Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Was haben die
                Wüstenväter der
                modernen
                Psychiatrie zu
                sagen?

             Daniel Hell

             Liebfrauenkirche Zürich

             4.7.2016
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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Zwei Vorläufer des heutigen Depressionskonzeptes

    Melancholie Konzept der antiken Bürgerärzte
                (nach Hippokrates)

    Akedia       Konzept der Wüstenväter (v.a. Evagrius
                 Ponticus) und abgewandelt des Mittelalters

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Vier-Säfte-Lehre
                   Warm

Feucht                    Trocken

                   Kalt

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Zwei Vorläufer des heutigen Depressionskonzeptes

    Melancholie Konzept der antiken Bürgerärzte
                (nach Hippokrates)

    Akedia       Konzept der Wüstenväter (v.a. Evagrius
                 Ponticus) und abgewandelt des Mittelalters

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Depressionsmodell von Sigmund Freud

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Erfahrung der Wüstenväter

„Der Überdruss ist eine gleichzeitige, lang dauernde

Regung von Zorn und Begehren, wobei der Zorn

über das Vorhandene wütend ist, das Begehren aber

sich nach dem nicht Vorhandenen sehnt.“

                                            Evagrius Ponticus

Bild vom Lasttier, das von vorne (vom Begehren) gezogen und

von hinten mit Schlägen (vom Zorn) traktiert wird.

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Depressionsmodell der kognitiven
Verhaltenstherapie

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
Übersicht

1. Wer waren die Wüstenväter/-mütter und wie
   haben sie „therapeutisch“ gewirkt?

2. Warum sind die Wüstenväter/-mütter für
  Psychologie und Psychiatrie interessant?

3. Wie sind die Wüstenväter/-mütter mit
  depressiven Stimmungen umgegangen?

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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
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Herausforderungen im Leben
        („Versuchungen“)

     •       Körperliche Herausforderungen („Triebe“)
             1. Lust am Essen und Trinken („Völlerei“)
             2. Besitzstreben („Habsucht, Geiz“)
             3. Sexuelle Begierde („Wollust“)

     •       Seelische Herausforderungen („Emotionen“)
             4. Traurigkeit
             5. Zorn
             6. Überdruss, ruhelose Trägheit

     •       Geistige Herausforderungen („Kognitionen“)
             7. Ruhmsucht
             8. Stolz

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Polare Assoziationen zur Wüste

   Ver-wüstung (Öde, Irrnis, Versuchung)

   Erneuerung (Zu-sich-Finden, Transzendenz)

Wüstenväter repräsentieren beide Wüstenerfahrungen in extremis.

Bekanntester Wüstenvater: Antonius (um 270 – 350)

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Praxis der Wüstenväter/-mütter

Um mit Versuchungen fertig zu werden, entwickelten die
frühchristlichen Eremiten Praktiken, die auch von andern
Mönchskulturen (z.B. Buddhismus) bekannt sind:
    Askese
    Gebet und Meditation
    Rituale
    Diakonie
    etc

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Polare Assoziationen zur Wüste

   Ver-wüstung (Öde, Irrnis, Versuchung)

   Erneuerung (Zu-sich-Finden, Transzendenz)

Wüstenväter repräsentieren beide Wüstenerfahrungen in extremis.

Bekanntester Wüstenvater: Antonius (um 270 – 350)

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Erneuerung und beeindruckende Haltung der
Wüstenväter

•    Klarheit, Einfachheit
•    Seelenruhe
•    Unterscheidungsgabe
•    Transzendenzerfahrung (unio mystica)
•    Ausrichtung auf das Umfassende, Sorge
     tragen zum Nächsten

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Apophtegmata patrum (Vätersprüche)

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Beispiel von Vätersprüchen

Der Altvater Antonius sprach zum Altvater Poimen:
„Das ist das grosse Werk des Menschen, … dass er mit
der Versuchung rechne bis zum letzten Atemzug.“

Derselbe sagte: „Keiner kann unversucht ins Himmelreich
eingehen. Nimm die Versuchung weg und es ist keiner,
der Rettung findet.“

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Spruch der Wüstenmutter Synkletika

„Es ist gefahrvoll, wenn einer lehren will, der nicht durch
das tätige Leben hindurchgegangen ist.

Wie wenn einer, der ein baufälliges Haus hat, Gäste aufnimmt
und sie durch durch den Einsturz des Hauses beschädigt, so
richten auch diejenigen, die sich nicht selbst zuerst aufgebaut
haben, jene zugrunde, die sich ihnen anschliessen.“

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Übersicht

1. Wer waren die Wüstenväter/-mütter und wie
   haben sie „therapeutisch“ gewirkt?

2. Warum sind die Wüstenväter/-mütter für
  Psychologie und Psychiatrie interessant?

3. Wie sind die Wüstenväter/-mütter mit
  depressiven Stimmungen umgegangen?

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Zwei sich ergänzende Zugänge zum
Menschen

„Innensicht“
(sog. Erstperson-Perspektive)
unmittelbarer, „privilegierter“ Zugang
zum eigenen Erleben, nicht objektivierbar

„Aussensicht“
(sog. Drittperson-Perspektive“)
überprüfbar, abbildbar, ausmessbar

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Aktivierung und Desaktivierung von
          Hirnregionen in depressivem
              Zustand (Längsschnitt)

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Munchs Schwester

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Diagnostische Kriterien der depressiven Episode
(nach ICD-10)

  • Leitsymptome
  1.          Depressive Stimmung (mind. 2 Wochen)
  2.          Verlust von Interessen und Freude
  3.          Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit

                             •   Zusatzsymptome

             1. Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
           2. Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
          3. Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit (Selbstvorwürfe)
            4. Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
           5. Wiederkehrende Suizidgedanken oder - handlungen
                           6. Schlafstörungen
                        7.   Verminderter Appetit

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Depressionsrate nach Belastung
             50%
             45%
             40%
             35%
             30%
             25%
             20%
             15%
             10%
               5%
               0%
                     Belastung mit Demütigung oder   Belastung ohne Demütigung (z.B.
                              Blosstellung                      Todesfall)

          Depressionsrate bei 130 Frauen (mit geringem Selbstwertgefühl und geringer
          sozialer Unterstützung) in Abhängigkeit von Belastungsart / Brown 2004

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Therapieforschung
• Psychotherapieforschung hat herausgearbeitet, dass die

  Beziehung zwischen Arzt und Patient, zwischen Therapeutin

  und Klientin entscheidend ist.
Therapeutische Möglichkeiten bei Depressionen                   (nach Hell 2009)

                                       Soziotherapie

                                                                       Psychopharmaka
                                                                     und andere biolog. Th.
                                        Belastung,
                                         Distress

       Psychologische                                      Biologische Reaktion
   Einstellung und Reaktion                               Deprimierung (motorische und
  evtl. ungünstiges Coping (Grübeln)                       mentale Aktionshemmung)

                                    Wahrnehmung der
                                   Handlungserschwernis

Psychotherapie

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                                        Selbsthilfe
Wendezeichen in Psychotherapie und
Psychiatrie

• gewisse Ernüchterung im Fortschrittsglauben
  (anhaltend grosse Chronifizierungstendenz
  funktioneller psychischer Störungen)

• Einführung spiritueller Ansätze in die Psychotherapie,
  auch in die empirisch orientierte Verhaltenstherapie

• wachsendes Interesse an Spiritualität in
  amerikanischer und internationaler Psychiatrie und
  Psychologie

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Empathie
Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft wahrzunehmen,
was in einem andern vorgeht (emotional, kognitiv).

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Achtsamkeit
Achtsamkeit (mindfulness) ist eine bestimmte Form von
Aufmerksamkeit.
Achtsamkeit richtet sich nicht auf ein bestimmtes Objekt,
sondern ist weiter und offener
(„Panorama-Bewusstheit“ / „offene Weite“)

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„Spiritualität“ als innenorientierte
Gegenbewegung angesichts der dominierenden
Veräusserlichung und Beschleunigung des
modernen Lebens

               - Grundhaltung des achtsamen Bewusstseins
               (ungeteilte, nicht wertende Aufmerksamkeit)

                 - Wahrnehmen mit den inneren Sinnen

                       - Be-Sinnung, Sinnstiftung

  - Offenheit für das, was über das Sichtbare hinausgeht

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Achtsamkeitsbasierte Therapien in der
modernen Psychotherapie

Einsatz von meditativen Uebungen (z.B. Atemmeditation, body
scan), um sich besser im Leib zu verankern und sich von
belastenden Gedanken distanzieren zu können.

Beispiel:
Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie der Depression
versucht, für Depressionen anfällige Menschen ein besseres
Bewusstsein von sich selber zu verschaffen.

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Übersicht

1. Wer waren die Wüstenväter/-mütter und wie
   haben sie „therapeutisch“ gewirkt?

2. Warum sind die Wüstenväter/-mütter für
  Psychologie und Psychiatrie interessant?

3. Wie sind die Wüstenväter/-mütter mit
  depressiven Stimmungen umgegangen?

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Akedia-Erkenntnisse der Wüstenväter
•    Lebensbedingungen können depressiv verstimmen           (z.B.Mittagshitze)

•    Selbstaggression   (infolge Frustration)   deprimiert

•    Negative Gedanken bedrücken

•    Nicht-Wahr-Haben-Wollen verschlimmert Depressivität

•    Psychologische Erkenntnisse auf religiösem Hintergrund

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             Hieronymus Bosch: Ausschnitt aus „Die sieben Todsünden“
Ratschläge zum Umgang mit Akedia

1. Annehmen und Ausharren
2. Anders denken
3. Traurig sein und weinen
4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden
5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit

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„Geduld – Zerschlagung des
               Überdrusses“

                Evagrius Ponticus

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Ratschläge zum Umgang mit Akedia

1. Annehmen und Ausharren
2. Anders denken
3. Traurig sein und weinen
4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden
5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit

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Abbas Agathon sprach zu sich selbst,

wenn er etwas sah, das ihn

zu einem Urteil reizte:

„Agathon, tu das nicht!“

So kam sein Denken zur Ruhe.

                                  Agathon

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Ratschläge zum Umgang mit Akedia

1. Annehmen und Ausharren
2. Anders denken
3. Traurig sein und weinen
4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden
5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit

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Meine Tränen wurden mir
             zum Brot bei Tag und Nacht.

                               Psalm 41, Vers 4

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Ratschläge zum Umgang mit Akedia

1. Annehmen und Ausharren
2. Anders denken
3. Traurig sein und weinen
4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden
5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit

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„Wenn der äussere Mensch sich

             nicht nüchtern an eine Ordnung hält,

        ist es unmöglich, die innere zu bewahren.“

                              Ein unbekannter Abbas

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Ratschläge zum Umgang mit Akedia

1. Annehmen und Ausharren
2. Anders denken
3. Traurig sein und weinen
4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden
5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit

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„Ein Mensch, der den Tod vor Augen hat, wird

 die Verzagtheit immer wieder neu überwinden.“

                             Ein unbekannter Abbas

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Spirituelle Hilfen bei depressiven Verstimmungen

                                          diakonische
                                         Unterstützung

                                         Belastung,
                                          Distress

         Psychologische                                     Biologische Reaktion
     Einstellung und Reaktion                              Deprimierung (motorische und
   evtl. ungünstiges Coping (Grübeln)                       mentale Aktionshemmung)

                                     Wahrnehmung der
                                    Handlungserschwernis

Spirituelles/religiöses                                                       Rhythmisierung
       Coping                                                                 (Ritualisierung)
Erfahrungsschatz

     07.07.2016                            Gott- und                                  57

                                        Selbstvertrauen
Gefahren der „therapeutischen Spiritualisierung“

• Ueberforderung von schwerer depressiven Menschen

• Mangelnde Berücksichtigung psychosozialer und
  biologischer Probleme, unsachgemässe Therapie

• Dogmatisierung und Förderung von Abhängigkeiten
        vor allem bei vulnerablen Klienten und narzisstischen
        Therapeuten („Gurus“)

  10.09.2015                                                    58
Schluss:
Unersetzbarkeit von innerem (seelischem) Erleben und
äusseren (empirischen) Beobachtungen

•    In schwerer Depression medizinische Hilfe abzulehnen, kann
     lebensgefährlich sein. Sich im Alltag depressiven
     Verstimmungen nicht zu stellen, kann in die Entfremdung von
     sich selbst führen.
•    Es braucht die Unterscheidungsgabe, was je nach Person und
     Situation Priorität hat.
•    Psychiatrie und Psychotherapie brauchen die verschiedenen
     Zugänge zum Menschen. Die seelisch-geistige Perspektive
     kann durch die körperliche nicht ersetzt werden. Es gilt auch
     ihre Spannung auszuhalten.

•    Hightech macht heute Hightouch (seelische Zuwendung) umso
     wichtiger.

07.07.2016                                                       59
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
              Daniel Hell
           www.daniel-hell.com

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