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Wohin steuert die Schweiz in der Armutspolitik? Eine Standortbestimmung unter spezieller Berücksichtigung der Familienarmut Beobachtungen der Caritas zur Armutspolitik 2015
Beobachtungen zur Armutspolitik. Fokus Familienarmut In Kürze: Mit der Erklärung «Armut halbieren» zwölf Kantonen gibt es zudem noch keinen lancierte Caritas Schweiz 2010 – im europäi Armutsbericht. Die Fortschritte in der kantona schen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozi len Armutsberichterstattung stehen heute be aler Ausgrenzung – eine Dekade zur Armuts unruhigenden Trends in der politischen Praxis bekämpfung in der Schweiz. Darin formuliert die gegenüber. Die Trendanalyse, welche die Ent Caritas nicht nur Forderungen an Politik und wicklungen in der Sozialhilfe, der individuellen Wirtschaft, sondern verpflichtet sich auch selbst Prämienverbilligung und den Steuern fokussiert, zu einem regelmässigen Monitoring der Schwei zeigt einen Abbau bei den bedarfsabhängigen zerischen Armutspolitik. Seither sind fünf Jahre Leistungen bei gleichzeitigen Steuergeschen vergangen. Unlängst hat auch die UNO ihre ken für Gutverdienende. Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ver öffentlicht. Die Eliminierung von Armut in all Strategien zur Bekämpfung von Familienarmut: ihren Formen wird darin als erstes globales Ziel Familienarmut ist in der Schweiz kein marginales aufgeführt. Problem. Rund eine Viertelmillion Eltern und Kinder sind in der Schweiz von Armut betroffen. Die Caritas nimmt die Halbzeit der Dekade «Armut Bei Familien mit drei und mehr Kindern trifft halbieren» deshalb zum Anlass, die erreichten es jede zwölfte Familie, bei Alleinerziehenden Fortschritte in der Schweizer Armutspolitik aus jede sechste. Armutsbetroffene Familien kämp zuweisen und weiteren Handlungsbedarf zu be fen nicht nur im Moment mit finanziellen Sorgen, nennen. Dabei richtet sich der Blick in einem ers insbesondere die Kinder werden häufig lang ten Teil auf die allgemeinen Entwicklungen der fristig an den Rand der Gesellschaft gedrängt. nationalen und kantonalen Armutspolitik, wobei Gute Familienpolitik sichert deshalb nicht nur auch aktuelle Trends aufgearbeitet werden. Der die Existenz von Familien und ermöglicht die zweite Teil widmet sich spezifisch der Familien Ver einbarkeit von Familie und Beruf auch für armut und dabei insbesondere der Frage, ob die Armutsbetroffene, sondern garantiert darüber Kantone Strategien entwickelt haben, um Famili hinaus mit dem Zugang zu Früher Förderung und enarmut wirksam zu bekämpfen. beruflicher Ausbildung die Chancengerechtig keit. Die Bekämpfung von Familienarmut tangiert Standortbestimmung zur Armutspolitik 2015: zahlreiche Bereiche, die weitgehend in kantona Der Bund ist heute hinsichtlich der Bedeutung ler Kompetenz liegen. Für die Kantone ist diese von Armut in der Schweiz sensibilisiert. Er hat komplexe Aufgabe nur zu leisten, wenn sie über in den vergangen Jahren vor allem mit der Ein Strategien verfügen, die auf einer fundierten führung einer nationalen Armutsstatistik und Situationsanalyse basieren, Ziele vorgeben und dem Nationalen Programm zur Prävention und Massnahmen definieren, welche regelmässig Bekämpfung von Armut wichtige Beiträge ge evaluiert werden. Einzig der Kanton Bern verfügt leistet. Auch die kantonale Armutsberichter derzeit über eine solche Strategie. Zwei Kantone stattung hat in den letzten fünf Jahren Fort erarbeiten eine Strategie, und fünf Kantone schritte erzielt. Sieben Kantone verfügen heute besitzen Strategien im Teilbereich der Frühen über A rmutsberichte, und fünf Kantone bereiten Förderung. Acht Kantone verfügen weder über derzeit einen solchen vor. Mit der Ausnahme Grundlagenberichte noch über strategische von Bern bleiben die Armutsberichte jedoch Ansätze. Von einer systematischen Politik zur deskriptiv und schliessen nicht systematisch Reduktion der Familienarmut ist die Mehrheit Ziele, Massnahmen und Evaluationen ein. In der Kantone noch weit entfernt. 2
Standortbestimmung 2015 zur Armutspolitik der Schweiz Zur Halbzeit der Dekade «Armut halbieren» nimmt Caritas Vertreter von Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden eine Standortbestimmung vor, um deutlich zu machen, auch eine gemeinsame Erklärung mit dem Versprechen, welchen Stellenwert die Politik bzw. die öffentliche Hand die Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern, die Chan- dem Kampf gegen die Armut in der Schweiz beimisst. cengerechtigkeit im Bildungsbereich zu verbessern und Dabei werden drei Themen fokussiert: Welche Fortschritte Familien, die trotz Erwerbsarbeit ihre Existenz nicht sichern machte erstens die Armutsbekämpfung und -prävention können, durch Familienergänzungsleistungen zu unterstüt- auf Bundesebene in den letzten fünf Jahren? Was wurde zen. Sie verpflichteten sich zudem, im Rahmen des Natio- zweitens in der kantonalen Armutsberichterstattung er nalen Dialogs Sozialpolitik alle zwei Jahre über die Wirkung reicht? Und welche sozialpolitischen Trends zeichnen sich der Arbeiten zur Gesamtschweizerischen Strategie der drittens gegenwärtig ab? Neben den erzielten Fortschritten Armutsbekämpfung Bericht zu erstatten. weist die vorliegende Standortbestimmung auch den bestehenden Handlungsbedarf aus. 2012 lud Bundesrat Alain Berset alle im Feld der Armuts bekämpfung und -prävention tätigen Akteurinnen und Akteure ein, an einem runden Tisch die ergriffenen Mass- nahmen einer Bilanz zu unterziehen und das weitere 1. Die Armutsbekämpfung Vorgehen in der Armutsbekämpfung und -prävention zu auf Bundesebene (2010 –2015) definieren. Die Diskussion bestätigte die Dringlichkeit, das Engagement gegen Armut auf Bundesebene zu intensivie- 1.1 Von der Armutsstrategie zum ren. Im Mai 2013 lancierte der Bundesrat deshalb das Armutsprogramm Programm zur Bekämpfung und Prävention von Armut. Mit dem europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010 wurde Armut auch in der Das Armutsprogramm des Bundes ist ein Meilenstein in der Schweiz auf Bundesebene ein Thema. Auslöser für das Geschichte der Armutsbekämpfung und Armutsprävention Engagement des Bundes war eine im Januar 2006 einge- der Schweiz. Erstmals übernimmt der Bund Verantwortung reichte Motion der Kommission für soziale Sicherheit und in diesem Bereich. Mit dem Fokus auf die vier Themen Gesundheit des Nationalrates. Diese forderte den Bundes- bereiche «Bildungschancen für Kinder, Jugendliche und rat auf, eine nationale Armutskonferenz einzuberufen und Erwachsene», «soziale und berufliche Integration», «Lebens- neue Massnahmen zur beruflichen und sozialen Integration bedingungen insbesondere für Familien und im Bereich armutsbetroffener und armutsgefährdeter Menschen zu Wohnen» sowie «Wirkungsmessung und Monitoring» diskutieren und zu koordinieren.1 Mit der Annahme der grenzt das Programm das breite Thema der Armuts Motion signalisierte das Parlament den Willen, der Armuts- bekämpfung ein und stellt für die Laufzeit von fünf Jahren bekämpfung auf Bundesebene mehr Gewicht zu verleihen 9 Millionen zur Verfügung. Ziel ist die Erstellung von Grund- und neben Kantonen, Gemeinden und privaten Hilfsorgani- lagen im Bereich Armutsprävention und -bekämpfung sationen eine aktivere Rolle zu übernehmen. sowie die Vernetzung relevanter Akteure – namentlich von Kantonen, Städten, Gemeinden, Sozialpartnern und Eine Steuergruppe, zusammengesetzt aus Vertreterinnen Nichtregierungsorganisationen. und Vertretern der Verwaltung, der Konferenz der kantona- len Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) sowie Die Nachhaltigkeit der nationalen der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), Armutsbekämpfung garantieren erarbeitete auf Ende März 2010 gemeinsam mit Sozialpart- Das nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung nern, Gemeinden, Städten und verschiedenen Hilfswerken von Armut geht trotz einzelner Modellvorhaben nicht nen- die «Gesamtschweizerische Strategie zur Armutsbekämp- nenswert über eine Bestandesaufnahme im Bereich der fung». Diese wurde im gleichen Jahr an einer Armutskonfe- Armutsbekämpfung hinaus. Die Mittel sind mit 9 Millionen renz diskutiert. Dort unterzeichneten Vertreterinnen und Franken zu bescheiden, um neue Programme und Mass- nahmen aufzubauen. Vorausblickend auf das Ende des Programms 2018 stellt sich insbesondere die Nachhaltig- http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_ 1 keitsfrage. Letztlich hängt der Erfolg des Programms id=20063001 (11.08.2015). wesentlich davon ab, inwiefern es gelingt, Massnahmen 3
einzuleiten, die über die Programmlaufzeit hinaus gehen bleibt drittens, dass Vermögen nicht berücksichtigt wer- und sowohl die Kantone als auch den Bund zu einem stär- den, und die Unmöglichkeit, die Nicht-Bezugsquote bei der keren Engagement in der Armutsbekämpfung verpflichten. Sozialhilfe zu schätzen. Das heisst, es können keine Aus sagen darüber gemacht werden, wer Anspruch auf Sozial- 1.2 Die Einführung der Armutsstatistik hilfe hätte, diesen aber nicht geltend macht. Armutsstatistiken sind ein zentrales Instrument zur Analyse und Einschätzung der Armutssituation in einem Land. Sie 1.3 Massnahmen zur Armutsbekämpfung liefern die Grundlage für eine zielführende Armutsdiskus- im P arlament chancenlos sion in der Politik, in der Verwaltung und in den Medien. Mit dem «Rahmengesetz Sozialhilfe» und den «Familien Lange konnte das Ausmass der Armut in der Schweiz nur ergänzungsleistungen» wurden im Parlament zwischen geschätzt werden. Erst seit 2010 werden mit der Statistik 2010 und 2015 zwei zentrale Anliegen diskutiert. Beide über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) Daten Themen waren Bestandteil der Armutsstrategie von 2010. erhoben, die spezifisch auf Auswertungen zum Thema Nachdem das Rahmengesetz Sozialhilfe im Juni 2013 im Armut ausgerichtet sind. Ziel ist die Untersuchung der Ständerat scheiterte, wurde der Bundesrat aufgefordert, Armut, der sozialen Ausgrenzung und der Lebensbedin- die künftige Ausgestaltung der Sozialhilfe in einem Bericht gungen anhand europäisch vergleichbarer Indikatoren. darzulegen. Der im Februar 2015 publizierte Bericht dis kutiert drei Varianten: ein Rahmengesetz Sozialhilfe, ein Die SILC-Analysen verbinden Daten über Einkommenssitu- interkantonales Konkordat und das Beibehalten des Status ation, Lebensbedingungen sowie Wohlbefinden und tragen quo, wobei in letzterem Fall die SKOS- Richtlinien als Orien- damit der Tatsache Rechnung, dass Armut nicht allein ein tierung dienen sollten. Der Bundesrat entschloss sich für Mangel an finanziellen Ressourcen bedeutet, sondern auch die dritte Variante und spielte den Ball so zurück zu den vielfältige, komplexe prekäre Lebenslagen beinhaltet. Erst- Kantonen. Damit wurde die Chance verpasst, einheitliche mals werden mit der SILC Statistik also monetäre und Lösungen im Bereich der Existenzsicherung durchzuset- nicht-monetäre Aspekte der Armut für die Schweiz ausge- zen und eine landesweite Chancengleichheit für Menschen wiesen. Neben der Publikation von Armutsquoten werden in Not zu garantieren. vom BFS auch themenspezifische Untersuchungen zu verschiedenen Betroffenengruppen – beispielsweise Armut Familienergänzungsleistungen als Instrument zur Bekämp- im Alter – publiziert. fung der Familienarmut auf nationaler Ebene einzuführen, dies war insbesondere zu Beginn der Jahrtausendwende Lücken in der Armutsstatistik füllen ein zentrales Thema. Die bundesweite Einführung schei- Die SILC-Statistik ist Voraussetzung für eine nachhaltige terte 2011 jedoch nach zehnjähriger Debatte am eidge Armutspolitik und deshalb ein Meilenstein im Kampf gegen nössischen Parlament. Auch der jüngste Vorstoss von die Armut in der Schweiz. Fünf Jahre Erfahrung mit den Nationalrätin Yvonne Feri im März 2015 war erfolglos. Damit SILC-Zahlen zeigen aber auch Lücken. So ist erstens die sind auch in diesem Bereich heute die Kantone gefordert. Stichprobe mit rund 7000 Haushalten zu klein, um statis- Solothurn, Tessin, Waadt und Genf haben in den letzten tisch gesicherte Aussagen über verschiedene kleinere Jahren Familienergänzungsleistungen eingeführt. In einigen Bevölkerungsgruppen machen zu können. Heute wissen anderen Kantonen sind politische Vorstösse hängig. Die wir beispielsweise nicht, ob Alleinerziehende, die über- ersten Evaluationen der Familienergänzungsleistungen durchschnittlich von Armut betroffen sind, arm sind, weil bestätigen die Wirksamkeit des Instruments hinsichtlich sie im Tieflohnbereich arbeiten oder weil sie aufgrund ihrer der Existenzsicherung einkommensschwacher Familien. Betreuungspflichten nicht in grösserem Umfang erwerbs tätig sein können. Dieses Wissen wäre jedoch Voraus 1.4 Erfordernisse aus Sicht der Caritas setzung, um die Ursachen der Armut zu verstehen und Während auf Verwaltungsebene ein Armutsprogramm wirksam angehen zu können. Die Stichprobengrösse installiert werden konnte, sind zentrale Vorstösse zur erlaubt zweitens keine Auswertungen zur Armutssituation Armutsbekämpfung und -prävention im eidgenössischen auf kantonaler Ebene. Dies ist in der föderalistischen Parlament gescheitert. Die Herausforderung liegt heute Schweiz, welche Armutspolitik weitgehend in die Kompe- darin, Armutspolitik als Bundespolitik zu institutionalisieren. tenz der Kantone delegiert, unzureichend. Unbefriedigend Folgende Punkte sind entscheidend: Es gilt, die Mängel der 4
SILC zu beheben und die Armutsstatistik auszubauen. 2. Fortschritte in der kantonalen Denn Voraussetzung für eine wirksame Armutspolitik ist Armutsberichterstattung eine fundierte Armutsstatistik (1). Sodann müssen die Bemühungen des Bundes über Bestandesaufnahmen und 2.1 Notwendig sind fundierte Situationsanalysen Modellvorhaben im Bereich Armutsbekämpfung und -prä- Armutspolitik geschieht in der Schweiz zu einem grossen vention hinaus gehen (2). Armutspolitik muss Bundespolitik Teil in den Kantonen. Diese sind – weil zentrale armutspoli- sein: tische Themen auf Bundesebene abgeschrieben wurden – heute speziell gefordert. Um Armut gezielt bekämpfen • Die Existenzsicherung allein den Kantonen zu über und verhindern zu können, sind die Kantone auf fundierte lassen, dies führt zu uneinheitlichen Regelungen, Situationsanalysen angewiesen. Voraussetzung für eine indem Armutsbetroffene je nach Wohnort unterschied- wirksame kantonale Armutspolitik sind deshalb Armuts lich unterstützt werden. Die kantonal geregelte berichte, welche die Armutssituation im Kanton analysie- Alimentenbevorschussung, Sozialhilfe und die (fehlen- ren, Ziele definieren, Massnahmen bestimmen und deren den) Familienergänzungsleistungen sind Bespiele dafür. Wirksamkeit evaluieren. Die vorliegende Standortbestim- • Es braucht eine Fachstelle Armutsbekämpfung auf mung fragt nach dem Stand der kantonalen Armutsbericht- nationaler Ebene. Diese soll einerseits gewährleisten, erstattung 2015, zeigt die Fortschritte und benennt den dass Armut als Querschnittthema in der Bundes Handlungsbedarf. Welche Kantone erstellen Armutsbe- verwaltung berücksichtigt wird und alle relevanten richte und wie sind diese ausgestaltet? Bundesämter in Armutsthemen koordiniert vor- gehen. Andererseits kann die Fachstelle die kantonale Die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Armutspolitik unterstützen und begleiten. Sozialdirektoren (SODK) erhebt alle zwei Jahre den Stand • Es gilt, ein nationales Armutsmonitoring mit messbaren der kantonalen Armutsberichterstattung. Ihre neusten Zielen, Indikatoren und Massnahmen einzurichten. Resultate vom Mai 2014 wurden durch eine Analyse von Eine regelmässige Evaluation garantiert, dass Caritas ergänzt. Die Kantone lassen sich in fünf Kategorien der eingeschlagene Weg der Armutsbekämpfung unterteilen: Wirkung erzielt. 1. Ein Armutsbericht liegt vor: Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Luzern, Solothurn, Waadt (7) 2. Ein Armutsbericht ist in Erarbeitung: Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Zug (5) 3. Eine detaillierte Auswertung der Sozialhilfestatistik findet statt: Schwyz, Zürich (2) 4. Kein Bericht: Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Graubünden, Nidwalden, Obwalden, St Gallen, Schaffhausen, Tessin, Thurgau, Uri, Wallis (12) 2.2 Einschätzung der kantonalen Armutsberichte Eine gute kantonale Armutsberichterstattung beschreibt und analysiert die Armutssituation, definiert Ziele, formuliert Massnahmen, die zur Zielerreichung beitragen sollen, und evaluiert diese im Hinblick auf die Zielerreichung. 5
Die vorliegenden Berichte wurden anhand folgender Krite- Berichte weiter, beschreibt die Armutssituation und zeigt rien analysiert: die Entwicklung über die Zeit. Im Bericht wird das Ziel definiert, die Armut im Kanton bis 2020 zu halbieren. Die • Wird die Armutssituation im Kanton beschrieben? Armutsquote dient hierfür als Indikator. Im Bericht 2012 • Sind Ziele und entsprechende Indikatoren werden zudem ein Massnahmenplan zur Zielerreichung für die Armutspolitik gesetzt? vorgelegt und sieben prioritäre Massnahmen zur Umset- • Werden Massnahmen formuliert, die zur Zielerreichung zung festgehalten. Die Zielerreichung wird jeweils im Folge- beitragen sollen? bericht evaluiert. Ein nächster Bericht wird voraussichtlich • Werden bestehende Politiken und Massnahmen auf im Dezember 2015 publiziert. Dieser beinhaltet neben einer das Ziel hin evaluiert? Auswertung zum Stand der Umsetzung des Massnahmen- katalogs von 2012 auch eine Befragung der Armutsbetrof- Der Sozialbericht (2012) des Kantons Aargau ist Teil der fenen im Kanton Bern. Die Berner Berichte gehen weit über Sozialplanung. Er analysiert die soziale Lage der Bevölke- Sozialhilfedaten hinaus. Die Ergebnisse und Massnahmen rung in acht Handlungsfeldern. Armut ist darin ein Thema werden jeweils an einem öffentlichen Anlass – dem Berner neben anderen. Der Bericht beschreibt zudem die kanto- Sozialgipfel – zur Diskussion gestellt. nale Sozialpolitik anhand der wichtigsten Massnahmen. Damit liefert er die Grundlage für die Sozialplanung. Der Der Sozialbericht (2013) des Kantons Luzern liefert ein Bericht benennt jedoch keine konkreten Ziele und nimmt umfangreiches Bild der sozialen Lage der Bevölkerung. keine Evaluation der Massnahmen vor. Im Fazit wird der Im Vordergrund stehen die grossen gesellschaftlichen Handlungsbedarf allgemein in sechs Punkten definiert. Entwicklungslinien. Es werden aber auch einzelne Lebens- bereiche – darunter Wohlstand und Armut – fokussiert, und Im Armutsbericht (2014) des Kantons Basel-Landschaft die Befindlichkeit sozialpolitisch wichtiger Bevölkerungs- werden die Armutssituation beschrieben, eine Armuts- gruppen wird analysiert. Der Bericht liefert eine gute Situa- quote ausgewiesen und Risikogruppen benannt. Der tionsanalyse beinhaltet jedoch weder Ziele noch Massnah- Bericht hält jedoch fest, dass die Datenlage für eine diffe- men im Bereich der Armutsbekämpfung und sieht auch renzierte Beurteilung der Armut in all ihren Facetten unge- keine Evaluation vor. nügend ist. Er formuliert acht Empfehlungen, wie Armut in Kanton weiter verhindert werden kann. Der Armutsbericht Solothurn verfügt über einen umfassenden Sozialbericht des Kantons Basel-Land nennt jedoch kein konkretes Ziel (2013). Ein Kapitel widmet sich explizit der Armutssituation und leitet keine konkreten Massnahmen ab, die in der Folge im Kanton. Es werden jedoch keine konkreten Ziele im evaluiert werden könnten. Es wird sich zeigen, inwiefern der Bereich Armutsbekämpfung gesetzt. Der Bericht verweist Regierungsrat sein Versprechen einhält, die Empfehlungen darauf, dass bisher keine Massnahmen zur Armutsbe- in konkreten Massnahmen umzusetzen. kämpfung ergriffen wurden, stellt diese aber in Aussicht und benennt Herausforderungen. Der Bericht soll Grund- Der Armutsbericht (2010) von Basel-Stadt stellt die Armut lage für die Erarbeitung einer kantonalen Strategie zur ins Zentrum. Analysiert werden neben der finanziellen Armutsbekämpfung sein. Solothurn fasst eine periodische Armut im Kanton auch Potenziale und die Belastungen Sozialberichterstattung ins Auge, die künftig mit der Sozial- der armutsbetroffenen Bevölkerung. Ausführlich werden planung verknüpft werden soll. zudem die Stärken und Schwächen der Basler Armutspoli- tik besprochen. Der Bericht beschreibt die Armutssituation, Der Sozialbericht (2011) des Kantons Waadt beschreibt den evaluiert bestehende Massnahmen und formuliert Hand- wirtschaftlichen und sozialpolitischen Kontext im Kanton, lungsempfehlungen (diese wurden mit Armutsbetroffenen dabei widmet sich ein Unterkapitel auch der Armut. Zudem diskutiert). Im Bericht fehlen jedoch Zielvorgaben zur evaluiert er bestehende Massnahmen der kantonalen Bekämpfung von Armut. Sozialpolitik (beispielsweise das Projekt FORJAD 2). Der Bericht liefert damit eine fundierte Situationsanalyse. Er Bern nimmt in der kantonalen Armutsberichterstattung eine Vorreiterrolle ein. Seit 2008 sind drei Sozialberichte erschie- Mit dem Projekt FORJAD des Kantons Waadt werden junge, 2 nen. Der Bericht von 2012 führt die Analyse der früheren sozialhilfeabhängige Erwachsene mit Stipendien unterstützt. 6
Ein Armutsbericht liegt vor: BS TG Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Luzern, Solothurn, Waadt. Ein Armutsbericht ist in Erarbeitung: BL ZH AG SH Freiburg, Genf, Jura, Neuenburg, Zug. JU AR Eine detaillierte Auswertung der SO AI Sozialhilfestatistik findet statt: SH SH Schwyz, Zürich. BS SH TG SG Kein Bericht: Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, ZG TG BS BS TG Glarus, Graubünden, Nidwalden, Obwalden, BS BL LUAG ZH TG St. Gallen, Schaffhausen, Tessin, Thurgau, SZ JU AR Uri, Wallis. NE BL SO BL ZH ZH GL AI BE AG AG ZH BL AG NW JU JU ARAR JU SO SO OW SGARAIAI SO AI ZGUR LU SG SG ZG ZG SZ SG GR NE FR ZG VD LU LU GL BE LU NW SZ SZ NE NE SZ OW GL GL NE BE BE NW NW GL BE NW UR OW OW OW UR UR TI GR FR VD UR GRGR FR FR GE VD VS GR VD FR VD TI TI TI GE VS TI GE VS GE VS GE VS 7
formuliert jedoch keine Ziele im Bereich der Armutsbe- 3. Sozialpolitische Trends 2015: kämpfung und auch keine neuen Massnahmen. Ein Folge- Zeichen der Entsolidarisierung bericht ist für 2016 geplant. Neben der kantonalen und nationalen Armutsberichterstat- 2.3 Würdigung der Fortschritte in der k antonalen tung stellt sich zur Halbzeit der Dekade «Armut halbieren» Armutsberichterstattung auch die Frage nach den aktuellen sozialpolitischen Trends. Kantonale Armutsberichte tragen dazu bei, Armut zu ent In welche Richtung entwickelt sich die Schweiz? Grundlage tabuisieren und Armutsbekämpfung als gesellschaftliche der Trendanalyse sind Beobachtungen im Bereich relevan- Aufgabe anzugehen. In den letzten fünf Jahren wurden ter bedarfsabhängiger Leistungen im vergangenen Jahr, Fortschritte in der kantonalen Armutsberichterstattung namentlich der Sozialhilfe und der individuellen Prämien- erzielt. So verfügen heute sieben Kantone über Armutsbe- verbilligung, sowie eine Analyse der Steuerentwicklung der richte, und in fünf Kantonen sind solche in Erarbeitung. letzten 15 Jahre. Zwei weitere Kantone publizieren regelmässig detaillierte Auswertungen der Sozialhilfestatistik. Eine Mehrheit der 3.1 Dammbruch in der Sozialhilfe Kantone schliesst in der Ausgestaltung ihrer Armutsbe- Mit dem Argument, die Kantone und Gemeinden könnten richte an die Empfehlungen der SODK an. Das heisst, sie sich die Sozialhilfe nicht mehr leisten, wurden in den letzten liefern Situationsanalaysen mit vertieften Untersuchungen Jahren zahlreiche Vorstösse zu Leistungskürzungen ein zu Schwerpunktthemen.3 Beurteilt man die Entwicklung gereicht – einige waren erfolgreich. So beschlossen bei- über alle Kantone hinweg so zeigt sich, dass knapp die spielsweise die Kantone Wallis und Bern, die Kosten der Hälfte der Kantone die Dringlichkeit sorgfältiger Situations- Sozialhilfe linear um zehn Prozent kürzen. Der Kanton analysen im Bereich Armut erkannt hat. Die Mehrheit Nidwalden stimmte dem neuen Sozialhilfegesetz zu, das der Berichte bleibt jedoch deskriptiv, und zwölf Kantone deutlich härtere Sanktionsmassnahmen zulässt. Im Kanton haben noch immer keinen Armutsbericht verfasst. Einzig Zürich verlangte eine von FDP, GLP und SVP getragene der Berner Sozialbericht erfüllt alle Kriterien, indem er kon- Motion, die Rechtsverbindlichkeit der SKOS-Richtlinien krete Ziele benennt, Massnahmen ableitet und regelmä- aufzuheben. Die Motion wurde zwar abgelehnt, dennoch ssige Evaluationen durchführt. Für eine wirksame Armuts- kam es auch in Zürich zu Verschärfungen in der Sozialhilfe. politik ist dies Voraussetzung. Und so gilt der Kanton Bern So wurde der Einkommensfreibetrag im Kanton von mit seiner regelmässigen und systematischen Armuts 600 auf 400 Franken herab gesetzt. Die Aufzählung liesse berichterstattung und den parallel dazu durchgeführten sich um zahlreiche Vorstösse und Leistungskürzungen in Sozialgipfeln als Vorbild. anderen Kantonen erweitern. Wieviel Geld braucht eine einzelne Person oder eine Familie in der Schweiz zum Leben? Diese Frage beschäftigte die Politik im letzten Jahr und leitete die Debatte über eine wir- kungsvolle Sozialhilfe ein. Um die Diskussion zu versachli- chen, gab die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) 2014 zwei Studien in Auftrag. So wurde einerseits evaluiert, ob die Anreizsysteme in der Sozialhilfe wirken, und andererseits nachgerechnet, ob der Grundbedarf den Lebensunterhalt deckt.4 Es zeigte sich, dass der Grundbedarf – der sich nach wis- senschaftlichem Massstab an den Bedürfnissen der zehn Prozent Einkommensschwächsten orientiert – heute für kleine Haushalte zu tief angesetzt ist und dass die Äquiva- http://www.sodk.ch/fileadmin/user_upload/Aktuell/Empfehlungen/ 3 http://skos.ch/news/detail/studienergebnisse-zum-grundbedarf- 4 2012.09.21_SODK_Empf._Sozialbericht_d_WEB.pdf (08.09.2015) und-anreizsystem-liegen-vor/ (09.07.2015). 8
lenzskala, also die Umrechnung von Ein- auf Mehrperso- Die beschlossenen Schritte sind Ausdruck des harten nenhaushalte, im internationalen Vergleich sehr restriktiv Gegenwinds, dem sich die Sozialhilfe in den letzten Jahren ist. Das heisst, Familien werden im Vergleich zum benach- ausgesetzt sieht. Die Richtlinienrevision ist ein politischer barten Ausland eher benachteiligt. Entscheid, lässt die Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Studien ausser Acht und wird die künftige Ausgestaltung Die Evaluation des Anreizsystems, das 2005 eingeführt der Sozialhilfe bestimmen. Bezogen auf das soziale Exis- wurde, verdeutlichte zudem, dass dieses nicht in allen Kan- tenzminimum ist die Revision der SKOS-Richtlinien ein tonen gleich umgesetzt wird. Der Handlungsspielraum von Dammbruch. Sozialarbeitenden im direkten Kontakt mit Klientinnen und Klienten wird häufig nicht ausgeschöpft. Das heisst nichts 3.2 Abbau bei der individuellen anderes, als dass die Systemänderung von 2005, die das Prämienverbilligung Anreizsystem einführte und gleichzeitig den Grundbedarf Um die überproportionale Belastung durch Kranken herabsetzte, bereits einem Leistungsabbau entspricht. kassenprämien für Haushalte mit kleinen und mittleren Einkommen abzufedern, wurde die individuelle Prämienver- Nachdem das Parlament im Juni 2013 das «Rahmengesetz billigung (IPV) eingeführt. In der Botschaft zur Revision der Sozialhilfe» abschrieb und der Bundesrat in einem Bericht Krankenversicherung formulierte der Bundesrat zu Beginn zur künftigen Ausgestaltung der Sozialhilfe für ein Beibehal- der 90er-Jahre das Ziel, die Haushalte maximal mit acht ten des Status quo einstand, bleibt die Verantwortung bei Prozent des steuerbaren Einkommens durch Kranken den Kantonen und der SKOS. Mit dem Ziel die SKOS- kassenprämien – nach Verbilligung – zu belasten. Rund Richtlinien breiter abzustützen und politisch zu legitimieren, 4,24 Milliarden Franken wurden 2013 für die Prämienver veranlasste die SKOS anfangs 2015 deshalb eine Vernehm- billigung ausbezahlt.5 Davon trägt der Bund die Hälfte. lassung der Richtlinien bei ihren Mitgliedern und beschloss, Knapp ein Drittel der Bevölkerung profitierte von IPV. Das diese neu von der Konferenz der kantonalen Sozialdirekto- sind rund 2,3 Millionen Menschen. Kinder, Jugendliche und rinnen und Sozialdirektoren (SODK) genehmigen zu lassen. ältere Personen erhalten am meisten Prämienverbilligung. Erstaunlicherweise schliesst die SODK nicht an die Erkennt- Auch die individuelle Prämienverbilligung – eine der Sozial- nisse der SKOS-Studien an. Belässt sie doch den Grund- hilfe vorgelagerte bedarfsabhängige Leistung – ist in den bedarf für kleine Haushalte – trotz ausgewiesenem Hand- letzten Jahren aber unter Druck gekommen. Zahlreiche lungsbedarf – unverändert und kürzt ihn gar für junge Kantone haben ihre Beiträge an die IPV gesenkt. Über die Erwachsene und Grossfamilien. Basis der Leistung im letzten zwei Jahre haben einzig die Kantone Zürich und Grundbedarf ist damit nicht mehr der wissenschaftlich aus- Basel-Stadt ihre Beiträge für die IPV ausgebaut. In allen gewiesene Bedarf der einkommensschwächsten zehn Pro- anderen Kantonen sind Diskussionen über Sparmassnah- zent der Bevölkerung, sondern eine willkürliche Grenze. men im Gang oder bereits beschlossen. So spart beispiels- weise der Kanton Bern 52 Millionen Franken bei der IPV. Der Entscheid der SODK, bei den Jugendlichen und Fami- Wie viele Versicherte damit ihren Anspruch auf Prämienver- lien zu sparen, ohne intensive Begleitmassnahmen vorzu- billigung verloren haben, können die Zuständigen nicht sehen, ist erstaunlich. Liegt doch beispielsweise mit dem sagen. Im Kanton Aargau beschloss der Grosse Rat Ein- Projekt FORJAD im Kanton Waadt eine erfolgreiche Praxis sparungen von 13 Millionen. Rund 17 000 Aargauerinnen vor, an die auch andere Kantone anknüpfen könnten. Ins- und Aargauer verloren ihren Anspruch. Mit dem Argument gesamt stärkt die Revision der SKOS-Richtlinien das Prin- des Spardrucks wurde auch im Kanton Wallis eine Kürzung zip von «Leistung und Gegenleistung», das mit dem Anreiz- der IPV von 29 Millionen beschlossen. 21 000 Personen system seit 2005 in der Sozialhilfe verankert ist. So werden werden deshalb im laufenden Jahr ohne IPV auskommen die Sanktionsmöglichkeiten verschärft und Menschen, die müssen. Im Kanton Basel-Land, der ohnehin schon sich aus gesundheitlichen oder familiären Gründen nicht bescheidene Beiträge zur Prämienverbilligung erstattet und um eine Arbeitsstelle bemühen können, erhalten keine wo im schweizweiten Vergleich am wenigsten Personen minimale Zulage mehr. Neuerdings wird in der Sozialhilfe sogar von Nothilfe gesprochen. http://www.priminfo.ch/zahlen_fakten/de/praemienverbilligung.pdf 5 (10.07.2015). 9
Senkung der Vermögenssteuern für die Reichsten 1 % und die Top 25 %, Veränderung 2000–2014 Steuerbelastung der Vermögen (in ‰), Kanton und Gemeinden Steuerbelastung der Vermögen (in ‰), Kanton und Gemeinden Ledige ohne Kinder mit Top-1 % Vermögen Ledige ohne Kinder mit Top-25 % Vermögen 6,8 4,6 2,4 1,2 0,1 –1,0 –2,–1 –4,–2 –6,–4 –8,–6 von der IPV profitieren, werden derzeit 1,5 Millionen einge- Die Caritas richtet den Blick bei der vorliegenden Standort- spart. Rund 4400 Personen verlieren ihren Anspruch auf bestimmung der Armutspolitik deshalb auch auf die Steu- Unterstützung. erentwicklung der letzten 15 Jahre. Die Analyse basiert auf Datenerhebungen des Sinergia Projekts «The Swiss Confe- Gegen die Sparmassnahmen wurden in zahlreichen Kanto- deration: a National Laboratory for Research on Fiscal and nen Referenden ergriffen oder Initiativen formuliert. Derzeit Political Decentralization» des Schweizerischen National- sind in sechs Kantonen politische Vorstösse gegen die fonds.8 Diese misst die Steuerbelastung für bestimmte Per- Kürzungen bei der IPV hängig. Im Kanton Solothurn ver zentile, beispielsweise das oberste Prozent (Top-1 %) der hinderte ein Referendum im Frühjahr 2015 ein Abbau bei Einkommen bzw. der Vermögen oder das mittlere Einkom- der IPV. men. Die Analyse der Steuerentwicklung für ausgewählte Punkte (z. B. Top-1 %) der Einkommens- und Vermögens- Gesamthaft verringerten sich die kantonalen Ausgaben für verteilung ist aussagekräftiger als jene für einen fixen Fran- die IPV zwischen 2010 und 2014 um 169 Millionen Fran- kenbetrag, da sie Inflation und Wirtschaftswachstum ken. Dies ist umso stossender, als neueste Studien zeigen, 6 berücksichtigt. dass vor allem Familien mit knappem Budget – also einem Einkommen wenig oberhalb der Armutsgrenze – von den Mit der Ausnahme von Zürich, Tessin, Basel-Land und Kürzungen betroffen sind.7 Neuenburg senkten alle Kantone ihre Vermögenssteuer für das reichste 1 Prozent zwischen 2000 und 2014. Die 3.3 Steuergeschenke für Gutverdienende Kantone Uri, Schwyz, Solothurn, Obwalden, Luzern und Die Beispiele der Sozialhilfe und der IPV sind Zeugnis des Thurgau haben sie sogar mehr als halbiert. Luzern und voranschreitenden Sozialabbaus in den Kantonen. Politisch Thurgau reduzierten die Vermögenssteuern auch für die legitimiert wurde der Abbau in den letzten Jahren häufig mit vermögendsten 25 Prozent markant. fehlenden finanziellen Ressourcen. Wenig Beachtung fand in dieser Diskussion bisher die Tatsache, dass der aggres- Bedeutendste Einnahmequelle sind für die meisten Kan- sive Steuerwettbewerb für die fehlenden Einnahmen in den tone die Einkommenssteuern (einzig in Basel-Stadt und Kantonen hauptverantwortlich ist. Zug ist die Unternehmenssteuer wichtiger). Betrachtet man die Entwicklung der Einkommenssteuern in den Kantonen seit 2000, zeigt sich, dass die Steuerbelastung für das mittlere Einkommen (Medianeinkommen) in allen Kantonen 6 https://www.ktipp.ch/artikel/d/praemienverbilligungen-kantone- mit Ausnahme von Neuenburg gesunken ist. Für Familien sparen-auf-kosten-der-wenigverdiener/ (10.07.2015). 7 Lampart Daniel, Oberholzer Basil, Gallusser David: Höhere Prämienverbilligungen gegen die Krankenkassen-Prämienlast. Schweizerischer Gewerkschaftsbund. Dossier Nr. 108, Bern, 2015. http://www.fiscalfederalism.ch/data/. 8 10
Steuerbelastung Top-1 % Einkommen, Veränderung 2000–2014 Steuerbelastung der Einkommen (in %), Kanton und Gemeinden Steuerbelastung der Einkommen (in %), Kanton und Gemeinden Ledige ohne Kinder mit Top-1 % Einkommen Verheiratete mit 2 Kindern und Top-1 % Einkommen 6,8 4,6 2,4 1,2 0,1 –1,0 –2,–1 –4,–2 –6,–4 –8,–6 mit zwei Kindern liegt das mittlere Einkommen von Steuersenkungen führen direkt zu einer Reduktion der 50 300 Franken (2011) jedoch klar unterhalb der Armuts- Steuereinnahmen, die jedoch durch den Zuzug von ein- grenze. Die Entwicklung spiegelt folglich die Entlastung des kommensstarken Steuerzahlern wettgemacht werden sozialen Existenzminimums. Ledige gehören mit dem mitt- könnten. Empirisch lässt sich nur schwer belegen, ob und leren Einkommen jedoch zur Mittelschicht. Auch sie wur- in welchem Umfang dies den Kantonen gelungen ist, den aber in den vergangenen 15 Jahren entlastet und zwar da gleichzeitig mit den Steuersenkungen viele andere um durchschnittlich 2,4 Prozentpunkte. Faktoren – beispielsweise die gute Wirtschaftskonjunktur – wirken. Expertinnen und Experten gehen jedoch davon Die gleiche Entwicklung zeigt sich für das einkommens- aus, dass sich die Steuersenkungen für die Kantone nicht stärkste Viertel der Schweiz. Mit Ausnahme von Neuenburg gelohnt haben. Die Mehrheit der Kantone ist aufgrund ihrer senkten alle Kantone die Steuerbelastung für die obersten aggressiven Tiefsteuerpolitik der letzten Jahre in Schieflage 25 Prozent. Für die Ledigen unter dem reichsten Viertel geraten. reduzierten insbesondere die innerschweizer Kantone Luzern, Uri, Schwyz und Obwalden sowie Glarus, Zug, In der Vergangenheit wurden auch kantonale Erbschafts- Basel-Stadt, Thurgau und Tessin die Einkommenssteuer steuern gesenkt. Begründet wurden die Senkungen mit um mehr als 2 Prozentpunkte. der Befürchtung, dass vermögende Erblasser und Erblas- serinnen sonst in einen anderen Kanton oder gar ins Aus- Auch das einkommensstärkste Prozent profitierte mehr- land abwandern könnten. Jüngste Studien bestätigen diese heitlich von Steuersenkungen. In allen Kantonen ausser Befürchtung allerdings nicht.9 Vielmehr konnten sie zeigen, Neuenburg, Waadt und Basel-Landschaft zahlen die Best- dass reiche Erblasser und Erblasserinnen weniger mobil verdienenden heute weniger Steuern als vor 15 Jahren. auf Erbschaftssteuern reagieren als bisher angenommen. Dabei haben sich die Unterschiede zwischen den Kanto- Das heisst, mehrheitlich bleiben reiche Rentnerinnen und nen verstärkt. Am stärksten entlastet wurde das ein Rentner trotz Erbschaftssteuern an ihrem angestammten kommensstärkste Prozent in den Kantonen Obwalden, Uri, Wohnsitz. Die Senkung von Erbschaftssteuern führt Luzern und Thurgau (Senkungen zwischen 4,3 und 6,6 Pro- deshalb zu sinkenden kantonalen Steuereinnahmen. Oder zentpunkten). Starke Senkungen zwischen 2 und 4 Pro- mit anderen Worten: Der Wettbewerb um vermögende zentpunkten verzeichneten die Kantone Schwyz, Glarus, Steuerzahler existiert bei reichen Rentnerinnen und Solothurn, Basel-Stadt, Schaffhausen, Aargau und Tessin. Rentnern kaum. Schwyz hat an der Spitze der Tiefsteuerpolitik zu Zug auf- geschlossen. Brüllhart Marius und Parchet Raphaël: Erbschaftssteuern und 9 Mobilität der Steuerzahler. In: Die Volkswirtschaft, 3, 2014. 11
3.4 Handlungsbedarf aus Sicht der Caritas 4. Fazit: Eine ganzheitliche Armutspolitik Gutverdienende haben in den letzten Jahren massiv von für eine solidarische Schweiz sinkenden Vermögensteuern, sinkenden Einkommensteu- ern und der Senkung oder dem Wegfall von Erbschafts- Gesamthaft betrachtet zeugen die Entwicklungen der steuern profitiert. Für die wenigsten Kantone lohnt sich letzten Jahre von einem geschärften Bewusstsein gegen- der aggressive Steuerwettbewerb jedoch. Sie können die über dem Problem der Armut in der Schweiz. Sowohl Steuersenkungen nicht durch den Zuzug von Gutverdie- der Bund als auch die Hälfte der Kantone haben Grund nenden kompensieren. Falls Zuzug stattfindet, stammt er lagen zur Armutssituation erarbeitet. Diese Erfolge sind zudem meist aus anderen Kantonen und verschlechtert jedoch lediglich der erste Schritt einer nachhaltigen damit die Situation in den Herkunftskantonen. Aus den Armutsbekämpfung. Steuersenkungen für Gutverdienende resultierten deshalb für die grosse Mehrheit der Kantone und damit für die Die aktuellen Trends zeigen, dass kantonale Bedarfs Gesamtschweiz tiefere Einnahmen. Sie bleiben auf ihren leistungen abgebaut werden. Der Bund ist deshalb gehal- roten Zahlen sitzen. ten, mehr Verantwortung in der Existenzsicherung zu über- nehmen. Eine systematischere Bekämpfung von Armut Die Kantone nahmen in den letzten Jahren diese roten wird auch durch kantonale Armutsberichte erreicht, sofern Zahlen vermehrt zum Anlass, bedarfsabhängige Leistun- diese als Steuerungsinstrument mit konkreten Zielen, gen zu kürzen – mit verheerenden Folgen für armutsbetrof- Massnahmen und regelmässiger Evaluation konzipiert fene und einkommensschwache Personen. So führt der sind. Hauptsächlich ist der Erfolg der Armutsbekämpfung Leistungsabbau in der Sozialhilfe dazu, dass das soziale aber davon abhängig, ob es gelingt den dringenden politi- Existenzminimum nicht mehr für alle Armutsbetroffenen schen R ichtungswechsel einzuleiten: Es gilt, den Sozial garantiert ist, und durch die Kürzungen bei der individuellen abbau der vergangenen Jahre zu stoppen und eine solida- Prämienverbilligung drohen Menschen mit kleinen Ein rische Schweiz zu sichern. Dies setzt voraus, dass kommen knapp oberhalb der Armutsgrenze in die Armut Gutver dienende ihren Beitrag zur sozialen Sicherheit in abzurutschen. diesem Land leisten. Im vergangenen Jahr dominierte die Kostenperspektive die Diskussion über die soziale Sicherheit in der Schweiz. Dass soziale Sicherheit auch soziale Stabilität schafft, wurde im Hickhack um Kostensenkungen gerne ignoriert. Es ist zwar richtig, dass die Sozialausgaben in absoluten Zahlen jüngst ansteigen. Betracht man diese jedoch im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt, so zeigt sich, dass die Ausgaben seit gut zehn Jahren stabil bei rund 25 Prozent liegen.10 Ver glichen mit der Europäischen Union (28,3 Prozent), Deutschland (28,3 Prozent) oder Frankreich (32,1 Prozent) ist die Schweiz damit gut unterwegs. Die Sozialausgaben sind hierzulande nicht stärker gewachsen als die Wirt- schaft, und sie haben sich – verglichen mit Europa – auf einem tieferen Niveau stabilisiert. Es ist an der Zeit, diese Realität zu erkennen. Die Politik ist gehalten, die Kosten im Sozialbereich ins richtige Licht zu rücken und die Steuersenkungen für Gutverdienende der letzten Jahre zu korrigieren. http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/13/01/blank/ 10 key/03/02.html (09.07.2015). 12
Kantonale Bemühungen zur Bekämpfung und Prävention von Familienarmut Im vorliegenden Armutsmonitoring zur Bekämpfung und Auch in der Sozialhilfe sind Familien überdurchschnittlich Prävention von Familienarmut werden Meilensteine auf vertreten. Paare mit Kindern sind mit rund 11 Prozent mehr Bundesebene hervorgehoben und die Anstrengungen in als doppelt so oft auf Sozialhilfe angewiesen als Paare ohne den Kantonen auf dem Gebiet der Verhinderung von Kinder (5,2 Prozent). Jeder fünfte Haushalt in der Sozialhilfe Familienarmut dargestellt und analysiert. Der Vergleich ist alleinerziehend. Ein Drittel aller Sozialhilfebeziehenden zwischen den Kantonen erlaubt es, dringliche Handlungs- sind Kinder und Jugendliche. felder zu benennen und mit dem Ausweis von good practice Lernmöglichkeiten zu schaffen. Familien sind in der Schweiz aber auch überdurch - schnittlich von Armut bedroht. Das heisst: Viele Familien verfügen über ein Einkommen nur wenig oberhalb der Armutsgrenze. Gemäss neusten Berechnungen des 1. Familienpolitik ist Gesellschaftspolitik Bundesamtes für Statistik (BFS) ist hierzulande jede vierte Familie mit mehr als drei Kindern und jede dritte Eineltern- Familien sind eine zentrale Grundlage unserer Gesellschaft. familie von Armut bedroht. Sie sind der Ort, wo sich Kinder sozialisieren und Werte übernehmen. In Familien wird zudem ein Grossteil der unentgeltlichen Care-Arbeit geleistet. Sie sind als primäres soziales Beziehungsnetz für den sozialen Zusammenhalt 3. Gründe für Familienarmut und die Solidarität innerhalb unserer Gesellschaft unver- zichtbar. Trotz dem Wandel von Lebensformen und 3.1 Kinder sind teuer -umständen erwartet die Gesellschaft von einer Familie Nach aktuellen Berechnungen des Bundes (2015) belau nach wie vor die Erfüllung entscheidender gesellschaftli- fen sich die direkten Kosten für Alleinerziehende für 1 Kind cher Grundaufgaben: So soll sie die wirtschaftliche Exis- jährlich auf 14 412 Franken; für ein Paar mit 1 Kind betra tenz aller Familienmitglieder bestreiten, die Kinder erziehen gen die durchschnittlichen Ausgaben 11 304 Franken, bei und bilden, sich gegenseitig jederzeit auf vielfältige Weise 2 Kindern kommen 18 096 Franken zusammen, und bei unterstützen, die Älteren pflegen und betreuen. In der Bun- 3 Kindern rechnet man mit Kosten von 21 852 Franken desverfassung verpflichtet sich die Schweiz, Familien als pro Jahr. Kinder führen aber auch zu indirekten Kosten.11 Gemeinschaften von Erwachsenen und K indern zu schüt- Wenn Eltern Kinder betreuen, reduzieren sie häufig die zen und zu fördern. Aktuelle Statistiken zeigen jedoch: Dies Erwerbstätigkeit. Das heisst, sie verzichten zugunsten von gelingt derzeit nur unzureichend. Sorgearbeit auf Erwerbseinkommen, sie steigen vollständig aus der Erwerbsarbeit aus oder sie arbeiten Teilzeit. Teilzeitarbeit geht aber noch immer mit verschiedenen 2. Armutsrisiko Kind Benachteiligungen einher: Aufgrund der kleineren Einkom- men führt sie einerseits zu einer kleineren Altersrente. Viele Rund eine Viertelmillion Eltern und Kinder leben heute bleiben aus der beruflichen Vorsorge ausgeschlossen oder unter der Armutsgrenze. Jedes zusätzliche Kind steigert erarbeiten sich nur tiefe Renten. Die Folge davon kann das Risiko einer Familie, in Armut abzurutschen: Während Altersarmut sein. Andererseits bedeuten Teilzeitanstel 3,5 Prozent der kinderlosen Paare unter 65 Jahren von lungen auch schlechtere Karriereaussichten. Wer Teilzeit Armut betroffen sind, liegt dieser Wert für Einkindfamilien arbeitet, hat meist geringere Aufstiegsmöglichkeiten, kann mit 5,5 Prozent wesentlich höher. Familien mit 3 oder mehr oftmals weniger Weiterbildungen besuchen, erhält weniger Kindern sind mehr als doppelt so häufig von Armut be troffen wie kinderlose (8,1 Prozent). Am stärksten von Armut betroffen sind Alleinerziehende. Hier trifft es jede sechste Familie. 11 Familienpolitik. Auslegeordnung und Handlungsoptionen des Bundes. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Tornare (13.3135) «Familienpolitik» vom 20. März 2013, S. 9. Vgl. http://www.news.admin.ch/NSBSubscriber/message/ attachments/39437.pdf (10.08.2015). 13
spannende oder anspruchsvolle Projekte zugewiesen und 3.4 Die Existenzsicherung ist uneinheitlich hat möglicherweise eingeschränkten Zugang zu relevanten und ungenügend Informationen. Das Schweizerische System der sozialen Sicherheit basiert noch weitgehend auf einem traditionellen Familien- und 3.2 Vereinbarkeit von Familie und Beruf Rollenmodell und damit auf überholten Realitäten. So ist bleibt mangelhaft einerseits Teilzeitarbeit noch immer schlecht abgesichert. Die Möglichkeit, Familienarbeit und Erwerbsarbeit zu ver- Andererseits bleibt die Existenzsicherung für Alleiner einbaren ist in der Schweiz noch immer mangelhaft. Trotz ziehende lückenhaft. So fehlt auch nach der Revision des den Bemühungen auf Bundesebene gibt es noch immer zu Kinderunterhaltrechts beispielsweise eine gesetzliche wenig preisgünstige und erreichbare Angebote der familie- Regelung für den Mindestunterhalt des Kindes, und in der nexternen und schulergänzenden Betreuung. Die zuneh- Alimentenbevorschussung bestehen noch immer grosse mende Flexibilisierung der Arbeit, mit unregelmässigen kantonale Unterschiede. Mit dem Scheitern der Familien Arbeitszeiten, stellt insbesondere einkommensschwache ergänzungsleistungen auf nationaler Ebene wurde die Familien vor grosse Herausforderungen. Institutionalisierte Chance verpasst, die Existenzsicherung für Familien zu Kinderbetreuungsangebote – wie Kitas beispielsweise – etablieren. Tessin, Solothurn, Waadt und Genf haben als bieten bei Arbeit im Tieflohnsektor – etwa bei Arbeit auf einzige dieses wirksame Instrument auf kantonaler Ebene Abruf – keine Lösung. Armutsbetroffene Familien weichen eingeführt. häufig auf das preisgünstigere und flexiblere Angebot von Tageseltern aus. Damit verzichten sie meist auf professio- nelle Frühe Förderung. Gleichzeitig bleibt die Betreuung in speziellen Situationen – während der Schulferien oder 4. Folgen von Familienarmut wenn die Kinder krank sind – lückenhaft. 4.1 Die soziale Teilhabe gefährdet 3.3 Die Schweiz investiert zu wenig Die soziale Teilhabe wird für armutsbetroffene Familien zur Im internationalen Vergleich investiert die Schweiz nur sehr täglichen Herausforderung. Häufig sprengen Geschenke wenig in die Familien. Während die OECD-Länder 2011 für Kindergeburtstage, der Gitarrenunterricht, die Teil- durchschnittlich 2,55 Prozent ihres Bruttoinlandprodukt für nahme am Skisportlager oder Ferien die Budgets der Familien aufwenden, liegt die Schweiz mit weniger als Familien. Nicht selten werden armutsbetroffene Kinder 2 Prozent deutlich darunter. 12 Auffallend ist die geringe deshalb ausgegrenzt und stigmatisiert. Dies hinterlässt Subventionierung von Kita-Plätzen hierzulande. Im interna- bei den Betroffenen tiefe Spuren. tionalen Vergleich sind die Kosten, die Familien für die familien ergänzende Betreuung bezahlen müssen, über- 4.2 Gefangen im Teufelskreis der Armut durchschnittlich. Eltern zahlen in der Schweiz rund doppelt Armutsbetroffene Kinder stehen meist nicht nur vorüber bis dreimal so viel wie Eltern in den Nachbarländern.13 gehend am Rand der Gesellschaft. Vielmehr bestätigen Studien, dass sich die Prekarität der Kinder im späteren Leben fortsetzt. So sind Kinder aus benachteiligten Fami- lien später oft selbst armutsbetroffen. Ein Grund hierfür ist der ungenügende Zugang benachteiligter Kinder zu Früher Förderung. Die Regelstrukturen – wie Kindergarten und Schule – sind nicht in der Lage, ungleiche Startchancen wettzumachen. Auch beim späteren Berufseinstieg sind 12 Vgl. OECD family Database. Public spending on family benefits. Kinder aus armutsbetroffenen Familien benachteiligt, denn http://www.oecd.org/els/soc/PF1_1_Public_spending_on_family_ Stipendien stehen häufig nur für tertiäre Bildungswege zur benefits_Oct2013.pdf (08.08.2015). Verfügung. Den betroffenen Kindern droht der Ausschluss 13 Vollkosten und Finanzierung von Krippenplätzen im Länderver- gleich. Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 13.3259 aus der Gesellschaft. Christine Bulliard-Marbach «Krippen vergünstigen und den Sektor dynamisieren» vom 22. März 2013. 1. Juli 2015. http://www.news. admin.ch/NSBSubscriber/message/attachments/40484.pdf (10.09.2015). 14
5. Drei Säulen einer wirksamen 6. Flickwerk Familienpolitik auf Familienarmutspolitik Bundesebene Familienpolitik ist vielschichtig. Armutsvermindernde Fami- Familienpolitik ist heute weitgehend kantonale Politik. lienpolitik ist höchst anspruchsvoll. Als Querschnittspolitik Punktuell hat aber auch der Bund in den letzten Jahren den tangiert sie Sozial-, Bildungs-, Arbeitsmarkt und Wohn- Handlungsbedarf erkannt und Massnahmen eingeleitet. raumpolitik. 14 Mehrheitlich liegt die Kompetenz in diesen Bereichen bei den Kantonen. Für eine wirksame Politik 6.1 Beiträge zur Existenzsicherung braucht es gezielte Strategien mit Zielen, Massnahmen und Weil die Sozialhilfe und andere bedarfsabhängige Leistun- Evaluation zur Bekämpfung und Prävention von Familien gen in der Kompetenz der Kantone liegen, beteiligt sich der armut. Diese sollen sich an den drei Pfeilern Existenz Bund nur marginal an der Existenzsicherung von Familien. sicherung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Chan- Mit der Einführung der Mutterschaftsversicherung 2005, cengerechtigkeit ausrichten: 15 der Harmonisierung der kantonalen Familienzulagen 2006 und der Revision des Kindesunterhalts hat der Bund in den • Im Bereich Existenzsicherung sind Massnahmen zu letzten zehn Jahren jedoch auch Anliegen der Existenz ergreifen, die Familien ein existenzsicherndes Ein sicherung für Familien umgesetzt: kommen garantieren und ihnen eine Teilhabe an der Gesellschaft erlauben. Als zielgerichtete finanzielle • Achtzehn Kantone mussten mit der Harmonisierung Unterstützung für armutsbetroffene Familien haben sich der Kinder- und Ausbildungszulagen ihre Ansätze auf beispielsweise Familienergänzungsleistungen erwiesen. die vorgeschriebenen Mindestbeträge von 200 Franken • Zweitens garantiert eine ganzheitliche Bekämpfung von für Kinder bzw. 250 Franken für Kinder in Ausbildung Familienarmut auch für Armutsbetroffene die Möglich- erhöhen. Seit 2013 haben auch Selbstständigerwer- keit, Familie und Beruf zu vereinbaren. Es braucht bende sowie Nichterwerbstätige mit bescheidenen kostengünstige und erreichbare familienexterne und Einkommen Anrecht auf Familienzulagen. Familienzu schulergänzende Betreuungsstrukturen. Insbesondere lagen sind einkommensunabhängig und werden auch Unternehmen sind gefordert, an die Betreuungspflich- bei Teilzeitarbeit voll ausgerichtet. Einige Kantone ten anschlussfähige Arbeitsmodelle zu garantieren. – vorab in der Romandie – gehen über die empfohlenen Auch Väter sollen die Möglichkeit haben, ihre Erwerbs- Mindestbeträge hinaus. tätigkeit zugunsten der Familienarbeit zu reduzieren. • Im Frühling 2015 wurde der Kindesunterhalt bundesweit • Drittens baut eine nachhaltige Bekämpfung und neu geregelt. Mit der Revision ist es gelungen, das Prävention von Familienarmut auf die Verbesserung Recht des Kindes auf Unterhalt landesweit zu stärken der Chancengerechtigkeit. Es gilt, den Zugang zu einer und die Last für den betreuenden Elternteil zu mindern. qualitativ guten Frühen Förderung – einschliesslich Künftig sind im Unterhaltsbeitrag für das Kind auch Elternbildung – sowie zu Aus- und Weiterbildung für die Kosten eingeschlossen, die bei der Betreuung des sozial Benachteiligte sicher zu stellen. Kindes durch einen Elternteil anfallen (z. B. Kitakosten, Erwerbsausfall). Jedoch bleiben auch nach der Revision Lücken bestehen (z. B. fehlt der gesetzlich festgelegte Mindestunterhalt für das Kind). • Im Parlament gescheitert ist nach zehnjähriger Debatte die schweizweite Einführung von Familienergänzungs- leistungen. Auch der jüngste Vorstoss von Yvonne Feri 14 Der Bereich des Wohnens wird im vorliegenden Monitoring nicht untersucht. Für kantonale Bemühungen im Bereich Wohnen und wurde im März 2015 abgeschrieben. Eine gesamt- Armut vergleiche die Beobachtungen zur Armutspolitik von 2014. schweizerische Lösung zeichnet sich derzeit nicht ab. http://www.caritas.ch/fileadmin/media/caritas/Dokumente/ • Familienarmut ist auch im nationalen Programm zur Positionspapiere/CA_Armutsmonitoring_2014_DE_Internet.pdf (10.09.2015) Bekämpfung und Prävention von Armut Thema. Eine 15 Dieses Dreisäulenmodell wurde erstmals von der SODK im Juni exemplarische Studie in verschiedenen Gemeinden soll 2013 lanciert. Vgl. http://www.sodk.ch/fileadmin/user_upload/ Fachbereiche/Familie_und_Generationen/d_2013.06.28_SODK_ aufzeigen, wie armutsbetroffene Familien besser Position_Familienpolitik.pdf (07.09.2015). unterstützt werden könnten. 15
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