Wo seid ihr? - Magazin vom Martinsclub - Was Einsamkeit für uns bedeutet - Martinsclub Bremen
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m unterwegs Foto: Lea Heche Zum Glück war das Reisen in diesem Sommer wieder möglich. Endlich wieder das Meer sehen und hören. Zum Baden war die Ostsee in Dänemark leider zu kalt. Regenjacke statt Badehose war hier angesagt. Das aktuelle m Magazin durfte natürlich nicht fehlen. Titelfoto: Frank Scheffka
moin! Liebe Leserinnen, liebe Leser! Wir alle brauchen andere Menschen um uns herum. Zum Reden, zum Trösten und zum Lachen. Oder auch zum Fußballspielen. Aber: Viele Men- schen fühlten sich in den vergangenen Monaten einsam. Weil sie nicht in die Werkstatt oder ins Büro gehen durften. Oder weil sie ihre Familie nicht sehen konnten. Und auch, weil Schulen und Universitäten geschlossen waren. Alles wegen Corona. Was bedeutet Einsamkeit für Sie? Das hat das m 6 Menschen aus Bremen und umzu gefragt. Der jüngste unter ihnen ist 27 Jahre alt und Student. Er trifft sich regelmäßig mit einer älteren Dame zum Kaffeetrinken. Das ist für beide ein gutes Mittel, sich nicht allein zu fühlen. Der älteste ist 67 Jahre alt und Rentner. Er genießt es, für sich allein am Weserufer Zeit zu verbringen. Zu viele Menschen um ihn herum – das stresst ihn manchmal. Einsamkeit kann viel Kraft kosten. Das Gefühl kann aber auch etwas Gutes mit sich bringen. Diese Erfahrung hat die Bremerin Anne de Walmont gemacht. Sie lebte freiwillig 7 Monate auf einer einsamen Insel in der Nordsee. Wie gehen eigentlich Studenten mit der Corona-Pandemie und der Ein- samkeit um? Und wie kommt man aus diesem Gefühl wieder heraus? Darüber spricht die Bremer Psychologin Swantje Wrobel im Interview. Das Haus Halmerweg ist eine besondere Wohnform für 16 Menschen mit Behinderung. Anfang April gab es dort einen Corona-Ausbruch. Alle, die in dem Haus in Gröpelingen leben, mussten in Quarantäne. 4 Wochen lang waren alle auf ihren Zimmern. Es war für viele eine einsame Zeit. Und eine Herausforderung für das gesamte Team. Zusammen haben sie versucht, das Beste daraus zu machen. Gemeinsam etwas bewegen – auch darum geht in der neuen m-Ausgabe. Wir berichten über ein Gartenprojekt unter Nachbarn. Von der großen Feier, dem Alle Inklusive Festival, zeigen wir Fotos. Die durchblicker haben sich außerdem mit Rachidatou Bourai-Touré getroffen. Die Bremerin mit west- afrikanischen Wurzeln macht sich für eine gerechte Gesellschaft stark. Viel Spaß beim Lesen und Entdecken, Ihre m-Redaktion 1
In dieser Ausgabe 4 22 Wo seid ihr? Mein Herzensmensch Was macht das Gefühl der Sigrid Frerichs dankt Einsamkeit mit uns? ihrer Großmutter Anna 6 Menschen erzählen aus für ihre Fürsorge ihrem Blickwinkel 14 23 „Aktiv bleiben und dabei Ein Satz aus bunten neue Kontakte knüpfen“ Legosteinen Studierende und die Künstlerin Sirma Kekeç Einsamkeit: Interview mit geht spielerisch an Krisen Psychologin Swantje Wrobel heran 16 26 Buntes Leben zwischen „Ich bin jetzt mein Blumen und Beeren eigener Chef“ Inklusives Gartenprojekt Jörn Neitzel nutzt das in der Gartenstadt Süd Personönliche Budget 18 30 „Ich fühlte mich wie Packende Geschichten im Streichelzoo“ gegen Vorurteile Rachidatou Bourai-Touré Serienhelden mit Beein- setzt sich für eine gerechtere trächtigung verändern Gesellschaft ein die Sicht der Zuschauer 2
32 44 Rock ‘n‘ Roll und Mit Spiel, Spaß und ein freier Kopf guter Musik Debbie Gödicke arbeitet als Annika Penelope Schäfer Schulassistentin mit engagiert sich ehrenamtlich beeinträchtigten Kindern beim Martinsclub 36 47 Zwei Striche, die alles Mit gutem Gefühl ins verändern Krankenhaus Corona und Quarantäne Ein Kommentar von im Haus Halmerweg Jörn Neitzel 40 48 Alle Inklusive Festival 2021 Autoren der Ausgabe Buntes Treiben, Sport Welche Serie gucke ich und Musik in der Pauliner am liebsten? Marsch 42 Wissensdurst löschen! Fortbildungen und Tagungen vom m|colleg 3
Titelthema Text: Catrin Frerichs | Fotos: Frank Scheffka, Emma Janßen, Sophie de Walmont, Frank Pusch, Jörg Sarbach Wo seid ihr? Was Einsamkeit für uns bedeutet Einsamkeit ist an kein Alter gebunden. Jeder kann sich Was macht die Einsamkeit mit uns? Was können wir einsam fühlen. Alte Menschen, Kinder, Singles, beein- tun, wenn wir uns einsam fühlen? Das hat m 6 Men- trächtigt oder nicht – es kann alle treffen. Großbritan- schen aus Bremen und der Umgebung gefragt. Sie nien führte 2018 sogar ein Einsamkeitsministerium betrachten das Gefühl aus ihrem persönlichen Blick- ein. Vorher hatte das Rote Kreuz eine Studie gemacht. winkel. Der Seelsorger, die Trauerbegleiterin, der Sie besagt, dass 9 Millionen Briten sich häufig oder Werderfan, die Vogelbeobachterin, der Zeitschenker. immer einsam fühlen. Insgesamt hat Großbritannien Und der Rentner, der ein Frischluftfreund ist. Was sie 66 Millionen Einwohner. Betroffen waren damals vor erzählen, zeigt: Einsam sein ist manchmal auch heil- allem alte Menschen. Dagegen wollte die Politik et- sam. Der Mensch besinnt sich wieder auf sich selbst. was tun. Dazu wurde ein Plan gemacht und es wurde Der unfreiwillige Verzicht auf andere, bringt einen Geld freigegeben. Damit sollte der neue Einsamkeits- manchmal auf neue Ideen. minister mehr Angebote schaffen. Es gibt junge und alte Menschen, die sich einsam fühlen. Das war vor Corona. Vor dem Lockdown. Vor den Kon- Aber es gibt eine einfache Möglichkeiten, sich gegen- taktbeschränkungen. Dann kam die Pandemie. Und seitig Gesellschaft zu leisten. Das beweist zum Beispiel wieder gab es eine Studie in Großbritannien. Die zeigte: der Besuchsdienst für pflegebedürftige Menschen „Zeit Corona hat die Einsamkeit verstärkt, auch bei jungen schenken“. ¢ Menschen. Im ersten Lockdown litt fast die Hälfte der 18- bis 24-jährigen Briten darunter. Bruno-Karl Geisler, Werderfan Sibylle de Bondt, Trauerbegleiterin 4
Anne de Walmont, selbstständige Schneiderin und Buchautorin Pastor Peter Brockmann, Telefon-Seelsorger Joschka Lohmann, Student Rüdiger Großler, Rentner und WG-Bewohner 5
Titelthema Text: Catrin Frerichs, Sibylle de Bondt | Fotos: Jörg Sarbach, Emma Janßen ¢ Der Zeitschenker Seit April besucht Joschka Lohmann sonntags eine alte Manchmal telefonieren sie vorher, und er geht noch Dame. Sie ist 85 Jahre alt. Die beiden trinken Kaffee, einkaufen, falls etwas fehlt. Der junge Mensch tut ihr essen Kuchen und reden. Mittlerweile sind sie mitein- gut. Mit ihm kann sie ins Gespräch kommen. Er redet ander vertraut. Bereits bei ihrem ersten Treffen war nicht über Krankheiten und lästert nicht über andere klar: Sie verstehen einander. Wenn der 27-Jährige zu Leute. Ihm kann sie von ihren weiten Reisen erzählen. Besuch ist, kommt Leben ins Haus. Damals, als ihr Mann noch lebte. Sie fragt ihn viel. Wie war die Woche? Was macht dein Studium? Wie geht es Lohmann wohnt in einer Wohngemeinschaft in Bre- deiner Familie? men-Nord. 10 Leute unter einem Dach. Seine Mitbe- wohner sitzen zwar zusammen in der Küche. Aber je- Joschka Lohmann ist daran gewöhnt, auf ältere Men- der hat sein Handy in der Hand. Das gefällt ihm nicht. schen zuzugehen. „Manche bekommen gar keinen „Das macht mich einsam“, sagt er. Und dann noch Co- Besuch“, sagt er. Das findet er schrecklich. Auch die rona. Der junge Mann studiert in Vechta Gerontologie. Seniorin hat nicht viel Kontakt zu ihren Angehörigen. Diese Wissenschaft untersucht das Altsein und das Äl- Wenn man 85 Jahre alt ist, ist das Leben nicht so terwerden. Die Uni ist geschlossen und Vorlesungen leicht. Man arbeitet nicht mehr. Man ist nicht mehr so gibt es nur am Computer. So geht das jetzt schon fast beweglich. Der Kontakt zu Freunden und Bekannten 2 Jahre. „Ich kann das gar nicht, immer zu Hause sein“, wird weniger. Lohmann findet es wichtig, jüngere und erzählt der Bremer. Also suchte er sich im Frühjahr et- ältere Menschen näher zusammenzubringen. was gegen die Einsamkeit. Er entdeckte den Bremer Besuchsdienst „Zeit schenken“. Der bringt seit über Auch dem Studenten bedeuten die Begegnungen mit 10 Jahren ältere Menschen mit Pflegeberdarf und Ehren- der alten Dame viel. „Wir ergänzen uns gut. Ich mag amtliche zusammen. Die nennen sich Zeitschenker. ihre Ehrlichkeit. Sie vertraut mir viel an“, sagt er. Es sind diese Kleinigkeiten. Dass man sich umeinander Beide freuen sich auf die gemeinsamen Nachmittage. bemüht und sich aufeinander verlassen kann. „Bei ihr Die Seniorin macht sich schick und besorgt den Kuchen. kann ich zur Ruhe kommen.“ 6
Die Trauerbegleiterin Sibylle de Bondt spürt am Ufer eines Sees die Kraft auf der Wasseroberfläche tanzen. Libellen schwirren der Natur. Und die Kraft in sich selbst. Die braucht sie. um mich herum. Sie zeigen mir, dass ich doch nicht al- Sie begleitet Hinterbliebene, die einen nahestehen- leine bin. Das verbindet mich mit der Natur und gibt mir den Menschen verloren haben. Ihnen hilft sie, mit meine Kraft zurück. Danach bin ich wieder geerdet und Trauer und Einsamkeit umzugehen. gestärkt für meine Aufgaben als Trauerbegleiterin.“ ¢ „Ich bin Trauerbegleiterin. Das heißt, ich helfe Men- schen, die wegen des Todes eines anderen trauern. Im- mer wieder werde ich mit Schicksalen konfrontiert, die ganz schwer auszuhalten sind. Etwa, wenn ein naher Mensch nach dem anderen innerhalb kurzer Zeit stirbt. Dann schleicht sich langsam Einsamkeit in die Herzen des Hinterbliebenen. Ich versuche, professionelle Distanz zu halten. Das ver- langt mein Beruf. Die Betroffenen kämpfen aber mit ihrem Leben, das ihnen wegzubrechen droht. Aber vor allem kämpfen sie mit der Einsamkeit. Wie eine Mauer legt sich manchmal die Trauer um ihr Herz. Sie schließt die Einsamkeit ein. Sie wütet wie ein kleines Teufelchen im Verborgenen. Für die Anderen ist sie nicht sichtbar. Bis es nicht mehr geht und die Menschen etwas einse- hen. ,Ich brauche jemanden, der mich in meiner Trauer begleitet. Jemanden, der mir den Weg aus der Einsam- keit zeigt.‘ Das können ein guter Freund, eine Nachba- rin oder ein Kollege sein. Oder auch eine Trauerbeglei- terin, so wie ich. Gemeinsam suchen wir nach Möglichkeiten, um aus dem Gefühl der Einsamkeit herauszukommen. Damit sich das Alleinsein wieder gut anfühlen kann. Zusam- men machen wir den Weg zurück ins Leben sichtbar. Eine große Hilfe auf diesem Weg sind Kraftorte. Diese tragen wir eigentlich alle in uns. Meine Kraftorte finde ich in der Einsamkeit der Natur. Da ist zum Beispiel ein einsamer See nahe einer alten Zie- gelei. Dort sitze ich manchmal ganz alleine auf einem Baumstamm über dem Wasser. Oder ich beobachte den See vom Ufer aus. Ich schaue, wie die Blüten der Seerosen 7
Titelthema Text: Ludwig Lagershausen | Foto: Frank Scheffka ¢ Der Fußballfan Wie ist es, wenn zehntausende Menschen „WERDER, WERDER“ brüllen? Die Fahnen, die Trommeln, die Kraft der Fankurve zu spüren? Bruno-Karl Geisler weiß das ganz genau. Er ist großer Fan von Werder Bremen. Dank seiner Dauerkarte verpasst er kein Heimspiel. Normalerweise. Doch in der Corona-Pan- demie waren keine Zuschauer erlaubt. Wie hat er diese Zeit erlebt? Egal, gegen wen Werder spielt, Bruno-Karl Geisler ist dabei. Bei jedem Spiel. Ob die Mannschaft schlecht spielt? Und wenn es regnet? Nicht so wichtig, er geht im- mer wieder hin. Doch die Pandemie hat ihm dieses Hob- by weggenommen. Denn die Fans durften nicht ins Stadi- on. Die Spiele fanden ohne Zuschauer statt. Es waren sogenannte Geisterspiele. „Das hat mich total traurig gemacht. Werder spielt, aber ich darf nicht ins Stadion? Unglaublich. Die anderen Fans, die Stimmung, der Tru- bel, alles weg. Das war wirklich verdammt hart“, erinnert er sich. Normalerweise steht er in der Ostkurve. Doch nun musste er plötzlich zuhause auf dem Sofa sitzen. Al- leine. Vorher war er einer von 42.000 Fans. Und plötzlich ist alles anders. „Natürlich habe ich mir die Spiele trotz- dem im Fernsehen angeschaut. Ich habe mein Werder- trikot angezogen und mitgefiebert. Aber Fußball ist doch ein Gemeinschaftserlebnis! Und plötzlich gibt es diese Gemeinschaft nicht mehr. Es war eine sehr einsame Zeit. Das hat mir im Herzen wehgetan“, findet er. Ohne Fans lief es bei Werder nicht gut. Die Mannschaft „Endlich, das hat mir so gefehlt.“ Überhaupt hat er zu ist abgestiegen. „Das ist wirklich unfassbar bitter. Wer- Geisterspielen eine klare Meinung. „Fußball ohne Fans, der gehört einfach in die 1. Bundesliga. Aber die Spieler das ist doch nichts. Ohne Stimmung, ohne Fahnen, ohne haben es selber verbockt“, muss auch Geisler zugeben. Gesänge. So sollte kein Spiel angepfiffen werden.“ Mittlerweile läuft die neue Saison, Werder tritt in der Aber kann Geisler nun tatsächlich wieder zu jedem 2. Liga an. Das ist für alle Werderfans schwer zu glau- Heimspiel? Kann er seiner grün-weißen Leidenschaft ben. Trotzdem lächelt Geisler bei dem Gedanken daran. wieder wie gewohnt nachgehen? Das hängt davon ab, „Immerhin darf ich nun wieder ins Weserstadion“, freut wie sich die Corona-Lage entwickelt. Und wie die Poli- er sich. Denn Zuschauer sind – zumindest teilweise – tik darüber entscheidet. Eines steht aber fest. Wenn er wieder erlaubt. Gleich beim ersten Spiel war er wieder ins Weserstadion darf, ist Bruno-Karl Geisler dabei. dabei. Im Weserstadion, seinem zweiten Zuhause. Bei jedem Spiel. Egal in welcher Liga. ¢ 8
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Titelthema Text: Catrin Frerichs, Anne de Walmont | Fotos: Sophie de Walmont, Frank Pusch ¢ Die Vogelbeobachterin Anne de Walmont wohnt in Bremen. Sie arbeitet als Ich habe von März bis Oktober 2019 für den Natur- selbstständige Schneiderin. Als Vogelwartin lebte schutzbund Schleswig-Holstein gearbeitet. Meine Auf- sie 7 Monate allein auf Trischen. Die Insel liegt im gabe: die Vogelschutzinsel Trischen im Nationalpark Wattenmeer vor Cuxhaven. Um sie herum nur Dünen Wattenmeer betreuen. Ich habe die Vogelwelt und die und Salzwiesen, Vögel und die Nordsee. Über ihre Veränderungen der Insel beobachtet und dokumentiert. Zeit auf der Vogelinsel hat sie ein Buch geschrieben. Mit allem, was dazu gehört. Dieser Aufgabe konnte ich „Und an den Rändern nagt das Meer“. De Walmont mich ganz und gar widmen. Ablenkung gab es ja nicht. wohnte in einer kleinen Holzhütte. Einmal in der Wo- Zumindest keine menschliche. Das Alleinsein in der Na- che brachte das Versorgungsschiff ihr Essen und tur kann sehr erfüllen: Zur Ruhe kommen. Wachsam Trinkwasser. sein. Mit der Zeit jede Windböe deuten zu können. Jeden fiependen Vogel und das Meer. Das ist ein einnehmendes „7 Monate allein auf einer Insel – das bedeutet für viele: Gefühl. einsam sein. Das weiß ich. Ich wurde oft gefragt: „Fühlst du dich dort nicht einsam?“ Nein, war jedes Mal und Klar sind wir alle nie frei von äußeren Einflüssen. Auch ohne Zögern meine Antwort. nicht von menschlichen. Sie beeinflussen unsere Ent- scheidungen. Ich habe diese Einflüsse für einen Mo- Einsamkeit kann nur entstehen, wenn Wunsch und ment reduziert. Ich konnte mich auf Weniges und viel- Wirklichkeit auseinanderdriften. Viele Menschen wün- leicht das Wesentliche konzentrieren. Ich konnte mit schen sich vermutlich viele soziale Beziehungen. Klar, mir – und den Vögeln – alleine sein. Das hat mich berei- da wäre ein Leben ohne menschliche Gesellschaft nur chert. Für den Moment und für danach.“ schwer vorstellbar. Doch mein Wunsch war es, eben dort zu sein. Für 7 Monate. Und zwar alleine. Also keine Chance für Einsamkeit! Drum bleibt mir nur, über das Alleinsein zu berichten. 10
Der Frischluftfreund Rüdiger Großler lebt in einer Wohngemeinschaft in der Überseestadt. Manchmal sucht er die Einsamkeit. Wenn ihm das Leben in der Wohngemeinschaft zu an- strengend wird. Er genießt es, allein zu sein. An der Weser kommt er zur Ruhe. Manchmal ist alles zu viel. Zu viel Lärm. Zu viel Streit. Zu viel Unruhe. Dann ist es gut, sich zurückziehen zu können. Rüdiger Großler ist gern allein. Am liebsten draußen. Es tut gut, selbst entscheiden zu können, wann man eine Auszeit braucht. „Ich bin nicht unbe- dingt ein geselliger Mensch. Ich habe gern meine Ruhe“, sagt er. Seit 2 Jahren wohnt Großler in der 4er-Wohngemein- schaft im BlauHaus. Die nennt sich auch die 4er-WG. Das ist ein ambulantes Angebot des Martinsclub in der Überseestadt. Dort werden Menschen in ihrer eigenen Wohnung unterstützt. Die Wohnung ist groß, jeder hat sein Zimmer. In der Küche treffen sich alle zum Abend- essen. Vorher hat Großler in einem Wohnheim gelebt – mit 20 anderen Mitbewohnern. Auch dort hatte er sein eigenes Zimmer. Aber es war immer was los im Haus. Trotzdem fühlt man sich manchmal einsam. Obwohl man zwischen all den anderen lebt. Es ist wichtig, sich aus dem Weg gehen zu können, fin- Während Corona wurden alle Veranstaltungen abge- det Großler. „Ich kann es genießen, für mich allein zu sagt. Das war eine schwierige Zeit für viele Nutzerin- sein“, sagt der 67-Jährige. In der 4er-WG entscheidet nen und Nutzer. Weniger Kontakte. Kein Grillfest. Keine er, wie viel Kontakt er haben möchte. Zum Einkaufen Ausflüge. Das hat Großler auch gefehlt. Zum Glück gab fährt er allein – mit einem Korb und dem Einkaufszet- es das Kunstangebot. Alle 2 Wochen hat er in der WG tel. Bei Aldi kennt man ihn schon. In der Überseestadt Bilder gemalt. Einige Werke hängen jetzt im Flur der fühlt er sich richtig wohl. Wohngemeinschaft. Regelmäßig treffen er und die an- deren sich zur WG-Besprechung. Und Ausflüge sind Neulich gab es Stress in der WG. Da ist Großler abends auch wieder möglich. mit seinem Elektrorollstuhl noch rausgefahren. Am Ufer der Weser in der Überseestadt ist viel Platz zum Wer das Meer, die Weser und die Kunst liebt, fühlt sich Durchatmen. Die Luft riecht nach Muscheln und der nicht einsam. Da ist Rüdiger Großler sich ganz sicher. ¢ nicht zu fernen Nordsee. Großler liebt das Meer. Mit seinem Bruder wird er nächstes Jahr auf Kreuzfahrt gehen. Das Mittelmeer ist ihr Ziel. 11
Titelthema Text: Catrin Frerichs, Peter Brockmann | Foto: Jörg Sarbach ¢ Der Seelsorger Pastor Peter Brockmann leitet die Telefon-Seelsorge möglich. Sie wohnt sozusagen geistig gehbehindert im Bremen. Sie ist immer erreichbar, auch nachts, am vierten Stock ohne Fahrstuhl. Ein anderer will aus der Wochenende und an Feiertagen. Einsamkeit heraus, aber die Umstände … „Einsamkeit? Für die meisten Ratsuchenden, die bei Bei manchen sind es äußere Umstände, die Einsamkeit der Telefon-Seelsorge anrufen, ein Dauerbrenner. Und begünstigen. Dort ist eine gesellschaftliche Aufgabe, das nicht erst in Corona-Zeiten. Für viele bedeutet Ein- das zu ändern. Und manche können einfach nicht an- samkeit Wüstenzeit. Ihre Seele ist verdorrt. So, wie eine ders. Sie finden nicht zum Wasser, das sie zum Blühen Blume, der es in der Wüste an Wasser fehlt. Sie leiden bringen könnte. Sie sind seelisch regelrecht ausge- an ihrer Einsamkeit. Ein Gespräch kann für sie wie ein trocknet. Regen sein. Manche blühen auf. Das Leben wird spür- bar. Sie freuen sich. Sie lachen. Ich bin davon überzeugt: Menschen möchten sich ver- bunden fühlen. Sie befürchten nichts so sehr, wie die Mancher hat sich verrannt, mancher steht sich selbst Verbindung zu anderen zu verlieren. Außen vor zu blei- im Weg. Mancher wurde aus der Bahn geworfen und ben. Wüstenzeiten. Sie haben Angst davor, nicht gehört hat die Spur nicht wiedergefunden. und nicht gesehen zu werden. Aus der Verbindung zu fallen, bedeutet Scham. Einsamkeit ist deshalb ein ver- Ein anderer ist krank und kann die Wohnung nicht ver- schämtes Thema. Es ist ein Tabu in der glanzvollen lassen. Eine andere ist am Gemüt erkrankt. Ihr ist des- Netzwerkwelt des 21. Jahrhunderts. Eine Welt mit ihren halb das Zusammensein mit anderen Menschen un- unzähligen Freunden und Freundinnen im Internet. 12
Gleichzeitig: Einsamkeit ist nicht nur ein Thema des Wer bin ich? Was brauche ich? Und wohin soll meine Leids. Menschen suchen Einsamkeit. Sie ziehen sich zu- Lebensreise gehen? Damit können sich kostbare und rück, wollen für sich sein. Menschen haben das immer wundervoll starke Erfahrungen verbinden. Einsamkeit schon gemacht. Rückzug in die Wüste. Die Wüste als als wertvolle Lebenszeit.“ J Ort, wo Neues entstehen kann. Dinge klären sich, ich komme zu mir. Mich eine Zeitlang zu trennen von den manchmal verwirrenden Nachrichten um mich herum. Damit ich mich selbst wieder wahrnehmen kann. Damit ich die Ströme meines Lebens überhaupt mal wieder spüren kann. Aktiv gegen Einsamkeit Zeit schenken ist ein Besuchsdienst für Menschen. Für alle, die durch Unfall, Krankheit oder hohes Alter pflegebedürftig geworden sind. Ehrenamtliche besuchen diese Menschen. Das Zeitgeschenk ist für alle, die sich Zeit für andere nehmen wollen. Die Besuche sind kostenlos. Sie sind zu Hause oder im betreuten Wohnen möglich. Telefon: 0421 704581 Internet: www.netzwerk-selbsthilfe.com Dort in der Rubrik „Zeit schenken“ Die Telefon-Seelsorge hat ein offenes Ohr, für Menschen in schwierigen Situationen. Sie ist erreichbar unter: Telefon: 0800 1110111 oder 0800 1110222 Online-Chat: https://online.telefonseelsorge.de Dort kann man auch nachts und an Sonn- und Feiertagen anrufen. Der Kontakt ist kostenfrei und vertraulich. Der Anruf bleibt anonym. Der Martinsclub Bremen bietet viele inklusive Freizeitangebote an. Die richten sich an Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Sie sind für Kinder und Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Alle treffen sich gemeinsam zum Lernen, Reisen und Sport machen. Natürlich so, wie es die Corona-Regeln vorgeben. Fragen beantwortet Martina Kiy unter: Telefon: 0421 5374751 E-Mail: m.kiy@martinsclub.de Internet: www.martinsclub.de Dort in „Freizeitangebote und Freizeitunterstützung“ 13
Titelthema Text: Catrin Frerichs | Fotos: Jörg Sarbach „Aktiv bleiben und dabei neue Kontakte knüpfen“ Psychologin Swantje Wrobel über Wege aus der Einsamkeit Swantje Wrobel leitet die Psychologische Beratungs- Spielt das Thema Einsamkeit in Ihrer Beratung seit stelle und Sozialberatung des Studierendenwerks Corona eine größere Rolle? Bremen. Sie und ihr Team unterstützen bei allen Fra- Auf jeden Fall. Die Studierenden sind zumeist zu ihren gen rund um das Studium. Seit Corona ist das Thema Eltern zurück nach Hause gefahren. Nun wohnen sie Einsamkeit in den Vordergrund gerückt, sagt sie. wieder dort. Die an der Hochschule geknüpften Kon- takte sind reduziert. Sie finden über das Handy oder Internet statt. Oder sie sind sogar ganz eingeschlafen. Einsamkeit, Isolation und sozialer Rückzug spielen in der Beratung eine große Rolle. Wie fühlen sich einsame Menschen? Sie haben den Eindruck, allein auf der Welt zu sein. Ohne Menschen, die sich für sie interessieren. Sie füh- len sich nicht verstanden und ausgeschlossen. Einsam kann man sich auch fühlen, wenn man unter Leuten ist. Egal, ob in einer Menschenmenge oder bei einem Tref- fen mit Freunden. Das wohl entscheidendste Kennzei- chen ist: Der Zustand ist nicht freiwillig gewollt. Hinter der Einsamkeit verbirgt sich ein Mangel. Er ist an ein Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit geknüpft. Fühlen wir uns einsam oder nicht? Das hängt nicht von der Anzahl unserer Freunde ab. Und auch nicht von der Art unserer Treffen. Vielmehr hängt es davon ab, wie wir die Beziehung persönlich bewerten. Frau Wrobel, was bedeutet eigentlich Einsamkeit? Sind einsame Phasen auch Antrieb und Chance, neue Einsamkeit ist ein Gefühl, es beschreibt das innere Befin- Türen zu öffnen? Etwas Neues zu wagen? den. Dabei unterscheidet man zwischen 2 verschiedenen Ja, das können sie, wenn die geistige Kraft für etwas Arten der Einsamkeit. Es gibt die emotionale Einsamkeit. Neues vorhanden ist. Man muss aber zunächst einse- Betroffene haben zwar soziale Kontakte. Aber sie fühlen hen, dass man einsam ist. Und sich auch wünschen, sich mit ihren Mitmenschen nicht verbunden oder nicht dies zu verändern. verstanden. Zum anderen gibt es die erzwungene Ein- samkeit. Sie entsteht aufgrund äußerer Umstände. Sie Manche Menschen trauen sich mittlerweile gar nicht bringt einem Mangel an sozialen Kontaktmöglichkeiten mehr heraus. Fachleute nennen das Cave-Sydrom. mit sich. Es stehen schlicht keine anderen Menschen Das englische Wort Cave bedeutet Höhle. zur Verfügung. Beide Zustände können zu jenem Gefühl Die Corona-Situation wirkt auf das Leben der Men- führen, das wir Einsamkeit nennen. schen ein. Und zwar in einem noch nie gekannten Aus- 14
Swantje Wrobel steht im Eingangsbereich der Bremer Universität. Monatelang war dort nichts los. Die Uni war wegen Corona geschlossen. maß. Das Cave-Syndrom beschreibt eine seelische Re- tun, was Freude macht. Etwas, das uns beschäftigt und aktion darauf. Corona bedeutet: Die persönliche Freiheit nicht langweilt. Das kann etwas Neues lernen sein. ist eingeschränkt. Man vereinsamt, teilweise verändert Oder auch: Basteln, spazieren gehen, Sport oder ein sich die bisherige Lebenssituation. Menschen sind von neues Projekt. Wenn ich das schaffe, dann bin ich ir- der Arbeit freigestellt oder sitzen im Homeoffice. Schü- gendwann bei der Sache. Das heißt wiederum: Ich bin ler müssen mit „erzwungenen“ Schulferien und digita- nicht nur mit mir und Grübeln befasst. J lem Unterricht klarkommen. Das alles macht etwas mit den Betroffenen. Es erfordert viel Anpassungsbe- reitschaft sowie „Vernunft“. Das kostet psychische Kraft, die viele nicht haben. Darüber werden manche auch krank. Nicht umsonst leiden momentan mehr Beratung für Studierende Menschen als sonst an Depressionen. Die Psychologische Beratungsstelle Und wenn Menschen bemerken, dass sie in der befindet sich an der Bibliothekstraße 7 Einsamkeit festsitzen? Was können sie tun? (Zentralbereich Campuspark) in Nicht krampfhaft versuchen, neue Beziehungen aufzu- Bremen. bauen, sondern den eigenen Interessen nachgehen. Aktiv bleiben – und in diesem Zuge neue Kontakte Mehr Informationen unter knüpfen. Es ist wichtig, es nicht einfach geschehen zu Telefon: 0421 220111310 lassen. Auch, was die Pflege bestehender Beziehungen E-Mail: pbs@stw-bremen.de angeht. Niemand ruft an, niemand schreibt? Selbst Internet: www.stw-bremen.de zum Telefonhörer greifen, selbst den ersten Schritt machen. Bei Einsamkeit neigt man dazu, sich selbst im Öffnungszeiten des Sekretariats: Kopf zu haben. Die Gedanken kreisen darum, was alles Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag: nicht geht und was jetzt fehlt. Diese Gedanken ziehen 9 bis 13 Uhr einen noch mehr runter. Da kann es helfen, etwas zu Mittwoch: 14 bis 16 Uhr 15
Buntes Leben zwischen Blumen und Beeren In der Gartenstadt Süd in Bremen pflegen Nachbarn gemeinsam einen Garten Vor 4 Jahren wurde das gemeinsame Garten- gen können. Dazu gehört, dass man bei den ver- projekt ins Leben gerufen. Heute wächst und schiedenen Tomatensorten die überflüssigen gedeiht der Garten in der Hinrich-Fehrs-Straße Zweige abschneidet. Ausgeizen nennt man das. immer noch. Dafür sorgt die Hausgruppe „BuLe“. Die Abkürzung steht für „Buntes Leben“. Im Garten ist nicht nur Platz für Pflanzen. Auch Genauso bunt wie die Hausgemeinschaft ist auch viele Insekten haben dort ein Zuhause gefunden ihr Garten. Einige Menschen, die bei der Planung und summen herum. Die Stauden und Zierpflan- dabei waren, wohnen nicht mehr dort. Den Gar- zen bieten ihnen ideale Lebensbedingungen, ir- ten zu bewirtschaften, ist aber immer noch gendetwas blüht immer. Der Kräutergarten ist wichtig für alle Nachbarn. Daran ist zu sehen, sehr beliebt, besonders bei den Hummeln. wie sehr die Hausgruppe zusammenhält. Vor allem ist der Garten aber ein Ort der Begeg- Es gibt mittlerweile viele Obst- und Gemüsesor- nung für die Nachbarn. Mittlerweile wurden ten – und immer etwas zu ernten. Beeren, Sala- neue Gartenmöbel gekauft. Eine Spende der te, Tomaten, Gurken und vieles mehr. Vor allem Bruno-Stiller-Stiftung hat das möglich gemacht. ist immer etwas zu tun. Der Garten ist so ange- Es macht gleich viel mehr Spaß, die geernteten legt, dass wirklich jeder mitmachen kann. Viele Beeren direkt zu verarbeiten. Zu einem leckeren Gemüsesorten wachsen in Hochbeeten. Das Fruchtquark zum Beispiel. sind Beete, die nicht auf dem Boden angelegt sind. Meist befinden sie sich auf etwa 50 Zenti- Die Nachbarn treffen sich gern im Garten. Um meter Höhe. Deshalb kommen Menschen auch ein bisschen zu schnacken oder gemeinsam gut mit einem Rollstuhl oder Rollator ans Beet. Kaffee zu trinken. Die Handarbeitsgruppe sitzt gern auf der überdachten Terrasse. Jedes Jahr „Wir müssen die Tomaten noch ausgeizen“, sagt feiern alle ein großes Erntefest. Das ist immer Projektbetreuerin Christina Wolterink. Das klingt ein Höhepunkt des Jahres. ja komisch. Mittlerweile sind die Nachbarn zum Glück Fachleute. Über die Jahre haben sie pro- Der Garten ist offen für alle Menschen, die ihn fessionelle Anleitung bekommen. Dabei haben mitgestalten möchten. Wer Lust zum Gärtnern sie gelernt, wie sie die Pflanzen am besten pfle- hat und auch gerne lacht, ist willkommen. J 16
Text: Tim Rehbein | Fotos: Frank Scheffka Christina (Chris) Wolterink ist Gärtnerin und Diplom-Biologin. Über die GEWOBA ist sie beauftragt, das Projekt zu begleiten. Fachkraft Henrike Beckmann (oben links) betreut das Projekt. Bei der Ernte helfen ihr Andrea Haak (oben rechts) und Gitta Garbade (links). Lust zu gärtnern? Die Hausgruppe „BuLe“ steht für Buntes Leben. Zu ihr gehören 10 Personen. Sie bewohnen die 8 Wohnungen eines Miets- hauses in der Hinrich-Fehrs-Straße. Das ist in der Gartenstadt Süd. Einige von ihnen werden von Mitarbeitern des Martinsclub Reiche Ernte für die BuLe: Helga Beiß (rechts) präsen- betreut. Mindestens einmal im Monat tiert einen Salat. Auch die treffen sich alle, um wichtige Themen zu Beeren sind schon reif. besprechen. Gemeinsam finden sie Lösungen für ein gutes Zusammenleben. Regelmäßig treffen sich alle zum Gärtnern. Wer Lust hat, mitzumachen, bekommt bei Tim Rehbein nähere Informationen. Telefon: 0421 87866580 E-Mail: t.rehbein@martinsclub.de 17
Zu Besuch bei Rachidatou Bourai-Touré ist 27 Jahre alt. Geboren wurde sie in Togo, einem westafrikanischen Land. Seit ihrem zweiten Lebens- jahr ist sie Bremerin. Bourai-Touré studiert in Kiel. Biochemie und Molekular- biologie sind ihre Fächer. In ihrer Freizeit zeichnet sie und ist gerne in der Natur. Kurz erklärt Afrodeutsche Menschen Aus Afrika stammende Schwarze Menschen, die in Deutschland leben. Afrodiasporische Menschen Alle aus Afrika stammenden Schwarzen Menschen, die außerhalb von Afrika leben. Unabhängig davon, in welchem Land sie leben. Black Lives Matter Aus dem Englischen: Schwarze Leben zählen. Zusammenschluss von Menschen gegen jede Form von Gewalt gegen Schwarze Menschen. Empowerment Aus dem Englischen: Ermächtigung, Übertragung von Verantwortung. Besonders in der Bedeutung von „Selbstbestimmung“ und „Unabhän- gigkeit“ und „Befreiung aus Unterdrückung“. Racial Profiling Aus dem Englischen: Rassistische Zuordnung. Aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe werden Menschen als verdächtig eingestuft. Die Polizei überprüft beispielsweise ihre Papiere, ohne dass ein Anlass dafür vorliegt. 18
Text: die durchblicker, Nina Marquardt | Foto: Frank Scheffka „Ich fühlte mich wie im Streichelzoo“ Die durchblicker im Gespräch mit Rachidatou Bourai-Touré vom Kollektiv afrodeutscher Frauen Rachidatou Bourai-Touré setzt sich für soziale Mädchen bis zu 18 Jahren unterstützt. Uns geht Gerechtigkeit ein. Sie engagiert sich ehrenamt- es darum, Kinder zu stärken. Kinder, die viel- lich im Kollektiv afrodeutscher Frauen (KOA) in leicht in der Schule gehänselt werden. Sie sollen Kiel. ermutigt werden, für sich einzustehen. Frau Bourai-Touré, bitte erklären Sie uns: Was Der 19. Juni ist in den USA seit 2021 ein ist ein Kollektiv? offizieller bundesweiter Feiertag. Er heißt Ein Kollektiv ist ein Zusammenschluss von Men- Juneteenth. Er erinnert an die Befreiung der schen. Speziell bei mir ist die Zugehörigkeit afroamerikanischen Bevölkerung aus der über meinen afrikanischen Hintergrund gege- Sklaverei. Was halten Sie davon? ben. KOA richtet sich an Schwarze, afrodeutsche Ich finde solche Gedenktage super. Schwarze Frauen. Uns geht es darum, uns selbst zu orga- Geschichte gibt es ja weltweit. Schwarze Men- nisieren und zu empowern. Wir wollen Räume schen gibt es auch schon seit hunderten Jahren schaffen. Räume, die in unserer Gesellschaft in Deutschland. Wir haben diese Gesellschaft noch nicht so häufig vertreten sind. Da können mitgeprägt und mitgestaltet. wir beispielsweise über unsere Erfahrungen mit Diskriminierung oder Rassismus reden. In un- In den USA bringen manche afroamerikani- serer Whatsapp-Gruppe sind wir im Moment sche Eltern ihren Kindern bestimmte Verhal- etwa 60 Frauen. Davon sind ungefähr 25 als ak- tensweisen bei. Aus Angst, dass sie bei einer tive Mitglieder beteiligt. Polizeikontrolle sonst in Gefahr geraten. Gibt es diese Sorgen vor der Polizei auch in afro- Was bedeutet empowern? deutschen Familien? Empowern oder Empowerment heißt in diesem Ich kann das aus meiner eigenen Perspektive Zusammenhang: Schwarze Frauen stärken sich berichten. Meine Eltern haben schon früh ange- gegenseitig. Damit wir sichtbar sind in der Ge- fangen, uns bestimmte Regeln zu vermitteln. Vor sellschaft. Damit unsere Anliegen in der Gesell- allem meinen Brüdern. Sie sollten sich bei der schaft auch thematisiert werden. Wir unterhalten Polizei immer ganz vornehm und ruhig verhal- uns zum Beispiel über Schwarzen Feminismus. ten. Uns allen wurde mitgegeben, dass wir uns Auch Schwarze Literatur und Kunst oder Afro- jederzeit vorbildlich verhalten sollen. Das ist na- haare sind Themen bei KOA. Wir haben außer- türlich fragwürdig, wenn man das insbesondere dem eine Gruppe für afrikanische und afrodias- Schwarzen Kindern beibringen muss. ¢ porische Mädchen eingerichtet. Hier werden 19
Zu Besuch bei Oder Leute haben mir ungefragt in die Haare ge- fasst. Einfach so, weil sie die so interessant fan- den. Da fühlte ich mich wie im Streichelzoo. Im Studium habe ich ebenfalls negative Erfahrungen gemacht. Oft hat man mir nicht zugetraut, dass ich etwas Naturwissenschaftliches studiere. Das macht mich traurig, dass mir gute Leistung ein- fach abgesprochen wird. Genauso wie gutes Deutschsprechen, Deutschsein und so weiter. Haben Sie auch negative Erfahrungen mit ¢ Wie war es, in Bremen als afrodeutsches Ämtern oder Behörden gemacht? Mädchen zu leben? Ich habe viele schreckliche Behördengänge ge- Ich hatte eine wunderbare Kindheit in Bremen. habt. Zum Beispiel, als ich meinen Personalaus- Ich bin gern zur Schule gegangen. Bereits die weis beantragen wollte. Da hieß es: „Geht es Grundschule war toll. Oft war ich da eher mit so- wirklich um den deutschen Personalausweis?“ genanntem positivem Rassismus konfrontiert. Das Deutschsein wurde mir schon wieder abge- Wenn Leute zum Beispiel sagten: „Guck mal – sprochen. Oder als ich für mein Studium meine die süßen Schwarzen Kinder!“ Das ist vielleicht Zeugnisse anerkennen lassen musste. Da hat nett gemeint. Aber das gibt einem eben das Ge- die Frau meinen Abschluss in Chemie und Biolo- fühl, anders zu sein. Meine Geschwister und ich gie bezweifelt. Nach solchen Erlebnissen bin ich haben früher viel Sport gemacht. Da wurde im- immer sehr fertig nach Hause gekommen. Mei- mer gesagt: „Schwarze Kinder sind ja auch im- ne Brüder hatten viel unter Racial Profiling zu mer so sportlich!“ leiden. Polizeikontrollen wurden vorgenommen, obwohl es keinen erkennbaren Grund dafür gab. Und später? Du gehst spazieren, und ausgerechnet du wirst Als Jugendliche habe ich immer mehr Rassismus aus der Menschenmasse rausgezogen. Einfach gespürt. Ich wurde mit dem „N-Wort“ beschimpft. aufgrund deines Erscheinungsbildes. Welche Forderungen haben Sie an die Gesell- schaft, um Rassismus zu überwinden? Dinge, die rassistisch sind, muss man als solche Literaturtipps zum Thema: benennen. Es fängt damit an, klar zu sagen: Das ist Rassismus. Ich wünsche mir auch mehr poli- Alice Haruko Hasters: tisches Handeln. Da fordere ich Gesetze. Die „Was weiße Menschen nicht über Rassismus müssen regeln, was passiert, wenn sich jemand hören wollen – aber wissen sollten“ rassistisch verhält. Und es muss Forschungen dazu geben. Ich möchte, dass meine Erfahrun- Tupoka Ogette: gen als Schwarze Frau ernst genommen wer- „Exit Racism: Rassismuskritisch denken den. Dass sich die Leute mehr mit dem Thema lernen“ beschäftigen und sich bilden. Dann können wir darüber ins Gespräch kommen. Rassismus ist Dr. phil. Natasha A. Kelly: oft so ein ungewolltes, unangenehmes Thema. „Rassismus. Strukturelle Probleme brau- Nur im Austausch mit Menschen kann man das chen strukturelle Lösungen!“ meiner Meinung nach bekämpfen. 20
Text: die durchblicker, Nina Marquardt | Fotos: Kollektiv Afrodeutscher Frauen, Frank Scheffka, Frank Pusch Teilnehmerinnen der KOA-Winterparty in Kiel im Dezember 2019. Silent-Protest-Demo in Flensburg 2020. Die Menschen wollten ein Zeichen gegen Rassis- mus und rassistische Polizeigewalt setzen. Sehen Sie schon Anzeichen von positiver Veränderung? Und wenn ja, wo? Da habe ich ein konkretes Beispiel. Die Black- Lives-Matter-Demonstrationen letztes Jahr. Ich habe gesehen, dass viele weiße Menschen teil- genommen haben. Sie beginnen, sich mit dem Thema Rassismus zu beschäftigen. Ich bin für jeden Einzelnen dankbar, der darüber nach- denkt. Als weißer Mensch braucht man sich theoretisch nicht damit auseinandersetzen. Ich „Home Story Deutschland“ war eine Ausstellung hingegen erlebe es tagtäglich. Ich würde mich 2019. Sie zeigte Schwarzes Leben in Deutsch- dem auch gerne entziehen, aber kann es nicht. land. Schwarze Menschen aus Musik, Literatur, Deshalb ist Austausch gut, reden und an einen Film, Politik und Kunst wurden vorgestellt. Tisch kommen. J die durchblicker … … sind ein bunter Haufen Redakteure mit Beeinträchtigung. Wir schreiben zu Themen, die uns interessieren und die Michael Peuser Frank-Daniel Nickolaus Ellen Stolte auch für andere spannend sein können. In der inklusiven m-Redaktion tauschen wir uns regelmäßig aus. Haben Sie Ideen für Geschichten? Oder kennen Sie interessante Personen, die wir mal besuchen sollen? Dann nehmen Sie Kontakt auf: Olaf Schneider Matthias Meyer m@martinsclub.de 21
Text: Catrin Frerichs | Foto: Emma Janßen Mein Herzensmensch Es gibt Menschen, die Gutes tun. Einfach so. Sie helfen, hören zu oder prägen uns mit ihrer lebensfrohen Ein- stellung. Höchste Zeit, mal Danke zu sagen. Zuhause, das ist für mich auch der Duft von Bratkartof- feln. Mit Zwiebeln und Speck. Manchmal kann Essen trösten. Vor allem, wenn liebe Menschen es für einen zubereiten. Ich war 5, als ich bei meinen Großeltern in Gröpelingen einzog. Es war im Jahr 1947. Der Krieg war vorbei. Aber viele Häuser in Bremen waren zerstört. Oma und Opa bewohnten übergangsweise ein Zimmer mit Kochecke. Dort haben sie mich aufgenommen. Meine Mutter war nicht mehr bei uns. Sie hatte eine unheilbare Krankheit und musste in ein Krankenhaus. Das nannte sich da- mals Nervenheilanstalt „Ellen“ und war in Osterholz. Dort musste meine Mutter bleiben. Meine Großeltern bauten dann ein Haus in der Hoff- nungstraße in Walle. Dort zogen wir ein. Meine Schule war gleich gegenüber. Es war schön, mit Opa Karl und Oma Anna unter einem Dach zu leben. Meine Großmut- ter war eine kleine, sehr dünne Person. Aber sie war eine starke Frau, mutig und zäh. 4 Kinder hat sie großge- zogen, als ihr Mann im Krieg war. Und dann noch mich. Anna war fröhlich und hat immer gesungen. Bei ihr gab es Schwarzbrot mit Butter und Zucker. Und immer et- was Geld für Bonbons. Sie spielte mit mir „Mensch- ärgere-dich-nicht“. Mit 80 Jahren ist sie gestorben. Da war ich 17. Während meiner Kindheit und Jugend ist sie für mich da gewesen. Wenn ich abends nicht einschla- fen konnte, machte sie mir manchmal Bratkartoffeln. Ich liebte es, in ihrer Küche zu sitzen. Ich konnte mich immer auf sie verlassen. Das Fröhliche habe ich von meiner Großmutter. Heute Sigrid Frerichs wurde 1942 geboren. Sie ist in Bremen aufge- kümmere ich mich liebevoll um meine eigenen 2 En- wachsen. Zu ihrer Oma Anna hatte sie eine besonders liebe- volle Beziehung. Auf einem alten Foto kann man Anna sehen. keltöchter. Hoffentlich kann ich ihnen ein bisschen von Sie ist die Frau im schwarzen Kleid rechts im Bild. Das Bild Annas und meiner Fröhlichkeit mitgeben. J wurde im Jahr 1935 in Bremen-Vegesack aufgenommen. 22
Text: Catrin Frerichs | Foto: Lukas Klose Kunstwerk! Ein Satz aus bunten Legosteinen Die Bremer Künstlerin Sirma Kekeç will Grenzen spielerisch durchbrechen Sirma Kekeç ist Künstlerin und wohnt in Bremen. Sie net macht sie auf ihre Lego-Rampen aufmerksam. Sie hat viel über schwierige Zeiten nachgedacht. Wie ge- ist aktiv auf Instagram und hat ein Profil auf Facebook. hen wir mit schlechten Erfahrungen um? Können wir Es gibt nicht nur Barrieren auf der Straße, sagt sie. sie in etwas Gutes umwandeln? Kann Kunst uns dabei Sondern auch ganz viele, die in den Köpfen der Men- helfen, Krisen wie Corona zu meistern? Ja, sagt Kekeç. schen entstehen. Dagegen möchte sie etwas tun. Anfang des Jahres hat sie einige ihrer Kunstwerke gezeigt. „Love ist the answer“ hieß ihre Ausstellung. Anruf bei der Lego-Oma Das ist Englisch und bedeutet „Liebe ist die Antwort“. Sirma Kekeç wollte eine solche Rampe auch in ihrer Sie wurde in der Galerie des Westens im Bremer Ausstellung zeigen. Also rief sie bei Rita Ebel an. Doch Stadtteil Walle gezeigt. leider gab es dabei ein Problem. Die Stufe zur Ausstel- lung in der Galerie ist zu hoch. Dort konnte Rita Ebel Rita Ebel lebt in der Stadt Hanau in Hessen. Die Rentne- keine Rampe aufbauen. Also überlegte sich die Künst- rin sitzt im Rollstuhl. Sie sagt: „Über Inklusion wird sehr lerin etwas anderes. viel geredet, aber sie wird wenig gelebt. Menschen mit Behinderung wollen aber nicht ausgeschlossen sein.“ Ihre Idee: einen Satz mit Buchstaben aus bunten Lego- steinen schreiben. WE ARE ALL EQUAL – WIR SIND Deshalb baut sie ehrenamtlich bunte Rampen aus ge- ALLE GLEICH. Die einzelnen Buchstaben sind 35 Zenti- brauchten Legosteinen. Überall in der Stadt sind sie zu meter hoch. Mehr als 1000 Steinchen hat Rita Ebel ver- finden. Auch in anderen Städten und Ländern hat Rita baut. Man kann die Buchstaben bewegen und mit ihnen Ebel bereits Rampen aufgestellt. Sie helfen Menschen Wörter neu zusammensetzen. Es gibt weder Punkt mit Beeinträchtigung, Stufen zu überwinden. Vor Res- noch Ausrufezeichen am Satzende. Das ist gewollt. Je- taurants oder vor Geschäften. Die Lego-Oma, wie Ebel der soll mit den Buchstaben etwas Eigenes machen auch genannt wird, ist mittlerweile berühmt. Im Inter- können. Spielerisch. ¢ 23
Kunstwerk! Die Buchstaben „WE ARE ALL EQUAL“ stehen jetzt in Sirma Kekeçs Atelier in der Neustadt. Mehr über ihre Ausstellung „Love is the answer“ unter www.gadewe.de. Dort in der Rubrik Archiv nachschauen. 24
Text: Catrin Frerichs | Fotos: Emma Janßen, Rita Ebel Gemeinsam mit ihrem Mann baut Rita Ebel ehrenamtlich Rampen aus gebrauchten Lego- steinen. Sie verschicken sogar Bauanleitungen in mehreren Sprachen. So stehen die Rampen mittlerweile in vielen Ländern. Wer Legosteine spenden möchte, schickt Rita Ebel eine E-Mail: dielegooma@gmail.com 25
Text: Jörn Neitzel | Fotos: Frank Scheffka „Ich bin jetzt mein eigener Chef!“ Das Persönliche Budget ist ein Weg zu mehr Selbstständigkeit Persönliche Assistenz ist eine Hilfe für Men- werden mir genug Assistenzstunden geneh- schen mit Beeinträchtigung. Die Assistenz migt“, dachte ich. Es gab auch ein Treffen mit kann von einem Assistenzdienst oder Pflege- dem Amt für Soziale Dienste. Ich war sehr auf- dienst organisiert werden. Oder man bezahlt geregt. sie über das Persönlichen Budget. Autor Jörn Neitzel nutzt das Persönliche Budget. Das be- Die Senatorin für Soziales bestimmt, wieviel eine deutet für ihn: viel Verantwortung – aber auch Assistenzstunde maximal kosten darf. Die Höhe mehr Freiheiten. meines monatlichen Budgets ist festgelegt. Sie ergibt sich aus meinen Assistenzstunden und Der Gedanke, meine persönliche Assistenz dem aktuellen Stundensatz. Mit der Behörde selbst zu organisieren, beschäftigte mich schon handle ich meinen Stundensatz aus. länger. Die Vorstellung, ein Arbeitgeber zu sein, reizte mich. Denn das Persönliche Budget bietet Unternehmer mit Verantwortung mir neue Möglichkeiten. So kann ich selbst be- Es wurde vereinbart, dass ich mein Persönliches stimmen, wer mir wann hilft. In meinem Kopf Budget als sogenanntes Arbeitgebermodell nut- schwirrten viele Fragen und Gedanken herum. zen werde. Traue ich mir dies überhaupt zu? Woher bekom- me ich gute und zuverlässige Assistenzkräfte? Bei diesem Modell werde ich zum direkten Ar- Wie funktioniert eine Lohnabrechnung? Wie beitgeber. Mit der Behörde schloss ich einen rechne ich mein Budget mit dem Amt für Soziale Vertrag. Dieser regelt die Zahlung, die ich mo- Dienste ab? natlich bekomme. Ich bin jetzt mein eigener Chef. Alle Entscheidungen treffe ich selbst. Zum Über mein Vorhaben habe ich mit Freunden und Beispiel, wer für mich arbeiten soll. Ich verteile Bekannten geredet. Ich habe zu Menschen Kon- die Aufgaben und plane die Arbeitszeiten. So takt aufgenommen, die das Persönliche Budget kann ich genau beschreiben, was die Assistenz- schon nutzen. Sie alle bestärkten mich in mei- kräfte leisten sollen. Bisher kannte ich nur die ner Idee. Daher habe ich mich dazu entschieden, Rolle des Jobsuchenden. Es ist interessant, die diesen Schritt zu wagen. Sichtweise zu wechseln. Der Wille führt zum Ziel Die Suche nach neuen Assistenzkräften ist auf- Anfang 2020 war es soweit. Ich stellte meinen regend und spannend. Es macht Spaß, die un- Antrag. Ich machte eine Liste mit Hilfen, die ich terschiedlichen Bewerbungen zu lesen. Manche benötige. Ein Mitarbeiter vom Gesundheitsamt sind sehr ausführlich, andere sehr kurz. Sie be- kam zu mir nach Hause. Er stellte fest, wieviel stehen teilweise nur aus einem Satz: „Ich will Unterstützung ich bekommen soll. „Hoffentlich arbeiten!“ ¢ 26
Das Persönliche Budget bringt viel Verantwortung mit sich. Dafür muss man auch gut organisiert sein, weiß Jörn Neitzel. Die Assistentinnen und Assistenten kommen nicht von selbst. 27
¢ Aus den Bewerbungen suche ich mir geeignete Menschen heraus. Bei einem persönlichen Ge- spräch schaue ich, ob wir gut miteinander aus- kommen könnten. Dabei verlasse ich mich oft auf mein Bauchgefühl. So achte ich darauf, ob die Bewerberinnen und Bewerber pünktlich sind. Da ich selbst auch arbeite, ist dies sehr wichtig für mich. Wenn wir uns auf eine Zusam- menarbeit einigen, unterschreiben wir gemein- sam den Arbeitsvertrag. Es ist wichtig, dass ich mich an geltende Gesetze und Regeln halte. Jetzt kenne ich mich auch in Arbeitsrecht und Das Persönliche Budget verhilft Jörn Arbeitsschutz aus! Neitzel zu mehr Selbstbestimmung im Alltag. Damit kann er sein Leben freier Meinen Dienstplan schreibe ich 2 Monate im Vo- gestalten. Zum Beispiel zum Werdersee raus. Dadurch kann ich Wünsche meiner Assis- fahren, wann er will. tentinnen und Assistenten berücksichtigen. So ist immer eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter bei mir. Ich entscheide selbst, zu welchen Zeiten ich Unterstützung benötige. Dabei setze ich auf Freiwilligkeit. Meine Mitarbeitenden können Ihre der Körperpflege. Beim Zähneputzen und beim Arbeitstage ebenfalls selbst aussuchen. Duschen. Ich entscheide, ob sie kochen oder die Wohnung putzen. Früher waren meine Assis- Alle erbrachten Assistenzleistungen muss ich tenzstunden begrenzt. Durch das Persönliche aufschreiben. Ich beschäftige mehrere Mini- Budget kann ich mein Leben nach meinen Wün- Jobber und 3 Festangestellte. Natürlich bin ich schen gestalten. für die Lohnabrechnung der Mini-Jobber zu- ständig. Ein Lohnbüro kümmert sich um die Noch ein Vorteil: Ich bin nicht mehr in einem Zahlungen meiner festangestellten Assistenten. festen Pflegeablaufplan. Bei dem arbeitet der Für die rechtzeitigen Gehaltszahlungen bin ich Pflegedienst nach der Uhr. Ist die Zeit um, geht selbst verantwortlich. Für die Abrechnung der es zum nächsten Klienten. Lohnnebenkosten erstelle ich alle 6 Monate eine Übersicht. Sie zeigt die gezahlten Löhne. Jetzt kann ich selbst bestimmen, wann ich mor- gens aufstehe. Bleibe ich im Bett, muss ich die Hilfe, genau wie ich sie brauche Konsequenzen tragen. Zum Beispiel, wenn ich Meine Assistenzkräfte unterstützen mich im zu spät zur Arbeit komme. Die Assistenzkraft ist Haushalt. Sie helfen mir beim Anziehen und bei den ganzen Vormittag bei mir. Wir können aller- hand unternehmen – wenn ich nicht zur Arbeit muss. Zum Beispiel am Werdersee frühstücken gehen. Ich kann Eis essen gehen oder einen Film im Kino gucken. Das alles, wann ich will. Nach dem Kino ins Restaurant? Kein Problem. Dies verschafft mir die Unabhängigkeit, die für andere Menschen selbstverständlich ist. Mit meinem Budget kann ich meine Persönlichkeit weiterentwickeln. J 28
Text: Jörn Neitzel | Fotos: Frank Scheffka Das Persönliche Budget • Menschen mit Behinderung sollen selbst über ihr Geld bestimmen können. Mit dem Persönlichen Budget können sie auch entscheiden, wer ihnen wann hilft. Das Geld können sie im Alltag einsetzen. Damit bezahlen sie zum Beispiel die Assistenzkräfte und Ausflüge. Oder das Taxi für die Fahrt zum Arzt. • Einen Antrag auf ein Persönliches Budget kann jeder stellen. Voraussetzung ist eine Beeinträchti- gung oder die Person ist von einer Behinderung bedroht. Auch Eltern von Kindern mit Behinde- rung können den Antrag für ihr Kind stellen. • Die Höhe des Persönlichen Budgets hängt vom Bedarf des Antragstellers ab. Das Geld muss nicht als wiederkehrende Leistung ausgezahlt werden. Stattdessen sind auch einmalige Zahlun- gen möglich. Etwa, wenn größere Investitionen wie beispielsweise ein Rollstuhl anstehen. • Beratungen zum Persönlichen Budget gibt es bei 3 Beratungsstellen. Auskunft darüber erteilt die LAGS Bremen. Die Abkürzung steht für Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe behinder- ter Menschen. LAGS Bremen, Waller Heerstraße 55 Telefon: 0421 3877714 E-Mail: info@lags-bremen.de Internet: www.lags-bremen.de 29
Packende Geschichten gegen Vorurteile Serienhelden mit Beeinträchtigung verändern die Sicht der Zuschauer Wenn wir den Fernseher einschalten, sehen wir im- handeln nicht wirklich von den Menschen mit Beein- mer wieder Menschen mit Beeinträchtigungen. Oft trächtigungen. Häufig sollen sie nur hervorheben, wie werden sie sehr negativ dargestellt. Zum Beispiel ha- wohlwollend andere Charaktere ohne Beeinträchti- ben Gegenspieler von James Bond sehr häufig eine gung sind. In Serien ist das oft anders. Zum Beispiel in körperliche Beeinträchtigung. Oder die Geschichten „Breaking Bad“ und „Game of Thrones“. Peter Dinklage spielt Tyrion in der Serie „Game of Thrones“. Für die Rolle hat er mehrere Preise bekommen. Alle Staffeln sind über Sky Ticket erhältlich. 30
Text: Sharif Bitar | Fotos: Helen Sloan, Home Box Office (HBO), privat Sharif Bitar lebt in Lilienthal und arbeitet als freier Lektor und Übersetzer. Außerdem schreibt er eine Doktorarbeit. Darin geht es um Schauspieler mit Beeinträchtigungen in amerikanischen Fernsehserien. Die Länge erlaubt noch etwas anderes. Die Zuschauer können öfter den Blickwinkel der Menschen mit Beein- trächtigungen einnehmen. Wie sieht Walter Junior das Leben und die Welt? Seine Sicht ist der Serie wichtig. Sein Vater bekommt Krebs, sein Onkel wird schwer verletzt. Beide wollen am liebsten aufgeben. Doch Walter Junior ist damit nicht einverstanden. Wütend erklärt er, dass das Sie zählen wohl zu den beliebtesten Serien der vergan- Leben auch mit Beeinträchtigung schön sein kann. Seine genen Jahre. In „Breaking Bad“ gibt es mehrere Men- Erfahrung steht im Mittelpunkt der Geschichte. schen mit Behinderung. Oftmals scheint die Welt nicht für sie gebaut zu sein. Die Serie schaut ganz genau hin, Auch in der Serie „Game of Thrones“ erleben wir Men- mit Zeit und Liebe zum Detail. schen mit Beeinträchtigungen. Jaime hat zum Beispiel eine Hand-Prothese, und Bran ist gelähmt. Viele Zu- Hector, ein Mafia-Boss, benutzt zum Beispiel einen schauer finden Tyrions Geschichte besonders span- Rollstuhl. In einer Folge soll Hector andere Mafia-Bos- nend. Tyrion ist kleinwüchsig, weswegen er vielen Vor- se treffen. Doch der Weg zum Treffpunkt ist schwierig. urteilen begegnet. „Game of Thrones“ spielt zwar in Seine Neffen müssen zuerst ein Auto stehlen, das für einer Fantasiewelt. Aber die Vorurteile, um die es geht, Rollstühle geeignet ist. Und am Treffpunkt gibt es keine sind echt. Doch Tyrion wird nie selbst zum Klischee. Er Rollstuhlrampe. Deswegen müssen sie ihn eine viel zu wird nie zum Hofnarren oder zum Bösewicht gemacht. enge und steile Treppe hochtragen. Er bleibt immer würdevoll. Am wichtigsten ist Walter Junior, der Sohn des Haupt- Für viele Fans der Serie ist Tyrion einer der Lieblings- charakters. Er kann sich nicht gut bewegen und hat charaktere. Sie fühlen sich ihm verbunden. Das ist be- Muskelsteife. Das nennt man Cerebralparese. Sein All- merkenswert. Manche Menschen scheuen sich im All- tag wird immer wieder sehr genau gezeigt. Zum Bei- tag vor Nähe zu Menschen mit Beeinträchtigungen. spiel soll Walter Junior in einer Folge eine neue Hose Vielleicht helfen beliebte Figuren wie Tyrion dabei, sol- anprobieren. Doch es gibt im Geschäft keine Umkleide- che inneren Barrieren abzubauen. kabinen, die für ihn geeignet sind. Darum braucht er die Hilfe seiner Eltern. Und dafür wird er von anderen Serien eignen sich also für packende Geschichten über Jugendlichen im Geschäft ausgelacht. Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie bieten Zeit und Raum für aufmerksames Erzählen. Und oft fördern sie Serien können mehr erzählen als Filme Nähe zwischen Publikum und den Figuren mit Beein- Serien können auch deswegen so genau hinschauen, trächtigungen. J weil sie so lang sind. Ein James-Bond-Film dauert etwa 2 Stunden. „Breaking Bad“ hingegen ist 62 Stunden lang. So kann man natürlich viel mehr und viel genauer erzählen. 31
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