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Webforum - Wann genug ist, entscheide ich Entscheidungsfindung und Entscheidungsfreiheit am Lebensende mit der Option Assistierter Suizid SNF-Spark-Projekt 01.02.2020-31.03.2021 Dr. Eva Birkenstock ▶ Institut Berner Alter Fachhochschule | Institut Alter
Gliederung 1. Ausgangslage 2. Theoretischer Hintergrund 3. Zentrale Fragestellung 4. Methode und Durchführung der qualitativen Datenerhebung 5. Ergebnisse zu einzelnen Schwerpunkten 5.1. Grundwerte 5.2. Hauptgründe für die Erwägung eines AS 5.3. Die Rolle der Angehörigen 5.4. Die Rolle der institutionellen Angebote 5.5. Die Rolle der Gesellschaft 5.6. Der AS als Lebens(qualitäts)versicherung 6. Fazit Berner Fachhochschule | Institut Alter 2
1. Ausgangslage ▶ Gewaltsame Suizide CH: 15 von 1000 Menschen, 1,5 % ▶ Assistierte Suizide (AS): 18 von 1000 Menschen, 1,8 % der Bevölkerung (BFS 2020). ▶ Weltweit steht die Schweiz hinsichtlich der Todesursache Suizid an 18. Stelle (WHO 2016). ▶ Der AS wird durch zwei normative Systeme geregelt: ▶ Das Recht (Legalität) zwei Bedingungen: ▶ 1) Sterbewillige müssen die Substanz selbst einnehmen/sich zuführen ▶ 2) Begleitende dürfen keine eigennützigen Motive haben ▶ Die Leitlinien der SAMW (Legitimität) verlangt zusätzlich: ▶ 1) die Feststellung der Urteilsfähigkeit ▶ 2) dass „die Krankheitssymptome und/oder Funktionseinschränkungen […] Ursache unerträglichen Leidens“ sind (SAMW 2018) Berner Fachhochschule | Institut Alter 3
2. Theoretischer Hintergrund Legalität, Recht und Gesetz § Legitimität, Moral und Ethik ▶ Was nicht gegen geltendes Recht ▶ Nicht alles, was legal ist, ist auch moralisch verstösst, ist erlaubt legitim (vgl. Verdingkinder) ▶ Sphäre der Wertannahmen, die einem ▶ AS ausserordentlicher Todesfall stetigen sozio-politischen Wandel ▶ forensische Untersuchung unterliegen ▶ AS wird ethisch enger eingegrenzt als juristisch ▶ Es gibt keine klare Autoritäten ▶ Es gibt klare Autoritäten ▶ 4 Grundprinzipien Medizinethik ▶ Organe der Rechtspflege ▶ 1. Selbstbestimmungsrecht ▶ 2. Prinzip der Schadensvermeidung ▶ 3. Patientenwohl ▶ 4. Soziale Gerechtigkeit Berner Fachhochschule | Institut Alter 4
3. Zentrale Fragestellung ▶ moralische Legitimität? ▶ wie frei ist Entscheidungsfreiheit? ▶ «Überall, wo in strengerem Sinne von einem Entweder/Oder die Rede ist, darf man jederzeit sicher sein, dass das Ethische mit im Spiel ist.» ▶ Søren Kierkegaard Entweder-Oder II, 151 August Macke, Gemüsefelder Berner Fachhochschule | Institut Alter 5
4. Methode und Durchführung der Datenerhebung Philosophie und Empirie Auswertung ▶ Rekrutierung für narrative Interviews: Exit, ▶ Wörtliche Transkribierung (ca. 600 S. Dignitas, Lifecircle, ALS, Rundmail der Textmaterial) Stadt Bern und der BFH, einzelne ▶ Anonymisierung Dienstleister im Bereich Gesundheit ▶ Codierung mit Hilfe der Software MAXQDA ▶ Hoher Rücklauf, Auswahl nach dem Diversität (Wohnort, Rekrutierungsquelle) und Ausgewogenheit der Geschlechter Daten zu den Interviewpartner*innen: ▶ 40 Interviews mit 41 Personen (34 Video- ▶ Geschlecht: 19 Frauen, 22 Männer (1 oder Telefonanruf, 6 persönlich) Interview mit Paar) ▶ Durchschnittsalter: 65 Jahre (älteste Person 92, jüngste 43) ▶ Wohnorte: 13 verschiedene überwiegend deutschsprachige Kantone und Frankreich Berner Fachhochschule | Institut Alter 6
5. Ergebnisse zu einzelnen Schwerpunkten 5.1. Ars moriendi – Die Kunst des guten Sterbens ▶ Vorsorge, Patient*innenverfügung, Werteerklärung Interview 3: „Ich habe eine Vorsorge geschrieben. Ich habe ein Testament geschrieben. Ich habe eine Urne bei mir im Kleiderschrank. Da hängen die Hosen und unten steht die Urne.“ ▶ Wunsch nach Sprechen über Sterben und Tod ▶ Biographische Erfahrungen Frühe bzw. einschneidende Erfahrungen mit Tod / Suizid im persönlichen Umfeld führen zu Auseinandersetzung mit Thema; negative, wie positive Erfahrungen mit Sterben als Motive für Entscheidung zum AS Wünsche Liberalisierung Sterbehilfe, Selbstbestimmung, Jungbrunnen, passender Ort zum Sterben, „natürlich“ einschlafen zu können Berner Fachhochschule | Institut Alter 7
5.1. Grundwerte Freiheit Würde ▶ Objektiv ▶ Objektiv ▶ Grundwert und Grundrecht ▶ Attribut des Menschseins, als gesetzlich garantiert Menschenrecht garantiert ▶ Subjektiver Handlungsspielraum ▶ Subjektive(s) Würde(empfinden) ▶ Interview 33: „Meine ▶ wird kommunikativ begründet Hauptbegründung, warum ich ▶ Interview 9: „Es gibt eine Würde, die Sterbehilfe unterstütze ist, dass es wir alle haben. Jemand, der sehr ein wichtiges Element der krank ist und der hilfebedürftig ist, individuellen Freiheit ist. Ich bin der behält z. B. weiterhin seine eigentlich entsetzt, dass die Länder, Würde. Das ist nicht unserer die die Freiheit erfunden haben, das unwürdig, dass man sich den Po sind England und Frankreich, noch abwischen lassen muss oder baden so restriktiv sind.“ lassen muss. Das ist diese objektive Würde, aber dann gibt es ein subjektives Würdeempfinden, und das ist von Mensch zu Mensch verschieden.“ Berner Fachhochschule | Institut Alter 8
Freiheit von Autoritäten als Voraussetzung für Selbstbestimmung ▶ Interview 31: „Wenn ein expliziter Wille vorliegt, das ist für mich der Punkt, wo kein Gesetzgeber und kein Arzt oder kein Priester oder wer auch immer, das in Frage stellen darf und sagt, das ist mit moralisch- ethischen Grundsätzen nicht vereinbar.” Berner Fachhochschule | Institut Alter 9
5.2. Hauptgründe für die Erwägung eines AS ▶ 1) Kognitive Einbussen ▶ Bei ¾ der Befragten AS als Option bei kognitiven Einbussen, z.B. durch Demenzerkrankung und die damit einhergehende Persönlichkeitsveränderung Interview 24: „ Ich bin in eine Angehörigengruppe gegangen und war auch mit der Alzheimer-Vereinigung immer wieder in Kontakt, und mich hat das sehr beschäftigt. Ich habe mich immer wieder damit auseinandergesetzt und habe dann einfach gefunden: wenn es mich trifft, möchte ich sagen: ‚nein, diesen Weg möchte ich nicht gehen’” . ▶ 2) Irreversible Situationen mit Pflegebedarf ▶ Bei mehr als der Hälfte (23) der Interviews AS als Option bei irreversibler Situation mit mittelintensivem bis intensivem Pflegebedarf ▶ 3) Lebenssattheit, Lebensmüdigkeit, Bilanzsuizid ▶ Interview 1: „Wenn ich finde, ich hatte ein gutes Leben, dann könnte ich ja auch einfach einmal sagen: ‚es ist gut, es ist jetzt genug’. Ich möchte dann nicht auf irgendein unwürdiges Mittel zurückgreifen müssen wie mich vor einen Zug werfen oder mich zu Tode hungern.” Berner Fachhochschule | Institut Alter 10
Akzeptanz/Ablehnung von Langzeitpflege Akzeptanz Ablehnung ▶ wenn Selbstbewusstsein erhalten ▶ aufgrund von schlechten bleibt Erfahrungen ▶ Ablehnung der Reduktion auf ein ▶ bei subjektivem Wohlbefinden Objekt ▶ Ablehnung der Abhängigkeit von ▶ bei Möglichkeit der positiven Technik Interaktion ▶ Häufig ist die Ablehnung grundsätzlicher Art und nicht mit einem Verbesserungsauftrag verbunden Berner Fachhochschule | Institut Alter 11
5.3. Mikroebene: Die Rolle der Angehörigen ▶ Akzeptanz eines AS Interview 24: „Hinterbliebenen sagen, dass sie gut alleine zurecht kommen können ohne die Person, die stirbt. Dass die Person, die stirbt, weiss, sie kann gehen und die anderen können auch loslassen.” ▶ Belastung durch einen AS ▶ Interview 28: „Für die Angehörigen ist das brutal. Es ist brutal, wenn jemand aktiv geht, und das Wissen, am nächsten Donnerstag ist dann mein Vater tot, also das ist … das geht ja dann sehr rasch, dann verliert man innert wenigen Tagen einen Liebsten.” ▶ Entlastung durch einen AS Interview 22: „Wenn du jemand gernhast, dann willst du ihn nicht belasten. Er hat auch ein Leben. Er hat sich dafür entschieden, es mit dir zu teilen, aber trotzdem kann er sein Leben selbst leben, weisst du, frei sein.” Berner Fachhochschule | Institut Alter 12
5.4. Mesoebene: Die Rolle der organisationalen Angebote ▶ Ärztliche Beratung und Begleitung Interview 32: „Man sollte wirklich das Recht haben, wenn man es begründen kann und vor allem im Alter, müsste man mit dem Hausarzt vereinbaren können: ‚jetzt ist genug, dann bekomme ich jetzt das Tablettchen oder die zwei, drei Tablettchen‘”. Ansprechen des Themas mit dem Hausarzt / der Hausärztin ▶ Beratung und Begleitung durch Sterbehilfeorganisationen Beratung bei schwierigen Entscheidungen (z.B. Zeitpunkt), Entlastung, (z.B. bezüglich des Umgangs mit der Polizei), in manchen Fällen Lebenshilfe: Interview 18: „Also ich kann nur sagen, die Sterbehelferin hat meiner Frau immer sehr viel Mut gemacht durchzuhalten. Ich glaube, meine Frau hätte ohne sie nicht so lange durchgehalten.” Berner Fachhochschule | Institut Alter 13
5.5. Makroebene: Die Rolle der Gesellschaft Akzeptanz des AS in Gesellschaft Sozialer und finanzieller Druck Berner Fachhochschule | Institut Alter 14
5.6. Der AS als Lebens(qualitäts)versicherung ▶ Den meisten genügt, es, die Option zu haben, den „Notausgang“: ▶ Interview 11: „Das ist einfach für mich so wie der Notausgang, wenn es einmal nicht mehr ginge, dass ich dann da nicht irgendwie müsste dahinsiechen.” ▶ Stärkstes Argument: AS als Alternative zu gewaltsamen Suiziden, z.T. sogar als Prävention Abstrakte Aussagen dezidiert und engagiert (gegen Autoritäten, die der Selbstbestimmung engere Grenzen setzten) Praktische Aussagen zurückhaltend und vorsichtig Berner Fachhochschule | Institut Alter 15
6. Fazit ▶ Eine Entscheidung für einen AS geschieht innerhalb eines historisch gewachsenen Wertesystems ▶ Dieser Wertehorizont wurde von der Mehrheit der Interviewten positiv und aktiv als eigener Standpunkt vertreten ▶ Empfindlichkeit gegenüber Doppelmoral, was Selbstverantwortung betrifft (erwünscht - nur am Lebensende nicht) ▶ 39 von 41 Interviewpartner*innen gaben an, dass finanzielle Erwägungen oder sozialer Druck für ihre Entscheidung keine Rolle spielten ▶ Es wurde deutlich unterschieden zwischen den persönlichen Präferenzen und verallgemeinerbaren Aussagen ▶ Ein durchdachter Verzicht auf Pflege sollte nicht als generelle Abwertung verletzlichen Lebens verstanden werden – hier gilt nicht «entweder-oder», sondern «sowohl als auch» ▶ https://www.knoten-maschen.ch/wann-genug-ist-entscheide-ich/ Berner Fachhochschule | Institut Alter 16
Danke für Ihre Aufmerksamkeit eva.birkenstock@bfh.ch Berner Fachhochschule | Institut Alter 17
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