WAS KANN SICH DER EHRBARE STAAT NOCH LEISTEN? CORONA, SCHULDEN - UND NOCH EINE PFLEGEREFORM? - UPDATE 2020/21
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Update 2020/21 Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 154 | Januar 2021 Bernd Raffelhüschen Lewe Bahnsen Tobias Kohlstruck Stefan Seuffert Florian Wimmesberger
Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Bernd Raffelhüschen Lewe Bahnsen Tobias Kohlstruck Stefan Seuffert Florian Wimmesberger Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, Nr. 154 Inhaltsverzeichnis Vorwort 03 1 Einleitung: Corona und die Folgen 04 2 Der aktuelle Stand der Generationenbilanz 05 3 Dauerbaustelle Sozialversicherungen 09 3.1 Die impliziten Schulden der Sozialversicherungen und Gebietskörperschaften 09 3.2 Die Sozialgarantie am seidenen Faden 10 4 Ein Blick auf die geplante Pflegereform 11 4.1 Der Spahn’sche Reformvorschlag 11 4.1.1 Zur Legitimation einer Finanzierung aus Bundesmitteln 12 4.1.2 Löst der Reformvorschlag einen Heimsog-Effekt aus? 13 4.2 Fiskalische und intergenerative Effekte des Reformvorschlags 14 4.3 Bewertung des Reformvorschlags und mögliche Alternativen 17 5 Fazit 18 6 Methodische Grundlagen der Generationenbilanzierung 19 6.1 Das Konzept der Generationenbilanzierung 19 6.2 Berücksichtigte Rahmenbedingungen 20 6.3 Verwendete Nachhaltigkeitsindikatoren 21 Literatur 23 Executive Summary 24 © 2021 Stiftung Marktwirtschaft (Hrsg.) Charlottenstraße 60 10117 Berlin Telefon: +49 (0)30 206057-0 Die Publikation ist auch über den QR-Code Telefax: +49 (0)30 206057-57 kostenlos abrufbar. info@stiftung-marktwirtschaft.de www.stiftung-marktwirtschaft.de Diese Studie wurde am Forschungszentrum Generationenverträge der Albert-Lud- ISSN: 1612 – 7072 wigs-Universität Freiburg erstellt. Für wertvolle Hinweise und Hilfestellungen danken Titelfoto: © Sergej Khackimullin + die Autoren Guido Raddatz, Maximilian Walgenbach, Teresa Brinkschmidt und Ann peterschreiber.media (Adobe Stock) Zimmermann. Für alle verbleibenden Fehler zeigen sich die Autoren verantwortlich.
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Vorwort Vorwort Das Jahr 2020 verlief in vielerlei Hinsicht anders, als wir es Folgen für die öffentlichen Haushalte, sondern verursachen uns alle zu dessen Beginn hatten vorstellen können. Die in den Jahren 2020 und 2021 sowie möglicherweise auch Corona-Pandemie stellt seit dem Frühjahr 2020 nicht nur darüber hinaus hohe Defizite. Hinzu kommt, dass sowohl die die Gesundheitssysteme weltweit vor immense Herausfor- pandemiebedingten Mehrausgaben als auch insbesondere derungen, sondern beeinträchtigt auch das gesellschaft- die resultierenden staatlichen Einnahmeausfälle die mittel- liche und soziale Zusammenleben der Menschen erheblich. und langfristigen fiskalischen Herausforderungen verstärken, Freiheitsrechte wurden und werden flächendeckend aus die aufgrund der demografischen Entwicklung ohnehin zu Gründen des Infektionsschutzes in zuvor kaum vorstellbarer meistern sein werden. Weise eingeschränkt. Trotzdem treffen die Beschränkungen Damit aber stellt sich eine weitere, bisher noch nicht aus- und Restriktionen bei den meisten Bürgern auf große Akzep- reichend diskutierte Solidaritätsfrage, nämlich die zwischen tanz. Das dürfte zum einen am Eigeninteresse der Menschen den Generationen. Hier trübt sich das Bild und mangelt es liegen, sich nicht mit dem neuen SARS-CoV-2-Virus anzu- deutlich an intergenerativer Solidarität: Die Politik hält weiter- stecken. Zum anderen zeigt sich darin aber auch eine große hin an der fragwürdigen Strategie der vergangenen Jahre fest, gesellschaftliche Solidarität, insbesondere mit Menschen aus älteren und zunehmend wahlentscheidenden Generationen Risikogruppen, bei denen sich oft schwere Verläufe einer immer wieder neue, weit in die Zukunft reichende Leistungs- COVID-19-Erkrankung manifestieren. ansprüche zu gewähren, deren dauerhafte Finanzierung mit Im Zuge der Ausbreitung der Pandemie kam es zu einem den heutigen Steuer- und Beitragssätzen nicht zu stemmen dramatischen Einbruch der globalen wirtschaftlichen Aktivi- sein wird. Die neuen Pläne des Bundesgesundheitsministers tät, wobei die Pandemie sowohl als negativer angebots- wie für die Soziale Pflegeversicherung sind ein besonders pla- auch nachfrageseitiger Schock wirkt. Mit steigenden Infekti- katives Beispiel für eine in Sachen fiskalische Nachhaltigkeit onszahlen wurden – je nach Land in unterschiedlicher Inten- kurzsichtige Politik. Dabei ist es höchste Zeit, wieder mittel- sität – Eindämmungsmaßnahmen beschlossen, die zu einem und langfristige Perspektiven für die Konsolidierung der öf- starken Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion fentlichen Haushalte zu entwickeln. Es reicht nicht aus, immer führten. Die Hoffnung aus dem Sommer 2020, das Infekti- nur „auf Sicht zu fahren“ und nicht über die nächste Wahl onsgeschehen so weit in den Griff zu bekommen, dass es bzw. Legislaturperiode hinauszublicken. Verantwortungsvolle nicht zu einer zweiten Infektionswelle kommt und in der zwei- Politiker müssen ebenso wie verantwortungsvolle Bürger ten Jahreshälfte ein dauerhafter wirtschaftlicher Erholungs- auch an junge und kommende Generationen denken – gera- prozess einsetzen kann, hat sich inzwischen zerschlagen. Die de in ökonomischen Fragen und in schwierigen Zeiten. steigenden Infektionszahlen seit Herbst 2020 führten erneut zu Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Deren Dauer Wir danken der informedia-Stiftung für die Förderung dieser sowie mögliche Verschärfungen mögen zwar noch unbe- Publikation. stimmt sein, unstrittig ist hingegen, dass der wirtschaftliche Erholungsprozess dadurch einen erheblichen Dämpfer erlei- det. Die als Folge der Pandemie beschlossenen Not-, Hilfs-, Rettungs- und Konjunkturprogramme sind zwar im Grund- satz ökonomisch nachvollziehbar und ebenfalls ein kraftvolles Zeichen der Solidarität mit den von der Pandemie besonders betroffenen Branchen, Unternehmen und Arbeitnehmern. Prof. Dr. Michael Eilfort Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen Im Zusammenspiel mit wegbrechenden Steuer- und Bei- Vorstand Vorstand tragseinnahmen bleiben diese Maßnahmen aber nicht ohne der Stiftung Marktwirtschaft der Stiftung Marktwirtschaft 03
Einleitung: Corona und die Folgen Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? 1 Einleitung: Corona und die Folgen Das Anhalten der Corona-Pandemie und die fortbestehen- Auf Basis der Methodik der Generationenbilanzierung de Unsicherheit über ihren weiteren Verlauf sowie die damit (siehe Abschnitt 6) werden im Folgenden die seit Anfang einhergehenden erneuten Infektionsschutzmaßnahmen be- des Jahres 2018 gemachten Fort- und Rückschritte auf einträchtigen die deutsche Wirtschaft erheblich. Sie befindet dem Weg zu nachhaltigen öffentlichen Finanzen dokumen- sich weiterhin in einer Rezession, deren Ausmaß und Dauer tiert. Nachdem bereits im Sommer 2020 eine erste Abschät- bislang nicht absehbar sind. Die zahlreichen konjunkturstabi- zung der fiskalischen Auswirkungen der Corona-Pandemie lisierenden Maßnahmen der Bundesregierung konnten bisher erfolgte (Bahnsen et al., 2020), werden in der vorliegenden dabei helfen, den Konsum zu stützen und den Arbeitsmarkt Aktualisierung neben neueren und verlässlicheren Zahlen im zu stabilisieren, werden allerdings zu einer erheblichen Neu- Hinblick auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung auch verschuldung führen. Des Weiteren zeichnet sich immer stär- die Ergebnisse aus der im September 2020 veröffentlichten ker ab, dass der wirtschaftliche Erholungsprozess 2021 lang- Steuerschätzung sowie der im Oktober 2020 erschienenen samer als ursprünglich erhofft verlaufen wird, nicht zuletzt, da Gemeinschaftsdiagnose berücksichtigt. Die Analyse der sich viele Länder – wie auch Deutschland – mit einer zweiten Nachhaltigkeit – als Leitbild für eine zukunftsfähige Entwick- Infektionswelle konfrontiert sehen und das öffentliche Leben lung der öffentlichen Finanzen – beinhaltet insbesondere die in der Folge erneut eingeschränkt wurde. Quantifizierung der intertemporalen und intergenerativen Der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ rechnete in seiner Auswirkungen der Fiskalpolitik unter Berücksichtigung der Septembersitzung 2020 laut Bundesministerium der Finanzen zukünftigen Bevölkerungsentwicklung, vor allem der voran- (BMF) mit einem Einbruch der gesamtstaatlichen Steuerein- schreitenden Bevölkerungsalterung. Ein zentraler Bewer- nahmen von 799,3 Milliarden Euro im Jahr 2019 auf 717,7 Mil- tungsmaßstab ist dabei die sogenannte Nachhaltigkeitslücke. liarden Euro im Jahr 2020 (BMF, 2020a). Zwar wird das Steu- Im Sinne einer Gesamtschuldenquote setzt sie die Summe eraufkommen bis 2024 voraussichtlich auf 883,2 Milliarden aus expliziten und impliziten Schulden ins Verhältnis zum Euro ansteigen, gleichwohl wurde das Gesamtaufkommen heutigen BIP. Während die heute schon sichtbaren expliziten bis zum Jahr 2024 in dieser Schätzung aufgrund der Corona- Schulden vor allem das Ausmaß vergangener Haushaltsde- Pandemie noch einmal um insgesamt knapp 30 Milliarden fizite widerspiegeln, entspricht die heute noch nicht direkt Euro nach unten korrigiert. Neben den Mindereinnahmen sind sichtbare implizite Staatsschuld der Summe aller zukünftigen erhebliche Mehrausgaben zu erwarten. Insbesondere die Ar- (Primär-)Defizite bzw. Überschüsse. Hinter der impliziten beitslosenversicherung, aber auch die Grundsicherung für Ar- Staatsschuld verbergen sich somit alle durch das heutige beitssuchende wirken als automatische Stabilisatoren, deren Steuer- und Abgabeniveau nicht gedeckten staatlichen Leis Ausgaben im Konjunkturabschwung steigen. Hinzu kommen tungsversprechen für die Zukunft, nicht zuletzt diejenigen der die von der Bundesregierung zur Bekämpfung der Krise be- Sozialversicherungen. schlossenen Ausgaben in Form des Corona-Schutzschildes, Der ergänzende Themenschwerpunkt liegt neben den des Konjunktur- und Krisenbewältigungspakets sowie des Zu- fiskalischen Herausforderungen der Corona-Pandemie auf kunftspakets. Der deutliche Konjunktureinbruch mit entspre- der Analyse der fiskalischen Perspektive der Sozialen Pfle- chend steigenden Arbeitslosenzahlen und einem Rückgang geversicherung (SPV) mit besonderem Blick auf den Anfang der Wirtschaftsleistung sowie der Steuer- und Beitragseinnah- Oktober 2020 vom Bundesgesundheitsminister präsentierten men verschärft das Nachhaltigkeitsproblem der öffentlichen Reformvorschlag, welcher weitreichende Leistungsverbesse- Finanzen angesichts der demografischen Alterung weiter. rungen und damit höhere Kosten impliziert. 04
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Der aktuelle Stand der Generationenbilanz 2 Der aktuelle Stand der Generationenbilanz In den aktuellen Berechnungen der Generationenbilanz spie- der Gesamtverschuldung um 12,0 Prozentpunkte, die durch gelt sich das wachsende Missverhältnis zwischen langfris die Aktualisierung der Steuerschätzung (BMF, 2020a) und tiger Einnahmen- und Ausgabenentwicklung des Staates in der Gemeinschaftsdiagnose (2020) auf einen Anstieg der einer impliziten Staatsschuld von 297,2 Prozent des BIP wi- impliziten Verschuldung zurückzuführen ist. Das kontra der (siehe Abbildung 1). Zusammen mit der expliziten Staats- faktische Szenario bildet die konjunkturelle Entwicklung ab, schuld von 59,8 Prozent beläuft sich die Nachhaltigkeitslücke die ohne die Corona-Pandemie zu erwarten gewesen wäre, der öffentlichen Haushalte damit auf 357,0 Prozent des BIP. und dient als Referenzszenario zur Bestimmung der Auswir- Das entspricht einer Summe von rund 12,3 Billionen Euro. kungen der Corona-Pandemie (vgl. Bahnsen et al., 2020). Von dieser Gesamtverschuldung weist der Staat allerdings Danach betrüge die Nachhaltigkeitslücke 235,7 Prozent des lediglich 2,1 Billionen Euro, also 16,7 Prozent, als explizite BIP bzw. 8,1 Billionen Euro. Die langfristigen fiskalischen Schulden aus. Die restlichen 10,2 Billionen Euro sind impli- Kosten der Corona-Pandemie für die öffentlichen Haushalte zite und damit unsichtbare Schulden. Daraus resultiert, wie können somit mit 121,3 Prozent des BIP beziffert werden. Abbildung 2 zu entnehmen ist, eine außergewöhnlich geringe Aufgrund der Corona-Pandemie dürfte die explizite Staats- Schuldentransparenz. schuld bis Ende des Jahres 2020 voraussichtlich auf knapp Gegenüber den Ergebnissen aus dem Sommer-Update 70 Prozent des BIP ansteigen. Das wäre der höchste Wert 2020 (vgl. Bahnsen et al., 2020) ergibt sich eine Zunahme seit dem Jahr 2015. Abbildung 1: Nur die Spitze des Eisbergs ist sichtbar – erneuter Anstieg der Nachhaltigkeitslücke (in Prozent des jeweiligen BIP*) Quelle: Eigene Berechnungen. Kontrafaktisches Szenario Sommer-Update 2020 Status quo: Update 2020/21 235,7 345,0 357,0 Explizite Kontrafaktisches Szenario: 59,8 59,8 59,8 Staatsschuld Notwendige Einnahmen- Erhöhung um 10,4% oder Implizite Ausgaben-Senkung um 8,7% Staatsschuld 176,0 Sommer-Update 2020: Notwendige Einnahmen- Erhöhung um 15,8% oder 285,2 Ausgaben-Senkung um 12,7% 297,2 Status quo Update 2020/21: Notwendige Einnahmen- Erhöhung um 16,3% oder Ausgaben-Senkung um 13,0% 8,1 Billionen 11,9 Billionen 12,3 Billionen Euro Euro Euro * Referenz-BIP (2019) = 3,435 Billionen Euro. 05
Der aktuelle Stand der Generationenbilanz Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? Abbildung 2: Weniger Schuldentransparenz war nie – expliziter und impliziter Teil der Staatsschulden im Zeitverlauf (in Prozent der jeweiligen Nachhaltigkeitslücke) Quelle: Eigene Berechnungen. 81,1% 72,9% 63,9% 75,5% 78,8% 73,0% 64,1% 64,6% 66,3% 67,6% 67,5% 68,2% 65,9% 72,3% 83,3% 18,9% 27,1% 36,1% 24,5% 21,1% 27,0% 35,9% 35,4% 33,7% 32,4% 32,5% 31,8% 34,1% 27,7% 16,7% 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 Explizite Staatsschuld Implizite Staatsschuld Angesichts der gestiegenen öffentlichen Gesamtver- und Sozialabgaben um 16,3 Prozent (Sommer-Update 2020: schuldung besteht ein zusätzlicher langfristiger Konsolidie- 15,8 Prozent) erfolgen. rungsbedarf. Würden heutige und zukünftige Generationen Wie bereits erwähnt, basieren die hier dargestellten Er- gleichermaßen zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte gebnisse der Generationenbilanz auf den Daten der 158. herangezogen, so wären im Status quo dauerhafte Einspa- Steuerschätzung des Arbeitskreises „Steuerschätzungen“ rungen staatlicher Leistungen im Umfang von 13,0 Pro- vom September 2020 (BMF, 2020a), der die gesamtwirt- zent (Sommer-Update 2020: 12,7 Prozent) nötig. Alternativ schaftlichen Eckwerte der Herbstprojektion 2020 der Bun- könnte die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte auch desregierung zugrunde liegen. Im Vergleich zu der Steu- durch dauerhafte Erhöhungen der Einnahmen aus Steuern erschätzung vom Mai 2020 fallen die gesamtstaatlichen Tabelle 1: Projizierte Wachstumsraten und Arbeitslosenquoten (in Prozent) Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage von BMF (2020a) und Bundesagentur für Arbeit (2020b). Szenario 2020 2021 2022 2023 2024 ab 2025 Sommer-Update Veränderung reales BIP -6,7 5,2 1,4 1,4 1,4 1,5 2020 Arbeitslosenquoten 5,5 6,1 4,8 5,2 4,8 4,8 Status quo: Veränderung reales BIP -6,0 4,3 1,4 1,4 1,4 1,5 Update 2020/21 Arbeitslosenquoten 5,9 5,8 5,3 5,0 5,0 5,0 Status quo Veränderung reales BIP -6,0 2,2 1,4 1,4 1,4 1,5 + 2. Lockdown Arbeitslosenquoten 5,9 5,8 5,6 5,1 5,0 5,0 06
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Der aktuelle Stand der Generationenbilanz Steuereinnahmen im Jahr 2020 um 70 Millionen Euro geringer Allerdings gehen die bereits im September und Oktober aus, im Jahr 2021 um 19,6 Milliarden Euro, im Jahr 2022 um 2020 erschienenen Veröffentlichungen der Steuerschätzung 5,5 Milliarden Euro, im Jahr 2023 um 4,4 Milliarden Euro und und der Gemeinschaftsdiagnose nicht davon aus, dass es im Jahr 2024 um 45 Millionen Euro. Die Differenzen zur Steu- nochmals zu weitreichenden Beschränkungen der sozialen erschätzung aus dem Mai 2020 sind im Wesentlichen auf ver- Kontakte im öffentlichen Raum, wie es in der zweiten Hälfte schiedene Steuerrechtsänderungen sowie auf das ab 2021 des März und im April 2020 der Fall war, kommen muss. Viel- geringer geschätzte Bruttolohnwachstum zurückzuführen. mehr wird ein langsamer und kontinuierlicher wirtschaftlicher Analog zu den Ergebnissen der Steuerschätzung ver- Erholungsprozess angenommen. Angesichts der Entwicklung öffentlicht die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose eine im Herbst und Winter 2020 und des erneuten Lockdowns sind korrespondierende Abschätzung der Einnahmen- und Aus- diese Annahmen als (zu) optimistisch einzuordnen. Um diesem gabenentwicklung der Gebietskörperschaften. Die Gemein- Umstand Rechnung zu tragen, bildet das Szenario „Status quo schaftsdiagnose aus dem Oktober 2020 rechnet im Vergleich + 2. Lockdown“ pessimistischere Annahmen bezüglich der zur Veröffentlichung aus dem Frühjahr des gleichen Jahres konjunkturellen Entwicklung ab, als sie im September 2020 in mit einer schlechteren Entwicklung des Wirtschaftswachs- der Steuerschätzung unterstellt wurden.1 tums und zudem mit einer stärkeren fiskalischen Belastung Tabelle 1 und Abbildung 3 geben einen Überblick über durch zusätzliche Ausgaben der Gebietskörperschaften. Die die drei behandelten Szenarien und die ihnen für die Jahre se zusätzlichen Ausgaben umfassen insbesondere höhere in- 2020 bis 2025 zugrundeliegenden Annahmen bezüglich der vestive Ausgaben, wie z.B. für den Fonds zur Förderung der Entwicklung des Wirtschaftswachstums und des Arbeits- künstlichen Intelligenz oder den erhöhten „Umweltbonus“ für marktes. Die Arbeitsmarkteffekte der Corona-Pandemie im Elektroautos, sowie das zweite Familienentlastungsgesetz. Jahr 2020 werden auf Grundlage des Anstiegs der Kurzarbei- Abbildung 3: Arbeitsmarktentwicklung der betrachteten Szenarien (Kurzarbeiterzahl (Säulen) in Beschäftigungsäquivalenten* und Arbeitslosenquote (Linien) in Prozent aller zivilen Erwerbspersonen) Quelle: Eigene Berechnungen. 3.000.000 7,0 6,0 2.500.000 5,0 2.000.000 Arbeitslosenquote Kurzarbeiterzahl 4,0 1.500.000 3,0 1.000.000 2,0 Sommer-Update 2020 500.000 Status quo: Update 2020/21 1,0 Status quo + 2. Lockdown 0 0,0 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 * Fiktive Zahl, die angibt, für wie viele Arbeitnehmer sich durch Kurzarbeit ein 100-prozentiger ganzjähriger Arbeitsausfall ergeben hätte. 1 Aufgrund der historisch außergewöhnlichen Situation sind Prognosen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und die zugrundeliegenden Parameter mit besonders großer Unsicherheit behaftet. Das Ausmaß des konjunkturellen Einbruchs hängt wesentlich vom weiteren Verlauf der Pandemie sowie von den politisch getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ab. 07
Der aktuelle Stand der Generationenbilanz Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? terzahlen und der Arbeitslosenquote gegenüber dem Vorjahr äquivalente gehen unterjährig in die Arbeitslosigkeit über und laut Bundesagentur für Arbeit (2020a) modelliert. In Abhän- dämpfen die Erholung der Arbeitslosenquote. Ab dem Jahr gigkeit von der jeweils unterstellten Wachstumsentwicklung 2023 erreicht die Arbeitslosenquote wieder den Wert aus werden die pandemiebedingte Kurzarbeiterzahl und Arbeits- dem Jahr 2019 in Höhe von 5,0 Prozent. losenquote in den Folgejahren abgeschmolzen. Das Szenario „Status quo + 2. Lockdown“ illustriert Für das Jahr 2020 wird im Status quo Szenario eine Ar- eine langsamere Erholung im Jahr 2021 als im Status quo beitslosenquote von 5,9 Prozent und ein Umfang der Kurz- Szenario, die auch in den folgenden Jahren nicht wieder auf- arbeit von über 1,2 Millionen Beschäftigungsäquivalenten geholt wird. Dadurch bildet dieses Szenario wiederum nicht angenommen. Das unterstellte coronabedingte Kurzarbeits- nur einen konjunkturellen Einbruch ab. Vielmehr wird auch in volumen im Jahr 2021 liegt bei etwa 430.000 ganzjährigen diesem Szenario angenommen, dass sich die gesamtwirt- Beschäftigungsäquivalenten und die unterstellte Arbeitslo- schaftliche Wertschöpfung dauerhaft auf einem niedrigeren senquote bei 5,8 Prozent. Im Jahr 2022 sinkt das Kurzar- Wachstumspfad befinden wird. Dies würde die Nachhaltig- beitsvolumen auf etwa 25.000 ganzjährige Beschäftigungsä- keitslücke im Vergleich zum Status quo noch einmal um 44,2 quivalente und die Arbeitslosenquote auf 5,3 Prozent ab. Die Prozentpunkte und damit auf 401,2 Prozent des BIP bzw. auf nach zwei Jahren in Kurzarbeit verbliebenen Beschäftigungs- 13,8 Billionen Euro erhöhen (Abbildung 4). Abbildung 4: Nachhaltigkeitslücken der betrachteten Szenarien (in Prozent des BIP*) 401,2 Quelle: Eigene Berechnungen. 357,0 345,0 165,5 109,3 121,2 Corona-Auswirkung ohne Corona-Auswirkung (kontrafaktisches Szenario) 235,7 235,7 235,7 Sommer-Update Status quo: Status quo + 2020 Update 2020/21 2. Lockdown (11,9 Billionen Euro) (12,3 Billionen Euro) (13,8 Billionen Euro) * Referenz-BIP (2019) = 3,435 Billionen Euro. 08
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Dauerbaustelle Sozialversicherungen 3 Dauerbaustelle Sozialversicherungen nehmen die impliziten Schulden der Gesetzlichen Krankenver- 3.1 Die impliziten Schulden der Sozialver- sicherung (GKV) und der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) sicherungen und Gebietskörperschaften leicht ab. In den SSV führen die prognostizierte schwächere wirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehenden ne- Abbildung 5 zeigt, dass der in Abschnitt 2 beschriebene gativen Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Abschnitt 2) Anstieg der Nachhaltigkeitslücke gegenüber dem Sommer- zu einer weiteren Erhöhung der impliziten Verschuldung auf bis Update 2020 im Wesentlichen auf die Entwicklung in den zu 5,2 Prozent des BIP (Status quo + 2. Lockdown), die vor Gebietskörperschaften zurückzuführen ist, deren implizite allem in der Arbeitslosenversicherung anfällt. Diese Entwick- Schulden im Status quo um 13,9 Prozentpunkte auf 92,9 lung schlägt sich auch in der GRV mit einer Erhöhung der im- Prozent des BIP ansteigen. Werden zudem mögliche Aus- pliziten Schulden um bis zu 2,1 Prozentpunkte nieder. Die hö- wirkungen eines zweiten Lockdowns berücksichtigt, steigen heren unterstellten Kurzarbeiterzahlen für die Jahre 2020 bis die impliziten Schulden der Gebietskörperschaften auf 136,2 2022 (vgl. Abschnitt 2) sind dabei ausschlaggebend für einen Prozent des BIP. Bereits im Sommer 2020 musste den Ge- weiteren rentensteigernden Effekt, ausgelöst von der Ausset- bietskörperschaften erstmalig eine nicht nachhaltige Finanzie- zung des Nachholfaktors.2 Dadurch steigen die Ausgaben der rung attestiert werden (Bahnsen et al., 2020). Diese negative GRV im Status quo noch stärker an als im Sommer-Update Entwicklung setzt sich weiter fort. Demgegenüber kommt es 2020 projiziert. Die Abnahme der impliziten Verschuldung in in den Sozialversicherungen aufgrund der nach wie vor un- der GKV hingegen resultiert in erster Linie aus der Erhöhung terstellten kurzfristigen Natur des Schocks überwiegend nicht des durchschnittlichen Zusatzbeitrags um 0,2 Prozentpunkte zu einem starken negativen Impuls der Corona-Pandemie auf für das Jahr 2021. Darüber hinaus bewirken die steigenden die Nachhaltigkeit. Die impliziten Schulden der Sozialversiche- Rentenausgaben neben einem Anstieg der impliziten Verschul- rungen verringern sich insgesamt um bis zu 2 Prozentpunkte dung der GRV auch steigende GKV-Beiträge der Rentner, wo- (Status quo). Sie liegen damit bei 204,3 Prozent des BIP – raus ein positiver Effekt für die GKV resultiert. Analog dazu weiterhin auf hohem Niveau. Während die sonstigen Sozial- wirkt sich auch in der SPV der nicht wirksame Nachholfaktor in versicherungen (SSV) und die Gesetzliche Rentenversiche- der GRV positiv auf die Einnahmenentwicklung aus. Darüber rung (GRV) einen Anstieg der impliziten Schulden verzeichnen, hinaus lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt keine langfristigen Abbildung 5: Implizite Schulden der Sozialversicherungen und der Gebietskörperschaften (in Prozent des BIP*) 341,5 Quelle: Eigene Berechnungen. 285,2 297,2 206,3 204,3 205,3 136,2 91,9 93,1 94,0 80,6 77,3 77,2 79,0 92,9 28,9 28,8 28,8 4,8 5,1 5,2 Gesetzliche Gesetzliche Soziale Sonstige Sozial- Gebiets- Öffentlicher Rentenversicherung Krankenversicherung Pflegeversicherung Sozial- versicherungen körperschaften Gesamthaushalt (GRV) (GKV) (SPV) versicherungen** (Bund, Länder, (= Gebiets- Gemeinden) körperschaften + Sozial- versicherungen) Sommer-Update 2020 Status quo: Update 2020/21 Status quo + 2. Lockdown * Referenz-BIP (2019) = 3,435 Billionen Euro. ** Die sonstigen Sozialversicherungen umfassen die Arbeitslosenversicherung, die landwirtschaftlichen Alterskassen und die Gesetzliche Unfallversicherung. 2 Eine detaillierte Beschreibung der Wirkungsweise des fehlenden Nachholfaktors in der GRV findet sich in Bahnsen et al. (2020), S. 12. 09
Dauerbaustelle Sozialversicherungen Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? pandemiebedingten Auswirkungen hinsichtlich der Ausgaben in den ohnehin stark belasteten Bundeshaushalt verschoben. der SPV identifizieren. Zwar könnte die von Bundesgesund- Doch dieser Verschiebebahnhof ändert nichts an der Höhe heitsminister Spahn angedachte Pflegereform die implizite der impliziten Schulden und dem zukünftigen Finanzierungs- Verschuldung der SPV deutlich erhöhen. Da sie aber bisher bedarf, der – sofern keine Reformen auf der Leistungsseite weder vom Bundestag diskutiert noch vom Bundesrat gebilligt vorgenommen werden – vor allem von den jungen Genera- wurde, fließt sie nicht in den Status quo ein, sondern wird in tionen zu decken sein wird. Ohne Beitragssatzanpassungen Abschnitt 4 im Rahmen einer Szenariorechnung thematisiert. oder Steuererhöhungen (bzw. Leistungskürzungen) werden Im Ergebnis verzeichnet die SPV somit derzeit eine implizite die heute noch impliziten Schulden der Sozialversicherungen Verschuldung von 28,8 Prozent des BIP – im Status quo wie zu expliziten Schulden, da die Rücklagen der Sozialversiche- auch unter Berücksichtigung eines zweiten Lockdowns. rungen nach 2021 nicht ausreichen, um die Sozialgarantie ohne höhere Bundeszuschüsse weiterhin aufrechtzuerhalten. Dies wird besonders bei der ALV deutlich, deren Rücklagen 3.2 Die Sozialgarantie am seidenen Faden voraussichtlich bereits Ende 2020 aufgebraucht sind. Ähnlich dramatisch stellt sich die Situation in der GKV dar. Hier dürf- Damit sich die Corona-Pandemie nicht negativ auf die Lohn- ten zwar auch im Jahr 2021 noch Rücklagen vorhanden sein, nebenkosten auswirkt, hat die Bundesregierung beschlossen, allerdings werden diese durch ein voraussichtliches Defizit in die Sozialversicherungsbeiträge bei maximal 40 Prozent zu Höhe von rund 17 Milliarden Euro reduziert (Deutsches Ärzte- stabilisieren, und dies im Konjunktur- und Krisenbewältigungs- blatt, 2020a). In der GRV ist aufgrund der gesetzlichen Re- paket als „Sozialgarantie 2021“ festgehalten. Abbildung 6 gelungen zur Mindestrücklage ein vollständiges Abschmelzen zeigt, dass diese Sozial-„Garantie“ allerdings trotz bereits be- der Rücklagen ausgeschlossen. Die Rücklagen der SPV rei- schlossener zusätzlicher Steuerzuschüsse nur gewährt wer- chen voraussichtlich noch bis 2025 aus. Dieser Umstand lässt den kann, wenn die Rücklagen der Sozialversicherungen kurz- allerdings die bislang nicht quantifizierbaren negativen finan- fristig aufgezehrt werden. Nach 2021 könnte diese „Garantie“ ziellen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die SPV un- zudem nur sichergestellt werden, wenn der Bund dauerhaft berücksichtigt. Mit Blick auf die Beitragssatzentwicklung zeigt weiter steigende Zuschüsse aus Steuermitteln leistet. Dabei sich, dass die Entwicklung der Rücklagen ohne Berücksichti- würde es sich allerdings um eine reine Symptombekämpfung gung weiterer Bundeszuschüsse ab 2022 zu Sozialversiche- handeln: Die zukünftigen Lasten der Sozial-„Garantie“ würden rungsbeiträgen oberhalb der 40 Prozent-Marke führen wird. Abbildung 6: Rücklagen und Beitragssatzentwicklung der Sozialversicherungen bis 2030 (Rücklagen (Säulen) in Milliarden Euro (linke Achse) / Beitragssatz (Linie) in Prozent (rechte Achse)) Quelle: Eigene Berechnungen. 120 50 45 100 40 35 80 in Milliarden Euro 30 in Prozent Arbeitslosenversicherung (ALV) 60 Soziale Pflegeversicherung (SPV) 25 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) 20 Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) 40 Beitragssatz (GRV, GKV, SPV und ALV) 15 10 20 5 0 0 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030 10
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Ein Blick auf die geplante Pflegereform 4 Ein Blick auf die geplante Pflegereform Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat Anfang Oktober pothek für die zukünftigen Generationen. Aufgrund des sich 2020 aus gutem Grund betont, dass Pflege „die soziale Frage nachteilig verändernden Verhältnisses von Beitragszahlern zu der 20er Jahre“ sei. Angesichts der immer weiter fortschrei- Leistungsempfängern steigen die Ausgaben der SPV ohne- tenden gesellschaftlichen Alterung (siehe Abbildung 12 in Ab- hin zunehmend schneller als die Einnahmen, sodass schon schnitt 6) wird Pflege aber auch darüber hinaus für Jahrzehnte rein demografisch bedingt in naher Zukunft mit zusätzlichen ein bestimmendes Thema bleiben. Mit seiner Aussage trifft der Beitragsbelastungen zu rechnen ist. Ein Ausbau der Pflege- Bundesgesundheitsminister also den Nerv der gegenwärtigen versicherung wäre im Sinne der fiskalischen Nachhaltigkeit Diskussion, gleichzeitig greift er damit jedoch insofern zu kurz, folglich ein weiterer Schritt in die falsche Richtung. Vor die- als dass er die Pflege auf ihre soziale Komponente reduziert. sem Hintergrund soll der Reformvorschlag des Bundesge- Denn so richtig und wichtig Spahns Aussage ist, so notwen- sundheitsministers im Folgenden einer genaueren Analyse dig ist auch die ökonomische Frage der Finanzierung. Diese unterzogen werden. zweite Frage gewinnt vor dem Hintergrund des Reformvor- schlags, den der Bundesgesundheitsminister parallel zu seiner 4.1 Der Spahn’sche Reformvorschlag Aussage skizzierte, noch einmal mehr an Bedeutung. Diesem Vorschlag zufolge soll das bisherige Teilleistungssystem der Pflegeversicherung in der stationären Versorgung aufgegeben Nach den Interviewaussagen von Bundesgesundheitsminis und in eine Vollversicherung umgewandelt werden. Zusätzlich ter Jens Spahn vom 04.10.2020 wurden Anfang November sind eine bessere Entlohnung der Pflegekräfte sowie verbes- 2020 erste Eckpunkte für eine geplante Reform der Pflege- serte Leistungen in der ambulanten Versorgung vorgesehen. versicherung seitens des Bundesministeriums für Gesundheit Finanziert werden soll diese Reform durch einen dauerhaften (BMG) bekannt (BMG, 2020; Deutsches Ärzteblatt, 2020b).3 Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt. Die Reform beruht demnach im Wesentlichen auf drei Säulen: Bezüglich des Reformbedarfs in der SPV sind sich fast alle Beteiligten einig. Uneinigkeit herrscht hingegen bei Stationäre Versorgung der Frage nach der Ausgestaltung der Reformmaßnahmen In der stationären Versorgung soll das bisherige Teilleistungs- hinsichtlich der Gewährung zusätzlicher Leistungen bzw. system in eine Vollversicherung mit zeitlich und in der Höhe konsolidierender Maßnahmen in der SPV. Mit Blick auf die begrenztem Eigenanteil umgewandelt werden (siehe Abbil- gesellschaftliche Alterung bedeutet Ersteres eine weitere Hy- dung 7).4 Hierfür soll zum einen der pflegebedingte Eigen- Status quo Vollversicherung mit zeitlich und Abbildung 7: in der Höhe begrenztem Eigenanteil Schematische Darstellung des Vorschlags im Bereich pflegebedingte Kosten pflegebedingte Kosten der stationären Versorgung Quelle: Eigene Darstellung auf Grund- Eigenanteil Versicherungs- lage von Rothgang und Kalwitzki (2018). leistungen Anders als bei der betrieblichen Alters versorgung, bei der zur Vermeidung un- Versicherungs- vorhersehbarer finanzieller Risiken zuneh- leistungen Eigenanteil mend ein Wechsel vom Prinzip „Defined Benefits“ zu „Defined Contributions“ statt- findet, würde in der SPV mit der Begren- zung des pflegebedingten Eigenanteils der Zeit Zeit entgegengesetzte Weg eingeschlagen und das finanzielle Risiko vom Versicherten auf Risiken/zusätzliche Lasten Risiken/zusätzliche Lasten die SPV verlagert werden. kommen zum Eigenanteil hinzu trägt die Versichertengemeinschaft 3 Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags lag der breiten Öffentlichkeit das Eckpunktepapier zum Reformvorschlag seitens des BMG noch nicht vor. 4 Sobald private Eigenanteile vom Umfang der Leistungsinanspruchnahme entkoppelt werden und die SPV alle Zusatzkosten übernimmt, existiert kein Anreiz mehr, die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen auf das objektiv notwendige Leistungsniveau zu begrenzen. Anreiztheoretisch ist dann vom Problem des sogenannten Moral Hazard die Rede. Siehe hierzu Bahnsen et al. (2019). 11
Ein Blick auf die geplante Pflegereform Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? anteil (einrichtungseinheitlicher Eigenanteil) auf maximal 700 die Ansparphase des Pflegevorsorgefonds (bei Beibehaltung Euro monatlich gedeckelt werden. Darüber hinaus entstehen- des Beginns der Entnahmephase) von 2035 bis zum Jahr de Pflegekosten trägt dann die SPV. Zum anderen wird der 2050 verlängert werden. Ergänzend dazu ist eine Erhöhung Eigenanteil in der Folge nicht länger als 36 Monate gezahlt des Beitragszuschlags für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte, werden müssen. Somit beträgt der pflegebedingte Eigenan- ausschließlich zum Besparen des Fonds, vorgesehen. Zur teil einer jeden pflegebedürftigen Person in Summe höch- Stärkung der privaten Vorsorge soll zudem die staatliche Zu- stens 25.200 Euro.5 lage zu privaten Pflegezusatzversicherungen („Pflege-Bahr“) von gegenwärtig fünf auf 15 Euro pro Monat erhöht werden. Ambulante Versorgung In der ambulanten Versorgung soll zum einen ab Pflegegrad 4.1.1 Zur Legitimation einer Finanzierung 2 ein jährliches Pflegebudget in Höhe von 3.330 Euro je pfle- aus Bundesmitteln gebedürftiger Person eingeführt werden. Dieses ist zur Finan- zierung von Kurzzeit- und Verhinderungspflege vorgesehen. Zum anderen wird beabsichtigt, die ambulanten Geld- und Vor dem Hintergrund stetig steigender Ausgaben in der SPV Sachleistungen der SPV dynamisch anzupassen. Zum 1. Juli tritt wiederkehrend die Forderung nach einem Bundeszu- 2021 sollen diese einmalig um fünf Prozent erhöht werden. schuss zu Tage. Die Begründungen sind ordnungspolitisch Ab 2023 sind dann jährliche Anpassungen anhand der Infla- allerdings häufig wenig überzeugend. Auch die Leistungs- tionsrate vorgesehen.6 ausweitungen im Rahmen des Reformvorschlags sollen, zu- mindest partiell, aus Steuermitteln finanziert werden, obwohl Pflegekräfte die Finanzierung von Leistungen zur originären Aufgabe der Zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs wird eine Pflegeversicherung gehört. Allerdings ist die Einführung eines bessere Entlohnung für Pflegekräfte angestrebt. Hierzu sol- dauerhaften Bundeszuschusses mit Vorsicht zu genießen, da len stationäre Einrichtungen und ambulante Pflegedienste auf diese Weise einer ausufernden Steuerfinanzierung wie in nur dann eine Zulassung erhalten, wenn sie nach Tarif oder den anderen Sozialversicherungen Tür und Tor geöffnet wird. tarifähnlich bezahlen. Eine solche „Tarifvertragspflicht“ wäre Eine Steuerfinanzierung von Versicherungsleistungen dann Voraussetzung, um Leistungen gegenüber der Pflege- der SPV würde zu einer intransparenten Finanzierungsstruk- versicherung abrechnen zu können. tur ähnlich wie in der GRV führen. Steuerzuschüsse erzeugen lediglich eine Finanzierungsillusion und würden die Pflegeleis Die Kosten des Reformvorschlags belaufen sich nach tungen zudem von der finanziellen Situation des Bundes und Aussage des Bundesgesundheitsministers auf anfänglich den kurzfristigen Haushaltsentscheidungen der politischen rund sechs Milliarden Euro jährlich (BMG, 2020). Dabei ent- Entscheidungsträger abhängig machen. Damit entfiele der fallen drei Milliarden Euro auf die stationäre Versorgung, eine grundlegende Vorteil einer parafiskalisch finanzierten und da- Milliarde Euro auf die ambulante Versorgung und zwei Milliar- mit haushaltspolitisch unabhängigen Sozialversicherung. Der den Euro auf die bessere Entlohnung der Pflegekräfte. Ange- zur Finanzierung vorgeschlagene Steuerzuschuss ist daher kri- sichts der Absicht, die Lohnnebenkosten nicht über 40 Pro- tisch zu betrachten und einer genauen Prüfung zu unterziehen. zent steigen zu lassen, soll die Finanzierung nicht über eine Ohnehin ist der Bundeshaushalt als „Steinbruch“ der So- Beitragssatzerhöhung erfolgen. Stattdessen ist eine Deckung zialausgaben bereits jetzt stark strapaziert. Schon heute ma- der Mehrausgaben über einen pauschalen Bundeszuschuss chen diese über die Hälfte des Bundeshaushaltes aus (BMF, an die SPV vorgesehen, dessen Höhe bislang allerdings nicht 2020c). Steuermittel sollten vorrangig den Politikbereichen näher spezifiziert wurde. vorbehalten bleiben, in denen originärer Handlungsbedarf für Neben den drei bereits genannten Säulen der Pflegere- die Bundespolitik besteht, um eine dauerhafte Überforderung form wurde im Eckpunktepapier darüber hinaus das Ziel for- des Bundeshaushalts zu vermeiden. Zudem bedeuten in einer muliert, „Nachhaltigkeit und Demografiefestigkeit“ zu fördern. alternden Bevölkerung auch Steuerzuschüsse zur SPV eine Diese Absicht ist grundsätzlich positiv zu bewerten, sofern intergenerative Lastenverschiebung hin zu jüngeren und zu- es sich nicht nur um Lippenbekenntnisse handelt. Hierzu soll künftigen Generationen. 5 Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie die Investitionskosten müssten weiterhin selbst getragen werden. 6 Die bisherige Dynamisierungsregelung (§ 30 SGB XI) sieht eine Prüfung der Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der SPV-Leistungen alle drei Jahre vor. 12
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Ein Blick auf die geplante Pflegereform sierung) oder eine zunehmende Frauen-Erwerbsbeteiligung 4.1.2 Löst der Reformvorschlag einen genannt werden. „Künstlich induzierte“ Gründe hingegen Heimsog-Effekt aus? haben ihren Ursprung in politischen Reformen, wie dem Spahn’schen Reformvorschlag. Kommt es zu einer Verschiebung zwischen den Versorgungs- Eine Reform, die die stationäre Pflege derart ausbaut, formen von der vergleichsweise günstigen ambulanten hin läuft Gefahr, einen solchen Heimsog-Effekt zu verursachen zur teuren stationären Pflege, wird von einem sogenannten bzw. zu befördern und damit die Mehrausgaben noch einmal „Heimsog“ gesprochen. Eine solche Veränderung im Inan- erheblich zu steigern. Die veranschlagten sechs Milliarden spruchnahmeverhalten geht mit Auswirkungen auf die zu- Euro jährlich wären dann deutlich zu niedrig angesetzt. Im Fol- künftige Ausgabenentwicklung der SPV einher. Als „natür- genden werden neben dem Reform-Basis-Szenario drei wei- liche“ strukturelle Gründe für einen Heimsog-Effekt können tere Szenarien betrachtet, um die fiskalischen Auswirkungen unter anderem demografische Trends wie sich verändernde eines Heimsog-Effektes zu illustrieren (siehe Tabelle 2). Haushalts- und Familienstrukturen (u.a. Trend zur Singulari- Tabelle 2: Szenarien zur Illustrierung eines reforminduzierten Heimsog-Effektes Quelle: Eigene Berechnungen. Gegenwärtiges Verhältnis von ambulanter (78,5 Prozent) und stationärer (21,5 Prozent) Reform-Basis-Szenario Versorgung bleibt konstant (kein Heimsog). Der Anteil der stationären Versorgung nimmt bis 2040 um 10 Prozentpunkte zu und der 70:30-Szenario Anteil der ambulanten Versorgung entsprechend ab. Der Anteil der stationären Versorgung nimmt bis 2040 um 20 Prozentpunkte zu und der 60:40-Szenario Anteil der ambulanten Versorgung entsprechend ab. Der Anteil der stationären Versorgung nimmt bis 2040 um 30 Prozentpunkte zu und der 50:50-Szenario Anteil der ambulanten Versorgung entsprechend ab. Im Reform-Basis-Szenario wird unterstellt, dass sich optimistisch bezeichnet werden. Wird hingegen unterstellt, kein reforminduzierter Heimsog-Effekt einstellt und das Inan- dass der Anteil der stationären Versorgung sogar um 20 spruchnahmeverhalten beim gegenwärtigen Verhältnis von Prozentpunkte zunimmt, kann von einem realistisch pessi- knapp 80 Prozent Pflegebedürftiger in ambulanter und gut mistischen Szenario gesprochen werden. Bis 2040 würde 20 Prozent in stationärer Versorgung verharrt. Dieses Szena- sich dann ein Verhältnis von rund 60 zu 40 einstellen. Für rio bildet insofern eher eine unrealistisch optimistische Ent- das dritte Heimsog-Szenario wird ein Anstieg des Anteils der wicklung ab. Das 70:30-Szenario unterstellt eine Zunahme stationären Versorgung um 30 Prozentpunkte angenommen, der stationären Versorgung um 10 Prozentpunkte bis 2040. um auch eine Art „Worst Case“ zu berücksichtigen. Insofern Damit würde sich die Versorgungsstruktur wieder auf dem unterstellt dieses Szenario eine stark pessimistische Entwick- langjährigen Verhältnis vor dem Pflegestärkungsgesetz II von lung, die fast eine 50 zu 50 Verteilung bis 2040 postuliert. Die 2017 einpendeln.7 Somit kann dieses Szenario als realistisch Übergangsphase bis 2040 wird gewählt, um verzögerte Ver- 7 Aufgrund des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der damit verbundenen Umstellung auf Pflegegrade ist es zu einer Ausweitung des Kreises von Leistungs- berechtigten gekommen, die sich insbesondere in der ambulanten Pflege bemerkbar gemacht und zu einem Verhältnis von rund 80 zu 20 geführt hat. 13
Ein Blick auf die geplante Pflegereform Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? haltensanpassungen auf der Nachfrage- und Angebotssei- Abbildung 8: te abzubilden. Zwar würden die finanziell gesetzten Anreize Spahn‘scher Reformvorschlag erhöht die isoliert betrachtet für einen „schnelleren“ Heimsog sprechen, implizite Verschuldung der SPV da Pflegebedürftige aber weiterhin die „Unterkunftskosten“ (in Prozent des BIP) selbst tragen müssen, wird nicht von einem sprunghaften An- Quelle: Eigene Berechnungen. stieg stationärer Inanspruchnahme ausgegangen. Auch die 43,4 Angebotsseite wird sich nur schrittweise an eine steigende Nachfrage nach stationären Pflegeleistungen anpassen kön- nen.8 Verzögerte nachfrage- und angebotsseitige Entwick- 14,6 lungen werden dementsprechend zu einer Verzögerung des Heimsog-Effektes führen. 28,8 4.2 Fiskalische und intergenerative Effekte des Reformvorschlags 28,8 Der Bundesgesundheitsminister hat klargestellt, dass wei- tere Beitragssatzerhöhungen für die Finanzierung der Reform nicht infrage kommen. Wie die entstehenden Mehrausgaben letztendlich im Detail finanziert werden sollen, geht aus den Eckpunkten allerdings nicht hervor. Ein pauschaler Steuer- Status quo Status quo + Reformvorschlag zuschuss ist zwar vorgesehen, ob dieser alle Mehrausgaben (dauerhaft) decken wird, bleibt jedoch abzuwarten. Es stellt sich zunächst die Frage, welche Auswirkungen auf die lang- fristige Finanzierung der Pflegeversicherung und damit für die Nachhaltigkeit ausgabenseitig zu erwarten sind. Dabei wür- Langfristig kostet die Reform also 14,6 Prozent des BIP (sie- den sich bei einer (partiellen) Finanzierung aus Steuermitteln he Abbildung 8). die negativen Nachhaltigkeitseffekte in der Pflegeversiche- Es ist zwar beabsichtigt, aber keineswegs sicher, dass rung reduzieren. Belastet würde hingegen der Bundeshaus- die Reform gänzlich aus Steuermitteln finanziert wird. Die halt und somit die Gebietskörperschaften. In der Konsequenz Ungleichbehandlung der Generationen durch das Reform- führt die Verschiebung der Mehrausgaben in den Bundes- vorhaben, wenn zunächst von einer Steuerfinanzierung ab- haushalt zu einer intransparenten Finanzierung des Pflege- strahiert wird, ist in Abbildung 9 dargestellt. Sie zeigt die versicherungssystems, mit der Folge, dass am Ende die durchschnittlichen reformbedingten Be- bzw. Entlastungen je Steuerzahler für einen Großteil der Mehrausgaben aufkom- verbleibendem Lebensjahr für alle im Basisjahr 2018 leben- men müssten. den Jahrgänge. Bereits im Status quo offenbart die SPV eine implizi- Alle Jahrgänge, die 2018 jünger als 33 Jahre alt waren, te Verschuldung von 28,8 Prozent des BIP. Dies bedeutet, werden durch die Reform mit einer zusätzlichen jährlichen dass unter gegenwärtigen Rahmenbedingungen schon jetzt Belastung von maximal 72 Euro pro Person konfrontiert. Rückstellungen in dieser Höhe notwendig wären, um die SPV Insbesondere aufgrund des zur Diskontierung unterstellten langfristig auf ein nachhaltiges Fundament zu stellen und positiven Zinssatzes von 3 Prozent (siehe Abschnitt 6.2) zugesicherte Leistungsversprechen garantieren zu können. wiegen ihre höheren Beitragszahlungen (infolge kommender Werden zusätzlich die reformbedingten Mehrausgaben des Beitragssatzerhöhungen) in naher Zukunft ihre ausgewei- Reform-Basis-Szenarios berücksichtigt, lassen diese die im- teten Leistungen in ferner Zukunft auf. Im Gegensatz dazu plizite Verschuldung der SPV auf 43,4 Prozent anwachsen. profitieren alle Jahrgänge, die 33 Jahre und älter sind, von 8 Alle Szenarien unterliegen der Annahme, dass sich keine angebotsseitigen Restriktionen einstellen, d.h. es wird von einem Fachkräftemangel in der Pflege und einer zu geringen Verfügbarkeit stationärer Pflegeeinrichtungen abstrahiert. 14
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Ein Blick auf die geplante Pflegereform Abbildung 9: Reforminduzierte Be- bzw. Entlastung je verbleibendem Lebensjahr (Annuität 9 ) Quelle: Eigene Berechnung. 100 0 -100 -200 in Euro -300 -400 -500 -600 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Alter Hinweis: Betrachtet werden die im Basisjahr 2018 lebenden Jahrgänge. der Reform. Die reformbedingten Entlastungen steigen bis Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass die realen Aus- zu einem Maximum von 564 Euro je verbleibendem Lebens- gaben auf dem Einführungsniveau verbleiben. Allein die er- jahr für eine durchschnittliche 85-jährige Person im Basisjahr wartete Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen im Zuge der 2018. Für ältere Jahrgänge werden die finanziellen Vorteile demografischen Entwicklung wird einen Anstieg der Ausga- aufgrund der abnehmenden verbleibenden Lebenserwartung ben bewirken. Angesichts der Ausgestaltung der Reform be- nach und nach kleiner. Sie profitieren entsprechend weniger steht darüber hinaus die Gefahr eines reforminduzierten aus- von der Reform. gabensteigernden Heimsog-Effektes (vgl. Abschnitt 4.1.2). Wie bei jeder Ausweitung eines umlagefinanzierten Sys In Abhängigkeit des unterstellten Szenarios (siehe Tabelle 2) tems ist auch diese Ausweitung mit unverhofften Gewinnen, entwickeln die angesetzten Mehrausgaben eine Dynamik, sogenannten Windfall-Profits, für diejenigen verbunden, die die die anfänglichen sechs Milliarden Euro schnell ansteigen bereits pflegebedürftig sind oder es in Kürze werden. Folglich lässt. Die entsprechenden Entwicklungen der Mehrausgaben haben diese Personen für die höheren Leistungen entweder können Tabelle 3 entnommen werden. keine oder lediglich überschaubare Beiträge gezahlt. Gleich- Selbst im Reform-Basis-Szenario unter der unrealistisch zeitig entstehen Verluste beziehungsweise Belastungen für optimistischen Annahme, dass es keine Verschiebungen im derzeitige und zukünftige Beitragszahler. Verhältnis der Inanspruchnahme zwischen ambulanter und Unabhängig davon, ob die Reform aus Beitrags- oder stationärer Pflege gibt, wird es demografisch bedingt (und Steuermitteln finanziert wird, führt sie zu deutlichen Mehraus- unabhängig vom gesamtwirtschaftlichen Wachstum) zu stei- gaben, die der Bundesgesundheitsminister – wie bereits skiz- genden Mehrausgaben kommen. Steigt der Anteil stationär ziert – auf anfänglich sechs Milliarden Euro pro Jahr beziffert. versorgter Pflegebedürftiger gemäß des 70:30-Szenarios bis 9 In Anlehnung an das Konzept aus der Tilgungsrechnung beschreiben die dargestellten Annuitäten die von Zinssatz und verbleibender Lebenserwartung abhän- gigen finanziellen Vor- und Nachteile, die die Reform mit sich brächte. 15
Ein Blick auf die geplante Pflegereform Was kann sich der ehrbare Staat noch leisten? Tabelle 3: 2022 2030 2040 2050 Entwicklung der jährlichen realen Mehrausgaben bis Reform-Basis-Szenario 6,0 7,6 9,8 13,6 2050 (in Milliarden Euro) 70:30-Szenario 6,0 11,1 20,2 28,9 Hinweis: Werte in Preisen von 2019 60:40-Szenario 6,3 15,0 31,0 44,9 Quelle: Eigene Berechnungen. 50:50-Szenario 6,6 18,9 41,9 60,9 2040 um 10 Prozentpunkte an, würden sich die realen Mehr- sis-Szenario nimmt diese um 14,6 Prozentpunkte zu. Die ausgaben schon bis 2030 annähernd verdoppeln und 2050 implizite Verschuldung in den Heimsog-Szenarien ist, wie in bei fast 30 Milliarden Euro liegen. Entsprechend höher fallen Abbildung 10 zu sehen, deutlich höher. die Mehrausgaben im realistisch pessimistischen 60:40-Sze- Dabei käme es schon bei realistisch optimistischer Ent- nario und im extremen 50:50-Szenario aus. In diesen beiden wicklung im 70:30-Szenario zu mehr als einer Verdopplung Szenarien kommt es bereits im unterstellten Reformjahr 2022 der gegenwärtigen impliziten Verschuldung in der SPV (An- zu Ausgaben, die die sechs Milliarden Euro übersteigen. stieg um 29,5 Prozentpunkte). Die Anstiege im 60:40- und Langfristig führen die Mehrausgaben zu einem merk- 50:50-Szenario fallen mit 45,0 und 60,6 Prozentpunkten ent- lichen Anstieg der impliziten Verschuldung. Im Reform-Ba- sprechend höher aus. Abbildung 10: Implizite Verschuldung der SPV – mit Reformvorschlag und Heimsog-Szenarien (in Prozent des BIP) 89,4 Quelle: Eigene Berechnungen. 73,9 58,3 60,6 45,0 43,4 29,5 14,6 28,8 28,8 28,8 28,8 Status quo + Reformvorschlag 70:30-Szenario 60:40-Szenario 50:50-Szenario 80:20-Verhältnis von amb. und Zunahme der stat. Versorgung um Zunahme der stat. Versorgung um Zunahme der stat. Versorgung um stat. Versorgung (kein Heimsog) 10%-Punkte bis 2040 20%-Punkte bis 2040 30%-Punkte bis 2040 16
Corona, Schulden – und noch eine Pflegereform? Ein Blick auf die geplante Pflegereform für die eigene Pflege entlassen werden sollte. Für Bezieher 4.3 Bewertung des Reformvorschlags niedriger Einkommen ergeben sich aus einer Begrenzung und mögliche Alternativen der SPV-Leistungen und Stärkung der Eigenverantwortung im Übrigen keine Nachteile. Der Staat springt – entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip – nach wie vor mit der Sozialhilfe Die beträchtlichen Leistungsausweitungen des geplanten Re- (Hilfe zur Pflege) bei finanzieller Bedürftigkeit unterstützend formvorschlags erzeugen eine Illusion der Sicherheit, die auf ein. Das Argument der finanziellen Überforderung der älteren Dauer nicht aufrechterhalten werden kann und letztendlich an Generationen ist ebenfalls nur bedingt haltbar. Der überwie- den Finanzierungserfordernissen scheitern muss. Sinnvoller gende Teil der Rentnerhaushalte ist sehr wohl in der Lage, wäre es, die Bevölkerung verstärkt für eigenverantwortliche die Pflege selbst zu bezahlen. So verfügen fast 72 Prozent Vorsorge zu sensibilisieren sowie darauf hinzuarbeiten, die ebendieser über ausreichende Einkommens- und Vermö- SPV zukunftsfest zu machen und dabei eine Begrenzung genswerte, um einen einjährigen stationären Aufenthalt fi- der intergenerativen Lastenverschiebung zu sichern. Eine nanzieren zu können. Selbst eine fünfjährige stationäre Ver- solche Begrenzung kann allerdings nur gelingen, wenn die sorgung könnten noch 67 Prozent finanzieren (Kochskämper Leistungen der SPV nicht ständig weiter ausgebaut werden. et al., 2020). Im Sinne der intergenerativen Solidarität ist es notwendig, als Kompatibel mit dem Gedanken der Eigenverantwortung Gesellschaft Eigenverantwortung, Eigenvorsorge und Subsi- und Eigenvorsorge sind unter anderem kapitalgedeckte pri- diarität stärker zu betonen. Wer individuell vorsorgen kann, vate Zusatzversicherungen zur Absicherung späterer Pflege- sollte dies tun, um das Kollektiv zu entlasten. Kommt jede kosten. Da das Pflegebedürftigkeitsrisiko erst in hohem Alter Generation verstärkt selbst für ihre Pflegeleistungen auf, las- stark zunimmt, besteht gerade für Jüngere ein ausreichender sen sich die negativen intergenerativen Folgen der Bevölke- Zeithorizont, um auch mit akzeptablen Beträgen eine nen- rungsalterung erheblich abmildern. Die SPV soll dabei keines- nenswerte Zusatzabsicherung aufzubauen. In Kombination wegs abgeschafft, sondern in einem finanzierbaren Umfang damit wäre die Einführung einer Karenzzeit denkbar, die dazu gehalten und sinnvoll ergänzt werden. beitragen kann, die Ausgabendynamik in der SPV deutlich zu Die Verpflichtung, das eigene Einkommen und Vermö- bremsen. Die Karenzzeit beschreibt dabei den leistungsfreien gen im Falle von Pflegebedürftigkeit einzusetzen, sollte kein Zeitraum zwischen Entstehung des Leistungsanspruchs (Ein- Tabu sein, denn von der Einführung der SPV dürften vor tritt der Pflegebedürftigkeit) und dem tatsächlichen Beginn allem die Bezieher mittlerer und hoher Einkommen profitiert von Leistungszahlungen der SPV. Bereits eine einjährige Ka- haben. Es gibt somit keine überzeugende Begründung, wa- renzzeit kann die implizite Verschuldung der SPV wesentlich rum dieser ökonomisch leistungsfähige Teil der Gesellschaft reduzieren und der Beitragssatzdynamik Einhalt gebieten noch stärker als bisher aus der finanziellen Verantwortung (Bahnsen et al., 2019). 17
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