Wohin steuert die Schweiz in der Armutspolitik? - Eine Standortbestimmung unter spezieller Berücksichtigung der Familienarmut - Schweizerische ...

Die Seite wird erstellt Tom-Lennard Urban
 
WEITER LESEN
Wohin steuert die Schweiz
in der Armutspolitik?
Eine Standortbestimmung unter spezieller Berücksichtigung
der Familienarmut

                 Beobachtungen der Caritas zur Armutspolitik 2015
Beobachtungen zur Armutspolitik.
    Fokus Familienarmut

    In Kürze: Mit der Erklärung «Armut halbieren»        zwölf Kantonen gibt es zudem noch keinen
    lancierte Caritas Schweiz 2010 – im europäi­         ­Armutsbericht. Die Fortschritte in der kantona­
    schen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozi­        len Armutsberichterstattung stehen heute be­
    aler Ausgrenzung – eine Dekade zur Armuts­           unruhigenden Trends in der politischen Praxis
    bekämpfung in der Schweiz. Darin formuliert die      gegenüber. Die Trendanalyse, welche die Ent­
    Caritas nicht nur Forderungen an Politik und         wicklungen in der Sozialhilfe, der individuellen
    Wirtschaft, sondern verpflichtet sich auch selbst    Prämien­verbilligung und den Steuern fokussiert,
    zu einem regelmässigen Monitoring der Schwei­        zeigt einen Abbau bei den bedarfsabhängigen
    zerischen Armutspolitik. Seither sind fünf Jahre     Leistungen bei gleichzeitigen Steuergeschen­
    vergangen. Unlängst hat auch die UNO ihre            ken für Gut­verdienende.
    Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ver­
    öffentlicht. Die Eliminierung von Armut in all       Strategien zur Bekämpfung von Familienarmut:
    ihren Formen wird darin als erstes globales Ziel     Familienarmut ist in der Schweiz kein marginales
    aufgeführt.                                          Problem. Rund eine Viertelmillion Eltern und
                                                         ­Kinder sind in der Schweiz von Armut betroffen.
    Die Caritas nimmt die Halbzeit der Dekade «Armut     Bei Familien mit drei und mehr Kindern trifft
    halbieren» deshalb zum Anlass, die erreichten        es jede zwölfte Familie, bei Alleinerziehenden
    Fortschritte in der Schweizer Armutspolitik aus­     jede sechste. Armutsbetroffene Familien kämp­
    zuweisen und weiteren Handlungsbedarf zu be­         fen nicht nur im Moment mit finanziellen Sorgen,
    nennen. Dabei richtet sich der Blick in einem ers­   insbesondere die Kinder werden häufig lang­
    ten Teil auf die allgemeinen Entwicklungen der       fristig an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
    nationalen und kantonalen Armutspolitik, wobei       Gute Familienpolitik sichert deshalb nicht nur
    auch aktuelle Trends aufgearbeitet werden. Der       die Existenz von Familien und ermöglicht die
    zweite Teil widmet sich spezifisch der Familien­     Ver­
                                                            einbarkeit von Familie und Beruf auch für
    armut und dabei insbesondere der Frage, ob die       Armutsbetroffene, sondern garantiert darüber
                                                         ­
    Kantone Strategien entwickelt haben, um Famili­      hinaus mit dem Zugang zu Früher Förderung und
    enarmut wirksam zu bekämpfen.                        beruflicher Ausbildung die Chancengerechtig­
                                                         keit. Die Bekämpfung von Familienarmut tangiert
    Standortbestimmung zur Armutspolitik 2015:           zahlreiche Bereiche, die weitgehend in kantona­
    Der Bund ist heute hinsichtlich der Bedeutung        ler Kompetenz liegen. Für die Kantone ist diese
    von Armut in der Schweiz sensibilisiert. Er hat      komplexe Aufgabe nur zu leisten, wenn sie über
    in den vergangen Jahren vor allem mit der Ein­       Strategien verfügen, die auf einer fundierten
    führung einer nationalen Armutsstatistik und         ­Situationsanalyse basieren, Ziele vorgeben und
    dem Nationalen Programm zur Prävention und           Massnahmen definieren, welche regelmässig
    Bekämpfung von Armut wichtige Beiträge ge­           evaluiert werden. Einzig der Kanton Bern verfügt
    leistet. Auch die kantonale Armutsberichter­         derzeit über eine solche Strategie. Zwei Kantone
    stattung hat in den letzten fünf Jahren Fort­        erarbeiten eine Strategie, und fünf Kantone
    schritte erzielt. Sieben Kantone verfügen heute      besitzen Strategien im Teilbereich der Frühen
                                                         ­
    über A
         ­ rmutsberichte, und fünf Kantone bereiten      Förderung. Acht Kantone verfügen weder über
    derzeit einen solchen vor. Mit der Ausnahme
    ­                                                    Grundlagenberichte   noch   über   strategische
    von Bern bleiben die Armutsberichte jedoch           Ansätze. Von einer systematischen Politik zur
                                                         ­
    deskriptiv und schliessen nicht systematisch
    ­                                                    Reduktion der Familienarmut ist die Mehrheit
                                                         ­
    Ziele, Massnahmen und Evaluationen ein. In           der Kantone noch weit entfernt.

2
Standortbestimmung 2015 zur Armutspolitik
der Schweiz
Zur Halbzeit der Dekade «Armut halbieren» nimmt Caritas           Vertreter von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden
eine Standortbestimmung vor, um deutlich zu machen,               auch eine gemeinsame Erklärung mit dem Versprechen,
welchen Stellenwert die Politik bzw. die öffentliche Hand         die Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern, die Chan-
dem Kampf gegen die Armut in der Schweiz beimisst.                cengerechtigkeit im Bildungsbereich zu verbessern und
Dabei werden drei Themen fokussiert: Welche Fortschritte          Familien, die trotz Erwerbsarbeit ihre Existenz nicht sichern
machte erstens die Armutsbekämpfung und -prävention               können, durch Familienergänzungsleistungen zu unterstüt-
auf Bundesebene in den letzten fünf Jahren? Was wurde             zen. Sie verpflichteten sich zudem, im Rahmen des Natio-
zweitens in der kantonalen Armutsberichterstattung er­­           nalen Dialogs Sozialpolitik alle zwei Jahre über die Wirkung
reicht? Und welche sozialpolitischen Trends zeichnen sich         der Arbeiten zur Gesamtschweizerischen Strategie der
drittens gegenwärtig ab? Neben den erzielten Fortschritten        Armutsbekämpfung Bericht zu erstatten.
weist die vorliegende Standortbestimmung auch den
bestehenden Handlungsbedarf aus.                                  2012 lud Bundesrat Alain Berset alle im Feld der Armuts­
                                                                  bekämpfung und -prävention tätigen Akteurinnen und
                                                                  Akteure ein, an einem runden Tisch die ergriffenen Mass-
                                                                  nahmen einer Bilanz zu unterziehen und das weitere
1. Die Armutsbekämpfung                                           ­Vor­gehen in der Armutsbekämpfung und -prävention zu
   auf Bundesebene (2010 –2015)                                   definieren. Die Diskussion bestätigte die Dringlichkeit, das
                                                                  Engagement gegen Armut auf Bundesebene zu intensivie-
1.1 Von der Armutsstrategie zum                                   ren. Im Mai 2013 lancierte der Bundesrat deshalb das
    Armutsprogramm                                                ­Programm zur Bekämpfung und Prävention von Armut.
Mit dem europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut
und sozialer Ausgrenzung 2010 wurde Armut auch in der             Das Armutsprogramm des Bundes ist ein Meilenstein in der
Schweiz auf Bundesebene ein Thema. Auslöser für das               Geschichte der Armutsbekämpfung und Armutsprävention
Engagement des Bundes war eine im Januar 2006 einge-              der Schweiz. Erstmals übernimmt der Bund Verantwortung
reichte Motion der Kommission für soziale Sicherheit und          in diesem Bereich. Mit dem Fokus auf die vier Themen­
Gesundheit des Nationalrates. Diese forderte den Bundes-          bereiche «Bildungschancen für Kinder, Jugendliche und
rat auf, eine nationale Armutskonferenz einzuberufen und          Erwachsene», «soziale und berufliche Integration», «Lebens-
neue Massnahmen zur beruflichen und sozialen Integration          bedingungen insbesondere für Familien und im Bereich
armutsbetroffener und armutsgefährdeter Menschen zu               Wohnen» sowie «Wirkungsmessung und Monitoring»
diskutieren und zu koordinieren.1 Mit der Annahme der             grenzt das Programm das breite Thema der Armuts­
Motion signalisierte das Parlament den Willen, der Armuts-        bekämpfung ein und stellt für die Laufzeit von fünf Jahren
bekämpfung auf Bundesebene mehr Gewicht zu verleihen              9  Millionen zur Verfügung. Ziel ist die Erstellung von Grund-
und neben Kantonen, Gemeinden und privaten Hilfsorgani-           lagen im Bereich Armutsprävention und -bekämpfung
sationen eine aktivere Rolle zu übernehmen.                       sowie die Vernetzung relevanter Akteure – namentlich
                                                                  von Kantonen, Städten, Gemeinden, Sozialpartnern und
Eine Steuergruppe, zusammengesetzt aus Vertreterinnen             ­Nichtregierungsorganisationen.
und Vertretern der Verwaltung, der Konferenz der kantona-
len Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) sowie         Die Nachhaltigkeit der nationalen
der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS),             Armutsbekämpfung garantieren
er­arbeitete auf Ende März 2010 gemeinsam mit Sozialpart-         Das nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung
nern, Gemeinden, Städten und verschiedenen Hilfswerken            von Armut geht trotz einzelner Modellvorhaben nicht nen-
die «Gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämp-             nenswert über eine Bestandesaufnahme im Bereich der
fung». Diese wurde im gleichen Jahr an einer Armutskonfe-         Armutsbekämpfung hinaus. Die Mittel sind mit 9 Millionen
renz diskutiert. Dort unterzeichneten Vertreterinnen und          Franken zu bescheiden, um neue Programme und Mass-
                                                                  nahmen aufzubauen. Vorausblickend auf das Ende des
                                                                  Programms 2018 stellt sich insbesondere die Nachhaltig-
 http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_
1                                                                 keitsfrage. Letztlich hängt der Erfolg des Programms
  id=20063001 (11.08.2015).                                       wesentlich davon ab, inwiefern es gelingt, Massnahmen

                                                                                                                                   3
einzuleiten, die über die Programmlaufzeit hinaus gehen        bleibt drittens, dass Vermögen nicht berücksichtigt wer-
    und sowohl die Kantone als auch den Bund zu einem stär-        den, und die Unmöglichkeit, die Nicht-Bezugsquote bei der
    keren Engagement in der Armutsbekämpfung verpflichten.         Sozialhilfe zu schätzen. Das heisst, es können keine Aus­
                                                                   sagen darüber gemacht werden, wer Anspruch auf Sozial-
    1.2 Die Einführung der Armutsstatistik                         hilfe hätte, diesen aber nicht geltend macht.
    Armutsstatistiken sind ein zentrales Instrument zur Analyse
    und Einschätzung der Armutssituation in einem Land. Sie        1.3 Massnahmen zur Armutsbekämpfung
    liefern die Grundlage für eine zielführende Armutsdiskus-          im P
                                                                          ­ arlament chancenlos
    sion in der Politik, in der Verwaltung und in den Medien.      Mit dem «Rahmengesetz Sozialhilfe» und den «Familien­
    Lange konnte das Ausmass der Armut in der Schweiz nur          ergänzungsleistungen» wurden im Parlament zwischen
    geschätzt werden. Erst seit 2010 werden mit der Statistik      2010 und 2015 zwei zentrale Anliegen diskutiert. Beide
    über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) Daten          Themen waren Bestandteil der Armutsstrategie von 2010.
    erhoben, die spezifisch auf Auswertungen zum Thema             Nachdem das Rahmengesetz Sozialhilfe im Juni 2013 im
    Armut ausgerichtet sind. Ziel ist die Untersuchung der         Ständerat scheiterte, wurde der Bundesrat aufgefordert,
    Armut, der sozialen Ausgrenzung und der Lebensbedin-           die künftige Ausgestaltung der Sozialhilfe in einem Bericht
    gungen anhand europäisch vergleichbarer Indikatoren.           darzulegen. Der im Februar 2015 publizierte Bericht dis­
                                                                   kutiert drei Varianten: ein Rahmengesetz Sozialhilfe, ein
    Die SILC-Analysen verbinden Daten über Einkommenssitu-         interkantonales Konkordat und das Beibehalten des Status
    ation, Lebensbedingungen sowie Wohlbefinden und tragen         quo, wobei in letzterem Fall die SKOS- Richtlinien als Orien-
    damit der Tatsache Rechnung, dass Armut nicht allein ein       tierung dienen sollten. Der Bundesrat entschloss sich für
    Mangel an finanziellen Ressourcen bedeutet, sondern auch       die dritte Variante und spielte den Ball so zurück zu den
    vielfältige, komplexe prekäre Lebenslagen beinhaltet. Erst-    Kantonen. Damit wurde die Chance verpasst, einheitliche
    mals werden mit der SILC Statistik also monetäre und           Lösungen im Bereich der Existenzsicherung durchzuset-
    nicht-monetäre Aspekte der Armut für die Schweiz ausge-        zen und eine landesweite Chancengleichheit für Menschen
    wiesen. Neben der Publikation von Armutsquoten werden          in Not zu garantieren.
    vom BFS auch themenspezifische Untersuchungen zu
    ­verschiedenen Betroffenengruppen – beispielsweise Armut       Familienergänzungsleistungen als Instrument zur Bekämp-
    im Alter – publiziert.                                         fung der Familienarmut auf nationaler Ebene einzuführen,
                                                                   dies war insbesondere zu Beginn der Jahrtausendwende
    Lücken in der Armutsstatistik füllen                           ein zentrales Thema. Die bundesweite Einführung schei-
    Die SILC-Statistik ist Voraussetzung für eine nachhaltige      terte 2011 jedoch nach zehnjähriger Debatte am eidge­
    Armutspolitik und deshalb ein Meilenstein im Kampf gegen       nössischen Parlament. Auch der jüngste Vorstoss von
    die Armut in der Schweiz. Fünf Jahre Erfahrung mit den         ­Nationalrätin Yvonne Feri im März 2015 war erfolglos. Damit
    SILC-Zahlen zeigen aber auch Lücken. So ist erstens die        sind auch in diesem Bereich heute die Kantone gefordert.
    Stichprobe mit rund 7000 Haushalten zu klein, um statis-       Solothurn, Tessin, Waadt und Genf haben in den letzten
    tisch gesicherte Aussagen über verschiedene kleinere           Jahren Familienergänzungsleistungen eingeführt. In einigen
    Bevölkerungsgruppen machen zu können. Heute wissen             anderen Kantonen sind politische Vorstösse hängig. Die
    wir beispielsweise nicht, ob Alleinerziehende, die über-       ersten Evaluationen der Familienergänzungsleistungen
    durchschnittlich von Armut betroffen sind, arm sind, weil      bestätigen die Wirksamkeit des Instruments hinsichtlich
    sie im Tieflohnbereich arbeiten oder weil sie aufgrund ihrer   der Existenzsicherung einkommensschwacher Familien.
    Betreuungspflichten nicht in grösserem Umfang erwerbs­
    tätig sein können. Dieses Wissen wäre jedoch Voraus­           1.4 Erfordernisse aus Sicht der Caritas
    setzung, um die Ursachen der Armut zu verstehen und            Während auf Verwaltungsebene ein Armutsprogramm
    wirksam angehen zu können. Die Stichprobengrösse               installiert werden konnte, sind zentrale Vorstösse zur
                                                                   ­
    erlaubt zweitens keine Auswertungen zur Armutssituation        Armutsbekämpfung und -prävention im eidgenössischen
    auf kantonaler Ebene. Dies ist in der föderalistischen         Parlament gescheitert. Die Herausforderung liegt heute
    Schweiz, welche Armutspolitik weitgehend in die Kompe-         darin, Armutspolitik als Bundespolitik zu institutionalisieren.
    tenz der Kantone delegiert, unzureichend. Unbefriedigend       Folgende Punkte sind entscheidend: Es gilt, die Mängel der

4
SILC zu beheben und die Armutsstatistik auszubauen.          2. Fortschritte in der kantonalen
Denn Voraussetzung für eine wirksame Armutspolitik ist          ­Armutsberichterstattung
eine fundierte Armutsstatistik (1). Sodann müssen die
Bemühungen des Bundes über Bestandesaufnahmen und            2.1 Notwendig sind fundierte Situationsanalysen
Modellvorhaben im Be­­reich Armutsbekämpfung und -prä-       Armutspolitik geschieht in der Schweiz zu einem grossen
vention hinaus gehen (2). Armutspolitik muss Bundespolitik   Teil in den Kantonen. Diese sind – weil zentrale armutspoli-
sein:                                                        tische Themen auf Bundesebene abgeschrieben wurden
                                                             – heute speziell gefordert. Um Armut gezielt bekämpfen
• Die Existenzsicherung allein den Kantonen zu über­         und verhindern zu können, sind die Kantone auf fundierte
   lassen, dies führt zu uneinheitlichen Regelungen,         Situationsanalysen angewiesen. Voraussetzung für eine
   indem Armutsbetroffene je nach Wohnort unterschied-       wirksame kantonale Armutspolitik sind deshalb Armuts­
   lich unterstützt werden. Die kantonal geregelte           berichte, welche die Armutssituation im Kanton analysie-
   ­Alimentenbevorschussung, Sozialhilfe und die (fehlen-    ren, Ziele definieren, Massnahmen bestimmen und deren
   den) Familienergänzungsleistungen sind Bespiele dafür.    Wirksamkeit evaluieren. Die vorliegende Standortbestim-
• Es braucht eine Fachstelle Armutsbekämpfung auf            mung fragt nach dem Stand der kantonalen Armutsbericht-
   nationaler Ebene. Diese soll einerseits gewährleisten,    erstattung 2015, zeigt die Fortschritte und benennt den
   dass Armut als Querschnittthema in der Bundes­            Handlungsbedarf. Welche Kantone erstellen Armutsbe-
   verwaltung berücksichtigt wird und alle relevanten        richte und wie sind diese ausgestaltet?
   Bundesämter in Armutsthemen koordiniert vor­-
   gehen. Andererseits kann die Fachstelle die kantonale     Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und
   ­Armutspolitik unterstützen und begleiten.                Sozialdirektoren (SODK) erhebt alle zwei Jahre den Stand
• Es gilt, ein nationales Armutsmonitoring mit mess­baren    der kantonalen Armutsberichterstattung. Ihre neusten
   Zielen, Indikatoren und Massnahmen einzurichten.          Resultate vom Mai 2014 wurden durch eine Analyse von
   Eine regelmässige Evaluation garantiert, dass             Caritas ergänzt. Die Kantone lassen sich in fünf Kategorien
   der eingeschlagene Weg der Armutsbekämpfung               unterteilen:
   Wirkung erzielt.
                                                             1. Ein Armutsbericht liegt vor: Aargau, Basel-Landschaft,
                                                                Basel-Stadt, Bern, Luzern, Solothurn, Waadt (7)
                                                             2. Ein Armutsbericht ist in Erarbeitung:
                                                                Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Zug (5)
                                                             3. Eine detaillierte Auswertung der Sozialhilfestatistik
                                                                findet statt: Schwyz, Zürich (2)
                                                             4. Kein Bericht: Appenzell Innerrhoden, Appenzell
                                                                Ausserrhoden, Glarus, Graubünden, Nidwalden,
                                                                Obwalden, St Gallen, Schaffhausen, Tessin, Thurgau,
                                                                Uri, Wallis (12)

                                                             2.2 Einschätzung der kantonalen
                                                                 Armutsberichte
                                                             Eine gute kantonale Armutsberichterstattung beschreibt
                                                             und analysiert die Armutssituation, definiert Ziele, formuliert
                                                             Massnahmen, die zur Zielerreichung beitragen sollen, und
                                                             evaluiert diese im Hinblick auf die Zielerreichung.

                                                                                                                               5
Die vorliegenden Berichte wurden anhand folgender Krite-          Berichte weiter, beschreibt die Armutssituation und zeigt
    rien analysiert:                                                  die Entwicklung über die Zeit. Im Bericht wird das Ziel
                                                                      ­definiert, die Armut im Kanton bis 2020 zu halbieren. Die
    • Wird die Armutssituation im Kanton beschrieben?                 Armutsquote dient hierfür als Indikator. Im Bericht 2012
    • Sind Ziele und entsprechende Indikatoren                        werden zudem ein Massnahmenplan zur Zielerreichung
       für die Armutspolitik gesetzt?                                 vorgelegt und sieben prioritäre Massnahmen zur Umset-
    • Werden Massnahmen formuliert, die zur Zielerreichung            zung festgehalten. Die Zielerreichung wird jeweils im Folge-
       beitragen sollen?                                              bericht evaluiert. Ein nächster Bericht wird voraussichtlich
    • Werden bestehende Politiken und Massnahmen auf                  im Dezember 2015 publiziert. Dieser beinhaltet neben einer
       das Ziel hin evaluiert?                                        Auswertung zum Stand der Umsetzung des Massnahmen-
                                                                      katalogs von 2012 auch eine Befragung der Armutsbetrof-
    Der Sozialbericht (2012) des Kantons Aargau ist Teil der          fenen im Kanton Bern. Die Berner Berichte gehen weit über
    Sozialplanung. Er analysiert die soziale Lage der Bevölke-        Sozialhilfedaten hinaus. Die Ergebnisse und Massnahmen
    rung in acht Handlungsfeldern. Armut ist darin ein Thema          werden jeweils an einem öffentlichen Anlass – dem Berner
    neben anderen. Der Bericht beschreibt zudem die kanto-            Sozialgipfel – zur Diskussion gestellt.
    nale Sozialpolitik anhand der wichtigsten Massnahmen.
    Damit liefert er die Grundlage für die Sozialplanung. Der         Der Sozialbericht (2013) des Kantons Luzern liefert ein
    Bericht benennt jedoch keine konkreten Ziele und nimmt            umfangreiches Bild der sozialen Lage der Bevölkerung.
    keine Evaluation der Massnahmen vor. Im Fazit wird der            Im Vordergrund stehen die grossen gesellschaftlichen
    Handlungsbedarf allgemein in sechs Punkten definiert.             ­Entwicklungslinien. Es werden aber auch einzelne Lebens-
                                                                      bereiche – darunter Wohlstand und Armut – fokussiert, und
    Im Armutsbericht (2014) des Kantons Basel-Landschaft              die Befindlichkeit sozialpolitisch wichtiger Bevölkerungs-
    werden die Armutssituation beschrieben, eine Armuts-              gruppen wird analysiert. Der Bericht liefert eine gute Situa-
    quote ausgewiesen und Risikogruppen benannt. Der                  tionsanalyse beinhaltet jedoch weder Ziele noch Massnah-
    Bericht hält jedoch fest, dass die Datenlage für eine diffe-      men im Bereich der Armutsbekämpfung und sieht auch
    renzierte Beurteilung der Armut in all ihren Facetten unge-       keine Evaluation vor.
    nügend ist. Er formuliert acht Empfehlungen, wie Armut in
    Kanton weiter verhindert werden kann. Der Armutsbericht           Solothurn verfügt über einen umfassenden Sozialbericht
    des Kantons Basel-Land nennt jedoch kein konkretes Ziel           (2013). Ein Kapitel widmet sich explizit der Armutssituation
    und leitet keine konkreten Massnahmen ab, die in der Folge        im Kanton. Es werden jedoch keine konkreten Ziele im
    evaluiert werden könnten. Es wird sich zeigen, inwiefern der      Bereich Armutsbekämpfung gesetzt. Der Bericht verweist
    Regierungsrat sein Versprechen einhält, die Empfehlungen          darauf, dass bisher keine Massnahmen zur Armutsbe-
    in konkreten Massnahmen umzusetzen.                               kämpfung ergriffen wurden, stellt diese aber in Aussicht
                                                                      und benennt Herausforderungen. Der Bericht soll Grund-
    Der Armutsbericht (2010) von Basel-Stadt stellt die Armut         lage für die Erarbeitung einer kantonalen Strategie zur
    ins Zentrum. Analysiert werden neben der finanziellen             Armutsbekämpfung sein. Solothurn fasst eine periodische
    Armut im Kanton auch Potenziale und die Belastungen               Sozialberichterstattung ins Auge, die künftig mit der Sozial-
    der armutsbetroffenen Bevölkerung. Ausführlich werden             planung verknüpft werden soll.
    zudem die Stärken und Schwächen der Basler Armutspoli-
    tik besprochen. Der Bericht beschreibt die Armutssituation,       Der Sozialbericht (2011) des Kantons Waadt beschreibt den
    evaluiert bestehende Massnahmen und formuliert Hand-              wirtschaftlichen und sozialpolitischen Kontext im Kanton,
    lungsempfehlungen (diese wurden mit Armutsbetroffenen             dabei widmet sich ein Unterkapitel auch der Armut. Zudem
    diskutiert). Im Bericht fehlen jedoch Zielvorgaben zur            evaluiert er bestehende Massnahmen der kantonalen
    Bekämpfung von Armut.                                             Sozialpolitik (beispielsweise das Projekt FORJAD 2). Der
                                                                      ­
                                                                      Bericht liefert damit eine fundierte Situationsanalyse. Er
    Bern nimmt in der kantonalen Armutsberichterstattung eine
    Vorreiterrolle ein. Seit 2008 sind drei Sozialberichte erschie-    Mit dem Projekt FORJAD des Kantons Waadt werden junge,
                                                                      2

    nen. Der Bericht von 2012 führt die Analyse der früheren            sozialhilfeabhängige Erwachsene mit Stipendien unterstützt.

6
Ein Armutsbericht liegt vor:                                BS                                       TG
    Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern,
    Luzern, Solothurn, Waadt.
    Ein Armutsbericht ist in Erarbeitung:                            BL                      ZH
                                                                            AG             SH
    Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Zug.
                                                          JU                                                    AR
    Eine detaillierte Auswertung der                            SO                                                   AI
    ­Sozialhilfestatistik findet statt:                                                     SH
                                                                                           SH
     Schwyz, Zürich.                                            BS                          SH           TG
                                                                                                               SG
    Kein Bericht:
    Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden,
                                                                                           ZG            TG
                                                                BS
                                                                BS                                      TG
    Glarus, Graubünden, Nidwalden, Obwalden,                    BS   BL   LUAG               ZH          TG
    St. Gallen, Schaffhausen, Tessin, Thurgau,                                                    SZ
                                                          JU                                                    AR
    Uri, Wallis.                               NE                  BL
                                                                SO BL                        ZH
                                                                                            ZH           GL          AI
                                                               BE           AG
                                                                           AG                ZH
                                                                   BL       AG       NW
                                                          JU
                                                          JU                                                   ARAR
                                                          JU    SO
                                                                SO              OW                             SGARAIAI
                                                                SO                                                   AI
                                                                                           ZGUR
                                                                          LU                                   SG
                                                                                                              SG
                                                                                           ZG
                                                                                            ZG    SZ           SG          GR
                                               NE    FR                                     ZG
                                    VD                                    LU
                                                                           LU                            GL
                                                               BE          LU        NW          SZ
                                                                                                  SZ
                                               NE
                                               NE                                                 SZ
                                                                                OW                      GL
                                                                                                         GL
                                               NE              BE
                                                               BE                    NW
                                                                                      NW                 GL
                                                               BE                     NW     UR
                                                                            OW
                                                                            OW
                                                                            OW              UR
                                                                                             UR    TI                      GR
                                                     FR
                                    VD                                                       UR
                                                                                                                          GRGR
                                                     FR
                                                     FR
               GE                    VD                         VS                                                          GR
                                    VD               FR
                                    VD

                                                                                                   TI

                                                                                                  TI
                                                                                                   TI
               GE                                               VS                                 TI
                GE                                             VS
               GE                                              VS
               GE                                              VS

7
formuliert jedoch keine Ziele im Bereich der Armutsbe-
    ­                                                                  3. Sozialpolitische Trends 2015:
    kämpfung und auch keine neuen Massnahmen. Ein Folge-                  Zeichen der Entsolidarisierung
    bericht ist für 2016 geplant.
                                                                       Neben der kantonalen und nationalen Armutsberichterstat-
    2.3 Würdigung der Fortschritte in der k
                                          ­ antonalen                  tung stellt sich zur Halbzeit der Dekade «Armut halbieren»
        Armutsberichterstattung                                        auch die Frage nach den aktuellen sozialpolitischen Trends.
    Kantonale Armutsberichte tragen dazu bei, Armut zu ent­            In welche Richtung entwickelt sich die Schweiz? Grundlage
    tabuisieren und Armutsbekämpfung als gesellschaftliche             der Trendanalyse sind Beobachtungen im Bereich relevan-
    Aufgabe anzugehen. In den letzten fünf Jahren wurden               ter bedarfsabhängiger Leistungen im vergangenen Jahr,
    Fortschritte in der kantonalen Armutsberichterstattung             namentlich der Sozialhilfe und der individuellen Prämien-
    erzielt. So verfügen heute sieben Kantone über Armutsbe-           verbilligung, sowie eine Analyse der Steuerentwicklung der
    richte, und in fünf Kantonen sind solche in Erarbeitung.           letzten 15 Jahre.
    Zwei weitere Kantone publizieren regelmässig detaillierte
    Auswertungen der Sozialhilfestatistik. Eine Mehrheit der           3.1 Dammbruch in der Sozialhilfe
    Kantone schliesst in der Ausgestaltung ihrer Armutsbe-             Mit dem Argument, die Kantone und Gemeinden könnten
    richte an die Empfehlungen der SODK an. Das heisst, sie            sich die Sozialhilfe nicht mehr leisten, wurden in den letzten
    liefern Situationsanalaysen mit vertieften Untersuchungen          Jahren zahlreiche Vorstösse zu Leistungskürzungen ein­
    zu Schwerpunktthemen.3 Beurteilt man die Entwicklung               gereicht – einige waren erfolgreich. So beschlossen bei-
    über alle Kantone hinweg so zeigt sich, dass knapp die             spielsweise die Kantone Wallis und Bern, die Kosten der
    Hälfte der Kantone die Dringlichkeit sorgfältiger Situations-      Sozialhilfe linear um zehn Prozent kürzen. Der Kanton
    analysen im Bereich Armut erkannt hat. Die Mehrheit                ­Nidwalden stimmte dem neuen Sozialhilfegesetz zu, das
    der Berichte bleibt jedoch deskriptiv, und zwölf Kantone           deutlich härtere Sanktionsmassnahmen zulässt. Im Kanton
    haben noch immer keinen Armutsbericht verfasst. Einzig             Zürich verlangte eine von FDP, GLP und SVP getragene
    der Berner Sozialbericht erfüllt alle Kriterien, indem er kon-     Motion, die Rechtsverbindlichkeit der SKOS-Richtlinien
    krete Ziele benennt, Massnahmen ableitet und regelmä-              aufzuheben. Die Motion wurde zwar abgelehnt, dennoch
    ssige Evaluationen durchführt. Für eine wirksame Armuts-           kam es auch in Zürich zu Verschärfungen in der Sozialhilfe.
    politik ist dies Voraussetzung. Und so gilt der Kanton Bern        So wurde der Einkommensfreibetrag im Kanton von
    mit seiner regelmässigen und systematischen Armuts­                600 auf 400 Franken herab gesetzt. Die Aufzählung liesse
    berichterstattung und den parallel dazu durchgeführten             sich um zahlreiche Vorstösse und Leistungskürzungen in
    Sozialgipfeln als Vorbild.                                         anderen Kantonen erweitern.

                                                                       Wieviel Geld braucht eine einzelne Person oder eine Familie
                                                                       in der Schweiz zum Leben? Diese Frage beschäftigte die
                                                                       Politik im letzten Jahr und leitete die Debatte über eine wir-
                                                                       kungsvolle Sozialhilfe ein. Um die Diskussion zu versachli-
                                                                       chen, gab die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe
                                                                       (SKOS) 2014 zwei Studien in Auftrag. So wurde einerseits
                                                                       evaluiert, ob die Anreizsysteme in der Sozialhilfe wirken,
                                                                       und andererseits nachgerechnet, ob der Grundbedarf den
                                                                       Lebensunterhalt deckt.4

                                                                       Es zeigte sich, dass der Grundbedarf – der sich nach wis-
                                                                       senschaftlichem Massstab an den Bedürfnissen der zehn
                                                                       Prozent Einkommensschwächsten orientiert – heute für
                                                                       kleine Haushalte zu tief angesetzt ist und dass die Äquiva-

     http://www.sodk.ch/fileadmin/user_upload/Aktuell/Empfehlungen/
    3
                                                                        http://skos.ch/news/detail/studienergebnisse-zum-grundbedarf-
                                                                       4

      2012.09.21_SODK_Empf._Sozialbericht_d_WEB.pdf (08.09.2015)         und-anreizsystem-liegen-vor/ (09.07.2015).

8
lenzskala, also die Umrechnung von Ein- auf Mehrperso-           Die beschlossenen Schritte sind Ausdruck des harten
nenhaushalte, im internationalen Vergleich sehr restriktiv       Gegenwinds, dem sich die Sozialhilfe in den letzten Jahren
ist. Das heisst, Familien werden im Vergleich zum benach-        ausgesetzt sieht. Die Richtlinienrevision ist ein politischer
barten Ausland eher benachteiligt.                               Entscheid, lässt die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen
                                                                 Studien ausser Acht und wird die künftige Ausgestaltung
Die Evaluation des Anreizsystems, das 2005 eingeführt            der Sozialhilfe bestimmen. Bezogen auf das soziale Exis-
wurde, verdeutlichte zudem, dass dieses nicht in allen Kan-      tenzminimum ist die Revision der SKOS-Richtlinien ein
tonen gleich umgesetzt wird. Der Handlungsspielraum von          Dammbruch.
Sozialarbeitenden im direkten Kontakt mit Klientinnen und
Klienten wird häufig nicht ausgeschöpft. Das heisst nichts       3.2 Abbau bei der individuellen
anderes, als dass die Systemänderung von 2005, die das               ­Prämienverbilligung
Anreizsystem einführte und gleichzeitig den Grundbedarf          Um die überproportionale Belastung durch Kranken­
herabsetzte, bereits einem Leistungsabbau entspricht.            kassenprämien für Haushalte mit kleinen und mittleren
                                                                 ­Einkommen abzufedern, wurde die individuelle Prämienver-
Nachdem das Parlament im Juni 2013 das «Rahmengesetz             billigung (IPV) eingeführt. In der Botschaft zur Revision der
Sozialhilfe» abschrieb und der Bundesrat in einem Bericht        Krankenversicherung formulierte der Bundesrat zu Beginn
zur künftigen Ausgestaltung der Sozialhilfe für ein Beibehal-    der 90er-Jahre das Ziel, die Haushalte maximal mit acht
ten des Status quo einstand, bleibt die Verantwortung bei        Prozent des steuerbaren Einkommens durch Kranken­
den Kantonen und der SKOS. Mit dem Ziel die SKOS-                kassenprämien – nach Verbilligung – zu belasten. Rund
Richtlinien breiter abzustützen und politisch zu legitimieren,   4,24 Milliarden Franken wurden 2013 für die Prämienver­
veranlasste die SKOS anfangs 2015 deshalb eine Vernehm-          billigung ausbezahlt.5 Davon trägt der Bund die Hälfte.
lassung der Richtlinien bei ihren Mitgliedern und beschloss,     Knapp ein Drittel der Bevölkerung profitierte von IPV. Das
diese neu von der Konferenz der kantonalen Sozialdirekto-        sind rund 2,3 Millionen Menschen. Kinder, Jugendliche und
rinnen und Sozialdirektoren (SODK) genehmigen zu lassen.         ältere Personen erhalten am meisten Prämienverbilligung.

Erstaunlicherweise schliesst die SODK nicht an die Erkennt-      Auch die individuelle Prämienverbilligung – eine der Sozial-
nisse der SKOS-Studien an. Belässt sie doch den Grund-           hilfe vorgelagerte bedarfsabhängige Leistung – ist in den
bedarf für kleine Haushalte – trotz ausgewiesenem Hand-          letzten Jahren aber unter Druck gekommen. Zahlreiche
lungsbedarf – unverändert und kürzt ihn gar für junge            Kantone haben ihre Beiträge an die IPV gesenkt. Über die
Erwachsene und Grossfamilien. Basis der Leistung im              letzten zwei Jahre haben einzig die Kantone Zürich und
Grundbedarf ist damit nicht mehr der wissenschaftlich aus-       Basel-Stadt ihre Beiträge für die IPV ausgebaut. In allen
gewiesene Bedarf der einkommensschwächsten zehn Pro-             anderen Kantonen sind Diskussionen über Sparmassnah-
zent der Bevölkerung, sondern eine willkürliche Grenze.          men im Gang oder bereits beschlossen. So spart beispiels-
                                                                 weise der Kanton Bern 52 Millionen Franken bei der IPV.
Der Entscheid der SODK, bei den Jugendlichen und Fami-           Wie viele Versicherte damit ihren Anspruch auf Prämienver-
lien zu sparen, ohne intensive Begleitmassnahmen vorzu-          billigung verloren haben, können die Zuständigen nicht
sehen, ist erstaunlich. Liegt doch beispielsweise mit dem        sagen. Im Kanton Aargau beschloss der Grosse Rat Ein-
Projekt FORJAD im Kanton Waadt eine erfolgreiche Praxis          sparungen von 13 Millionen. Rund 17 000 Aargauerinnen
vor, an die auch andere Kantone anknüpfen könnten. Ins-          und Aargauer verloren ihren Anspruch. Mit dem Argument
gesamt stärkt die Revision der SKOS-Richtlinien das Prin-        des Spardrucks wurde auch im Kanton Wallis eine Kürzung
zip von «Leistung und Gegenleistung», das mit dem Anreiz-        der IPV von 29 Millionen beschlossen. 21 000 Personen
system seit 2005 in der Sozialhilfe verankert ist. So werden     werden deshalb im laufenden Jahr ohne IPV auskommen
die Sanktionsmöglichkeiten verschärft und Menschen, die          müssen. Im Kanton Basel-Land, der ohnehin schon
sich aus gesundheitlichen oder familiären Gründen nicht          bescheidene ­Beiträge zur Prämienverbilligung erstattet und
um eine Arbeitsstelle bemühen können, erhalten keine             wo im schweizweiten Vergleich am wenigsten Personen
minimale Zulage mehr. Neuerdings wird in der Sozialhilfe
sogar von Nothilfe gesprochen.                                    http://www.priminfo.ch/zahlen_fakten/de/praemienverbilligung.pdf
                                                                 5

                                                                   (10.07.2015).

                                                                                                                                      9
Senkung der Vermögenssteuern für die Reichsten 1 % und die Top 25 %, Veränderung 2000–2014

     Steuerbelastung der Vermögen (in ‰), Kanton und Gemeinden                  Steuerbelastung der Vermögen (in ‰), Kanton und Gemeinden
     Ledige ohne Kinder mit Top-1 % Vermögen                                    Ledige ohne Kinder mit Top-25 % Vermögen

                                                       6,8      4,6       2,4       1,2        0,1      –1,0      –2,–1   –4,–2   –6,–4   –8,–6

     von der IPV profitieren, werden derzeit 1,5 Millionen einge-               Die Caritas richtet den Blick bei der vorliegenden Standort-
     spart. Rund 4400 Personen verlieren ihren Anspruch auf                     bestimmung der Armutspolitik deshalb auch auf die Steu-
     Unterstützung.                                                             erentwicklung der letzten 15 Jahre. Die Analyse basiert auf
                                                                                Datenerhebungen des Sinergia Projekts «The Swiss Confe-
     Gegen die Sparmassnahmen wurden in zahlreichen Kanto-                      deration: a National Laboratory for Research on Fiscal and
     nen Referenden ergriffen oder Initiativen formuliert. Derzeit              Political Decentralization» des Schweizerischen National-
     sind in sechs Kantonen politische Vorstösse gegen die                      fonds.8 Diese misst die Steuerbelastung für bestimmte Per-
     ­Kürzungen bei der IPV hängig. Im Kanton Solothurn ver­                    zentile, beispielsweise das oberste Prozent (Top-1 %) der
     hinderte ein Referendum im Frühjahr 2015 ein Abbau bei                     Einkommen bzw. der Vermögen oder das mittlere Einkom-
     der IPV.                                                                   men. Die Analyse der Steuerentwicklung für ausgewählte
                                                                                Punkte (z. B. Top-1 %) der Einkommens- und Vermögens-
     Gesamthaft verringerten sich die kantonalen Ausgaben für                   verteilung ist aussagekräftiger als jene für einen fixen Fran-
     die IPV zwischen 2010 und 2014 um 169 Millionen Fran-                      kenbetrag, da sie Inflation und Wirtschaftswachstum
     ken. Dies ist umso stossender, als neueste Studien zeigen,
         6
                                                                                berücksichtigt.
     dass vor allem Familien mit knappem Budget – also einem
     Einkommen wenig oberhalb der Armutsgrenze – von den                        Mit der Ausnahme von Zürich, Tessin, Basel-Land und
     Kürzungen betroffen sind.7                                                 Neuenburg senkten alle Kantone ihre Vermögenssteuer
                                                                                für das reichste 1 Prozent zwischen 2000 und 2014. Die
     3.3 Steuergeschenke für Gutverdienende                                     ­Kantone Uri, Schwyz, Solothurn, Obwalden, Luzern und
     Die Beispiele der Sozialhilfe und der IPV sind Zeugnis des                 Thurgau haben sie sogar mehr als halbiert. Luzern und
     voranschreitenden Sozialabbaus in den Kantonen. Politisch                  Thurgau reduzierten die Vermögenssteuern auch für die
     legitimiert wurde der Abbau in den letzten Jahren häufig mit               vermögendsten 25 Prozent markant.
     fehlenden finanziellen Ressourcen. Wenig Beachtung fand
     in dieser Diskussion bisher die Tatsache, dass der aggres-                 Bedeutendste Einnahmequelle sind für die meisten Kan-
     sive Steuerwettbewerb für die fehlenden Einnahmen in den                   tone die Einkommenssteuern (einzig in Basel-Stadt und
     Kantonen hauptverantwortlich ist.                                          Zug ist die Unternehmenssteuer wichtiger). Betrachtet man
                                                                                die Entwicklung der Einkommenssteuern in den Kantonen
                                                                                seit 2000, zeigt sich, dass die Steuerbelastung für das
                                                                                ­mittlere Einkommen (Medianeinkommen) in allen Kantonen
     6
       https://www.ktipp.ch/artikel/d/praemienverbilligungen-kantone-          mit Ausnahme von Neuenburg gesunken ist. Für Familien
        sparen-auf-kosten-der-wenigverdiener/ (10.07.2015).
     7
       Lampart Daniel, Oberholzer Basil, Gallusser David: Höhere
        Prämienverbilligungen gegen die Krankenkassen-Prämienlast.
        Schweizerischer Gewerkschaftsbund. Dossier Nr. 108, Bern, 2015.          http://www.fiscalfederalism.ch/data/.
                                                                                8

10
Steuerbelastung Top-1 % Einkommen, Veränderung 2000–2014

Steuerbelastung der Einkommen (in %), Kanton und Gemeinden           Steuerbelastung der Einkommen (in %), Kanton und Gemeinden
Ledige ohne Kinder mit Top-1 % Einkommen                             Verheiratete mit 2 Kindern und Top-1 % Einkommen

                                             6,8     4,6       2,4       1,2       0,1       –1,0     –2,–1     –4,–2     –6,–4        –8,–6

mit zwei Kindern liegt das mittlere Einkommen von                    Steuersenkungen führen direkt zu einer Reduktion der
50 300  Franken (2011) jedoch klar unterhalb der Armuts-             Steuereinnahmen, die jedoch durch den Zuzug von ein-
grenze. Die Entwicklung spiegelt folglich die Entlastung des         kommensstarken Steuerzahlern wettgemacht werden
sozialen Existenzminimums. Ledige gehören mit dem mitt-              könnten. Empirisch lässt sich nur schwer belegen, ob und
leren Einkommen jedoch zur Mittelschicht. Auch sie wur-              in welchem Umfang dies den Kantonen gelungen ist,
den aber in den vergangenen 15 Jahren entlastet und zwar             da gleichzeitig mit den Steuersenkungen viele andere
um durchschnittlich 2,4 Prozentpunkte.                               ­Faktoren – beispielsweise die gute Wirtschaftskonjunktur
                                                                     – ­wirken. Expertinnen und Experten gehen jedoch davon
Die gleiche Entwicklung zeigt sich für das einkommens-               aus, dass sich die Steuersenkungen für die Kantone nicht
stärkste Viertel der Schweiz. Mit Ausnahme von Neuenburg             gelohnt haben. Die Mehrheit der Kantone ist aufgrund ihrer
senkten alle Kantone die Steuerbelastung für die obersten            aggressiven Tiefsteuerpolitik der letzten Jahre in Schieflage
25 Prozent. Für die Ledigen unter dem reichsten Viertel              geraten.
reduzierten insbesondere die innerschweizer Kantone
Luzern, Uri, Schwyz und Obwalden sowie Glarus, Zug,                  In der Vergangenheit wurden auch kantonale Erbschafts-
Basel-Stadt, Thurgau und Tessin die Einkommenssteuer                 steuern gesenkt. Begründet wurden die Senkungen mit
um mehr als 2 Prozentpunkte.                                         der Befürchtung, dass vermögende Erblasser und Erblas-
                                                                     serinnen sonst in einen anderen Kanton oder gar ins Aus-
Auch das einkommensstärkste Prozent profitierte mehr-                land abwandern könnten. Jüngste Studien bestätigen diese
heitlich von Steuersenkungen. In allen Kantonen ausser               Befürchtung allerdings nicht.9 Vielmehr konnten sie zeigen,
Neuenburg, Waadt und Basel-Landschaft zahlen die Best-               dass reiche Erblasser und Erblasserinnen weniger mobil
verdienenden heute weniger Steuern als vor 15 Jahren.                auf Erbschaftssteuern reagieren als bisher angenommen.
Dabei haben sich die Unterschiede zwischen den Kanto-                Das heisst, mehrheitlich bleiben reiche Rentnerinnen und
nen verstärkt. Am stärksten entlastet wurde das ein­                 Rentner trotz Erbschaftssteuern an ihrem angestammten
kommensstärkste Prozent in den Kantonen Obwalden, Uri,               Wohnsitz. Die Senkung von Erbschaftssteuern führt
Luzern und Thurgau (Senkungen zwischen 4,3 und 6,6 Pro-              ­deshalb zu sinkenden kantonalen Steuereinnahmen. Oder
zentpunkten). Starke Senkungen zwischen 2 und 4 Pro-                 mit anderen Worten: Der Wettbewerb um vermögende
zentpunkten verzeichneten die Kantone Schwyz, Glarus,                Steuerzahler existiert bei reichen Rentnerinnen und
Solothurn, Basel-Stadt, Schaffhausen, Aargau und Tessin.             ­Rentnern kaum.
Schwyz hat an der Spitze der Tiefsteuer­politik zu Zug auf-
geschlossen.

                                                                      Brüllhart Marius und Parchet Raphaël: Erbschaftssteuern und
                                                                     9

                                                                       Mobilität der Steuerzahler. In: Die Volkswirtschaft, 3, 2014.

                                                                                                                                               11
3.4 Handlungsbedarf aus Sicht der Caritas                            4. Fazit: Eine ganzheitliche Armutspolitik
     Gutverdienende haben in den letzten Jahren massiv von                   für eine solidarische Schweiz
     sinkenden Vermögensteuern, sinkenden Einkommensteu-
     ern und der Senkung oder dem Wegfall von Erbschafts-                 Gesamthaft betrachtet zeugen die Entwicklungen der
     steuern profitiert. Für die wenigsten Kantone lohnt sich             ­letzten Jahre von einem geschärften Bewusstsein gegen-
     der aggressive Steuerwettbewerb jedoch. Sie können die               über dem Problem der Armut in der Schweiz. Sowohl
     Steuersenkungen nicht durch den Zuzug von Gutverdie-                 der Bund als auch die Hälfte der Kantone haben Grund­
     nenden kompensieren. Falls Zuzug stattfindet, stammt er              lagen zur Armutssituation erarbeitet. Diese Erfolge sind
     zudem meist aus anderen Kantonen und verschlechtert                  jedoch lediglich der erste Schritt einer nachhaltigen
     damit die Situation in den Herkunftskantonen. Aus den                ­Armuts­bekämpfung.
     Steuersenkungen für Gutverdienende resultierten deshalb
     für die grosse Mehrheit der Kantone und damit für die                Die aktuellen Trends zeigen, dass kantonale Bedarfs­
     Gesamtschweiz tiefere Einnahmen. Sie bleiben auf ihren               leistungen abgebaut werden. Der Bund ist deshalb gehal-
     roten Zahlen sitzen.                                                 ten, mehr Verantwortung in der Existenzsicherung zu über-
                                                                          nehmen. Eine systematischere Bekämpfung von Armut
     Die Kantone nahmen in den letzten Jahren diese roten                 wird auch durch kantonale Armutsberichte erreicht, sofern
     ­Zahlen vermehrt zum Anlass, bedarfsabhängige Leistun-               diese als Steuerungsinstrument mit konkreten Zielen,
     gen zu kürzen – mit verheerenden Folgen für armutsbetrof-            Massnahmen und regelmässiger Evaluation konzipiert
     fene und einkommensschwache Personen. So führt der                   sind. Hauptsächlich ist der Erfolg der Armutsbekämpfung
     Leistungsabbau in der Sozialhilfe dazu, dass das soziale             aber davon abhängig, ob es gelingt den dringenden politi-
     Existenzminimum nicht mehr für alle Armutsbetroffenen                schen R
                                                                                ­ ichtungswechsel einzuleiten: Es gilt, den Sozial­
     garantiert ist, und durch die Kürzungen bei der individuellen        abbau der ­vergangenen Jahre zu stoppen und eine solida-
     Prämienverbilligung drohen Menschen mit kleinen Ein­                 rische Schweiz zu sichern. Dies setzt voraus, dass
     kommen knapp oberhalb der Armutsgrenze in die Armut                  Gutver­
                                                                                dienende ihren Beitrag zur sozialen Sicherheit in
     abzurutschen.                                                        ­diesem Land leisten.

     Im vergangenen Jahr dominierte die Kostenperspektive die
     Diskussion über die soziale Sicherheit in der Schweiz. Dass
     soziale Sicherheit auch soziale Stabilität schafft, wurde im
     Hickhack um Kostensenkungen gerne ignoriert. Es ist zwar
     richtig, dass die Sozialausgaben in absoluten Zahlen jüngst
     ansteigen. Betracht man diese jedoch im Verhältnis zum
     Bruttoinlandprodukt, so zeigt sich, dass die Ausgaben seit
     gut zehn Jahren stabil bei rund 25 Prozent liegen.10 Ver­
     glichen mit der Europäischen Union (28,3 Prozent),
     Deutschland (28,3 Prozent) oder Frankreich (32,1 Prozent)
     ist die Schweiz damit gut unterwegs. Die Sozialausgaben
     sind hierzulande nicht stärker gewachsen als die Wirt-
     schaft, und sie haben sich – verglichen mit Europa – auf
     einem tieferen Niveau stabilisiert.

     Es ist an der Zeit, diese Realität zu erkennen. Die Politik ist
     gehalten, die Kosten im Sozialbereich ins richtige Licht zu
     rücken und die Steuersenkungen für Gutverdienende der
     letzten Jahre zu korrigieren.

       http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/13/01/blank/
     10

        key/03/02.html (09.07.2015).

12
Kantonale Bemühungen zur Bekämpfung
und Prävention von Familienarmut
Im vorliegenden Armutsmonitoring zur Bekämpfung und             Auch in der Sozialhilfe sind Familien überdurchschnittlich
Prävention von Familienarmut werden Meilensteine auf            vertreten. Paare mit Kindern sind mit rund 11 Prozent mehr
Bundesebene hervorgehoben und die Anstrengungen in              als doppelt so oft auf Sozialhilfe angewiesen als Paare ohne
den Kantonen auf dem Gebiet der Verhinderung von                Kinder (5,2 Prozent). Jeder fünfte Haushalt in der Sozialhilfe
Familienarmut dargestellt und analysiert. Der Vergleich
­                                                               ist alleinerziehend. Ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden
­zwischen den Kantonen erlaubt es, dringliche Handlungs-        sind Kinder und Jugendliche.
felder zu benennen und mit dem Ausweis von good practice
Lernmöglichkeiten zu schaffen.                                  Familien sind in der Schweiz aber auch überdurch­­
                                                                                                                -
                                                                schnittlich von Armut bedroht. Das heisst: Viele Familien
                                                                verfügen über ein Einkommen nur wenig oberhalb der
                                                                Armutsgrenze.          Gemäss       neusten     Berechnungen          des
1. Familienpolitik ist Gesellschaftspolitik                     ­Bundesamtes für ­Statistik (BFS) ist hierzulande jede vierte
                                                                Familie mit mehr als drei Kindern und jede dritte Eineltern-
Familien sind eine zentrale Grundlage unserer Gesellschaft.     familie von Armut bedroht.
Sie sind der Ort, wo sich Kinder sozialisieren und Werte
übernehmen. In Familien wird zudem ein Grossteil der
unentgeltlichen Care-Arbeit geleistet. Sie sind als primäres
soziales Beziehungsnetz für den sozialen Zusammenhalt           3. Gründe für Familienarmut
und die Solidarität innerhalb unserer Gesellschaft unver-
zichtbar. Trotz dem Wandel von Lebensformen und                 3.1 Kinder sind teuer
-umständen erwartet die Gesellschaft von einer Familie          Nach aktuellen Berechnungen des Bundes (2015) belau­
nach wie vor die Erfüllung entscheidender gesellschaftli-       fen sich die direkten Kosten für Alleinerziehende für 1 Kind
cher Grundaufgaben: So soll sie die wirtschaftliche Exis-       jährlich auf 14 412 Franken; für ein Paar mit 1 Kind betra­
tenz aller Familienmitglieder bestreiten, die Kinder erziehen   gen die durchschnittlichen Ausgaben 11 304 Franken, bei
und bilden, sich gegenseitig jederzeit auf viel­fältige Weise   2 Kindern kommen 18 096 Franken zusammen, und bei
unterstützen, die Älteren pflegen und betreuen. In der Bun-     3 Kindern rechnet man mit Kosten von 21 852 Franken
desverfassung verpflichtet sich die Schweiz, Familien als       pro Jahr. Kinder führen aber auch zu indirekten Kosten.11
Gemeinschaften von Erwachsenen und K
                                   ­ indern zu schüt-           Wenn Eltern Kinder betreuen, reduzieren sie häufig die
zen und zu fördern. Aktuelle Statistiken zeigen jedoch: Dies    Erwerbstätigkeit. Das heisst, sie verzichten zugunsten von
gelingt derzeit nur unzureichend.                               Sorgearbeit auf Erwerbseinkommen, sie steigen vollständig
                                                                aus der Erwerbsarbeit aus oder sie arbeiten Teilzeit.

                                                                Teilzeitarbeit geht aber noch immer mit verschiedenen
2. Armutsrisiko Kind                                            Benachteiligungen einher: Aufgrund der kleineren Einkom-
                                                                men führt sie einerseits zu einer kleineren Altersrente. Viele
Rund eine Viertelmillion Eltern und Kinder leben heute          bleiben aus der beruflichen Vorsorge ausgeschlossen oder
unter der Armutsgrenze. Jedes zusätzliche Kind steigert         erarbeiten sich nur tiefe Renten. Die Folge davon kann
das Risiko einer Familie, in Armut abzurutschen: Während        Altersarmut sein. Andererseits bedeuten Teilzeitanstel­
3,5 Prozent der kinderlosen Paare unter 65 Jahren von           lungen auch schlechtere Karriereaussichten. Wer Teilzeit
Armut betroffen sind, liegt dieser Wert für Einkindfamilien     arbeitet, hat meist geringere Aufstiegsmöglichkeiten, kann
mit 5,5 Prozent wesentlich höher. Familien mit 3 oder mehr      oftmals weniger Weiterbildungen besuchen, erhält weniger
Kindern sind mehr als doppelt so häufig von Armut be­­
troffen wie kinderlose (8,1 Prozent). Am stärksten von
Armut betroffen sind Alleinerziehende. Hier trifft es jede
sechste Familie.                                                11
                                                                      Familienpolitik. Auslegeordnung und Handlungsoptionen des
                                                                       Bundes. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats
                                                                       Tornare (13.3135) «Familienpolitik» vom 20. März 2013, S. 9.
                                                                       Vgl. http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/
                                                                       attachments/39437.pdf (10.08.2015).

                                                                                                                                            13
spannende oder anspruchsvolle Projekte zugewiesen und                    ­3.4 Die Existenzsicherung ist uneinheitlich
     hat möglicherweise eingeschränkten Zugang zu relevanten                       und ungenügend
     Informationen.                                                           Das Schweizerische System der sozialen Sicherheit basiert
                                                                              noch weitgehend auf einem traditionellen Familien- und
     3.2 Vereinbarkeit von Familie und Beruf                                  Rollenmodell und damit auf überholten Realitäten. So ist
         bleibt mangelhaft                                                    einerseits Teilzeitarbeit noch immer schlecht abgesichert.
     Die Möglichkeit, Familienarbeit und Erwerbsarbeit zu ver-                Andererseits bleibt die Existenzsicherung für Alleiner­
     einbaren ist in der Schweiz noch immer mangelhaft. Trotz                 ziehende lückenhaft. So fehlt auch nach der Revision des
     den Bemühungen auf Bundesebene gibt es noch immer zu                     Kinderunterhaltrechts   beispielsweise    eine   gesetzliche
     wenig preisgünstige und erreichbare Angebote der familie-                Regelung für den Mindestunterhalt des Kindes, und in der
     nexternen und schulergänzenden Betreuung. Die zuneh-                     Alimentenbevorschussung bestehen noch immer grosse
     mende Flexibilisierung der Arbeit, mit unregelmässigen                   kantonale Unterschiede. Mit dem Scheitern der Familien­
     Arbeitszeiten, stellt insbesondere einkommensschwache                    ergänzungsleistungen auf nationaler Ebene wurde die
     Familien vor grosse Herausforderungen. Institutionalisierte              Chance verpasst, die Existenzsicherung für Familien zu
     Kinderbetreuungsangebote – wie Kitas beispielsweise –                    etablieren. Tessin, Solothurn, Waadt und Genf haben als
     bieten bei Arbeit im Tieflohnsektor – etwa bei Arbeit auf                einzige dieses wirksame Instrument auf kantonaler Ebene
     Abruf – keine Lösung. Armutsbetroffene Familien weichen                  eingeführt.
     häufig auf das preisgünstigere und flexiblere Angebot von
     Tageseltern aus. Damit verzichten sie meist auf professio-
     nelle Frühe Förderung. Gleichzeitig bleibt die Betreuung in
     speziellen Situationen – während der Schulferien oder                    4. Folgen von Familienarmut
     wenn die Kinder krank sind – lückenhaft.
                                                                              4.1 Die soziale Teilhabe gefährdet
     3.3 Die Schweiz investiert zu wenig                                      Die soziale Teilhabe wird für armutsbetroffene Familien zur
     Im internationalen Vergleich investiert die Schweiz nur sehr             täglichen Herausforderung. Häufig sprengen Geschenke
     wenig in die Familien. Während die OECD-Länder 2011                      für Kindergeburtstage, der Gitarrenunterricht, die Teil-
     durchschnittlich 2,55 Prozent ihres Bruttoinlandprodukt für              nahme am Skisportlager oder Ferien die Budgets der
     Familien aufwenden, liegt die Schweiz mit weniger als                    Familien. Nicht selten werden armutsbetroffene Kinder
                                                                              ­
     2 Prozent deutlich darunter.       12
                                             Auffallend ist die geringe       deshalb ausgegrenzt und stigmatisiert. Dies hinterlässt
     Subventionierung von Kita-Plätzen hierzulande. Im interna-               bei den Betroffenen tiefe Spuren.
     tionalen Vergleich sind die Kosten, die Familien für die
     familien­
             ergänzende Betreuung bezahlen müssen, über-                      4.2 Gefangen im Teufelskreis der Armut
     durchschnittlich. Eltern zahlen in der Schweiz rund doppelt              Armutsbetroffene Kinder stehen meist nicht nur vorüber­
     bis dreimal so viel wie Eltern in den Nachbarländern.13                  gehend am Rand der Gesellschaft. Vielmehr bestätigen
                                                                              Studien, dass sich die Prekarität der Kinder im späteren
                                                                              Leben fortsetzt. So sind Kinder aus benachteiligten Fami-
                                                                              lien später oft selbst armutsbetroffen. Ein Grund hierfür ist
                                                                              der ungenügende Zugang benachteiligter Kinder zu Früher
                                                                              Förderung. Die Regelstrukturen – wie Kindergarten und
                                                                              Schule – sind nicht in der Lage, ungleiche Startchancen
                                                                              wettzumachen. Auch beim späteren Berufseinstieg sind
     12
        Vgl. OECD family Database. Public spending on family benefits.
                                                                              Kinder aus armutsbetroffenen Familien benachteiligt, denn
         http://www.oecd.org/els/soc/PF1_1_Public_spending_on_family_         Stipendien stehen häufig nur für tertiäre Bildungswege zur
         benefits_Oct2013.pdf (08.08.2015).
                                                                              Verfügung. Den betroffenen Kindern droht der Ausschluss
     13
        Vollkosten und Finanzierung von Krippenplätzen im Länderver-
         gleich. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 13.3259   aus der Gesellschaft.
         Christine Bulliard-Marbach «Krippen vergünstigen und den Sektor
         dynamisieren» vom 22. März 2013. 1. Juli 2015. http://www.news.
         admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/40484.pdf
         (10.09.2015).

14
5. Drei Säulen einer wirksamen                                       6. Flickwerk Familienpolitik auf
   ­Familienarmutspolitik                                               ­Bundesebene

Familienpolitik ist vielschichtig. Armutsvermindernde Fami-          Familienpolitik ist heute weitgehend kantonale Politik.
lienpolitik ist höchst anspruchsvoll. Als Querschnittspolitik        Punktuell hat aber auch der Bund in den letzten Jahren den
tangiert sie Sozial-, Bildungs-, Arbeitsmarkt und Wohn-              Handlungsbedarf erkannt und Massnahmen eingeleitet.
raumpolitik.  14
                   Mehrheitlich liegt die Kompetenz in ­diesen
Bereichen bei den Kantonen. Für eine wirksame Politik                6.1 Beiträge zur Existenzsicherung
braucht es gezielte Strategien mit Zielen, Massnahmen und            Weil die Sozialhilfe und andere bedarfsabhängige Leistun-
Evaluation zur Bekämpfung und Prävention von Familien­               gen in der Kompetenz der Kantone liegen, beteiligt sich der
armut. Diese sollen sich an den drei Pfeilern Existenz­              Bund nur marginal an der Existenzsicherung von Familien.
sicherung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Chan-             Mit der Einführung der Mutterschaftsversicherung 2005,
cengerechtigkeit ausrichten:    15
                                                                     der Harmonisierung der kantonalen Familienzulagen 2006
                                                                     und der Revision des Kindesunterhalts hat der Bund in den
• Im Bereich Existenzsicherung sind Massnahmen zu                    letzten zehn Jahren jedoch auch Anliegen der Existenz­
     ergreifen, die Familien ein existenzsicherndes Ein­             sicherung für Familien umgesetzt:
     kommen garantieren und ihnen eine Teilhabe an der
     Gesellschaft erlauben. Als zielgerichtete finanzielle           • Achtzehn Kantone mussten mit der Harmonisierung
     Unterstützung für armutsbetroffene Familien haben sich            der Kinder- und Ausbildungszulagen ihre Ansätze auf
     beispielsweise Familienergänzungsleistungen erwiesen.             die vorgeschriebenen Mindestbeträge von 200 Franken
• Zweitens garantiert eine ganzheitliche Bekämpfung von                für Kinder bzw. 250 Franken für Kinder in Ausbildung
     Familienarmut auch für Armutsbetroffene die Möglich-              erhöhen. Seit 2013 haben auch Selbstständigerwer-
     keit, Familie und Beruf zu vereinbaren. Es braucht                bende sowie Nichterwerbstätige mit bescheidenen
     kostengünstige und erreichbare familienexterne und                Einkommen Anrecht auf Familienzulagen. Familienzu­
     schulergänzende Betreuungsstrukturen. Insbesondere                lagen sind einkommensunabhängig und werden auch
     Unternehmen sind gefordert, an die Betreuungspflich-              bei Teilzeitarbeit voll ausgerichtet. Einige Kantone
     ten anschlussfähige Arbeitsmodelle zu garantieren.                – vorab in der Romandie – gehen über die empfohlenen
     Auch Väter sollen die Möglichkeit haben, ihre Erwerbs-            Mindestbeträge hinaus.
     tätigkeit zugunsten der Familienarbeit zu reduzieren.           • Im Frühling 2015 wurde der Kindesunterhalt bundesweit
• Drittens baut eine nachhaltige Bekämpfung und                        neu geregelt. Mit der Revision ist es gelungen, das
     Prävention von Familienarmut auf die Verbesserung                 Recht des Kindes auf Unterhalt landesweit zu stärken
     der Chancengerechtigkeit. Es gilt, den Zugang zu einer            und die Last für den betreuenden Elternteil zu mindern.
     qualitativ guten Frühen Förderung – einschliesslich               Künftig sind im Unterhaltsbeitrag für das Kind auch
     Elternbildung – sowie zu Aus- und Weiterbildung für               die Kosten eingeschlossen, die bei der Betreuung des
     sozial Benachteiligte sicher zu stellen.                          Kindes durch einen Elternteil anfallen (z. B. Kitakosten,
                                                                       Erwerbsausfall). Jedoch bleiben auch nach der
                                                                       Revision Lücken bestehen (z. B. fehlt der gesetzlich
                                                                       festgelegte Mindestunterhalt für das Kind).
                                                                     • Im Parlament gescheitert ist nach zehnjähriger Debatte
                                                                       die schweizweite Einführung von Familienergänzungs-
                                                                       leistungen. Auch der jüngste Vorstoss von Yvonne Feri
14
   Der Bereich des Wohnens wird im vorliegenden Monitoring nicht
    untersucht. Für kantonale Bemühungen im Bereich Wohnen und
                                                                       wurde im März 2015 abgeschrieben. Eine gesamt-
    Armut vergleiche die Beobachtungen zur Armutspolitik von 2014.     schweizerische Lösung zeichnet sich derzeit nicht ab.
    http://www.caritas.ch/fileadmin/media/caritas/Dokumente/
                                                                     • Familienarmut ist auch im nationalen Programm zur
    Positionspapiere/CA_Armutsmonitoring_2014_DE_Internet.pdf
    (10.09.2015)                                                       Bekämpfung und Prävention von Armut Thema. Eine
15
   Dieses Dreisäulenmodell wurde erstmals von der SODK im Juni        exemplarische Studie in verschiedenen Gemeinden soll
    2013 lanciert. Vgl. http://www.sodk.ch/fileadmin/user_upload/
    Fachbereiche/Familie_und_Generationen/d_2013.06.28_SODK_
                                                                       aufzeigen, wie armutsbetroffene Familien besser
    Position_Familienpolitik.pdf (07.09.2015).                         unterstützt werden könnten.

                                                                                                                                   15
Sie können auch lesen