Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren? - Joachim Krause ISPK Policy Brief Nr. 8 August 2020

 
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Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren? - Joachim Krause ISPK Policy Brief Nr. 8 August 2020
Joachim Krause

 Wird Russland in Belarus militärisch
 intervenieren?

 ISPK Policy Brief Nr. 8
 August 2020

Demonstration in Belarus im Sommer 2020
Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren? - Joachim Krause ISPK Policy Brief Nr. 8 August 2020
Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?

Das Institut für Sicherheitspolitik (ISPK) gGmbH:
Das ISPK ist als eigenständiges Forschungsinstitut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angegliedert und trägt
mit seiner Arbeit zum sicherheitspolitischen Diskurs in Deutschland bei. Es leistet interdisziplinäre, policy-orientierte
Forschung und agiert undogmatisch und überparteilich. Das Institut widmet sich der universitären Forschung und
Lehre, der Beratung von Politik, Wirtschaft und Medien, politischer Bildung sowie der Förderung des akademischen
Nachwuchses. Die Themenschwerpunkte liegen dabei auf der Konflikt- und Strategieforschung, auf asymmetrischen
Herausforderungen wie z.B. dem Terrorismus und der Analyse und Bewertung sicherheitspolitisch relevanter Entwick-
lungen in den Bereichen deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik, internationale Sicherheitsarchitek-
tur, Stabilisierung gescheiterter Staatlichkeit sowie maritimer Sicherheit.

Kontakt zu dem Autor:
Prof. Dr. Joachim Krause
Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK).
jkrause@politik.uni-kiel.de

    Prof. Dr. Joachim Krause
    Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?
    ISPK Policy Brief Nr.8
    Kiel, 31. August 2020

    Lektorat:
    Stefan Hansen, M.A.

    Impressum:
    Hrsg. von Prof. Dr. Joachim Krause/Stefan Hansen, M.A.
    Institut für Sicherheitspolitik
    an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
    Holstenbrücke 8-10
    24103 Kiel

    ISPK.org

    Die veröffentlichten Beiträge mit Verfasserangabe geben die Ansicht der betreffenden
    Autoren wieder, nicht notwendigerweise die des Herausgebers oder des
    Instituts für Sicherheitspolitik.

    © 2020 Institut für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (ISPK).
    Bildnachweise finden sich am Ende

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Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren? - Joachim Krause ISPK Policy Brief Nr. 8 August 2020
Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?

                                                        dass sich Staaten in dem beanspruchten Ein-
                                                        flussbereich Russlands unabhängig machten
1 Einleitung                                            oder dass bedrohte Verbündete außerhalb
                                                        dieses regionalen Einflussbereiches ihre Macht
Die gegenwärtige Krise in und um Belarus lässt          verlieren. In diesem Zusammenhang gab es
bei Vielen die bange Frage aufkommen, ob                drei unterschiedliche Typen von Militärinter-
Russland militärisch in Belarus intervenieren           ventionen:
wird. Die meisten Beobachter wollen das nicht           • Typ 1: Die bewaffnete Besetzung eines Lan-
ausschließen, halten diese Option aber für re-              des im eigenen regionalen Machtbereich,
lativ unwahrscheinlich. In der Hauptsache wird              welches Unabhängigkeit wollte. Die be-
argumentiert, dass ein derartiger Schritt stra-             kanntesten Beispiele sind die Interventio-
tegisch unklug und riskant wäre, ohne dass nä-              nen in Ungarn (1956) und der Tschechoslo-
her ausgeführt wird, worin das Risiko oder die              wakei (1968). Diese wurden durch reguläre
Unklugheit läge, die der russische Präsident                Verbände der Roten Armee (1968 auch im
Putin eingehen würde. Außerdem sei die Op-                  Verbund mit anderen Streitkräften des
position in Belarus nicht pro-westlich und for-             Warschauer Paktes) durchgeführt, um das
dere keine außenpolitische Umorientierung.                  jeweilige Land wieder voll unter Kontrolle
Andere glauben, dass eine russische Invasion                zu bringen. Sie hatten das Ziel, reformori-
unmittelbar bevorstehe und erste Vorberei-                  entierten kommunistischen Parteikadern
tungen schon laufen. Die Wertigkeit dieser                  und der mit ihnen sympathisierenden Be-
Prognosen nimmt allerdings mit jedem Tag                    völkerung die Grenzen ihrer Unabhängig-
ab, wo diese Intervention nicht stattfindet.                keit aufzuzeigen (Breschnew Doktrin der
                                                            begrenzten Souveränität sozialistischer
Das vorliegende Papier wird diese Frage zu be-              Staaten). Voraussetzung war, dass die
antworten versuchen, indem vor dem Hinter-                  Kontrolle einer streng moskau-orientier-
grund der Analyse unterschiedlicher russi-                  ten kommunistischen Partei über den
scher/sowjetischer Militärinterventionen eine               Staatsapparat in Frage stand. Diese mas-
Typologie verschiedener Interventionsarten                  sive Form der Intervention war in der Sicht
und der Bedingungen erstellt wird, unter de-                der sowjetischen Führung notwendig, weil
nen sie stattfanden. Im nächsten Schritt wird               der Grundpfeiler des sowjetischen Einflus-
die Natur der Beziehungen zwischen Russland                 ses – die alleinige Herrschaft der jeweiligen
und Belarus dargestellt und die Wahrschein-                 kommunistischen Partei – gefährdet war.
lichkeit unterschiedlicher Optionen einer Mili-             Sowohl 1956 wie 1968 wurde von den sow-
tärintervention in der gegenwärtigen Lage                   jetischen und verbündeten Truppen dabei
aufgezeigt. Die Analyse kommt zu dem Ergeb-                 auch direkte Gewalt gegen die demonst-
nis, dass sich Moskau zwar auf Seiten Luka-                 rierende (und in Ungarn auch kämpfende)
schenkos engagiert, eine umfassende Militä-                 Bevölkerung eingesetzt, die 1956 etwa
rintervention aber nur für den Fall vorstellbar             2.500, 1968 etwas mehr als 100 Todesop-
ist, dass sich in Minsk ein Machtwechsel ab-                fer unter Ungarn und Tschechoslowaken
zeichnet oder auch nur eine Machtteilung zwi-               forderte. Ansonsten wurden die üblichen
schen Lukaschenko und der Opposition.                       Methoden zur Unterdrückung und Ein-
                                                            schüchterung einer aufsässigen Bevölke-
2 Unterschiedliche Typen von militäri-                      rung angewandt, wie massenweise oder
schen Interventionen                                        gezielte Inhaftierung, Folterung, Verurtei-
                                                            lungen zum Tode oder zu langwierigen
Wenn man die jüngere Geschichte Russlands                   Haftstrafen sowie die Zerstörung der be-
und auch der Sowjetunion nach 1945 zum Aus-                 ruflichen Existenz von sogenannten „Rä-
gangspunkt nimmt, dann gab es immer wieder                  delsführern“ und politischen Köpfen der
Anlässe zur militärischen Intervention, beson-              Opposition. Voraussetzung dafür war,
ders in Nachbarländern. Anlass war immer das                dass Partei- und Staatsapparat von „sow-
Bemühen der Kremlführung zu verhindern,                     jetfeindlichen Kräften“ gesäubert waren
                                                            und wieder im Sinne der Besatzungsmacht
                                                            funktionierten. Die Interventionen liefen

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Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?

    im Sinne Moskaus erfolgreich ab, weil die                   Schutztruppen), den Einsatz von Spezial-
    politischen Säuberungen mit Hilfe einhei-                   kräften, Privatarmeen und Freiwilligen zur
    mischer, sowjettreuer Kader durchgeführt                    Destabilisierung „abtrünniger“ Staaten o-
    werden konnten und weil die Proteste der                    der zur militärischen Besetzung und Ab-
    Bevölkerung nach einiger Zeit erlahmten.                    trennung begrenzter Gebiete. Sie können
    Ähnliche Interventionen wurden gegen-                       aber auch die Androhung einer vollen mili-
    über Polen 1956 und 1981 angedroht, mit                     tärischen Intervention bedeuten, indem
    der Folge, dass sich die dortige kommunis-                  Truppen um das Land konzentriert wer-
    tische Partei Moskau unterordnete. Im                       den, die in der Lage wären eine umfas-
    Jahr 1981 ging das nur unter Einführung                     sende Invasion vorzunehmen. Die heute
    des Kriegsrechts. Ziel war es, eine Aufwei-                 von diesen hybriden Interventionen be-
    chung der Macht der Vereinigten Polni-                      troffenen Länder sind Moldawien (mit der
    schen Arbeiterpartei durch die Solidarnosc                  russischen Militärpräsenz in Transnistrien,
    Bewegung zu verhindern.                                     die einen dortigen hochkorrupten Mini-
•   Typ 2: Interventionen zur Unterstützung                     staat am Leben erhält), die Ukraine (die
    von befreundeten Regimen, die mit bewaff-                   den Verlust der Krim sowie die Besetzung
    netem Widerstand nicht fertig wurden. Hier                  von großen Teilen des Donbass durch eine
    ist in erster Linie die Intervention in Afgha-              von russischen Kräften angezettelte
    nistan (1979-1988) zu nennen. Diese hatte                   „Volksbewegung“ ebenso erleiden muss,
    den Zweck, das wegen internen bewaffne-                     wie mehrere Vorbereitungen für eine um-
    ten Widerstands in Bedrängnis geratene                      fassende Invasion) sowie Georgien, wel-
    kommunistische Regime in Kabul zu stüt-                     ches zwei auf seinem Staatsgebiet beste-
    zen und den Kampf gegen die Insurgenten                     hende, von Russland unterstütze Quasi-
    selber aufzunehmen. Diese Intervention                      Staaten ebenso erdulden muss, wie eine
    geriet zu einem Fiasko, weil die sowjeti-                   Besetzung von Teilen seines Territoriums
    schen Truppen nicht in der Lage waren,                      durch russische Truppen seit dem Krieg
    den afghanischen Widerstand militärisch                     von 2008.
    zu besiegen (der sich massiver internatio-
    naler Unterstützung erfreute). Das zweite               Der gemeinsame Nenner all dieser Typen von
    Beispiel dieser Art ist die militärische Inter-         militärischer Interventionen ist die Absicht
    vention Russlands in Syrien zur Stützung                Russlands (oder früher der Sowjetunion), Staa-
    des Diktators Bashar al-Assad. Bei dieser               ten in ihrer Nachbarschaft in die Abhängigkeit
    Intervention verlegte sich Russland weit-               von Moskau zu zwingen oder sie für Unabhän-
    gehend auf Unterstützung durch Luftan-                  gigkeitsbestrebungen zu bestrafen (Typ 1 und
    griffe, die Bodenkämpfe überließ man den                3), oder aber befreundete Regime innerhalb o-
    regierungstreuen Truppen sowie irani-                   der außerhalb der engeren Nachbarschaft zu
    schen und Hisbollah-Milizen. Diese Inter-               unterstützen, wenn diese in Not geraten (Typ
    vention verlief erfolgreicher als die in Af-            2). Dahinter steht der Anspruch der heutigen
    ghanistan, die humanitären Folgewirkun-                 russischen (und der früheren sowjetischen)
    gen der brutalen Luftangriffe auf die Zivil-            Führung auf geopolitische Einflusszonen, in
    bevölkerung waren enorm.                                denen die alleinige russische Vormacht aner-
•   Typ 3: Hybride Interventionen. Hierbei han-             kannt und respektiert wird – ein Anspruch, der
    delt es sich um begrenzte militärische In-              im Widerspruch zu den allgemeinen Regeln
    terventionen, mit denen versucht wird zu                des Völkerrechtes (Anerkennung der gleichen
    verhindern, dass ein Land sich selbständig              Souveränität und territorialen Integrität aller
    macht, welches Russland zu seinem Ein-                  Staaten unabhängig von ihrer Größe) ebenso
    flussbereich zählt. Die Methoden hybrider               steht wie zu der Pariser Schlussakte von 1990,
    Intervention sind teilweise subtil, teilweise           mit der der Kalte Krieg beendet und eine neue
    brutal. Sie umfassen die Unterstützung se-              gesamteuropäische Ordnung begründet wer-
    zessionistischer Bewegungen (durch Waf-                 den sollte.
    fenlieferungen, finanzielle Unterstützung
    von Ministaaten, Präsenz russischer

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3 Das Verhältnis zwischen Russland und                  Sowohl für Putin wie für Lukaschenko stellen
Belarus                                                 farbige Revolutionen, bei denen Machthaber
In der Berichterstattung und Kommentierung              durch unbeirrtes Demonstrieren der Bevölke-
deutscher Medien sowie in der Politik finden            rung zum Abdanken gezwungen werden, die
sich zwei fundamentale Irrtümer, wenn es um             größte Bedrohung dar. In Russland hat die Ge-
das Verhältnis zwischen Russland und Belarus            fährdung durch „farbige Revolutionen“ es so-
geht: der eine Irrtum lautet, dass Alexander            gar bis in die Militärdoktrin geschafft. Dort
Lukaschenko der „letzte Diktator Europas“ sei,          wird behauptet, dass derartige „Revolutionen“
der andere Irrtum ist, dass Belarus angeblich           stets vom Westen angezettelt und finanziert
ein „Pufferstaat“ wäre.                                 werden, um die Macht legitimer autoritärer
                                                        Herrscher in Russland und vergleichbaren Län-
Lukaschenko ist nicht der letzte Diktator Euro-         dern zu stürzen. Sie seien eine Art unkonventi-
pas, denn in Moskau sitzt mit Wladimir Putin            oneller Kriegführung der NATO oder der USA
ein weiterer Diktator und Moskau gehört auch            und müssten entsprechend bekämpft werden.
zu Europa. Und nicht nur das: beide haben ihr           Von daher sind die beiden letzten Diktatoren
Schicksal eng miteinander verbunden. Beide              Europas aneinandergebunden.
kontrollieren die jeweiligen Staatsapparate
durch eine kleptokratische Machtvertikale, die
mafiaähnliche Züge trägt und bei denen die
persönliche Gewinnmarge umso größer ist, je
höher die betreffenden Personen in der Verti-
kale angesiedelt sind. Von daher halten Perso-
nen wie Putin und Lukaschenko auch an ihren
Positionen fest. Jeder Machtwechsel würde für
sie die Gefahr einer persönlichen Katastrophe
unabsehbaren Ausmaßes bedeuten.

                                                        Wladimir Putin

                                                        Lukaschenko braucht Putin, um seine Macht
                                                        gegen die Volksmassen zu verteidigen, Putin
                                                        braucht Lukaschenko, um den Einfluss Russ-
                                                        lands über Belarus zu sichern. Zwar verstehen
                                                        sie sich offenbar persönlich nicht ganz so gut
                                                        und Lukaschenko deutet manchmal an, dass
                                                        Belarus doch unabhängig sei. Aber beide sind
                                                        aufeinander angewiesen. Lukaschenko auf Pu-
                                                        tin mehr als umgekehrt.

                                                        In diesem Zusammenhang sollte auch der My-
                                                        thos vom Pufferstaat Belarus aus der Welt ge-
Alexander Lukaschenko                                   schaffen werden. Als „Pufferstaat“ werden

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Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?

kleinere, in der Regel neutrale Staaten be-                 versetzt, dass sein Überleben von der Unter-
zeichnet, die „die Interessengebiete rivalisie-             stützung durch Russland abhängt. Das Gleiche
render Mächte“ trennen und „so internationale               gilt nicht für Belarus. Es könnte sich unter einer
Konfliktmöglichkeiten mindern“ können. 1 Ty-                unabhängigen politischen Führung nicht nur
pische Beispiele sind Belgien und Luxemburg                 zu einem wirklichen Pufferstaat entwickeln,
als Pufferstaaten zwischen Deutschland/Preu-                sondern auch zu einem alternativen Modell für
ßen und Frankreich während des 19. Jahrhun-                 die politische Entwicklung Russland werden.
derts, oder Nepal zwischen Indien und China.                Das eine wie das andere wäre die absolute Ne-
Belarus erfüllt keines der Kriterien für einen              mesis für die Kreml-Führung um Präsident Pu-
Pufferstaat, außer dass es klein ist. Auf keinen            tin.
Fall ist es neutral. Es ist militärisch und wirt-
schaftlich eng verzahnt mit Russland. Beide                 4 Wir wahrscheinlich ist eine Militärinter-
bilden eine Verteidigungs- und eine Wirt-                   vention?
schaftsgemeinschaft und haben auch vor vie-
len Jahren eine Staatenunion beschlossen, die               Solange Alexander Lukaschenko den Macht-
aber bislang nur Absicht geblieben ist. Das                 apparat in Belarus kontrolliert und sich an der
belarussische Militär ist Teil der russischen               Macht halten kann, gibt es keinen Anreiz für
Kriegsplanungen für den Ostseeraum, das                     Russland mit einer massiven Militärinterven-
wurde aus Anlass der letzten ZAPAD Groß-                    tion (Typ 1) einzugreifen. Kritisch würde es erst
übungen mehr als deutlich. 2 Die Bevölkerung                dann werden, wenn sich große Teile von Poli-
von Belarus spricht mehrheitlich Russisch und               zei, Geheimdienst und Militär von ihm abwen-
fühlt zu Russland vermutlich eine ähnlich                   den würden. Sollten sich große Teile des Si-
große Nähe wie die Bevölkerung Österreichs                  cherheitsapparates den Oppositionellen an-
nach dem Ersten Weltkrieg zum Deutschen                     schließen, wäre eine größere Intervention
Reich. Das heutige Belarus ist kein Pufferstaat,            nicht auszuschließen, denn die Unwägbarkei-
sondern fester Teil der russischen Einflusszone             ten eines derartigen Prozesses wären für den
– ähnlich wie Polen, die Tschechoslowakei o-                Kreml zu groß.
der die DDR zu Zeiten des Ost-West-Konflik-
tes, wenn nicht noch enger. Von daher sind                  Allerdings wäre eine derartige Invasion vom
auch die nervösen Reaktionen aus Moskau zu                  Umfang her nicht vergleichbar mit der Beset-
verstehen. Die Nervosität hat zwei Ursachen:                zung der Tschechoslowakei im Jahr 1968, an
zum einen die Furcht, dass aus der farbigen Re-             der über 400.000 Soldaten beteiligt waren.
volution ein Machtwechsel und damit auch                    Russland hat in der Region derzeit zwei Divisi-
mehr außenpolitische Unabhängigkeit ent-                    onen der Bodenstreitkräfte zur Verfügung, die
steht. Zum Zweiten die Angst, dass der Bazil-               noch verstärkt werden müssten durch Ver-
lus von Freiheit und politischer Selbstbestim-              bände, die nördlich und östlich von der Ukraine
mung auch auf Russland überspringen könnte.                 stehen oder die aus anderen Militärbezirken
Die Beteuerungen der belarussischen Opposi-                 kommen. Eine Invasion dürfte durch Einheiten
tion, man wolle an den engen Beziehungen                    im Äquivalent von drei bis vier Divisionen der
und der freundschaftlichen Verbindung zu                    Landstreitkräfte, unterstützt durch luftmobile
Russland nichts ändern, werden im Kreml mit                 Truppen, erfolgen. Das müsste ausreichen für
großem Misstrauen gesehen. Belarus ist nicht                einen Einfall, der weitgehend ohne Kampf-
Armenien, wo der Kreml 2014 eine farbige Re-                handlungen stattfinden dürfte, weil die Streit-
volution geduldet hatte. Das politisch und ge-              kräfte von Belarus derzeit alle im Westen kon-
ographisch isolierte Armenien hat sich gegen-               zentriert sind, um einen angeblich bevorste-
über seinen Nachbarländern Aserbaidschan                    henden Einfall von NATO-Truppen abzuweh-
und Türkei in eine derart unhaltbare Position               ren. Es ist im Übrigen auch kaum zu erwarten,

1
  Brockhaus Lexikon, Band 17, Mannheim: Brock-              Jamestown Foundation/ National Defence
haus Verlag 1992, S. 616.                                   Academy of Latvia, 2015, s. a. Mathieu Boulègue:
2
  Vgl. Liudas Zdanavičius/ Matthew Czekai (eds.):           Fünf Anmerkungen zu Zapad 2017, in: Sirius – Zeit-
Russia’s Zapad 2013 Military Exercise. Lessons for          schrift für strategische Analysen, Vol. 1, Heft 4, S.
Baltic Regional Security. Washington, D.C und Riga:         387-388.

                                                      -6-
Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?

dass reguläre Verbände von Belarus russische               ausgegangen werden muss, dass Provoka-
Truppen bekämpfen würden. Ziel dieser Ope-                 teure jederzeit dafür sorgen können, dass ent-
ration wäre es, die Hauptstadt Minsk und an-               sprechende Zerstörungen, Plünderungen und
dere wichtige Städte einzunehmen und dort                  Besetzungen von Regierungsgebäuden statt-
eine Staatlichkeit wiederherzustellen, die sich            finden. Den Einsatz derartiger Provokateure
eng am russischen Vorbild orientiert und die               könnte man sich vorstellen, wenn Luka-
die Gewähr dafür bietet, dass es zu keiner Ent-            schenko das täte, was die Oppositionellen von
wicklung kommt, bei der am Ende ein demo-                  ihm fordern: die Eröffnung eines politischen
kratisches und neutrales Belarus entstehen                 Dialogs mit dem Koordinierungsrat der Oppo-
könnte. Es ist zu vermuten, dass in diesem Fall            sition. Aus Moskauer Sicht kann ein derartiger
Lukaschenko durch einen neutraleren Kandi-                 Dialog – ähnlich wie der 1981 in Polen zwi-
daten ersetzt wird (einen zweiten Janos Ka-                schen der kommunistischen Führung und der
dar), der den Eindruck erwecken soll, dass es              Solidarnosc begonnene Dialog – nur zu einer
besser wird und dass sogar einige der Forde-               unübersichtlichen und für Russland ungünsti-
rungen der Protestierenden im Laufe der Zeit               gen Lage führen. Er könnte auch Vorbild für
umgesetzt werden könnten.                                  Russland sein, was Putin auf jeden Fall vermei-
                                                           den will. Diese Botschaft ist wohl auch Luka-
                                                           schenko ähnlich offen kommuniziert worden
                                                           wie 1981 der polnischen Führung. Das würde
                                                           Lukaschenkos kompromisslose Ablehnung
                                                           jeglichen Dialogs mit dem Koordinierungsrat
                                                           der belarussischen Opposition erklären.

                                                           Eine Intervention nach dem Typ 2 (Unterstüt-
                                                           zung eines durch bewaffneten Widerstands in
                                                           Not geratenen Regimes) ist relativ unwahr-
                                                           scheinlich, da die Opposition unbewaffnet ist
                                                           und sich auch bewusst auf Mittel des zivilen,
                                                           bürgerlichen Widerstands beschränkt. Selbst
                                                           wenn es Kräfte innerhalb der Opposition gäbe,
                                                           die den bewaffneten Widerstand wollen, wäre
                                                           es schwer, an die notwendigen Waffen zu
                                                           kommen. Das wäre nur dann möglich, wenn
                                                           sich die Streitkräfte in Auflösung befinden –
                                                           danach sieht es derzeit nicht aus. Ein hybrides
                                                           militärisches Eingreifen nach dem Beispiel der
Karte von Belarus                                          Ukraine oder Georgiens (Typ 3) dürfte auch re-
                                                           lativ unwahrscheinlich sein. Putins Ziel ist es
Eine solche Militärintervention wäre auch                  eindeutig zu vermeiden, dass sich in Minsk
wahrscheinlich, wenn sich die Opposition radi-             eine ähnliche Situation wiederholt, wie sie sich
kalisiert und damit beginnt Regierungsge-                  Anfang 2014 in Kiew entwickelte.
bäude zu stürmen oder Zerstörungen und
Plünderungen am Rande von regierungsfeind-                 5 Szenarien
lichen Demonstrationen stattfinden. Eine ent-
sprechende Warnung wurde von Putin am 27.                  Es werden derzeit unterschiedliche Szenarien
August ausgesprochen. 3 Sie sollte ernst ge-               einer politischen Entwicklung in Belarus disku-
nommen werden, vor allem da immer davon                    tiert. 4 In der Regel werden dabei optimistische

3
  Andrew Higgins: “Putin Warns Belarus Protesters:         4
                                                            Vgl. Andrác Rácz/ Cristina Gherasimow/ Milan
Don’t Push too hard”, New York Times, 27.8.2020;           Nič: Four Scenarios for the Crisis in Belarus. Berlin:
s.a. “Putin sichert Lukaschenko Unterstützung              DGAP Policy Brief, August 2020.
Russlands zu”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.
August 2020

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Wird Russland in Belarus militärisch intervenieren?

wie pessimistische Szenarien genannt. Es                   Ausland wählt. Das Beispiel Venezuelas im ver-
sollte davon ausgegangen werden, dass ange-                gangenen Jahr dürfte der wahrscheinlichste
sichts dessen, was außen-, verteidigungs- und              Ausgang der Entwicklungen in Belarus wer-
innenpolitisch für den Kreml in Belarus auf                den.
dem Spiel steht, keines der optimistischen
Szenarien eine Chance hätte. Das Jahr 2020 ist             Es kann sein, dass Moskau dabei auf die eine
nicht das Jahr 1989, wo in Moskau mit Michail              oder andere Weise versuchen wird, Luka-
Gorbatschow ein Mann regierte, der sich zivi-              schenko gegen einen anderen Politiker auszu-
lem Widerstand gegenüber offen zeigte, der                 wechseln. 5 Aber das bleibt vorerst Spekula-
um die Schwächen des kommunistischen Sys-                  tion. Eine militärische Intervention nach dem
tems wusste und der dem Zerfall der Sowjet-                Typ 1 bleibt ein Druckmittel und auch die letzte
union letztlich nichts entgegensetzen konnte.              Option, um zu verhindern, dass sich die Dinge
Heute herrscht in Moskau mit Wladimir Putin                in eine Richtung entwickeln, die für Moskau
ein Präsident, der entschlossen ist, die aus sei-          mit unübersehbaren Risiken verbunden wäre.
ner Sicht fehlerhafte Politik Gorbatschows                 Eines bleibt sicher: ein demokratisches und
nicht zu wiederholen.                                      neutrales Belarus ist für die derzeitige Kreml-
                                                           führung nicht tolerierbar und im Gegensatz zu
Daher wird Putin erst einmal alles versuchen,              1989-1991 wird sie auch nicht davor zurück-
um Lukaschenko zu helfen an der Macht zu                   scheuen, militärische Mittel einzusetzen, um
bleiben. Dazu gehört die Entsendung von Spe-               letztlich eine Lage herzustellen, die Moskaus
zialisten, die Engpässe im Bereich des Sicher-             Interessen entspricht.
heits- und Unterdrückungsapparates in Bela-
rus überbrücken sollen. Das könnte die Ent-
sendung russischer Omon-Abteilungen oder
von „privaten“ Sicherheitsdiensten nach Bela-
rus bedeuten. Auszugehen ist auch davon,
dass es zur Entsendung von Fachkräften
kommt, die Streikende in wichtigen Sektoren
von Industrie und Nachrichtenwesen ersetzen
können. Das Instrumentarium ließe sich noch
erweitern. Das kann man am Beispiel Vene-                  Bildnachweise
zuela ablesen, wo das Regime Maduro teil-
weise mit kubanischer und russischer Unter-                Titelblatt: Rally in support of Sviatlana
stützung alle möglichen Methoden ersonnen                  Tsikhanoŭskaya and the joint campaign headquar-
hat, um Oppositionelle ihrer beruflichen Basis             ters. 30 July 2020, Minsk, Belarus, Wikimedia Com-
zu berauben, diese einzusperren, zu foltern                mons, Quelle: Homoatrox, https://commons.wiki-
                                                           media.org/wiki/File:Rally_in_support_of_Tsikha-
und einzuschüchtern. Dort haben sich auch re-
                                                           nouskaya_in_Minsk_(30_July_2020)_-_09.jpg
gierungsfreundliche, „private“ Motoradban-                 Präsident Lukaschenko am 30 June 2020, Wikimedia
den gebildet, die Demonstranten belästigen,                Commons, Quelle: Kremlin.ru; http://krem-
verletzen oder gar töten und die nie zur Re-               lin.ru/events/president/news/63585/photos
chenschaft gezogen werden. Auch die Ge-                    Präsident Vladimir Putin, 2020, Wikimedia Com-
währleistung oder Versagung von Privilegien                mons, Quelle: Kremlin.ru; https://commons.wiki-
gehören dazu. Das Instrumentarium zur mit-                 media.org/wiki/File:Vladimir_Putin_(2020-02-
tel- und langfristigen Frustration der Bevölke-            20).jpg
rung ist breit und wird vermutlich auch in Bela-           Belarus Landkarte, Wikimedia Commons, Quelle:
rus dafür sorgen, dass die Demonstrationen er-             CIA Factbook, https://upload.wikimedia.org/wi-
                                                           kipedia/commons/e/ed/Bela-
lahmen, der Großteil der Bevölkerung sich mit
                                                           rus_1997_CIA_map.jpg
den Dingen abfindet und ein Teil die Flucht ins

5
 Vgl. Gustav Gressel: Russia’s military manoeuvres         tions, 18. August 2020, https://www.ecfr.eu/arti-
at the Belarus border – a message to the West.             cle/commentary_russias_military_manoeu-
Webseite des European Council on Foreign Rela-             vres_at_the_belarus_border_a_message_to_t

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