WIE WIRD MAN GLÜCKLICH? - PSYCHOLOGISCHE UND KULTUR-WISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN

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WIE WIRD MAN GLÜCKLICH?
PSYCHOLOGISCHE UND KULTUR-
WISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN
von Sebastian Muders

«Wie wird man glücklich?» – Diese zeitlose    Universität Zürich (UZH) sowie am
Menschheitsfrage lässt sich natürlich bei     Departement Soziale Arbeit an der
weitem nicht in einem einfachen Gespräch      ZHAW und Frau Wagner, Postdokto-
beantworten oder auch nur in ihrer            randin am Psychologischen Institut
Tiefe ausloten. Wir möchten aber einmal       der UZH, wo sie am Lehrstuhl für
erkunden, wie neben der Philosophie           «Persönlichkeitspsychologie und
auch andere Disziplinen mit dieser Frage      Diagnostik» forscht und den CAS in
umgehen: Was bedeutet «Glück» für             Positiver Psychologie co-leitet.
sie jeweils? Und inwieweit kommen
verschiedene Wissenschaften in der Frage,     Sebastian Muders (S): Liebe Frau Muri,
was uns glücklich macht, zu ähnlichen,        liebe Frau Wagner, bevor wir wissen
ja vielleicht sogar einander bestärkenden     können, was uns glücklich macht, ist es
Ergebnissen? Oder stehen ihre Antworten       lohnend, sich vielleicht zunächst über den
gar in Konkurrenz zueinander?                 Gegenstandsbereich zu vergewissern,
                                              den Ihre Disziplinen unter dem Stichwort
Darüber unterhalte ich mich mit zwei          «Glück» angehen. Wonach fragen Sie
Wissenschaftlerinnen der Universität          also, wenn Sie nach dem Glück fragen?
Zürich, Frau Gabriela Muri aus dem Fach
Empirische Kulturwissenschaft und Frau        Lisa Wagner (W): Ich arbeite in der
Frau Lisa Wagner aus der Psychologie.         Diagnostik, und da betrachten wir Glück
Frau Muri ist Professorin für Populäre Kul-   zuvorderst als messbares Phänomen.
turen am Institut für Sozialanthropologie     Wir haben da eine ziemlich einfach
und Empirische Kulturwissenschaft der         anmutende Herangehensweise: Wir

30.6.2020
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Prof. Dr. Gabriela Muri                          Dr. Lisa Wagner

fragen die Leute schlicht, wie glücklich sie     überwiegen. Beides scheint entscheidend
sind. Dabei interessiert uns einmal, wie         zu sein für das Glück der Personen. Dabei
zufrieden sie mit ihrem Leben sind, sei          ist es natürlich nicht ungewöhnlich, wenn
es insgesamt oder in einem bestimmten            beide gleichzeitig vorliegen – ich fühle mich
Bereich daraus, z. B. dem Berufsleben. Und       etwa zufrieden, und bewerte mein Leben
zweitens fragen wir nach dem aktuellen           dementsprechend –, aber sie können im
Befinden. In beiden Hinsichten stützen wir       Einzelfall doch auseinanderfallen.
uns mithin ganz stark auf das Urteil des
jeweils Befragten.                               S: Wie etwa wenn ich jeden Abend nach
                                                 Feierabend fünf Bierchen zu mir nehme, in
S: Diese beiden Bereiche markieren               einer gelösten Stimmung bin, aber dennoch
vermutlich einen unterschiedlichen               mein derzeitiges Leben nicht als glücklich
Gegenstand, worüber sich das Urteil der          bewerten kann, wenn ich mich darum
befragten Personen dreht: In zweiten Fall ist    sorge, ob ich nicht vielleicht gerade in eine
das vielleicht eher eine Art von Gefühl – man    Alkoholabhängigkeit hineinschlittere …
kann sich besser oder schlechter fühlen,
und daraus speist sich das Befinden –, und       W: Ja, es mag manchmal verführerisch
im ersten eine Bewertung: Wie stuft man          erscheinen, sich auf eine der beiden
das eigene Leben oder einen bestimmten           Glücksaspekte zu konzentrieren, aber beide
Aspekt daraus ein. Beide Arten von Glück         sind wichtig und auch nicht aufeinander
kommen auch in unserem alltäglichen              zurückzuführen.
Sprachgebrauch vor: So sprechen wir davon,
dass wir uns glücklich «fühlen», beschreiben     S: Frau Muri, welche Perspektive hat die
aber andererseits auch bestimmte                 Sozialanthropologie auf das Thema «Glück»?
Lebenssituationen als «glücklich», etwa
eine glückliche Kindheit. Im diesem zweiten      Gabriela Muri (M): Neben meiner Anstellung
Fall meinen wir damit ja in der Regel nicht,     am Institut für Sozialanthropologie bin ich ja
dass wir in der Kindheit fast ständig dasselbe   ebenfalls am Department «Soziale Arbeit»
Hochgefühl hatten …                              an der ZHAW tätig. Dementsprechend
                                                 betrachte ich Glück auch in Bezug auf die
W: Ja, im Grunde schon. In der Psychologie       gesellschaftlichen Umstände, die dafür
sprechen wir von der kognitiven                  verantwortlich sind, wie wir Glück erfahren,
Komponente von Glück, die eher diesen            und lege hier meinen Fokus insbesondere
Bewertungs-Aspekt fasst, und seinem              auf die soziale Ungleichheit, die auch
affektiven Bestandteil, der mehr auf das         beim Glückserleben vorhanden ist. Dabei
Gefühlige beim Glück verweist, auf positive      konzentriere ich mich auf die Frage, wie
Emotionen, die gegenüber negativen               gesellschaftliche Voraussetzungen und
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   Normen entscheidend für die Erfahrung         romantischen Liebe: Ist die heutzutage
   von Glück sind. Dazu zwei Beispiele:          tatsächlich in einem interessanten Sinne
   Einerseits ist seit dem 19. Jahrhundert       vorgegeben? Kann man in unserer heutigen
   die romantische Liebe bedeutsam für die       Gesellschaft nicht ebenso gut eine sehr viel
   Bewertung des eigenen Glücks; diese aber      bindungslosere Beziehungssuche verfolgen
   ist natürlich im hohen Masse abhängig         und diese bei einem erfolgreichen
   von kulturellen Vorstellungen. Weiterhin      Findeprozess für sein eigenes Glückskonto
   wissen wir aus der Erzählforschung, dass      verbuchen, was in Konflikt mit dem
   in biographischen Interviews, in denen        beschriebenen Ideal aus dem 19. Jahrhun-
   sich jemand Rechenschaft über das eigene      dert stehen würde?
   Leben ablegt, die positiven Erlebnisse
   viel stärker gewichtet werden als die         M: Die Soziologin Eva Illouz hat als
   negativen. Es herrscht das Narrativ eines     Antwort darauf sehr schön beschrieben,
   geglückten Lebens vor, entsprechend wird      dass die traditionelle Vorstellung von
   die Erzählung rückblickend so gestaltet,      der romantischen Liebe als Ideal und
   dass das Leben in hellerem Licht erscheint,   konsumierbare Ware einerseits sehr wohl
   als es vielleicht tatsächlich verlaufen       immer noch präsent ist, andererseits
   ist. So wird etwa eine Hochzeit(sfeier)       der Wunsch nach individueller Freiheit
   besonders herausgestrichen, oder die          in einem Spannungsfeld dazu steht. Als
   Lebensphase, als Kinder noch klein            normatives Leitbild für ein glückliches
   waren, wird trotz anstrengender Phasen        Leben ist sie gleichwohl immer noch
   als beglückend beschrieben. Auch hier         vorhanden.
   sind gesellschaftliche Normen im Spiel,
   und das führt auch dazu, dass Menschen,       S: Sie beide haben die hohe Subjektivität
   deren Leben nicht den standardisierten        des Glücks ins Spiel gebracht: Frau Muri
   Vorstellungen entspricht, ihr Leben           mit dem gerade erfolgten Verweis auf
   als gescheitert oder weniger gelungen         unsere individuelle Freiheit, Frau Wagner
   betrachten könnten.                           mit der in Psychologie vorherrschenden
                                                 methodischen Herangehensweise, dass
   S: Das heisst für unser Glück, wenn ich Sie   wir nämlich die Menschen selbst fragen
   richtig verstehe, zweierlei: Erstens ist es   müssen, um herauszufinden, wie glücklich
   eher etwas, was wir erschaffen und weniger    sie sind. Genau besehen handelt es sich
   etwas, was von uns als Gegeben erfahren       hierbei um zwei verschiedene Aspekte
   werden kann; und zweitens gehorcht selbst     eines möglichen Glückssubjektivismus:
   dieses Erschaffen bewusst oder unbewusst      Subjektiv einerseits in Bezug auf die Frage,
   Mustern, wie sie von gesellschaftlichen       was das persönliche Glück ausmacht;
   Konventionen vorgegeben werden. Aber          subjektiv andererseits mit Blick darauf,
   nehmen wir hier Ihr Beispiel von der          wer die Autorität hat festzustellen, ob eine
                                                 Person glücklich ist oder nicht. Vielleicht
                                                 fangen wir mit dem letzten Aspekt und
«In der Psychologie vertrauen                    damit mit Frau Wagner an: Was sind hier
wir ganz klar darauf, dass in                    die entscheidenden Prämissen, die Sie zu
                                                 dieser Methodik greifen lassen?
Sachen Glück jeder selbst am
                                                 W: Tatsächlich wird in der Persönlichkeits-
besten weiss, wie es ihm oder                    psychologie, also dem Bereich, wo ich
ihr geht.» (Wagner)                              arbeite, bei bestimmten Selbstein-
                                                 schätzungen von Personen kritisch
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  hinterfragt, ob die Person überhaupt in        W: Tatsächlich gibt es dieses Problem, was
  der Lage ist, darüber vorurteilsfrei und       auch allgemein mit der Funktionsweise
  ehrlich Auskunft zu geben. Etwa wenn           unseres Gedächtnisses zu tun hat, das
  gefragt würde, wie gut sich eine Person        besonders einschneidende Erlebnisse,
  als Autofahrer einstufen würde. Dort wird      aber auch positive Erlebnisse häufig
  dann oftmals zusätzlich eine dritten Partei    besser memoriert. In Folge dieses Befunds
  mit einbezogen, die die Einschätzung           gibt es dann auch tatsächlich nur selten
  desjenigen, dessen Autofahrküste beurteilt     Anlass, sich bei Personen nach ihrem weit
  werden sollen, bestätigen soll. Aber wenn es   zurückliegenden Empfinden zu erkundigen,
  um die eigene Lebenszufriedenheit geht, ist    eben weil solche Aussagen nicht besonders
  tatsächlich das Urteil der infrage stehenden   verlässlich sind. Hier wird daher häufig auf
  Person selbst der Goldstandard. Zwar gibt      Längsschnittstudien zurückgegriffen, in
  es auch hier Studien, bei denen in diesem      denen man dieselben Leute wiederholt über
  Bereich dritte Personen, etwa Freunde          viele Jahre hinweg nach ihrer momentanen
  oder Arbeitskollegen, gebeten werden,          persönlichen Einschätzung fragt, was ihr
  ihre Einschätzung des Glücks von jemanden      Lebensglück betrifft.
  wiederzugeben, und dann kam es auch
  zu weitestgehender Übereinstimmungen           S: Aber was machen Sie jetzt, wenn Sie
  mit dem Urteil der Beurteilten. Dessen         beispielsweise angesichts der Corona-
  unbeschadet vertrauen wir ganz klar darauf,    Krise herausfinden wollen, wie sich die
  dass in Sachen Glück jeder selbst am besten    angenommene Einbusse an Glück im
  weiss, wie es ihm oder ihr geht.               Verhältnis zu ähnlichen Epidemien in der
                                                 Vergangenheit verhält? Ende der 60er etwa
  S: Aber wie gehen Sie dann mit dem Befund      hatten wir die Hongkong-Grippe, das wäre
  von Frau Muri um, dass man sein Leben          jetzt 50 Jahre hier. Wie gehen Sie vor, wenn
  rückblickend oftmals nach Narrativen           Sie herausfinden wollen, wie der Umgang
  sucht, die das Leben in einem positiven        mit solchen Krankheiten damals aussah,
  Licht erscheinen lassen. Bei Fragen nach       zumindest was die Auswirkungen auf die
  dem momentanen Gefühlszustand scheint          persönlich angegebene Lebenszufriedenheit
  ein solches Bemühen vernachlässigenswert       angeht?
  zu sein – man kann sich wohl schlecht
  davon überzeugen, dass man sich gut fühlt,     W: In Bezug auf die Hongkong-Grippe
  wenn man das gerade nicht tut –, aber          haben wir da keine so weit zurückliegende
  bei Beurteilungen des eigenen Lebens, die      Daten, aber beispielsweise hat es 2008 im
  weiter zurückreichen, dürfte dieser aus        Zuge der Finanzkrise eine Studie in Island
  kulturwissenschaftlicher Perspektive in        gegeben. Damals herrschte dort eine hohe
  Rechnung gestellte Effekt doch beachtlich      Arbeitslosigkeit, und die Erwartung war, dass
  sein?                                          das zu einem Einbruch des Wohlbefindens
                                                 der dort Befragten führt. Tatsächlich war
                                                 aber das Gegenteil war der Fall, mit den
«In Städten wie Zürich                           stärksten positiven Ausschlägen bei Kindern
dominiert ein eventisiertes                      und Jugendlichen ...

Glücksstreben, das                               S: … weil ein Elternteil die Arbeit verloren
entsprechende ökonomische                        hat, war er jetzt mehr zu Hause, was diese
                                                 Personengruppe gefreut hat, vermute ich?
Möglichkeiten verlangt, um                       Waren denn einige dieser Effekte denn auch
gelebt zu werden.» (Muri)
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bei den Eltern zu beobachten? Das wäre ja        Glück als «subjektiv» in dem Sinne, dass des-
ein wichtiger Hinweis auf die alte Wahrheit,     sen Bedingungen letztlich auf bestimmten
dass Geld eben doch nicht alles im Leben ist,    gesellschaftlichen Überzeugungen beruhen.
sondern funktionierende Nahbeziehungen,          Stimmen Sie diesen Überlegungen in etwa
etwa in Form der Familie, dabei auch ein         zu?
Wörtchen mitzureden haben?
                                                 M: Gerade in urban ausgerichteten Mi-
W: Tatsächlich gab es auch bei den               lieus dominiert in der Tat ein eventisiertes
Erwachsenen zwar keine besonders                 Glücksstreben, dass entsprechende öko-
positiven Ausschläge, aber eben auch nicht       nomische Möglichkeiten verlangt, um ge-
den erwarteten Einbruch. Und ich weiss           lebt zu werden. Wir haben an der ZHAW
nicht, ob man damals bereits diese Schlüsse      ein Nationalfondsprojekt abgeschlossen, in
gezogen hat, aber in diese Richtung würde        dem wir am Fallbeispiel Zürich untersucht
man heute sicher denken, ja.                     haben, wie Städte heute zu urbanen Bühnen
                                                 der Erlebnissteigerung geworden sind. Hier
S: Dann müsste in der gegenwärtigen Situa-       werden nicht zuletzt bestimmte Lebensstile
tion ja geradezu eine Goldgräberstimmung in      inszeniert: Man trifft sich im Kaffee, in schi-
Ihrer Disziplin herrschen? Viele Menschen sind   cken Läden, in Party-Lokalen, an exklusiven
in Kurzarbeit, die Familien waren mangels        Events, und dafür sind natürlich finanzielle
Alternativen und angesichts der Ausgehbe-        Ressourcen notwendig. Dennoch hält dieser
schränkungen zumindest in den Krisenmona-        Trend ungebrochen an: In Zürich etwa sind
ten März und April gezwungenermassen näher       die Gesuche auf Event-Bewilligung von rund
zusammengerückt … Müsste man da nicht            200 im Jahre 1980 auf 1100 gestiegen, bis
gerade jetzt bei möglichst vielen Betroffenen    zu 24000 Veranstaltungen finden hier pro
nachhaken, ehe der vorhin besprochene Ro-        Jahr statt. Entsprechend lassen sich negativ
sarote-Brillen-Effekt einsetzt?                  konnotierte Trends wie Gentrifizierung dazu
                                                 in Beziehung setzen, auch Probleme wie
W: Ja, wir an der Professur für Persönlich-      Lärm und Littering nehmen in den Städten
keitspsychologie und Diagnostik sitzen gerade    zu. Gerade diese Formen des kollektiven Er-
an einer solchen Studie zu Fragen des Ein-       lebens sind durch Corona natürlich empfind-
flusses des Charakters auf dem Empfinden in      lich gestört, und es wäre sehr interessant zu
der aktuellen Situation. Aber es gibt auch an    untersuchen, wie die erzwungene «Feier-
vielen anderen Stellen Bemühungen in diese       pause» sich nun auf unser Glücksempfinden
Richtung, diese einmalige Situation auch von     auswirkt. Und inwieweit vielleicht die Digita-
Seiten der Psychologie mit Studien zu beglei-    lisierung auch in diesem Bereich Alternati-
ten.                                             ven schaffen kann.

S: Für den zweiten Teil der Frage darf ich       S: Sie haben die zunehmende «Eventisie-
mich vielleicht an Frau Muri wenden: Gegeben     rung» als Mittel der Glücksbeförderung
der Abhängigkeit eines bestimmten Glücks-        einer städtisch geprägten Bevölkerungs-
verständnisses von bestimmten kulturellen        gruppe, Glück zu finden, ja durchaus auch
Konventionen, scheint daraus zu folgen, dass
das individuell eigene Glück stark von aus-
sen vorgegeben ist und bestimmten Gruppen        «Der Imperativ, immer
einer Gesellschaft, die diesen Konventionen      glücklich zu sein, kann auch
eher entsprechend können, mehr Glücks-
erfüllungsmöglichkeiten einräumt als anderen     zur Last werden.» (Muri)
Gruppen. Dessen unbeschadet erweist sich
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    negativ charakterisiert. Würden Sie sagen,      tatsächlich hören wir ja Stimmen von
    dass die Betroffenen ihr gutes Leben viel-      Menschen etwa aus dem Home Office,
    leicht zu sehr an solchen Veranstaltungen       die tatsächlich auch so etwas wie
    und dem Sehen und Gesehenwerden aus-            Erleichterung verspüren, ihren Alltag
    richten?                                        entschleunigen konnten und das Gefühl,
                                                    sich in einem Hamsterrad zu bewegen,
    M: Ja. Der Kulturwissenschaftler Walter         wenigstens ein Stück weit verloren haben.
    Leimgruber hat in einem Essay sogar             Vielleicht können wir in der Corona-Krise
    davon gesprochen, dass wir «überglückt»         neue Muster entwickeln, unsere Freizeit
    seien. Wir wollen alles schön haben,            zufriedener zu leben. Dennoch darf man
    überall müssen wir uns gut fühlen, sei          Veranstaltungen und die Event-Branche
    es im Fitnessstudio, im Restaurant, oder        nicht verteufeln, bilden Sie doch einen
    beim Shopping. Der Soziologe Gerhard            Eckpunkt städtischer Lebensqualität,
    Schulze hat hierfür den Begriff der             gerade auch für jüngere Menschen, denen
    «Erlebnisgesellschaft» geprägt. Der             sich so eine Möglichkeit bietet, aus ihrem
    Imperativ, immer glücklich zu sein, kann        Alltag auszubrechen. Wie bei so vielen
    auch zur Last werden. Wir hatten an der         Dingen gilt auch hier: Die Menge macht’s.
    ZHAW eine Studie mit gut verdienenden
    Dreissig- bis Vierzigjährigen aus Zürich, und   S: Sie haben wiederholt jetzt von
    die sagen ganz klar, dass sie eingespannt       der «städtischen» oder «urbanen»
    seien in eine Freizeittriade zwischen           Bevölkerungsgruppe gesprochen. Das
    Aktivitäten mit Freunden, Partnern und          scheint ja ein Hinweis darauf zu sein,
    Kollegen, und es ihnen nur noch schwer          dass unser Glück sehr feingliedrig ist und
    gelänge, den Alltag zu entschleunigen.          zumindest bestimmte gesellschaftliche
    Der Freizeitstress sei allgegenwärtig: Man      Gruppen ihr je eigenes Glück haben
    wolle alle Freunde treffen, auf sozialen        bzw. suchen. Vielleicht noch einmal die
    Netzwerken aktiv sein, dem Partner              Rückfrage an Frau Wagner: Was zeigen Ihre
    genügend Zeit geben… Diese Befunde              Studien da? Ich nehme an, Sie versuchen da
    zeigen, dass für viele die Jagd nach dem        durchaus bestimmte Faktoren und Gruppen
    Glück zunehmend zum Problem wird.               zu isolieren, fragen etwa gutverdienende
                                                    Grossstädter oder junge Familien nach
    S: Tatsächlich scheinen sich hier Glück und     ihren Glückbefinden und -vorstellungen? Als
    das gewöhnlicherweise damit eng verknüpfte      wie individuell erweist sich da das Glück?
    Wohlergehen auseinanderzutreten. Was
    kann man da tun? Müssen wir Corona am           W: In den letzten Jahren wird verstärkt
    Ende sogar dankbar dafür sein, dass uns         danach gefragt, welche unterschiedlichen
    damit eine unverhoffte Pause von all den        psychologischen Faktoren zum Wohlbe-
    (Gross-)Veranstaltungen ermöglicht worden       finden beitragen. Martin Seligmann etwa
    ist?                                            schreibt, dass positive Emotionen ein
                                                    möglicher Weg zum Glück sind, es gibt aber
    M: Zweifellos überwiegen die negativen          auch andere: Engagement etwa, das Sich-
    Folgen von Corona die positiven, aber           Vertiefen in Tätigkeiten, oder natürlich die
                                                    Pflege von Nahbeziehungen.
«Die Corona-Beschränkungen
                                                    S: Nehmen wir gleich einmal den Fall
eröffnen uns auch die Möglich-                      persönlichen Engagements. Man könnte jetzt
                                                    denken, dass ich mich genau dann für etwas
keit, über unser eigenes Glück                      engagiere, wenn mir das in irgendeiner
nachzudenken.» (Muri)                               Hinsicht positive Emotionen einbringt und
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ich mich etwa daran erfreue, mit und für        machen. Positive Emotionen sind da ein
Amnesty International gegen Ungerechtigkeit     Bestandteil, aber nicht alles. Ähnlich wie
zu kämpfen. Dann aber könnte man denken,        bei Ihnen wird in den vergangenen Jahren
dass es also auch beim Engagement letztlich     verstärkt auch die Kategorie des «Sinns» als
nur um positive Emotionen geht?                 wichtiger Teil des guten Lebens diskutiert:
                                                Bestimmte Dinge tun wir nicht, weil sie uns
W: Tatsächlich sind mit «Engagement»            etwas bringen und auch nicht, weil wir dazu
hier Tätigkeiten gemeint, die uns in einem      verpflichtet sind, sie zu tun; wir tun sie um
bestimmten Zustand versetzen, in dem wir        anderer Dinge oder Personen willen. Wie
sozusagen Raum und Zeit vergessen und in        stark werden denn solche philosophischen
einem «Flow» geraten. Das ist ein bisschen      Theorien in Ihrer Disziplin rezipiert?
etwas anderes als die von Seligmann
beschriebenen positiven Emotionen und           W: Sicher nicht so sehr, wie sie es verdient,
wird zumindest im Nachhinein von vielen         aber bei uns ist etwa Aristoteles gerade
als wünschenswert empfunden. Es gibt            «in», der ja eines der grundlegenden Werke
Studien, die zeigen, dass man das bei ganz      zum guten Leben geschrieben hat, die
vielen Tätigkeiten erleben kann, etwa auch      Nikomachische Ethik. Auch dort werden
beim Putzen des heimischen Kühlschranks…        verschiedene Wege zum Glück beschrieben,
Davon nochmal zu unterscheiden wäre die         wobei Aristoteles gleichzeitig betont, dass
Art von Engagement, die Sie angesprochen        zum Glück nicht nur unser eigener Einsatz,
haben: Wer aus Idealismus für Amnesty           sondern auch Faktoren gehören, auf die wir
tätig wird, gibt seinem Leben dadurch           keinen Einfluss haben.
«Sinn». Das ist eine weitere von Seligmann
identifizierte Kategorie, das eigene Glück      S: Das bringt uns zu einer dritten grossen
voranzutreiben.                                 Problemstellung innerhalb des Glück-
                                                Themas, nämlich zur Frage, inwieweit wir
S: Was machen wir dann mit Fällen wie           das Glück in unserer Hand haben. Wenn
dem Tour de France-Fahrer oder auch             ich mich wieder an Frau Muri wenden
dem Marathonläufer, die während ihrer           darf: Wenn sich Glück so sehr über
sportlichen Tätigkeit weder einen «Flow»        gesellschaftliche Konventionen definiert, hat
empfinden noch zumindest währenddessen          dann der Einzelne überhaupt eine Chance,
positive Emotionen damit verknüpfen?            selbstbestimmt glücklich zu sein?

W: Hierfür wiederum gibt es die Kategorie       M: Hier ist vielleicht eine gute
des «Accomplishment», also des Erreichens       Gelegenheit, die Rolle von Zeit und Raum
bestimmter Leistungen, die auch unabhängig      bei der Erfahrung von Glück im Alltag
mit den im Nachklapp häufig dafür               hervorzuheben. Ich habe hierzu auch
empfundenen, positiven Emotionen unser          geforscht, und dabei etwa die kulturelle
Leben bereichern und in der Bewertung           und ökonomische Abhängigkeit unserer
glücklicher machen können.                      Zeitwahrnehmung untersucht. Um
                                                wieder bei der Corona-Krise anzusetzen:
S: Das ist interessant, auch aus                Hier konnten einige ihr erzwungenes
philosophischer Perspektive. Dort sind in
der Ethik, verstanden als philosophischer       «Positive Emotionen sind
Theorie des guten Lebens, seit einigen
Jahren Objektive Liste-Theorien vermehrt        nur ein möglicher Weg zum
im Gespräch, die ähnlich vorgehen wie von       Glück, es gibt andere.»
Ihnen beschrieben, also unterschiedliche
Kategorien auflisten, die ein Leben glücklich   (Wagner)
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  Mehr an Freizeit als positiv erlebtes         immer alle zur selben Zeit unterwegs
  Innehalten nutzen, aber andere – zum          sein? Können wir die Mobilitätskosten,
  Beispiel Arbeitslose, ältere Menschen –,      die aufgrund überlasteter Strassen und
  wiederum nicht. Gleichzeitig haben uns die    überfüllter Züge stetig steigen, nicht durch
  Beschränkungen die Möglichkeit eröffnet,      flexibler verteilte Arbeitszeiten nachhaltig
  über unser eigenes Glück nachzudenken:        senken? Oder indem wir von zu Hause aus
  Macht uns unser Freizeitverhalten wirklich    arbeiten? Ein anderer Bezugspunkt eines
  glücklich? Bestimmen wir darüber, wie wir     Neudenkens von Gesellschaft wäre das
  unsere freie Zeit verbringen, aber auch       Glück der anderen: Was können wir tun,
  unsere Arbeitszeit? Eröffnet uns nicht das    um unseren Blick auf ungleich verteilte
  Home Office gerade auch die Möglichkeit,      Chancen der autonomen Gestaltung von
  über die Arbeitszeit wieder eigenmächtiger    Glückserfahrungen zu schärfen? Wenn wir
  zu verfügen, um diese wieder als              aus finanziellen Gründen am Stadtrand
  glücklicher zu erleben? Gerade Menschen in    wohnen und Schicht arbeiten oder
  Führungspositionen sprechen häufig davon,     Angehörige pflegen müssen, verfügen wir
  dass sie sich nicht mehr Geld wünschen,       über weniger Möglichkeiten, freie Zeit zu
  sondern schlicht mehr Zeit.                   gestalten.

  S: Das kann man jetzt als Hinweis             S: Raum und Zeit – das sind auch Themen,
  interpretieren, dass der Schlüssel zu einem   die Sie, liebe Frau Muri, in Ihrem Beitrag
  selbstbestimmteren Glück vor allem in der     zur «Dreisprung»-Kolumne angesprochen
  kritischen Reflexion über das eigene Leben    haben. Frau Wagner, Sie haben sich dort
  besteht, und hierfür benötigen wir Zeit       mit Fragen von Glück und Charakter
  und Musse. Auch das wäre ja ein Plädoyer      auseinandergesetzt, der ja beim Ziel,
  dafür, sich jetzt mit der Zurücknahme der     wieder mehr Zugriff auf das eigene
  Beschränkungen nicht wieder gleich in         Glück zu erhalten, gewiss auch eine Rolle
  Feierlaune in den Zürcher Event-Zirkus zu     spielt: Unser Charakter ist etwas, was
  stürzen, sondern sich die Zeit zu nehmen,     uns zugehörig ist und was wir in Grenzen
  darüber nachzusinnen, wie man den Besuch      sicher auch ändern können. Hierfür gibt es
  externe Veranstaltungen sinnvoll in das       auch berühmte historische Vorbilder: Der
  eigene Leben integrieren kann, ohne gleich    Stoiker etwa, der meint, beim persönlichen
  wieder in ein Hamsterrad zu geraten …         Glück komme es einzig auf das tugendhafte
                                                Verhalten an, dass im Charakter wurzelt
  M: Ja, genau. Darüber hinaus kann das         und mehr oder minder vollständig in
  Nachdenken über das eigene Leben              unserer Hand liegt?
  uns auch einen neuen Blick auf unsere
  Gesellschaft eröffnen, etwa in Bezug auf      W: Lange Zeit war die Persönlichkeits-
  ökologische Fragen: Müssen wir wirklich       psychologie eher vorsichtig damit, sich
                                                Dingen zuzuwenden, die moralisch
                                                konnotiert waren. Das hat sich in den
«Jeder kann durch                               letzten 20 Jahren aber geändert, und
                                                der Charakter und seine Vollkommenheiten
die Entwicklung seiner                          geraten mehr und mehr in den Blickpunkt
Charakterstärken sein eigenes                   als auch empirisch untersuchbares
                                                Merkmal eines Menschen: Wenn Sie
Leben nachhaltig verbessern.»                   Leute zu bestimmten Charakterstärken
(Wagner)                                        befragen und anschliessend dann ihnen
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nahestehende Personen um ihre Beurteilung       ihre Fähigkeit zur Dankbarkeit als auch
bitten, erhalten Sie eigentlich ganz stabile    Ihre Hoffnung und Zuversicht betreffen.
Übereinstimmungen. Nun ergeben sich             Tatsächlich lassen sich in Studien noch
bei vielen dieser Charakterstärken auch         sechs Monate danach die Effekte dieser
positive Korrelationen zum Glück der            «Charakter-Übung» im Glückserleben von
Befragten: Darunter fallen etwa Neugier,        Personen nachweisen. Natürlich soll diese
Enthusiasmus, Dankbarkeit, Hoffnung oder        Übung nicht dazu führen, keinen Blick mehr
Bindungsfähigkeit. Diese Charakterstärken       für die Dinge zu haben, die nicht so gut
sind weiterhin nicht etwas, was einem           laufen; vielmehr soll Sie Ihnen dabei helfen,
einfach in die Wiege gelegt wird oder auch      auch in Situationen, in denen sich viele
nicht; sie können entwickelt und ausgebaut      bedauernswerten Erlebnisse summieren,
werden, sei es mit Hilfe von Institutionen      die schönen Seiten des Lebens nicht ganz
oder Nahbeziehungen, also etwa Schule           zu vergessen.
oder Eltern, aber auch durch eigene
Leistung. Das schafft nicht jeder gleich        S: Dankbarkeit und Zuversicht sind
gut in allen Bereichen, aber jeder kann         natürlich recht allgemein gehaltene
sich zumindest auf einige dieser Tugenden       Charaktereigenschaften – auch ein Mafia-
konzentrieren und so sein eigenes Leben         Killer mag darüber verfügen, trotz der
nachhaltig verbessern.                          moralischen Verwerflichkeit seiner Taten.
                                                Wie sieht es denn mit moralisch etwas
S: Geben Sie uns doch einmal ein Beispiel       gehaltvolleren Tugenden wie Ehrlichkeit,
dafür: Was würden Sie als Psychologin mir       Bescheidenheit oder Grosszügigkeit aus?
als einen eher pessimistisch gestimmten         Klarerweise dürfte das Verfügen über diese
Menschen beispielsweise raten, um mein          Charaktermerkmale bei vielen Menschen
Lebensglück zu steigern? Vielleicht auch        dazu führen, dass sie ein besseres
gerade in Situationen, wo mir die Welt          Leben leben – denn wer die Laster der
rundheraus die kalte Schulter zu zeigen         Knausrigkeit, der Gier oder der Unehrlichkeit
scheint: Mein Arbeitgeber feuert mich,          offen zur Schau stellt, wird irgendwann
meine Ehefrau verlässt mich, mein Sohn          Schwierigkeiten mit seinen Mitmenschen
will nichts mehr von mir wissen … und dann      bekommen. Gibt es aber abseits des
entdecke ich auf dem Nachhauseweg vor           instrumentellen Werts dieser Tugenden
meiner Haustür ein Gänseblümchen. Wie           aus der Psychologie auch Hinweise darauf,
kann es mir nun gelingen, meinen Charakter      dass sie ihren Träger auch für sich gesehen
so zu formen, dass mir dieses kleine Erlebnis   glücklicher machen?
die Welt wieder schöner erscheinen lässt?
                                                W: Tatsächlich werden auch diese stärker
W: Da gibt es viele Wege, aber eine ganz        moralisch geprägten Tugenden in unseren
einfache Strategie besteht darin, sich          Charakterstudien untersucht, und in der Tat
jeden Abend hinzusetzen und drei Dinge          haben wir auch hier Evidenz dafür, dass sie
aufschreiben, die gut gelaufen sind, und        die Menschen, die sie ausbilden, zufriedener
seien sie auch noch so klein. So lernt          machen. Eine Ausnahme aus ihrer
man, nach und nach die Aufmerksamkeit           Aufzählung ist vielleicht die Bescheidenheit:
auf solche schönen Dinge zu lenken.             Leute, die sich in dieser Kategorie hoch
Wenn Sie diese Übung dann eine Woche            bewerten, tendieren in der Tat nicht
gemacht haben, sollten sich bereits             dazu, ihr eigenes Glück besonders hoch
Verbesserungen in ihrem Blick auf die           einzuschätzen. Aber natürlich sollte man
Welt einstellen, jedenfalls statistisch. In     erwarten, dass gerade ein bescheidener
diesem Fall idealerweise könnte das sowohl      Mensch mit nicht zu hohen Ansprüchen
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an das Leben von diesem auch nicht so           hin zu allen Lebensbereichen in dieser
leicht enttäuscht werden kann und somit         Weise immer angemessen ist: Braucht es
insgesamt zufriedener ist. Allerdings           wirklich so viel Aufwand, um glücklich zu
gibt es empirische Hinweise darauf, dass        sein? Können wir nicht auch mit weniger
die Charakterstärken Bescheidenheit             ein gutes Leben führen? Ich denke, diese
bei älteren Personen stärker mit                Fragen kann man auch in meiner Disziplin
Lebenszufriedenheit zusammenhängt und           durchaus stellen.
dass sich Bescheidenheit positiv auf was
Wohlbefinden nahe stehender Personen            S: Liebe Frau Muri, liebe Frau Wagner,
auswirken könnte.                               herzlichen Dank für dieses Gespräch.

S: Vielleicht wäre das ja gerade so ein Fall,
                                                  Prof. Dr. Gabriela Muri ist
wo man zumindest zusätzlich neben den
                                                  Titularprofessorin am Institut
Personen, deren Glück geprüft wird, Dritte        für Sozialanthropologie und
fragen sollte: Einfach weil man annimmt,          Empirische Kulturwissenschaft
dass die erstere Gruppe aufgrund ihrer            an der Universität Zürich sowie
Bescheidenheit ihren eigenen Glücksstatus         Projektleiterin am Institut für
systematisch unter Wert ankreuzt. Aber            Kindheit, Jugend und Familie
weil Sie vorhin gesagt haben, dass die            am Departement Soziale Arbeit
Psychologie bis vor wenigen Jahren                ZHAW. Sie lehrt und forscht zu
«moralische» Phänomene wie evaluative             folgenden Themen: Raum- und
Charaktermerkmale eher gemieden hat:              zeittheoretische Fragestellungen;
Wie steht die Sozialanthropologie und             Stadt-, Sozialplanung und soziale
damit Frau Muri methodisch zum Umgang             Ungleichheit; Stadtwahrnehmung,
                                                  öffentlicher Raum, Theorie des
mit solchen «wertbehafteten Dingen» wie
                                                  Situativen; Urbane Eventkulturen;
eben den Tugenden?
                                                  Kinder- und Jugendkulturen,
                                                  Intergenerationalität;
M: In meiner qualitativen Forschung               Konsumkultur; Visuelle Kultur und
interessieren mich moralische Phänomene           Medialität; Alltagstheorien.
besonders dann, wenn die Leute sie
selbst ansprechen. Denn ich möchte in             Dr. Lisa Wagner arbeitet als
meinen Interviews erfahren, mit welchen           Postdoktorandin am Psycholo-
Begriffen die Leute ihre Situation und ihr        logischen Institut der Universität
Leben beschreiben. Ich beurteile also             Zürich, wo sie am Lehrstuhl für
ihre Antworten nicht moralisch, aber mich         Persönlichkeitspsychologie und
interessiert, in welchem Zusammenhang             Diagnostik forscht und den CAS
sie zu moralischen Kategorien greifen.            in Positiver Psychologie co-
Wenn sich beispielsweise jemand als               leitet. Nach einem Studium der
                                                  Psychologie an der Universität
«bescheiden» klassifiziert, interessiert
                                                  Trier und einer Station an der
mich, wie er dies begründet und in
                                                  FernUni Brig arbeitet sie seit
Zusammenhang mit gesellschaftlichen
                                                  2012 in Zürich. 2018 promovierte
Normen setzt. Wie vorhin bei unserer              Frau Wagner am Psychologischen
Diskussion zur «Eventisierung» der                Institut. Sie beschäftigt sich
städtischen Lebenswelt angesprochen,              u. a. mit Fragen der Positiven
kann man deren Schattenseiten auch in             Psychologie und arbeitet zum
moralischer Hinsicht problematisieren.            Einfluss von Charakterstärken auf
Gleichfalls kann man überlegen, ob die            unser Wohlergehen.
Eventisierung des Lebens von der eigenen
Hochzeit über den Kindergeburtstag bis
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