Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? - Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016
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Was haben die Wüstenväter der modernen Psychiatrie zu sagen? Daniel Hell Liebfrauenkirche Zürich 4.7.2016 07.07.2016 1
Zwei Vorläufer des heutigen Depressionskonzeptes Melancholie Konzept der antiken Bürgerärzte (nach Hippokrates) Akedia Konzept der Wüstenväter (v.a. Evagrius Ponticus) und abgewandelt des Mittelalters 07.07.2016 2
Zwei Vorläufer des heutigen Depressionskonzeptes Melancholie Konzept der antiken Bürgerärzte (nach Hippokrates) Akedia Konzept der Wüstenväter (v.a. Evagrius Ponticus) und abgewandelt des Mittelalters 07.07.2016 4
Erfahrung der Wüstenväter „Der Überdruss ist eine gleichzeitige, lang dauernde Regung von Zorn und Begehren, wobei der Zorn über das Vorhandene wütend ist, das Begehren aber sich nach dem nicht Vorhandenen sehnt.“ Evagrius Ponticus Bild vom Lasttier, das von vorne (vom Begehren) gezogen und von hinten mit Schlägen (vom Zorn) traktiert wird. 07.07.2016 6
Übersicht 1. Wer waren die Wüstenväter/-mütter und wie haben sie „therapeutisch“ gewirkt? 2. Warum sind die Wüstenväter/-mütter für Psychologie und Psychiatrie interessant? 3. Wie sind die Wüstenväter/-mütter mit depressiven Stimmungen umgegangen? 07.07.2016 9
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Herausforderungen im Leben („Versuchungen“) • Körperliche Herausforderungen („Triebe“) 1. Lust am Essen und Trinken („Völlerei“) 2. Besitzstreben („Habsucht, Geiz“) 3. Sexuelle Begierde („Wollust“) • Seelische Herausforderungen („Emotionen“) 4. Traurigkeit 5. Zorn 6. Überdruss, ruhelose Trägheit • Geistige Herausforderungen („Kognitionen“) 7. Ruhmsucht 8. Stolz 07.07.2016 12
Polare Assoziationen zur Wüste Ver-wüstung (Öde, Irrnis, Versuchung) Erneuerung (Zu-sich-Finden, Transzendenz) Wüstenväter repräsentieren beide Wüstenerfahrungen in extremis. Bekanntester Wüstenvater: Antonius (um 270 – 350) 07.07.2016 13
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Praxis der Wüstenväter/-mütter Um mit Versuchungen fertig zu werden, entwickelten die frühchristlichen Eremiten Praktiken, die auch von andern Mönchskulturen (z.B. Buddhismus) bekannt sind: Askese Gebet und Meditation Rituale Diakonie etc 07.07.2016 25
Polare Assoziationen zur Wüste Ver-wüstung (Öde, Irrnis, Versuchung) Erneuerung (Zu-sich-Finden, Transzendenz) Wüstenväter repräsentieren beide Wüstenerfahrungen in extremis. Bekanntester Wüstenvater: Antonius (um 270 – 350) 07.07.2016 26
Erneuerung und beeindruckende Haltung der Wüstenväter • Klarheit, Einfachheit • Seelenruhe • Unterscheidungsgabe • Transzendenzerfahrung (unio mystica) • Ausrichtung auf das Umfassende, Sorge tragen zum Nächsten 07.07.2016 27
Apophtegmata patrum (Vätersprüche) 07.07.2016 28
Beispiel von Vätersprüchen Der Altvater Antonius sprach zum Altvater Poimen: „Das ist das grosse Werk des Menschen, … dass er mit der Versuchung rechne bis zum letzten Atemzug.“ Derselbe sagte: „Keiner kann unversucht ins Himmelreich eingehen. Nimm die Versuchung weg und es ist keiner, der Rettung findet.“ 07.07.2016 29
Spruch der Wüstenmutter Synkletika „Es ist gefahrvoll, wenn einer lehren will, der nicht durch das tätige Leben hindurchgegangen ist. Wie wenn einer, der ein baufälliges Haus hat, Gäste aufnimmt und sie durch durch den Einsturz des Hauses beschädigt, so richten auch diejenigen, die sich nicht selbst zuerst aufgebaut haben, jene zugrunde, die sich ihnen anschliessen.“ 07.07.2016 30
Übersicht 1. Wer waren die Wüstenväter/-mütter und wie haben sie „therapeutisch“ gewirkt? 2. Warum sind die Wüstenväter/-mütter für Psychologie und Psychiatrie interessant? 3. Wie sind die Wüstenväter/-mütter mit depressiven Stimmungen umgegangen? 07.07.2016 31
Zwei sich ergänzende Zugänge zum Menschen „Innensicht“ (sog. Erstperson-Perspektive) unmittelbarer, „privilegierter“ Zugang zum eigenen Erleben, nicht objektivierbar „Aussensicht“ (sog. Drittperson-Perspektive“) überprüfbar, abbildbar, ausmessbar 07.07.2016 32
Aktivierung und Desaktivierung von Hirnregionen in depressivem Zustand (Längsschnitt) 07.07.2016 33
Munchs Schwester 07.07.2016 34
Diagnostische Kriterien der depressiven Episode (nach ICD-10) • Leitsymptome 1. Depressive Stimmung (mind. 2 Wochen) 2. Verlust von Interessen und Freude 3. Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit • Zusatzsymptome 1. Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit 2. Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen 3. Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit (Selbstvorwürfe) 4. Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven 5. Wiederkehrende Suizidgedanken oder - handlungen 6. Schlafstörungen 7. Verminderter Appetit 07.07.2016 35
Depressionsrate nach Belastung 50% 45% 40% 35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% Belastung mit Demütigung oder Belastung ohne Demütigung (z.B. Blosstellung Todesfall) Depressionsrate bei 130 Frauen (mit geringem Selbstwertgefühl und geringer sozialer Unterstützung) in Abhängigkeit von Belastungsart / Brown 2004 07.07.2016 07.07.2016 36
Therapieforschung • Psychotherapieforschung hat herausgearbeitet, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient, zwischen Therapeutin und Klientin entscheidend ist.
Therapeutische Möglichkeiten bei Depressionen (nach Hell 2009) Soziotherapie Psychopharmaka und andere biolog. Th. Belastung, Distress Psychologische Biologische Reaktion Einstellung und Reaktion Deprimierung (motorische und evtl. ungünstiges Coping (Grübeln) mentale Aktionshemmung) Wahrnehmung der Handlungserschwernis Psychotherapie 07.07.2016 38 Selbsthilfe
Wendezeichen in Psychotherapie und Psychiatrie • gewisse Ernüchterung im Fortschrittsglauben (anhaltend grosse Chronifizierungstendenz funktioneller psychischer Störungen) • Einführung spiritueller Ansätze in die Psychotherapie, auch in die empirisch orientierte Verhaltenstherapie • wachsendes Interesse an Spiritualität in amerikanischer und internationaler Psychiatrie und Psychologie 07.07.2016 39
Empathie Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft wahrzunehmen, was in einem andern vorgeht (emotional, kognitiv). 07.07.2016 40
Achtsamkeit Achtsamkeit (mindfulness) ist eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit. Achtsamkeit richtet sich nicht auf ein bestimmtes Objekt, sondern ist weiter und offener („Panorama-Bewusstheit“ / „offene Weite“) 07.07.2016 41
„Spiritualität“ als innenorientierte Gegenbewegung angesichts der dominierenden Veräusserlichung und Beschleunigung des modernen Lebens - Grundhaltung des achtsamen Bewusstseins (ungeteilte, nicht wertende Aufmerksamkeit) - Wahrnehmen mit den inneren Sinnen - Be-Sinnung, Sinnstiftung - Offenheit für das, was über das Sichtbare hinausgeht 07.07.2016 42
Achtsamkeitsbasierte Therapien in der modernen Psychotherapie Einsatz von meditativen Uebungen (z.B. Atemmeditation, body scan), um sich besser im Leib zu verankern und sich von belastenden Gedanken distanzieren zu können. Beispiel: Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie der Depression versucht, für Depressionen anfällige Menschen ein besseres Bewusstsein von sich selber zu verschaffen. 07.07.2016 43
Übersicht 1. Wer waren die Wüstenväter/-mütter und wie haben sie „therapeutisch“ gewirkt? 2. Warum sind die Wüstenväter/-mütter für Psychologie und Psychiatrie interessant? 3. Wie sind die Wüstenväter/-mütter mit depressiven Stimmungen umgegangen? 07.07.2016 44
Akedia-Erkenntnisse der Wüstenväter • Lebensbedingungen können depressiv verstimmen (z.B.Mittagshitze) • Selbstaggression (infolge Frustration) deprimiert • Negative Gedanken bedrücken • Nicht-Wahr-Haben-Wollen verschlimmert Depressivität • Psychologische Erkenntnisse auf religiösem Hintergrund 07.07.2016 45
07.07.2016 46 Hieronymus Bosch: Ausschnitt aus „Die sieben Todsünden“
Ratschläge zum Umgang mit Akedia 1. Annehmen und Ausharren 2. Anders denken 3. Traurig sein und weinen 4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden 5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit 07.07.2016 47
„Geduld – Zerschlagung des Überdrusses“ Evagrius Ponticus 07.07.2016 48
Ratschläge zum Umgang mit Akedia 1. Annehmen und Ausharren 2. Anders denken 3. Traurig sein und weinen 4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden 5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit 07.07.2016 49
Abbas Agathon sprach zu sich selbst, wenn er etwas sah, das ihn zu einem Urteil reizte: „Agathon, tu das nicht!“ So kam sein Denken zur Ruhe. Agathon 07.07.2016 50
Ratschläge zum Umgang mit Akedia 1. Annehmen und Ausharren 2. Anders denken 3. Traurig sein und weinen 4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden 5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit 07.07.2016 51
Meine Tränen wurden mir zum Brot bei Tag und Nacht. Psalm 41, Vers 4 07.07.2016 52
Ratschläge zum Umgang mit Akedia 1. Annehmen und Ausharren 2. Anders denken 3. Traurig sein und weinen 4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden 5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit 07.07.2016 53
„Wenn der äussere Mensch sich nicht nüchtern an eine Ordnung hält, ist es unmöglich, die innere zu bewahren.“ Ein unbekannter Abbas 07.07.2016 54
Ratschläge zum Umgang mit Akedia 1. Annehmen und Ausharren 2. Anders denken 3. Traurig sein und weinen 4. Einen geregelten Lebensrhythmus finden 5. Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit 07.07.2016 55
„Ein Mensch, der den Tod vor Augen hat, wird die Verzagtheit immer wieder neu überwinden.“ Ein unbekannter Abbas 07.07.2016 56
Spirituelle Hilfen bei depressiven Verstimmungen diakonische Unterstützung Belastung, Distress Psychologische Biologische Reaktion Einstellung und Reaktion Deprimierung (motorische und evtl. ungünstiges Coping (Grübeln) mentale Aktionshemmung) Wahrnehmung der Handlungserschwernis Spirituelles/religiöses Rhythmisierung Coping (Ritualisierung) Erfahrungsschatz 07.07.2016 Gott- und 57 Selbstvertrauen
Gefahren der „therapeutischen Spiritualisierung“ • Ueberforderung von schwerer depressiven Menschen • Mangelnde Berücksichtigung psychosozialer und biologischer Probleme, unsachgemässe Therapie • Dogmatisierung und Förderung von Abhängigkeiten vor allem bei vulnerablen Klienten und narzisstischen Therapeuten („Gurus“) 10.09.2015 58
Schluss: Unersetzbarkeit von innerem (seelischem) Erleben und äusseren (empirischen) Beobachtungen • In schwerer Depression medizinische Hilfe abzulehnen, kann lebensgefährlich sein. Sich im Alltag depressiven Verstimmungen nicht zu stellen, kann in die Entfremdung von sich selbst führen. • Es braucht die Unterscheidungsgabe, was je nach Person und Situation Priorität hat. • Psychiatrie und Psychotherapie brauchen die verschiedenen Zugänge zum Menschen. Die seelisch-geistige Perspektive kann durch die körperliche nicht ersetzt werden. Es gilt auch ihre Spannung auszuhalten. • Hightech macht heute Hightouch (seelische Zuwendung) umso wichtiger. 07.07.2016 59
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit Daniel Hell www.daniel-hell.com 60
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