Wohnst du noch oder lebst du schon? - Zenodo

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Wohnst du noch oder lebst du schon?
          Veränderungen und zukünftige Ausgestaltung von Wohnen für
          Menschen mit Körperbehinderung im Kanton Luzern und deren
                       Bedeutung für die Soziale Arbeit

Bachelor-Arbeit

Verfasst durch Sahra El-Ali und Corinne Stöckli

Hochschule Luzern – Soziale Arbeit

August 2019
Bachelor-Arbeit

                                         Sozialpädagogik

                                           VZ 2016-2019

                                 Corinne Stöckli und Sahra El-Ali

                           Wohnst du noch oder lebst du schon?

              Veränderungen und zukünftige Ausgestaltung von Wohnen für
              Menschen mit Körperbehinderung im Kanton Luzern und deren
                            Bedeutung für die Soziale Arbeit

Diese Bachelor-Arbeit wurde im August 2019 eingereicht zur Erlangung des vom Fachhochschulrat der
Hochschule Luzern ausgestellten Diploms für Sozialpädagogik.

Diese Arbeit ist Eigentum der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie enthält die persönliche Stellungnahme
des Autors/der Autorin bzw. der Autorinnen und Autoren.

Veröffentlichungen – auch auszugsweise – bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung durch die Leitung
Bachelor.

Reg. Nr.:

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Eine ausführliche Fassung des Lizenzvertrags befindet sich unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-
nd/3.0/ch/legalcode.de
Vorwort der Schulleitung

Die Bachelor-Arbeit ist Bestandteil und Abschluss der beruflichen Ausbildung an der Hochschule Luzern,
Soziale Arbeit. Mit dieser Arbeit zeigen die Studierenden, dass sie fähig sind, einer berufsrelevanten
Fragestellung systematisch nachzugehen, Antworten zu dieser Fragestellung zu erarbeiten und die eigenen
Einsichten klar darzulegen. Das während der Ausbildung erworbene Wissen setzen sie so in Konsequenzen
und Schlussfolgerungen für die eigene berufliche Praxis um.

Die Bachelor-Arbeit wird in Einzel- oder Gruppenarbeit parallel zum Unterricht im Zeitraum von zehn
Monaten geschrieben. Gruppendynamische Aspekte, Eigenverantwortung, Auseinandersetzung mit formalen
und konkret-subjektiven Ansprüchen und Standpunkten sowie die Behauptung in stark belasteten Situationen
gehören also zum Kontext der Arbeit.

Von einer gefestigten Berufsidentität aus sind die neuen Fachleute fähig, soziale Probleme als ihren
Gegenstand zu beurteilen und zu bewerten. Sozialpädagogischen Denken und Handeln ist vernetztes,
ganzheitliches Denken und präzises, konkretes Handeln. Es ist daher nahe liegend, dass die Diplomandinnen
und Diplomanden ihre Themen von verschiedenen Seiten beleuchten und betrachten, den eigenen Standpunkt
klären und Stellung beziehen sowie auf der Handlungsebene Lösungsvorschläge oder Postulate formulieren.

Ihre Bachelor-Arbeit ist somit ein wichtiger Fachbeitrag an die breite thematische Entwicklung der
professionellen Sozialen Arbeit im Spannungsfeld von Praxis und Wissenschaft. In diesem Sinne wünschen
wir, dass die zukünftigen Sozialpädagoginnen mit ihrem Beitrag auf fachliches Echo stossen und ihre
Anregungen und Impulse von den Fachleuten aufgenommen werden.

Luzern, im August 2019

Hochschule Luzern, Soziale Arbeit

Leitung Bachelor

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Abstract

«...die soziale Dimension ist für Betroffene häufig die bedeutendere und oft die schmerzlichere Dimension.
Erst die Ausgrenzung macht aus einem begrenzten Menschen einen »Behinderten«. Behinderung ist vor
allem ein Problem der Ausgrenzung, nicht so sehr ein Problem der Einschränkungen» (Rainer Schmidt, 2006;
zit. in Laurenz Aselmeier, 2008, S.123).

Integration für Menschen mit Behinderung ist fundamental. So befasst sich die vorliegende Arbeit mit der
Integration in die Gesellschaft und der Bedeutung von Wohnen zu einem selbstbestimmten Leben. Die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) schreitet voran, jedoch bestehen in der
Schweiz noch viele Barrieren für Menschen mit Behinderung. Es entsteht eine selbstbestimmtere Generation
von Menschen mit Behinderung, die klare Vorstellungen vom eigenen Leben hat. «Wohnst du noch oder
lebst du schon?» (IKEA) impliziert, dass allein die Tatsache, dass eine Person wohnt noch nichts über deren
Lebensqualität aussagt. Der staatliche Auftrag ist mit der Bereitstellung von Wohnungen nicht
abgeschlossen, eine Auseinandersetzung mit den individuellen Bedürfnissen ist unabdingbar. Es braucht
Wahlmöglichkeiten und Dienstleister, die sich an den Bedürfnissen anpassen. In dieser Arbeit werden die
Entwicklungen im Behindertenbereich in der Schweiz und im Kanton Luzern beleuchtet. Da in Europa bereits
vielfältige Modelle von Wohnformen bestehen, folgt eine Auseinandersetzung mit Wohnmodellen und -
projekten. Zentraler Bestandteil ist zudem die Anwendung auf den Kanton Luzern, in dem ein mögliches
Modell zur Unterstützung von selbstbestimmtem Wohnen vorgestellt wird. Weiter werden daraus
entstehende Chancen und Herausforderungen für die Soziale Arbeit erläutert.

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Dank

Wir durften während der Erarbeitung der vorliegenden Bachelorarbeit vielseitige Unterstützung erfahren.
Daher möchten wir uns an dieser Stelle bei allen Beteiligten bedanken. Besonders Herr René Stalder hat uns
während dieser Zeit mit viel Fachwissen und Geduld begleitet und interessante Austausche ermöglicht.
Weiter möchten wir uns herzlich bei Herr Martin Hailer bedanken. Er lebt bereits mit Assistenzpersonen und
hat die Arbeit in einer praxisorientierten, erfahrungsbasierten Perspektive gegengelesen. Ein weiteres
Dankeschön für das Redigieren der Arbeit geht zudem an Frau Tanja Lang, Herr Heiko Lang und Frau
Katharina Stöckli. Nicht zuletzt waren auch unsere Partner, Familien und Freunde eine wertvolle Stütze –
Danke!

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INHALTSVERZEICHNIS

1     Einleitung ................................................................................................................................................ 9

    1.1       Ausgangslage .................................................................................................................................. 9

    1.2       Motivation .................................................................................................................................... 10

    1.3       Fragestellung ................................................................................................................................ 10

    1.4       Abgrenzung .................................................................................................................................. 11

    1.5       Zielsetzung und Relevanz für die Soziale Arbeit ......................................................................... 11

    1.6       Adressatinnen und Adressaten...................................................................................................... 12

    1.7       Aufbau der Arbeit ......................................................................................................................... 13

2     Theoretische Grundlagen zu Behinderung und Wohnen ...................................................................... 14

    2.1       Behinderung ................................................................................................................................. 14

      2.1.1       Klassifikation der WHO ........................................................................................................... 15

      2.1.2       Körperbehinderung ................................................................................................................... 16

    2.2       Wohnen......................................................................................................................................... 18

      2.2.1       Funktionen des Wohnens ......................................................................................................... 18

    2.3       Historische Entwicklungen im Behindertenbereich...................................................................... 19

    2.4       Aktuellere Entwicklungen im Behindertenbereich ....................................................................... 20

      2.4.1       Inhaltlich-fachliche Entwicklungen im Bereich Behinderung.................................................. 21

      2.4.2       Politisch-rechtliche Entwicklungen im Bereich Behinderung .................................................. 23

3     Situation Kanton Luzern ....................................................................................................................... 27

    3.1       Politisch-Rechtliche Entwicklungen ............................................................................................. 27

      3.1.1       Revidierung des Gesetzes über soziale Einrichtungen ............................................................. 28

      3.1.2       Kantonales Leitbild .................................................................................................................. 29

      3.1.3       Planungs- und Baugesetz (PGB) im Bereich barrierefreies Wohnen ....................................... 29

    3.2       Wohnformen und aktueller Stand ................................................................................................. 30

      3.2.1       Wohnsituation «Institution» ..................................................................................................... 30

      3.2.2       Wohnsituation «Leben mit Assistenz» ..................................................................................... 32

4     Internationale Perspektive ..................................................................................................................... 35

    4.1       Orientierung an der Person ........................................................................................................... 35

                                                                                                                                                                 6
4.1.1      Individuelle Hilfeplanung IHP ................................................................................................. 35

       4.1.2      Persönliches Budget ................................................................................................................. 36

       4.1.3      Erfahrungen mit dem Persönlichen Budget im Ausland .......................................................... 38

     4.2       Orientierung am Sozialraum ......................................................................................................... 39

       4.2.1      Community Care-Ansatz .......................................................................................................... 40

     4.3       Projekte im Bereich Wohnen ........................................................................................................ 41

       4.3.1      Dänemark ................................................................................................................................. 41

       4.3.2      Deutschland .............................................................................................................................. 42

       4.3.3      Österreich ................................................................................................................................. 46

       4.3.4      Schweden.................................................................................................................................. 47

       4.3.5      Niederlande .............................................................................................................................. 47

       4.3.6      Schweiz .................................................................................................................................... 48

5      Fazit für den Kanton Luzern ................................................................................................................. 52

6      Herausforderungen und Aufgaben für die Soziale Arbeit ..................................................................... 56

7      Persönliches Fazit ................................................................................................................................. 60

8      Ausblick ................................................................................................................................................ 61

9      Quellenverzeichnis ................................................................................................................................ 62

10     Anhang .................................................................................................................................................. 69

                                                                                                                                                                 7
Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Paradigma und Behinderung ................................................................................................... 14
Abbildung 2: Bio-psycho-soziales Modell nach ICF .................................................................................... 16
Abbildung 3: Typologie der Finanzierungsmodelle ...................................................................................... 26
Abbildung 4: Vorgesehene Änderungen im Finanzierungssystem ............................................................... 29
Abbildung 5: Übersicht der Unterstützungsleistungen, -anbieter und Finanzierungsform ........................... 34
Abbildung 6: Leistungsbeziehungen im Rahmen des Persönliches Budgets ................................................ 38
Abbildung 7: Überblick über die Dienstleistungen ....................................................................................... 45
Abbildung 8: Fünf-Faktoren Konzept von Vicino ........................................................................................ 50

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1 Einleitung
Im folgenden Kapitel wird ein erster Überblick über die Thematik der vorliegenden Bachelorarbeit gegeben.
Zunächst wird die Ausgangslage geschildert, bevor die grundlegenden Fragestellungen und Abgrenzung der
Thematik hergeleitet sowie die Adressatinnen und Adressaten der Arbeit vorgestellt werden. Danach folgt
eine Beschreibung zur Relevanz der bearbeiteten Sachlage für die Soziale Arbeit. Weiterer Bestandteil des
Kapitels die Erläuterung des Aufbaus der Bachelorarbeit.

1.1 Ausgangslage
Die Schweiz hat das Ziel der Gleichstellung und Partizipation von Menschen mit Behinderungen in allen
Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dieser Grundsatz ist seit 1999 in der Bundesverfassung verankert
(Art. 8, BV). 2004 folgte die Einführung das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), welches auf der
Grundlage der BV entstanden ist. Das BehiG stellt ein wichtiges Instrument zur Erreichung von
Gleichstellung und Partizipation dar. Mit der Ratifizierung der UN-BRK 2014 hat sich die Schweiz zur
Verwirklichung des Grundsatzes einer vollen und wirksamen Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung
in die Gesellschaft von Menschen mit Behinderung verpflichtet (UN-BRK, ohne Datum). Um diesem
Grundsatz gerecht zu werden, muss der individuelle Zugang zu allen Lebensbereichen ermöglicht werden.
Zu diesen Lebensbereichen gehört das Wohnen als wichtiger Bestandteil (Norbert Schwarte & Ralf Oberste-
Ufer, 2001, S.22). Das institutionelle Wohnen steckt im Wandel. Zusätzlich zu den kollektiven Wohnformen
werden alternative Wohnformen gewünscht und umgesetzt, die ein individuelles und möglichst
selbstständiges Wohnen ermöglichen sollen (Eidgenössisches Departement des Innern (EDI), 2018b, S.34).
Prägend für diesen Wandel ist unter anderem die zunehmend integrativ geschulten Kinder mit Behinderung
(Kanton Luzern, 2019, S.67). Dadurch wächst eine neue Generation mit einer selbstbestimmteren
Anspruchshaltung heran, welche mehr Wahlmöglichkeiten einfordert. Individualisierte Lösungen wie eigene
Wohnformen oder integrierte Arbeitsformen, auch in Kombination aus ambulanten und stationären
Leistungen, werden deshalb in Zukunft an Bedeutung gewinnen (ebd.). Die Entwicklung wurde in den letzten
Jahren in der Schweiz durch die Einführung des Assistenzbeitrages sowie eine zunehmende Diversifizierung
von spezifischen Wohnangeboten aufgegriffen (EDI, 2018b, S.34). Diese orientieren sich am Grundsatz
eines selbstbestimmten Lebens, sollen stärker an den individuellen Bedürfnissen von Menschen mit
Behinderung ausgerichtet werden und Wahlmöglichkeiten gewährleisten (ebd.). Der UNO-Schattenbericht
der Inclusion Handicap (2017) legt jedoch klar dar, dass der Zugang zu einem selbstbestimmten Wohnen mit
erheblichen Schwierigkeiten für Betroffene verbunden ist (S.97). Auf diese wird im Verlauf der Arbeit näher
eingegangen.

Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit der Thematik des selbstbestimmten Wohnens für Menschen
mit Behinderung. Durch die Ausführung der aktuellen Rahmenbedingungen wird ein grundlegendes
Verständnis von Behinderung und Wohnen und deren rechtlichen Grundlagen geschaffen. Im Weiteren geht
es um die aktuell geltenden Ansätze und den Vergleich zu Projekten und Wohnformen in europäischen
Ländern. Ziel dieser Arbeit ist die Darlegung von Handlungsmöglichkeiten zu selbstbestimmtem Wohnen

                                                                                                         9
im Kanton Luzern. Abschliessend sollen der Bezug und der Handlungsbedarf der Sozialen Arbeit erläutert
werden.

1.2 Motivation
Erwachsene Menschen mit körperlicher Behinderung leben aktuell häufig bei ihren Eltern oder in
Institutionen (Bundesamt für Statistik (BFS), 2015). Durch das Arbeiten in ebensolchen Institutionen sind
wir beide in den Kontakt mit betroffenen Personen gekommen. Dabei wurde uns bewusst, dass besonders
junge Erwachsene vermehrt den Wunsch nach selbstbestimmtem Wohnen äussern. Im Austausch mit einer
Person, die mit der Umsetzung von selbstbestimmtem Wohnen beschäftigt ist, erfuhren wir, dass dieses
Vorhaben nicht bedarfsgerecht begleitet wird oder die Angebote dazu zu wenig bekannt sind. Weiter können
fehlendes Selbstvertrauen, die Angst vor der Verantwortung und dem immensen Aufwand Faktoren sein, die
Menschen bei der Umsetzung von selbstbestimmtem Wohnen hindern. Die vielgehörte Aussage aus der
Praxis «so wird das schon immer gemacht, wir sind gut damit gefahren» reicht uns nicht als Antwort auf die
Frage nach Veränderung und Entwicklungspotential. So möchten wir durch die vertiefte Auseinandersetzung
mit dieser Thematik ein besseres Verständnis und mögliche Lösungsansätze entwickeln und die daraus
entstehenden Herausforderungen der Sozialen Arbeit aufzeigen.

1.3 Fragestellung
Aus der Ausgangslage ergeben sich drei Fragestellungen, die zur Gliederung der Bachelorarbeit dienen. Sie
werden nachfolgend kurz erläutert.

Um ein begriffliches und theoretisches Verständnis von Wohnen und Behinderung, deren Einflüsse und
Entwicklungen zu erfassen, wird folgende Fragestellung beantwortet:

1. Welche Bedeutung hat Wohnen im Zusammenhang mit Behinderung und wie sehen die
strukturellen Rahmenbedingungen in der Schweiz respektive im Kanton Luzern aus?

Weiter geht es darum, verschiedene Wohnformen aus dem In- und Ausland vorzustellen, um
Erfahrungswissen zu nutzen und Inspiration für mögliche Entwicklungsschritte im Kanton Luzern zu
erhalten. Daher lautet die zweite Fragestellung:

2. Welche umgesetzten Projekte / Wohnformen können eine Vorbildfunktion für den Kanton Luzern
einnehmen?

Da die vorgestellten Wohnformen unterschiedlichen rechtlichen, gesellschaftlichen und strukturellen
Rahmenbedingungen unterstellt sind, müssen diese bei einer möglichen Anwendung im Kanton Luzern
berücksichtigt werden. Für die Professionellen der Sozialen Arbeit hat die Entwicklung von Wohnen
grundlegende Änderungen zur Folge. Im dritten Teil werden diese und die daraus entstehenden Aufgaben
und Herausforderungen beleuchtet. Die Fragestellung dazu lautet:

3. Welche Herausforderungen und Aufgaben ergeben sich aus der Erweiterung des Angebots von
Wohnformen für Menschen mit Behinderung für die Soziale Arbeit?

                                                                                                       10
Für die Beantwortung der formulierten Fragestellungen wurden im Rahmen der Literaturarbeit verschiedene
Quellen wie Bücher, Fachartikel, Zeitschriften oder Internetseiten konsultiert.

1.4 Abgrenzung
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit dem Lebensbereich Wohnen im Kontext von Menschen mit
Körperbehinderung. Dabei wird nicht auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit kognitiv oder
psychischer Behinderung eingegangen. An dieser Stelle ist anzumerken, dass ein Grossteil der Fachliteratur
in diesem Kontext nicht zwischen kognitiver und körperlicher Behinderung unterscheidet. Jedoch bedeutet
selbstständiges Wohnen für Menschen mit kognitiver Behinderung zusätzliche Herausforderungen, auf die
in der weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik nicht eingegangen wird.

Eine weitere Abgrenzung wird im geografischen Bereich vorgenommen. Es werden einzelne, ausgewählte
Modelle oder Projekte im europäischen Raum beleuchtet, welche auf der subjektiven Auswahl der
Autorinnen beruhen. Eine mögliche Anwendbarkeit wird einzig auf den Kanton Luzern und dessen
strukturellen Rahmenbedingungen untersucht. Ergänzend wird angemerkt, dass die vorliegende
Bachelorarbeit nicht den Anspruch eines Businessplan eines Zukunftsmodells für den Lebensbereich
Wohnen von Menschen mit Körperbehinderung hat. Sie soll vielmehr eine mögliche Stossrichtung mit
zugrundeliegenden Vorstellungen, Werthaltungen und Zielsetzungen aufzeigen. Die nachfolgenden
Aufgaben und Herausforderungen sind nicht abschliessend zu verstehen und können je nach Wohnform
variieren.

1.5 Zielsetzung und Relevanz für die Soziale Arbeit
Ein leitendes Prinzip der Sozialen Arbeit ist die Ermöglichung ganzheitlicher Teilhabe am Leben für alle
Menschen. Die International Federation of Social Workers (IFSW) und die International Association of
Schools of Social Work (IASSW) (2001) definieren die Ziele wie folgt:

             Soziale Arbeit zielt auf das gegenseitig unterstützende Einwirken der Menschen auf die anderen
             Menschen ihrer sozialen Umfelder und damit auf soziale Integration.

             Soziale Arbeit ist ein gesellschaftlicher Beitrag, insbesondere an diejenigen Menschen oder
             Gruppen, die vorübergehend oder dauernd in der Verwirklichung ihres Lebens illegitim
             eingeschränkt oder deren Zugang zu und Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen ungenügend
             sind. (...)

             Soziale Arbeit hat Menschen zu begleiten, zu betreuen oder zu schützen und ihre Entwicklung zu
             fördern, zu sichern oder zu stabilisieren.

             Soziale Arbeit hat Veränderungen zu fördern, die Menschen unabhängiger werden lassen auch von
             der Sozialen Arbeit. (zit. in AvenirSocial, 2010, S.6)

Um die Ziele der sozialen Integration und der gesellschaftlichen Teilhabe zu erreichen, muss der individuelle
Zugang zu allen Lebensbereichen ermöglicht werden. Zu diesen Lebensbereichen gehört das Wohnen als
wichtiger Bestandteil. Mit Wohnen ist nicht nur die gebaute und gestaltete Umwelt gemeint, sondern

                                                                                                          11
ein zentrales soziales Handlungsfeld des Menschen, in dem Sozialisation, Kommunikation,
          Rekreation und Selbstverwirklichung geschieht. Wohnen (...) bildet für beinahe jeden Menschen
          in unserer Gesellschaft den Mittelpunkt der Lebensgestaltung (...). Wohnen steht mit allen anderen
          menschlichen Lebensbereichen - Arbeit, Freizeit, soziale Beziehungen – in enger Verbindung.
          (Schwarte & Oberste-Ufer, 2001, S.22)

Von weiterer Relevanz beim Thema Wohnen und Behinderung ist die grösstmögliche Selbstbestimmung
jedes Menschen, die im Zentrum stehen soll. Das Ziel der Selbstbestimmung beschreibt der Berufskodex der
Sozialen Arbeit im folgenden Grundsatz: «Das Anrecht der Menschen, im Hinblick auf ihr Wohlbefinden,
ihre eigene Wahl und Entscheidung zu treffen, geniesst höchste Achtung, vorausgesetzt, dies gefährdet weder
sie selbst noch die Rechte und legitimen Interessen anderer» (AvenirSocial, 2010, S.8).

Konkret soll diese Bachelorarbeit durch das Aufzeigen verschiedener Wohnformen einen Anstoss zur
zukünftigen Ausgestaltung des Lebensbereichs Wohnen von Menschen mit Körperbehinderung unter der
Berücksichtigung des Rechts auf Selbstbestimmung sein. Durch den Auftrag der Sozialen Arbeit zur
Sicherung der sozialen Integration und zur Begleitung und Entwicklungsförderung von Menschen soll die
vorliegende Arbeit den Horizont erweitern und mögliche Zukunftsformen von deren Umsetzung im Bereich
des Wohnens von Menschen mit Behinderung vorstellen. Um dem Anspruch des Berufskodex zur Förderung
der Unabhängigkeit gerecht zu werden, werden Möglichkeiten des selbstbestimmten Wohnens aufgezeigt.
Mit den erläuterten Herausforderungen und Aufgaben für die Professionellen der Sozialen Arbeit im dritten
Teil der Arbeit sollen die Voraussetzungen geschildert werden, die notwendig sind um den Zugang und die
Teilhabe von gesellschaftlichen Ressourcen für Menschen mit Behinderung zu gewährleisten.

1.6 Adressatinnen und Adressaten
Primär richtet sich diese Bachelorarbeit an die Professionellen der Sozialen Arbeit, die Menschen mit
Beeinträchtigung unterstützen und begleiten. Der internationale Vergleich und die Beschreibung von
aktuellen Projekten in der Schweiz sollen einen Beitrag zur Reflexion des aktuellen professionellen
Verständnisses und der Unterstützungsleistung bieten. Es geht um die Herausforderungen, die sich aus den
zukünftigen Entwicklungen ergeben und welche Veränderungen in den Begleitungsprozessen notwendig
sind.

Für Menschen mit Behinderung soll die vorliegende Arbeit der Bildung zu aktuellen Strömungen im In- und
Ausland dienen und sie dazu ermutigen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Ihre Forderungen nach
Veränderung und Ausweitung der Möglichkeiten sind ausschlaggebend für die Entwicklung der weiteren
Unterstützungsleistungen. Menschen mit Behinderung sollen durch das Aufzeigen von Alternativen zu
institutionellem Wohnen Zuversicht und Selbstvertrauen gewinnen, um die Wohnform in Zukunft
selbstbestimmt wählen zu können und optimale Begleitung in deren Umsetzung zu erfahren. Das
Entwicklungspotenzial soll zudem auch Eltern, Angehörige und Beistände sensibilisieren und neue
Denkhorizonte ermöglichen. Die genannten Personengruppen sind dabei nicht als abschliessend zu
betrachten, da das Thema Behinderung die ganze Gesellschaft betrifft.

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1.7 Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Bachelorarbeit gliedert sich grob in drei Teile. Dabei wird im ersten Teil, bestehend aus
Kapitel 2 und 3, eine theoretische Betrachtung zur Thematik beleuchtet. Kapitel 2 enthält
Begriffserläuterungen von Wohnen und Behinderung. Kapitel 3 befasst sich mit deren aktuellen Situation in
der Schweiz und im Kanton Luzern. Als zweiter Teil werden in Kapitel 4 Wohnmodelle und -projekte aus
dem In- und Ausland vorgestellt. Zentraler Bestandteil der Arbeit ist die Anwendungsmöglichkeit und
Vorschläge zur Entwicklung des Wohnens für Menschen mit Behinderung im Kanton Luzern, welche in
Kapitel 5 thematisiert wird. Zusammen mit Kapitel 6 bildet dieses den dritten Teil der Arbeit. Kapitel 6
erläutert den Bezug zur Sozialen Arbeit inklusive der Herausforderungen und Aufgaben für die Zukunft.
Zum Schluss folgen in Kapitel 7 und 8 das persönliche Fazit und ein Ausblick.

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2 Theoretische Grundlagen zu Behinderung und Wohnen
Die vorliegende Arbeit befasst sich insbesondere mit der Wohnsituation von Menschen mit
Körperbehinderung. Im nachfolgenden Kapitel werden die fachlichen und theoretischen Grundlagen
erarbeitet, die als Voraussetzung für das Verständnis dieser Arbeit betrachtet werden. Zu Beginn des Kapitels
wird der Begriff «Behinderung» beleuchtet. Es folgt eine Erläuterung der Begriffe «Wohnen» und
«Wohnraum» und eine Darstellung der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen.

2.1 Behinderung
Der Begriff Behinderung gehört zum festen Bestandteil der deutschen Sprache (Ingeborg Hedderich, 2006,
S.19). Zahlreiche humanwissenschaftliche Disziplinen bedienen sich des Behindertenbegriffs (ebd.). Markus
Scholz (2010) betont dabei die Komplexität des Behinderungsbegriffes. Je nach thematischem Hintergrund
beschreibt der Begriff verschiedene Einschränkungen und erfüllt unterschiedliche Funktionen (S.49). An
dieser Stelle scheint die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen, auch Paradigmen
genannt, sinnvoll. Unter dem Begriff Paradigma versteht Hedderich (2006) die Bündelung beispielhafter
Generalisierungen von Meinungen zu wissenschaftlichen Theorien (S.19). Scholz (2010) unterscheidet in der
Auseinandersetzung          mit     dem       Behindertenbegriff         zwischen        dem   personenorientierten,    dem
interaktionistischen, dem systemtheoretischen und dem gesellschaftstheoretischen Paradigma (S.51). In der
nachfolgenden Abbildung werden die vier Paradigmen dargestellt und anschliessend erläutert.

 Behinderung ist                                                     Behinderung als             Bezeichnung
 ein medizinisch fassbarer Sachverhalt                               Medizinische                Personenorientiertes
 «behindert sein»                                                    Kategorie                   Paradigma
 eine Zuschreibung von sozialen Erwartungshaltungen                                              Interaktionistisches
 «als behindert gesehen werden»                                      Etikett
                                                                                                 Paradigma
 als Systemerzeugnis schulischer
 Leistungsdifferenzierungen                                                                      Systemtheoretisches
                                                                     Systemfolge
 «behindert gemacht werden»                                                                      Paradigma
 durch die Gesellschaft gemacht                                      Gesellschaftliches          Polit-ökonomisches
 «behindert werden»                                                  Produkt                     Paradigma
Abbildung 1: Paradigma und Behinderung (Leicht modifiziert nach Hedderich, 2006, S.19)

Personenorientiertes Paradigma: Behinderung resultiert aus einer medizinisch erklärbaren Ausgangslage
(Scholz, 2010, S.51). Behinderung entsteht somit als Folge einer körperlichen Beeinträchtigung (ebd.).

Interaktionistisches       Paradigma:        Behinderung         wird     als    Zuschreibungsprozess      mit    impliziten
Erwartungshaltungen aus der unmittelbaren Umwelt gesehen (Scholz, 2010, S.51). Der Mensch mit
Behinderung entspricht nicht den Erwartungen seiner Umgebung. Behinderung ist in diesem Verständnis das
Resultat sozialer Reaktionen.

Systemtheoretisches Paradigma: Behinderung konstituiert sich in diesem Verständnis als Systemfolge.
Gesellschaftliche Systeme versuchen die Komplexität ihrer Umwelt durch Ausdifferenzierung, also einem
unterschiedlichen Umgang mit verschiedenen Teilen des Gesamtsystems, zu reduzieren. Behinderung
entsteht nach diesem Paradigma also im Nachhinein als Folge dieser Ausdifferenzierung (ebd.).

                                                                                                                         14
Polit-ökonomisches Paradigma: Innerhalb dieses Paradigmas wird davon ausgegangen, dass Behinderung
ein gesellschaftliches Produkt ist, welches unmittelbar mit den sozio- oder politökonomischen Gegebenheiten
bestimmter sozialer Gruppen zusammenhängt (Scholz, 2010, S.51).

Scholz (2010) schafft mit der Zusammenstellung der vorgestellten Paradigmen den allgemeinen
theoretischen Rahmen, um das Phänomen oder die Tatsache einer Behinderung fachwissenschaftlich
beschreiben zu können (S.53). Bei der konkreten Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und
fachwissenschaftlichen Bedeutung des Begriffs Behinderung ist die Auseinandersetzung mit der
Klassifikation der World Health Organisation (WHO) wegen ihrer Transdisziplinarität und Internationalität
von grosser Bedeutung (ebd.).

2.1.1 Klassifikation der WHO
1980 wurde die erste Klassifikation der WHO, die «International Classification of Impairment, Disabilities
and Handicap (ICIDH)» veröffentlicht (Hedderich, 2006, S.20). Scholz (2010) erläutert die im
Rahmenkonzept verankerten drei Dimensionen wie folgt:

Impairment: Bedeutet so viel wie Schädigung. Dabei wird eine Beeinträchtigung hinsichtlich psychischer
oder körperlicher Strukturen beziehungsweise Funktionen gemeint (S.54).

Disability: Meint die aus der Schädigung resultierende Behinderung (ebd.). Hedderich (2006) ergänzt, dass
Disability die Beeinträchtigung einer Fähigkeit aufgrund einer Schädigung bedeutet (S.20).

Handicap: Meint die soziale Benachteiligung. Das Individuum wird benachteiligt und dadurch davon
abgehalten, normale gesellschaftliche Rollenerwartungen zu erfüllen (Scholz, 2010, S.54).

Nach Hedderich (2006) wurde an der ICIDH vielfältige Kritik geübt, da sich die ICIDH vorwiegend am
medizinischen Modell von Behinderung orientierte und die Bedeutung der sogenannten Kontextfaktoren nur
unzureichend miteinbezogen wurde (S.20). 1993 begann die Überarbeitung de ICIDH. Das Ergebnis wurde
zunächst als ICIDH-2 bezeichnet und noch im selben Jahr zu «International Classification of Functioning,
Disability and Health (ICF)» umbenannt.

Die ICF dient aktuell fach- und länderübergreifend als einheitliche und standardisierte Sprache zur
Beschreibung des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und
der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen. Die nachfolgenden Begrifflichkeiten sind
Voraussetzung für das Verständnis der ICF (ebd.):

    o   Körperfunktionen: physiologische Funktionen von Körpersystemen, einschliesslich psychologischer
        Funktionen
    o   Körperstrukturen: anatomische Teile des Körpers, Organe, Gliedmassen und ihre Bestandteile
    o   Schädigungen: Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder -struktur
    o   Aktivität: Durchführung einer Aufgabe oder Handlung durch einen Menschen
    o   Partizipation: Einbezogen sein in eine Lebenssituation (Teilhabe)
    o   Beeinträchtigungen der Aktivität: Schwierigkeiten bei der Durchführung einer Aktivität

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o    Beeinträchtigungen der Partizipation: Probleme, die beim Einbezogen sein in eine Lebenssituation
          erlebt werden
     o    Umweltfaktoren: materielle, soziale, und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben
          (Hedderich, 2006, S.20)

Die ICF überwindet das vielfältig kritisierte lineare Krankheitsmodell, welches in ICIDH enthalten ist. Der
bio-psycho-soziale Ansatz der ICF vereint die medizinischen und sozialen Verständnisse des
Behinderungsbegriffs (ebd.).

Abbildung 2: Bio-psycho-soziales Modell nach ICF (Insos, 2009, S.20)

Das Bundesamt für Statistik (BFS) (2019) fasst diese Ausgangslage in folgender Definition zusammen: Von
einer Behinderung wird gesprochen,

            wenn ein gesundheitliches Problem zu einer Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder -struktur
            einer Person führt (Schädigungen), die Fähigkeit zur Verrichtung gewisser Aktivitäten einschränkt
            (Beeinträchtigungen der Aktivität) oder Tätigkeiten in ihrem sozialen Umfeld erschwert
            (Beeinträchtigungen der Partizipation). Behinderung ist somit nicht nur ein biologisches, sondern
            auch ein soziales Problem, das sich stellt, wenn eine Person aus gesundheitlichen Gründen nicht in
            der Lage ist, grundlegenden Verrichtungen des täglichen Lebens nachzugehen oder voll am
            gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Der Behinderungsbegriff hat folglich viele unterschiedliche und einander bedingende Aspekte. Im weiteren
Verlauf der Arbeit wird der Begriff «Behinderung» respektive «Mensch mit Behinderung» verwendet. Dabei
wird stets das umfassende Verständnis mit all den genannten Aspekten angesprochen.

2.1.2 Körperbehinderung
Diese Arbeit setzt den Fokus auf Menschen mit Körperbehinderung. Dieser Begriff wird erläutert und
konkretisiert, um das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von Körperbehinderung zu konstruieren.

Es gibt zahlreiche Versuche, den Begriff Körperbehinderung zu definieren. Kernelement der meisten
Definitionen ist die Schädigung des Stütz- und Bewegungssystems, welche Auswirkungen auf soziale
Interaktion, soziales Rollenverhalten und Umwelterfahrungen haben. Hedderich (2006) macht folgenden
Definitionsvorschlag in Anlehnung an die ICF:
                                                                                                           16
Körperbehinderung ist ein Beschreibungsmerkmal für einen Menschen, der infolge einer
          Schädigung des Stütz- und Bewegungsapparates, einer anderen organischen Schädigung oder einer
          chronischen Erkrankung in seiner Bewegungsfähigkeit und der Durchführung von Aktivitäten
          dauerhaft oder überwindbar beeinträchtigt ist, so dass die Teilhabe an Lebensbereichen bzw. -
          situationen als erschwert erlebt wird. (S.24)

Martina Schlüter (2010) legt den Fokus auf Behinderungen mit äusserlich sichtbaren Merkmalen, welche den
Unterschied zu den Sinnesschädigungen, zu den Veränderungen im Verhalten und in vielen Fällen zu den
kognitiven Behinderungen bilden (S.17). Sie fasst dabei mögliche, äusserlich sichtbare Merkmale einer
Körperbehinderung zusammen:

    o   Bewegungsveränderungen, die ihre Ursachen u.a. im Muskeltonus, in der Muskulatur selber oder in
        der Knochenstruktur haben können. Hinzu kann eine eingeschränkte Kontrolle oder ein
        Kontrollverlust über die Bewegung vorhanden sein
    o   Benutzung von Hilfsmitteln wie Rollstuhl oder Rollator
    o   Veränderungen der Gesichtsmuskulatur mit Auswirkungen auf die Mimik aus oben genannten
        Ursachen. Hinzu kann ein nicht willkürlich kontrollierbarer Speichelverlust kommen
    o   Veränderungen der Artikulation und Phonation beim Sprechen mit evtl. Nutzung von Hilfsmitteln
        zur Unterstützten Kommunikation
    o   Veränderungen der Körperteile und/oder Körperproportionen. (Schlüter, 2010, S.17)

Statistische Daten zu Menschen mit Behinderung in der Schweiz

Die nachfolgenden Erläuterungen sollen einen Einblick in die Datenlage der Menschen mit Behinderung in
der Schweiz bieten.

Gemäss dem BFS (2009) gibt es zahlreiche Datenquellen, die nach diversen Ansätzen Informationen über
Menschen mit Behinderungen liefern (S.9). So machen die Invalidenversicherung Statistiken mit Angaben
zur Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von Invaliditätsleistungen. Da sich diese Erhebungen jeweils
auf eine bestimmte Versicherungsbranche beziehen, ist es nicht möglich, Doppelzählungen zu
berücksichtigen. Sie entstehen dann, wenn eine Person gleichzeitig Leistungen von mehreren Versicherungen
erhält. Weiter gibt die Statistik der sozialmedizinischen Institutionen (SOMED) Aufschluss darüber, wie
viele Personen in Institutionen für Menschen mit Behinderungen oder in Altersheimen betreut werden.
Jedoch sind Menschen mit Behinderung in Privathaushalten in dieser Erhebung nicht berücksichtigt.

Das BFS erhielt mit der Einführung des Gesetzes über die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen
die Aufgabe, Informationen für die Umsetzung des Verfassungsauftrags zur Gleichstellung von Menschen
mit und ohne Behinderungen bereitzustellen. Zu diesem Zweck wurde die Gleichstellungsstatistik eingeführt.
Diese Statistik geht von einer medizinisch-sozialen Definition von Behinderung aus. Es werden diejenigen
Personen als behindert erfasst, die angeben, ein dauerhaftes gesundheitliches Problem zu haben
(medizinische Definition) und bei den Tätigkeiten des normalen Alltagslebens eingeschränkt zu sein (soziale
Dimension). Diese Definition ist sehr weit gefasst (ebd.). Es ist anzumerken, dass diese Erhebungen lediglich
Erwachsene in Privathaushalten erfassen und diejenigen Personen, die in Institutionen leben, werden nicht

                                                                                                          17
berücksichtigt (BFS, 2009, S.9-10). Zudem dient das subjektive Empfinden der Befragten als Grundlage der
Erhebung dient (ebd.).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es verschiedene Statistiken zu Behinderung in der Schweiz
gibt, wobei die jeweilige Definition des Behinderungsbegriffs entscheidend ist. Gemäss dem BFS (2007)
sind 5 bis 27 Prozent der in Privathaushalten lebenden Bevölkerung von einer Behinderung betroffen, je
nachdem ob Menschen mit einer Schädigung (Seh-, Hör-, Gehschwäche oder Kleinwuchs etc.), Menschen
mit Beeinträchtigung der Partizipation (einer Erwerbstätigkeit nachgehen, Freunde treffen, Abstimmen etc.),
Menschen, die finanzielle Invaliditätsleistungen beziehen (Entschädigung für Hilflosigkeit, IV- oder andere
Rente bzw. Versicherung), Menschen mit Beeinträchtigung der Aktivität (Essen, Körperpflege, Einkaufen
etc.), oder Menschen, die aufgrund eines Gesundheitsproblems Hilfe bedürfen, mitgezählt werden. Gemäss
der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen lebten 2017 knapp 4500 Personen mit der
Hauptbehinderung “Körperbehinderung” in Institutionen für Menschen mit Behinderung (BFS, 2017).

Es gibt keine Datenquelle, die eine umfassende Antwort auf die Frage liefert, wie viele Menschen mit
Behinderungen in der Schweiz leben (BFS, 2009, S.10).

2.2 Wohnen
Die Thematik des Wohnens ist zentraler Bestandteil der vorliegenden Arbeit. Gemäss Theodor Thesing
(2009) ist der Begriff «Wohnen» sehr eng mit den Begriffen «Raum» und «Räumlichkeit» verbunden. Der
Mensch lebt in Räumen und bewohnt Räume. Zudem wird Raum von Menschen aktiv angenommen und
gestaltet (S.26-27). Martin Schneider (2012) ergänzt, dass sich der Mensch durch das Wohnen Räume schafft,
in denen er sich wohlfühlen kann (S.382). Um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, braucht ein
Raum Regeln und Normen (Thesing, 2009, S.28). Einen Raum verweigert zu bekommen oder keinen Raum
zu haben, weist auf existenzielle Not von Menschen hin. Gemäss Schneider (2012) gibt es ein menschliches
Bedürfnis, abgegrenzte private Räume zu schaffen, in die der oder die Einzelne sich zurückziehen kann
(S.410). Avishai Margalit (1999) definiert im Zusammenhang mit Wohnen den Begriff «Privatsphäre»: «Die
Privatsphäre meint jenen Raum, welcher der Kontrolle des Einzelnen unterliegt» (S.241).

2.2.1 Funktionen des Wohnens
Thesing (2009) schreibt dem privaten Raum, respektive der Wohnung weitere, differenzierte Funktionen zu.
So betrachtet er die Wohnung...

    o   …als Raum für Geborgenheit, Schutz und Sicherheit: Die Verfügung über eigenen Wohnraum und
        deren Zugänglichkeit bietet Schutz vor sozialer Kontrolle und ist ein Indikator für Autonomie (S.35).
    o …als Raum für Selbstverwirklichung und Selbstverfügung: Die Wohnung gilt in unserer
        Gesellschaft als ein Bereich, den der Mensch gestalten kann und über den er verfügen kann (Thesing,
        2009, S.37). Die eigene Wohnung eröffnet die Möglichkeit, den Raum nach eigenen Vorstellungen
        und eigenem Willen zu verändern und etwas Persönliches zu schaffen. Jedoch ist anzumerken, dass
        diese Selbstverwirklichung nicht grenzenlos ist. So liegen Begrenzungen durch ökonomische
        Bedingungen, die Architektur, das Mietrecht und die Mietpraxis vor (ebd.)

                                                                                                          18
o …als Raum für Selbstdarstellung und Demonstration von sozialem Status: Der Mensch prägt durch
        seinen Eingriff und seine Gestaltung die Wohnatmosphäre und die davon ausgehende Ausstrahlung
        (Thesing, 2009, S.41). Die Wohnung eignet sich zur symbolischen Vermittlung des Selbstbildes an
        die soziale Umwelt. In der Soziologie wird diese Funktion als Statussymbol bezeichnet (ebd.).
    o … als Raum für Beständigkeit und Vertrautheit: Thesing (2009) bezeichnet eine Wohnung dann als
        wohnlich, wenn sich der Mensch in seiner Wohnumwelt mit Dingen umgeben kann, die ihm vertraut
        sind. Ständige Veränderungen in der Wohnumwelt können die Beziehungsfähigkeit eines Menschen
        gefährden und wirken sich negativ auf seine psychische Stabilität sowie die Identitätsbildung aus.
        Dies gilt einerseits für den Raumwechsel und andererseits für den Wechsel von Bezugspersonen
        (S.36).
    o   … als Raum für Kommunikation und Zusammenleben: Der Mensch ist ein soziales Wesen, welches
        der Gemeinschaft bedarf (Thesing, 2009, S.39). In der Regel ist das Kontakt- und
        Kommunikationsbedürfnis in der eigenen Wohnung ebenso wichtig wie die Schutz- und
        Abwehrbedürfnisse des Menschen. Das Kommunikationsbedürfnis und das Schutzbedürfnis
        scheinen konträre Bedürfnisse zu sein, gehören aber zusammen und müssen in eine Balance gebracht
        werden (ebd.).

2.3 Historische Entwicklungen im Behindertenbereich
Um den heutigen Stand von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft nachvollziehen zu können, wird
eine kurze Schilderung der historischen Entwicklungen im Behindertenbereich vollzogen.

Im europäischen Raum wurde die Betreuung von Menschen mit Behinderungen bis ins 19. Jahrhundert
primär im familiären Kontext erbracht (Aselmeier, 2008, S.41). Es folgten erste systematische und
organisierte Hilfen in Form von frühchristlichen Fremdenheimen, Spitälern und Krankenheimen, die als
Zufluchtsstätten für verschiedenste Gruppen von Notleidenden errichtet wurden (Thesing, 2009, S.69). Auch
die Gruppe der «Lahmen, Siechen und Krüppel», im heutigen Sprachgebrauch die Menschen mit
Behinderung, wurden dort untergebracht. Menschen mit Behinderung in gesonderten Einrichtungen zu
versorgen, hatte neben der christlichen Sorge auch andere Beweggründe (ebd.). So stützte man sich auf die
handlungsleitende Argumentationslinie, dass die Gesellschaft vor Menschen mit Behinderung geschützt
werden müsse (Aselmeier, 2008, S.43). Ab dem 19. Jahrhundert begann dann eine systematische
Aussonderung der Menschen mit Behinderungen in grossen, zentralisierten Anstalten (ebd.). Diese
zentralisierten Anstalten gerieten ab den 1950er Jahren in Kritik (Wiebke Falk, 2016, S.15). Der Kern der
sogenannten Anstaltskritik bestand in der Auseinandersetzung mit Fragen nach den moralisch und fachlich
fragwürdigen Auswirkungen (ebd.). Diese Kritik an Institutionen sind unweigerlich mit den Forschungen
und Erkenntnissen Erving Goffmans (1973) verbunden, der den Begriff «totale Institutionen» einführte (Falk,
2016, S.19). Goffmann bezeichnet mit «totalen Institutionen» soziale Institutionen, die mit der Beschränkung
des sozialen Verkehrs mit der Aussenwelt beschränkenden Charakter einnehmen (Goffman, 1973; zit. in
Falk, 2016, S. 19). Die Aspekte von «Kontrolle», «Autorität» und «Zwang» sind dabei vorherrschend (ebd.).

Folgende, kritische Auswirkungen gemäss Falk (2016) werden den «totalen Institutionen» zugesprochen:

                                                                                                         19
o   Eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft
    o   inadäquater Umgang mit dem, was als vermeintliches «Problem» identifiziert wird
    o   Verhinderung von Erfahrungsmöglichkeiten, die für die individuelle Entwicklung einer Person im
        Sinne einer «Entfaltung der Persönlichkeit» erforderlich sind, d.h. Insolation und dadurch
        Konstruktion von Behinderung
    o   Fremdbestimmung
    o   struktureller Gewalt ausgesetzt zu sein
    o   die Zuschreibung des Merkmals «behindert», was zu einer reduktionistischen Sichtweise auf die
        Person und zu Stigmatisierung führt. (S.24)

Laurenz Aselmeiser (2008) ergänzt in diesem Zusammenhang, dass die Grundmerkmale der «totalen
Institutionen» sowie deren Auswirkungen auch heute noch vielerorts erkennbar sind, jedoch nicht im selben
Ausmass (S.46).

Emanzipation von Menschen mit Behinderung

In den 1960er Jahre entsteht in den USA sogenannte «Independent-Living-Bewegung». Im Rahmen dieser
sozialpolitischen Bürgerrechtsbewegung setzten sich Menschen mit Behinderung, in erster Linie mit
Körperbehinderung, für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung sowie für den damit verbundenen
Kontrollgewinn über das eigene Leben und damit gegen eine Bevormundung durch Fachpersonen ein. Die
Forderungen umfassten unter anderem die Regelung der eigenen Angelegenheiten, die Teilnahme am
täglichen Leben in der Gemeinde, die Ausübung einer Reihe von sozialen Rollen, das Treffen von
Entscheidungen, die zur Selbstbestimmung führen und die Minimierung von psychischen und physischen
Abhängigkeiten von Anderen. Im deutschsprachigen Raum wurden diese Forderungen im Vergleich zu den
USA erst relativ spät aufgegriffen (1970er/1980er Jahre) (ebd.). Der «Prozess der Befreiung aus
Abhängigkeit und Unmündigkeit sowie der Verwirklichung der Selbstbestimmung, einem zentralen Ziel
demokratischer Gesellschaften» wird heute als Emanzipation verstanden. (Klaus Schubert & Martina Klein,
2003; zit. in Dorothée Schlebrowski, 2009, S.27-28). Damit beinhaltet Emanzipation die Entfaltung von
Lebensmöglichkeiten einzelner Menschen oder Gruppen. Im Zusammenhang mit Menschen mit
Behinderung ist die Selbstorganisation und Selbstvertretung der Betroffenen von zentraler Bedeutung
(Schlebrowski, 2009, S.28).

Durch die Bewegung entstanden neue konzeptionelle Leitideen, die sich in Paradigmen wie Normalisierung,
Integration und Inklusion, Empowerment und Selbstbestimmung niederschlugen und die alte Praxis der
Verwahrung, Therapie und Förderung in Frage stellten (Nadine Schallenkammer, 2016, S.37).

2.4 Aktuellere Entwicklungen im Behindertenbereich
Das nachfolgende Kapitel befasst sich mit den aktuelleren Entwicklungen im Behindertenbereich. Dazu wird
zuerst die inhaltlich-fachliche Ebene und anschliessend die politisch-rechtliche Ebene der Entwicklungen
beleuchtet.

                                                                                                      20
2.4.1 Inhaltlich-fachliche Entwicklungen im Bereich Behinderung
Durch die Veränderungen in Politik und Gesellschaft und einer Individualisierung und Pluralisierung der
Lebensformen wird im Behindertenbereich eine Abkehr vom Fürsorgegedanken hin zur selbstbestimmten
Lebensführung und damit die Umgestaltung der Unterstützungssysteme für Menschen mit Behinderung
gefordert (Schlebrowski, 2009, S.23).

2.4.1.1 Normalisierung
Laut Aselmeier (2008) findet das Normalisierungsprinzip seinen Ursprung in Skandinavien und zielt darauf
ab, für Menschen mit Behinderungen weitestgehend normale Lebensbedingungen zu schaffen. Den
Betroffenen soll es ermöglicht werden, dem Grunde nach so zu leben, wie es dem kulturell üblichen Standard
der jeweiligen Gesellschaft entspricht (S.46). Dieses «Normalisierungsprinzip» geht auf den Dänen Niels
Erik Bank-Mikkelsen zurück und wurde in Kooperation mit dem Schweden Bengt Nirje mittels acht Kriterien
konkretisiert (ebd.): Normaler Tagesrhythmus, Trennung von Arbeit - Freizeit - Wohnen, normaler
Jahresrhythmus, normaler Lebenslauf, Respektierung von Bedürfnissen, angemessene Kontakte zwischen
den Geschlechtern, normaler wirtschaftlicher Standard und Standards von Einrichtungen (Walter Timm,
1984, zit. in Thesing, 2009, S.46-47). «Normal» meint dabei die durchschnittlichen Standards des jeweiligen
Altersbereichs einer Gesellschaft (Thesing, 2009, S.47). Bei den Kriterien handelt es sich um normative
Forderungen, die nicht nur der Orientierung für Betreuungspersonen dienen. Es wird auch auf Veränderungen
in der Sozialpolitik, Trägerpolitik und der pädagogischen Praxis abgezielt (ebd.).

2.4.1.2 Integration und Inklusion
Im professionellen Diskurs über Menschen mit Behinderung sind Integration und Inklusion bedeutsame,
vielfach verwendete Begriffe (Falk, 2016, S.25). Es besteht eine langanhaltende Debatte über die Bedeutung
und Verwendung des Begriffs Inklusion. Zudem wird er unterschiedlich verwendet, was seinen
Bedeutungsgehalt verwischt (ebd.).

Der Ansatz der Integration respektive der Inklusion zielte ab den 1970er Jahren ursprünglich auf eine
gemeinsame Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigung ab und
gewann zunehmend an gesellschaftlicher und politischer Bedeutung (René Stalder, Markus Born & Stefania
Calabrese, 2018, S.61). Inklusion und Integration können nicht als Synonyme verstanden werden (ebd.).
Ingrid Mielenz (2017) verwendet den Begriff soziale Integration und versteht darunter die «Einbeziehung
von Menschen oder Gruppen in eine Gemeinschaft, von der diese aus unterschiedlichsten Gründen
ausgeschlossen sind» (S.489). Unter Integration wird lediglich eine strukturelle Eingliederung in die
Gesellschaft verstanden (Helmut Schwalb & Georg Theunissen, 2012, S.13). Im Gegensatz zum Begriff der
Integration ist der Inklusionsbegriff weitergehender gefasst (Aselmeier, 2008, S.59). Der Inklusionsbegriff
beleuchtet «das Ganze» (Stalder, Born & Calabrese, 2018, S.61). Inklusion soll hervorheben, dass jeder
Mensch in seiner Verschiedenartigkeit akzeptiert werden muss und daher gleichberechtigt am Leben in allen
Gesellschaftsbereichen teilhaben kann. Ergänzend dazu ist mit Inklusion der politische Prozess
gesellschaftlicher Veränderungen hin zum Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung
gemeint (Mielenz, 2017, S.489). Eine inklusive Gesellschaft würde sich demnach dadurch auszeichnen, dass

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