung seiner Materialsammlungen.

Walter Benjamin had a close relationship with catalogues: he used the catalogues of public libraries, he
studied auction lists, he reviewed exhibition catalogues. As an archivist of his own work, he produced
catalogues of his texts, projects, correspondence, and of his library. The essay shows that catalogues were
not only a prerequisite of Benjamin’s work, but that his writing is catalogue-like – as a living penetration
of his collections of material.

Keywords: Bibliothek, Bibliographie, Einbahnstraße, Katalog, Walter Benjamin

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Erdmut Wizisla, Akademie der Künste, Walter
Benjamin Archiv, Luisenstraße 60, D–10117 Berlin, 

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                             Peter Lang
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