Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut

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Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Wünsche für die Zukunft
       Was ExpertInnen der ILO empfehlen

                                           Sabine Ferenschild (Hrsg.)
Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Impressum                                   Abkürzungsverzeichnis
Bonn, Oktober 2018
Herausgeber:                                ACT            Action, Collaboration, Transformation
SÜDWIND e.V. –
                                            ADD            Abu Dhabi-Dialog
Institut für Ökonomie und Ökumene
Kaiserstraße 201                            CAJ            Christliche Arbeiterjugend
53113 Bonn                                  CLRA           Center for Labour Research & Action
Tel.: +49 (0)228-763698-0
                                            DGB            Deutscher Gewerkschaftsbund
info@suedwind-institut.de
www.suedwind-institut.de                    EGMR           Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Bankverbindung:                             EMRK           Europäische Menschenrechtskonvention
KD-Bank                                     IASEW          Indian Academy for Self Employed Women
IBAN: DE45 3506 0190 0000 9988 77
                                            ILO            International Labour Organization / Internationale Arbeits-
BIC: GENODED1DKD
                                                           organisation
Herausgeberin:
                                            ICSE           Internationale Klassifikation nach der Stellung im Beruf
Dr. Sabine Ferenschild
                                            IGB            Internationaler Gewerkschaftsbund
Redaktion und Korrektur:
Florin Ameln, Vera Schumacher               IGH            Internationaler Gerichtshof

V.i.S.d.P.: Martina Schaub                  ILC            International Labour Conference / Internationale Arbeits-
                                                           konferenz
Gestaltung und Satz:
                                            ISS            International Institute of Social Studies
www.pinger-eden.de
                                            IStGH          Internationaler Strafgerichtshof
Druck und Verarbeitung:
Brandt GmbH, Bonn,                          IWF            Internationaler Währungsfonds
gedruckt auf Recycling-Papier               IYWC           International Young Christian Workers / Internationale
Titelfoto:                                                 christliche Arbeiterjugend
shock/fotolia.de, SÜDWIND                   JACODeWU       Joint Action Committee Decent Work Uganda
                                            MBO            auf Mitgliedschaft basierende Organisation(en)
Für den Inhalt dieser Publikation ist
                                            MFA            Migrant Forum Asia
allein SÜDWIND e.V. verantwortlich. Die
hier dargestellten Positionen geben nicht   MRA            Migrant Recruitment Advisor
den Standpunkt von Engagement Global        MRS            Migrants Rights Violation Reporting System
gGmbH und dem Bundesministerium für         NRO            Nichtregierungsorganisation(en)
wirtschaftliche Zusammenarbeit und
                                            ORP            Organization and Representation Programme
Entwicklung wieder.
                                            SDG            Sustainable Development Goals / Nachhaltige Entwick-
Gefördert aus Mitteln des Kirchlichen
                                                           lungsziele
Entwicklungsdienstes durch Brot für die
Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst,    SEWA           Self Employed Women‘s Organisation
durch den Evangelischen Kirchenverband      SV-Ausschuss   Sachverständigenausschuss
Köln und Region sowie die Evangelische
                                            UN             United Nations / Vereinte Nationen
Kirche im Rheinland.
                                            WIEGO          Women in Informal Employment: Globalizing and
                                                           Organizing
                                            WTO            World Trade Organisation / Welthandelsorganisation
Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL
im Auftrag des

Gefördert durch:

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Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Inhalt

Einleitung                                                                     4

Herausforderungen für das nächste Jahrzehnt und Wünsche für die Zukunft
Sudhir Katiyar / PRAYAS - Center for Labour Research and Action                6

100 Jahre ILO – „Auf, auf, wir stehen erst am Anfang!“
Der weite Weg zu menschenwürdiger Arbeit für alle.
Sarah Prenger / Internationale Christliche Arbeiterjugend                      8

Welches sind die größten Herausforderungen für die ILO im nächsten Jahrzehnt
und was wünschen Sie sich für die Zukunft der ILO?
Prossy Nambatya, Koordinatorin JACODeWU                                        11

Schritt für Schritt zu umfassenderen Formen der Interessenvertretung
William Gois / Migrant Forum Asia                                              13

Verteidigung eines auf Rechten basierenden Ansatzes zur
Regulierung der Arbeitsmigration
Nicola Piper / Asia Pacific Migration Centre der Universität Sydney            15

Informell ist normal
Karin Pape / WIEGO                                                             18

Die ILO und der informelle Sektor - noch ein weiter Weg
Namrata Bali / SEWA                                                            21

‘Menschenwürdige Arbeit für Sexarbeiter*innen‘ als Geschenk
zum 100-jährigen Geburtstag der ILO
Karin Astrid Siegmann /International Institute of Social Studies (ISS)
der Erasmus Universität Rotterdam                                              23

Die ILO stellt sich den Herausforderungen des Wandels der Arbeitswelt
Claudia Menne, DGB                                                             26

Internationalisierung der Tarifpolitik
Frank Hoffer / ACT-Initiative                                                  28

Absicherung des Überwachungsmechanismus und des Streikrechts als
zentrale Herausforderungen für die ILO in den nächsten 10 Jahren
Reingard Zimmer / Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin                   30

Sanktionsmacht entwickeln!
Markus Demele / Kolping International                                          32

                                                                                    3
Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Einleitung

    Herzlichen Glückwunsch, ILO! Im Jahr 2019 feiert die                                 Stimmen zu Gehör bringen, die auf noch Fehlendes
    Internationale Arbeitsorganisation (International La-                                und auf notwendige zukünftige Weichenstellungen
    bour Organisation - ILO) ihr hundertjähriges Jubiläum.                               hinweisen. Denn die ILO steht vor großen Herausfor-
                                                                                         derungen: Nach wie vor sind die Arbeitswelten in for-
    Die ILO wurde in einer Zeit gegründet, in der die Welt                               melle und informelle Bereiche gespalten. Arbeitsmig-
    infolge des Ersten Weltkriegs in Schutt und Asche lag                                rantInnen erleben überall auf der Welt, dass sie ihrer
    und ArbeiterInnen und BürgerInnen seit Jahrzehnten                                   Rechte beraubt werden. Nicht einmal die Kernarbeits-
    unter den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und                                     normen der ILO, die als Menschenrechte bei der Arbeit
    sozialen Verwerfungen des 19. Jahrhunderts litten. Mit                               gelten, konnten bisher überall durchgesetzt werden,
    der ILO wollten die Gründungsstaaten Rahmenbedin-                                    geschweige denn existenzsichernde Löhne. Für neue
    gungen für eine menschenwürdigere Arbeit schaffen,                                   Herausforderungen wie die Arbeitsformen, die im
    die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Menschen                                    Zuge der Digitalisierung entstehen oder wegfallen,
    verbessern und so einen Beitrag zur Sicherung des                                    müssen Antworten gefunden werden, damit aus dem
    Weltfriedens leisten.                                                                technologischen Fortschritt ein sozialer Fortschritt für
                                                                                         alle wird. Auf diese und weitere Aspekte und Herausfor-
    Vieles hat die ILO in den vergangenen Dekaden er-                                    derungen gehen die folgenden Beiträge ein, für die die
    reicht: Trotz zahlreicher Rückschläge aufgrund des                                   HerausgeberInnen verschiedene AutorInnen aus Euro-
    Zweiten Weltkrieges, politischer Konflikte wie dem                                   pa, Asien und Afrika gewonnen haben.
    ’Kalten Krieg’ oder wachsender Verteilungskämpfe
    und Interessensgegensätze angesichts der Grenzen
    des Wachstums hat die ILO maßgeblich zur Gestaltung                                  Zur Struktur
    des Völkerrechts beigetragen und ein verbindliches,
    internationales Arbeitsrecht geschaffen. Auf dieses                                  Alle AutorInnen stehen mit der Deutschen Kommissi-
    können sich zum Beispiel Beschäftigte, die auf lokaler                               on Justitia et Pax und / oder dem SÜDWIND-Institut in
    Ebene um ihre Rechte kämpfen, berufen und das Be-                                    einer langjährigen partnerschaftlichen Arbeitsbezie-
    schwerde- und Aufsichtssystem der ILO nutzen.1 Aus                                   hung. Gemeinsam arbeiten wir zu besseren Arbeits-
    den Debatten um die Arbeitsbedingungen in globa-                                     bedingungen in globalen Wertschöpfungsketten, zu
    len Wertschöpfungsketten, die Nachhaltigkeitsziele                                   einer rechtebasierten Ausgestaltung internationaler
    der Vereinten Nationen oder die menschenwürdige                                      Migration und zu einer Weltwirtschaft im Dienst von
    Gestaltung von Migration sind die ILO und ihr Nor-                                   Mensch und Umwelt. Alle AutorInnen wurden Ende
    menwerk nicht wegzudenken. Dass die ILO nicht nur                                    des Jahres 2017 von uns gebeten, ausgehend von ihren
    eine bedeutende Vergangenheit und Gegenwart hat,                                     jeweiligen Arbeitszusammenhängen, einen kurzen
    sondern auch für die Gestaltung der Zukunft globaler                                 Beitrag mit ihren Wünschen für die Zukunft der ILO zu
    Arbeitswelten eine zentrale Instanz ist, davon sind die                              formulieren.
    HerausgeberInnen dieser Publikation überzeugt.
                                                                                         Wir haben die Beiträge nach inhaltlichen Kriterien an-
    Dennoch soll diese letzte Veröffentlichung in einer                                  geordnet, auch wenn die Grenzen hier fließend sind:
    Reihe von insgesamt fünf Studien zur ILO im Rahmen                                   Wir beginnen mit Beiträgen, die eher genereller Na-
    eines SÜDWIND-Projektes nicht einfach ein Lob auf das                                tur sind (Sudhir Katiyar, Sarah Prenger, Prossy Nam-
    Geleistete sein. Vielmehr wollen wir mit den Beiträ-                                 batya). Darauf folgen Beiträge, die sich auf die Fragen
    gen internationaler ExpertInnen in dieser Publikation                                von Migration (William Gois, Nicola Piper) und auf den

    1 Zu den Verfahren, Strukturen und Instrumenten der ILO siehe Ferenschild, Sabine (2017): Mission gescheitert? Die Internationale Arbeitsorganisation und ihr Einsatz für
      menschenwürdige Arbeit; URL: https://goo.gl/yxux3f (letzter Abruf: 19.09.2018)

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Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
informellen Sektor (Karin Pape, Namrata Bali, Karin
Astrid Siegmann) konzentrieren. Den Abschluss bilden
Beiträge, die sich mit den Zukunftsinitiativen der ILO,
Tarifpolitik und Streikrecht (Claudia Menne, Frank Hof-
fer, Reingard Zimmer) und der Sanktionsmacht der ILO
(Markus Demele) beschäftigen.

Die vorliegende Publikation erscheint gleichzeitig auf
Deutsch, herausgegeben vom SÜDWIND-Institut, und
auf Englisch, herausgegeben von der Deutschen Kom-
mission Justitia et Pax. Sie bietet allen Interessierten
hoffentlich Gedankenanstöße und Impulse für nötige
künftige Weichenstellungen in der ILO.

Dr. Sabine Ferenschild				                            Dr. Hildegard Hagemann
SÜDWIND-Institut				                                  Deutsche Kommission Justitia et Pax

                                                                                            5
Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Herausforderungen für das
    nächste Jahrzehnt und Wünsche
    für die Zukunft
    Sudhir Katiyar / PRAYAS - Center for Labour Research and Action, Indien

    Ich arbeite bei einer zivilgesellschaftlichen Organi-        Sicherstellung der Vertretung der enormen Masse
    sation, die mit informellen ArbeiterInnen in Indien          der Beschäftigten im informellen Sektor: Die ILO ba-
    zusammenarbeitet. Wir haben bereits mit der Inter-           siert auf einer dreiteiligen Struktur, die Arbeitgebersei-
    nationalen Arbeitsorganisation (ILO) zusammenge-             te, Arbeitnehmerseite und den Staat miteinander ver-
    arbeitet, aber nicht in größerem Umfang. Wir waren           bindet. Jedoch ist die Mehrheit der ArbeitnehmerInnen
    hauptsächlich als BeraterInnen für einige ILO-Projekte       nicht mehr durch die bestehenden Gewerkschaften
    tätig. Obwohl die Projekte, an denen wir beteiligt wa-       vertreten. Die meisten ArbeitnehmerInnen sind dem
    ren, sich mit den ArbeitnehmerInnen des informellen          informellen Sektor zuzuordnen und gehören keiner
    Sektors beschäftigten, scheinen diese insgesamt nur          Gewerkschaft an. Tatsächlich kann es Widersprüche
    eine untergeordnete Rolle bei den Aktivitäten der ILO        zwischen der Klasse der bestehenden Aristokratie der
    zu spielen. So sind zum Beispiel die in diesen ILO-Pro-      ArbeiterInnen und den informellen ArbeiterInnen ge-
    jekten beschäftigten MitarbeiterInnen auf Projektbasis       ben.2 Deshalb muss die ILO neu überlegen, welche Ar-
    eingestellt und wenn das Projekt endet, endet auch           beitnehmerInnen sie vertritt.
    ihre Beschäftigung bei der ILO. Meine Kritik ist auf
    diese Erfahrung zurückzuführen. Sie beruht nicht auf         Verbindung zu den Bewegungen der informellen/
    genauer Forschung. Wenn also einige Beobachtungen            nicht angemeldeten ArbeitnehmerInnen: Die ILO
    nicht mit der Realität übereinstimmen, möchte ich            verfolgt eine Politik der ausschließlichen Zusammenar-
    mich im Voraus entschuldigen.                                beit mit anerkannten Gewerkschaften/Vereinigungen.
                                                                 Diese Politik lässt jedoch die Masse der im informellen

    D    ie Vision der ILO, dass ein universeller, dauerhafter
         Frieden nur dann hergestellt werden kann, wenn
    er auf sozialer Gerechtigkeit beruht, bleibt so aktuell
                                                                 Sektor beschäftigten ArbeitnehmerInnen außer Acht.
                                                                 In den meisten Ländern mit einem hohen Anteil an in-
                                                                 formell Beschäftigten entstehen nach und nach Bewe-
    wie vor 100 Jahren, als die ILO gegründet wurde. Die         gungen dieser ArbeitnehmerInnen. Je nach Situation
    Art der Arbeit hat sich jedoch enorm verändert. Das          im entsprechenden Land können sie unter unterschied-
    Schwinden der staatlich geführten Volkswirtschaften          licher Führung auftreten. Als Beispiel seien hier die Be-
    hat zur allgemeinen Akzeptanz des auf Liberalisierung        wegungen der hispanischen ArbeitnehmerInnen in
    und Privatisierung beruhenden Wachstumsmodells               den USA genannt, die die Bürgerrechte einfordern und
    und des ungezügelten Vormarsches des Kapitalismus            die informell Beschäftigten in diesem Land vertreten.
    geführt. Dies hatte schwerwiegende Folgen für die Ar-        Die ILO sollte bereit sein, eine Verbindung mit diesen
    beitnehmerInnen. Das Aufkommen von Out-Sourcing              vielfältigen Bewegungen einzugehen, die die informel-
    bedeutet, dass sich die ArbeitnehmerInnen nicht mehr         len ArbeitnehmerInnen und ihre Bestrebungen nach
    so einfach zusammenschließen können. Die Produkti-           einem menschenwürdigen Leben vertreten.
    on wird zu unzähligen (Sub-)ProduzentInnen ausgela-
    gert, die über riesige und manchmal transkontinentale        Dokumentieren von Lieferketten: Da die Produktion
    Regionen verteilt sind. Während die Aristokratie der         auf eine Vielzahl von ProduzentInnen übertragen wird,
    Arbeiterklasse nach wie vor sozialen Schutz genießt,         wird es umso schwieriger, die ArbeitnehmerInnen zu
    übernimmt die riesige Masse von ArbeiterInnen, die           organisieren. Eine der Hauptaufgaben besteht darin,
    oft MigrantInnen aus anderen Regionen und Ländern            die Lieferkette und insbesondere die in der Lieferket-
    sind, die Schwerstarbeit zu einem bloßen Mindestlohn         te beschäftigten Arbeitskräfte zu dokumentieren. Die
    ohne jeglichen sozialen Schutz. Andererseits verändert       ILO muss diesen Prozess vereinfachen. Die Lieferketten
    die Technologie die Art der Arbeit selbst. Mit dem Ver-      sind die neuen Fabriken. Das Wachstum der sozialen
    schwinden vieler traditioneller Arbeitsformen entste-        Medien und des Internets eröffnet die Möglichkeit der
    hen neue Formen der Beschäftigung, die die Definition        Entstehung neuer Formen der Kollektivierung, die die
    der Arbeiterklasse erschweren.                               alten Gewerkschaften ersetzen.

    Dieses veränderte Szenarium stellt neue Herausforde-         2 Dies zeigt sich an den Gewerkschaftsmitgliedern, die Rechtsparteien wählen.
    rungen dar und verlangt kreative Antworten.

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Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Migrationspolitik: Der demographische Wandel in                                  lung, die fast 5 Mio. ArbeiterInnen beschäftigt, erfolgt
der Welt und die bestehenden Einkommensunter-                                    vollständig von Hand und erfordert fast rund um die
schiede führen zu einer Zunahme der Arbeitsmigrati-                              Uhr harte Arbeit. Aufgrund von billigen Arbeitskräften,
on innerhalb der Länder und über die Landesgrenzen                               die durch Schuldknechtschaft gebunden oder die Op-
hinaus. Dies führt zu sozialen Unruhen und ist eine der                          fer von Menschenhandel aus weit entfernten Regionen
Hauptursachen für Instabilität. Die ILO sollte bei der                           sind, lohnt sich eine Mechanisierung finanziell nicht.
Entwicklung des Globalen Paktes der Vereinten Nati-                              Zwölf-Stunden-Schichten werden im industriellen Ar-
onen zur Migration die Führungsrolle übernehmen,                                 beitsumfeld zur Norm. Selbst Mindestlöhne, die bereits
indem sie Arbeitsnormen ausarbeitet, die die Realität                            auf einem sehr niedrigen Niveau festgelegt sind, wer-
der Migration berücksichtigen.3 Sie sollte sich gemein-                          den nicht gezahlt. Das von der ILO propagierte Konzept
sam mit nationalen Regierungen dafür einsetzen, dass                             der menschenwürdigen Arbeit erfasst diese Realität.
die Realität und die Notwendigkeit berücksichtigt                                Dies muss in den Vordergrund der Arbeit der ILO ge-
werden, dass ArbeitnehmerInnen von außerhalb der                                 rückt werden.
Grenzen kommen, und sicherstellen, dass diese Arbeit-
nehmerInnen Rechte genießen, die universell sind und                             Diversifizierte Belegschaft: Die Beschäftigungspoli-
nicht durch nationale Grenzen beeinträchtigt werden.                             tik (der ILO, Einf.d.Red.) scheint auch eine Vorliebe für
                                                                                 Einstellung von Personal aus dem Globalen Norden zu
Hinarbeiten auf einen neuen Sozialpakt/ universel-                               haben. Im Büro in Indien ist die Auffassung weit ver-
le soziale Sicherheit für alle: Während der organisier-                          breitet, dass nur die Expatriates aus den reichen west-
te Sektor schrumpft, nimmt auch die soziale Sicherheit,                          lichen Ländern eine dauerhafte Anstellung genießen.
die bisher mit dem Arbeitsplatz verbunden war, ab.                               Diese Auffassung sollte sich ändern. Die Probleme der
Deshalb ist es notwendig, einen neuen Sozialpakt zu                              Arbeiterklasse sind am schwerwiegendsten im Globa-
entwickeln, der allen ArbeitnehmerInnen ein Mindest-                             len Süden, wo die Arbeitsbedingungen und Löhne an
maß an Sicherheit bietet. Zurzeit existiert eine Bewe-                           die Jahre der frühen Industrialisierung erinnern. Eine
gung hin zu universellen Mindestlöhnen, die sich auch                            stärkere Vertretung dieser Länder auf den verschiede-
über Grenzen hinaus erstrecken, um der Tendenz des                               nen Entscheidungsebenen (der ILO, Einf.d.Red.) wird
Kapitals, die Löhne auf ein bloßes Minimum zu reduzie-                           diese Auffassung ändern. Man könnte auch überlegen,
ren, Einhalt zu gebieten. Die ILO sollte die Bewegung                            den Sitz der ILO aus der kühlen Klimazone von Genf in
für einen universellen globalen Mindestlohn als erstes                           ein Land des Globalen Südens zu verlagern, in dem die
Element des „Universal Social Security Compact“ an-                              ArbeitnehmerInnen mit den größten Herausforderun-
führen.4 Dieser Pakt sollte die unzähligen Arbeitsnor-                           gen konfrontiert werden.
men ersetzen, die von verschiedenen Branchengrup-
pen gefördert werden.

Verlagerung des Schwerpunkts auf den Globalen
Süden: So wie viele andere internationale Instituti-
onen wird auch die ILO nach wie vor vom Globalen
Norden dominiert. Was die Beschäftigten und die poli-
tische Agenda angeht, so scheint der Schwerpunkt vor
allem auf den Themen zu liegen, die die entwickelte
westliche Wirtschaft beherrschen. Dies zeigt sich in
der aktuellen Beschäftigung mit der Zukunft der Ar-
beit. Auch wenn das Thema selbst und besonders für
eine Organisation wie die ILO, die sich mit der Arbeit
beschäftigt, nach wie vor Aufmerksamkeit verdient,
bleibt die Tatsache bestehen, dass in den Ländern des
Globalen Südens große Menschenmassen in Afrika und                                                 Sudhir Katiyar arbeitet bei PRAYAS – Center for
Asien weiterhin mit Problemen wie Arbeitslosigkeit                                                 Labour Research and Action (CLRA), einer indischen
und Armut zu kämpfen haben. Sektoren wie Landwirt-                                                 Nicht-Regierungsorganisation. CLRA setzt sich für die
schaft, Baugewerbe und die Gewinnung von Steinen                                                   Interessen von Beschäftigten in informellen Sektoren
und Erden sind weiterhin arbeitsintensiv und wenig                                                 wie Baumwollproduktion und Ziegeleien ein.
mechanisiert, da die Mechanisierung wegen der nied-
rigen Lohnkosten unwirtschaftlich ist. Um es an einem                                              http://clra.in/
Beispiel aus Indien zu verdeutlichen: Die Ziegelherstel-

3 Der „Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“ (Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration)
		wird im Dezember 2018 von den Vereinten Nationen in Marrakesch / Marokko angenommen.
4		Vgl. hierzu http://www.international-convention-for-minimum-wage.org/ (Anm. d. Red.)

                                                                                                                                                           7
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100 Jahre ILO – „Auf, auf, wir stehen
    erst am Anfang!“ Der weite Weg zu
    menschenwürdiger Arbeit für alle
    Sarah Prenger / Internationale Christliche Arbeiterjugend

    100        Jahre Internationale Arbeitsorganisation.
               100 Jahre einer Institution der Vereinten
    Nationen, deren beschlussfassende AkteurInnen über
                                                                  “An meinem Arbeitsplatz erlebe ich
    Regierungen hinaus auch VertreterInnen von Arbeit-            auch psychische Gewalt. Sie gebrau-
    geber- und Arbeitnehmerorganisationen sind. 100               chen Schimpfwörter, sie schreien und
    Jahre einer Institution mit dem selbst definiertem Ziel
                                                                  verletzen uns, weil wir Frauen sind. Wir
    «Sicherstellung menschenwürdige(r) Arbeit für alle
    Menschen auf der Welt».5 100 Jahre einer internationa-        schweigen, weil wir den Job behalten
    len Institution, die 187 Mitgliedsstaaten aus aller Welt      wollen. Die Gewalt, die wir erleben, ist
    verzeichnen kann. Dies ist wahrlich ein Anlass, innezu-
                                                                  beides – horizontal und vertikal: Horizon-
    halten, auf diese hundertjährige Geschichte und die
    Erfolge der ILO zu blicken sowie diese zu beglückwün-         tal, da die männlichen Kollegen, die die
    schen!                                                        gleiche Arbeit machen wie wir, gewalt-
                                                                  tätig und belästigend sind, und vertikal,
    Zugleich sollte dieser feierliche Moment uns nicht
    darüber hinwegtäuschen, dass wir trotz dieses hun-            wenn es von einem Manager kommt als
    dertjährigen Bestehens nicht von menschenwürdiger             Machtbeweis und Machismo gegenüber
    Erwerbsarbeit weltweit und für alle Bevölkerungsgrup-
    pen sprechen können. Dies wird auch angesichts von
                                                                  uns. Sie geben Mehrarbeit für den glei-
    Erfahrungsberichten junger ArbeitnehmerInnen aus              chen Lohn, sehen uns als Ware an, als
    verschiedenen Kontinenten deutlich:                           Objekte.”

                                                                  (28 Jahre, weiblich, Nicaragua).

              “Ich habe meine Familie verlassen, um meinen Mann bei der Versorgung
              unserer Kinder in ihrer Bildung und der Bewältigung unserer finanziellen
              Nöte zu unterstützen, und ging nach Hongkong. In meinem ersten Arbeits-
              verhältnis hatte ich kein eigenes Zimmer, sondern übernachtete einfach im
              Wohnzimmer. Einige Monate später wurde ich von meinem Arbeitgeber
              sexuell belästigt, kündigte darauf meinen Arbeitsvertrag und bat meine
              Vermittlungsagentur, mich zurück in die Philippinen zu senden. Die Agen-
              tur half mir absolut nicht.”

              (28 Jahre, weiblich, Philippinen)

                                                               5 Vgl. https://www.ilo.org/berlin/lang--en/index.htm (letzter Abruf: 09.01.2018).

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Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Dies sind keine Einzelfälle. Beim Weltrat der Internatio-
                                                   nalen Christlichen Arbeiterjugend 2016 diagnostizier-
                                                   ten Delegierte aus verschiedensten Ländern gemein-
                                                   same Herausforderungen: unsichere, prekäre Jobs, die
                                                   keine Zukunftsplanung zulassen – wie beispielsweise
                                                   Befristungen, Leiharbeit, aber auch Scheinwerkverträ-
                                                   ge; Reduzierungen oder das Fehlen sozialer Sicherung;
                                                   Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes und der
                                                   Herkunft; Benachteiligung junger Menschen wegen
                                                   mangelnder Berufserfahrung oder schlichtweg wegen
                                                   des Alters; Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung.
“Ich heiße Steve und arbeite seit drei
                                                   Auf der anderen Seite stehen hoher Druck, (nicht im-
Jahren informell als Müllsammler für               mer bezahlte) Überstunden und Stress sowie informelle
Haushalte. Jede Familie bezahlt mir                Erwerbsarbeit.

auf die Hand zwischen 2.000 und 5.000
                                                   Diese unwürdigen Erwerbsarbeitsbedingungen hin-
CFA-Francs“ im Monat, doch das ist sehr            dern junge Menschen daran, ihr Umfeld und die Ge-
unsicher, weil sie manchmal gar nicht              sellschaft mit- oder auch nur ihr eigenes Leben zu ge-
                                                   stalten. Dabei hätten sie eigentlich ein hohes Interesse
bezahlen. In meinem Fall sieht es so aus,          daran und würden auch am Arbeitsplatz gerne die ei-
als sei ich indirekt angestellt bei AVERDA         genen Potentiale und Verbesserungsideen einbringen.
(eine Privatunternehmen, dass von                  Jedoch machen wir zunehmend die Erfahrung, dass
                                                   ArbeitnehmerInnen an der Organisation und somit der
der Regierung für die Müllabholung                 Mitgestaltung des Arbeitsplatzes gehindert werden. So
bezahlt wird).”                                    berichtet ein 22jähriger CAJler aus Paraguay:

* Währung der westafrikanischen Wirtschafts- und   „Ich arbeite in einer Fabrik, die Kleidung herstellt. Wir
  Währungsunion; entspricht nach www.oanda.com
                                                   arbeiten direkt mit den Chemikalien, mit bloßen Hän-
  3,05 Euro bis 7,62 Euro (Stand: 16.01.2018).
                                                   den, ohne Arbeitsschutz. Unsere Chefs beobachten ge-
                                                   nau, wenn sich Gruppen bilden und wir anfangen, uns
                                                   über unseren Arbeitsplatz zu unterhalten. Schon mehr-
(22 Jahre, männlich, Gabun)                        fach wurden Kollegen deshalb entlassen. Deshalb ver-
                                                   suche ich nun, mich außerhalb der Firma mit meinen
                                                   Kollegen zu treffen.”

                                                   Von der Hilflosigkeit unter den ArbeitnehmerInnen in
                                                   einem Unternehmen der Energiebranche erzählt eine
“Seit vier Jahren arbeite ich nun mit              26-jährige Deutsche:

befristeten Verträgen, die überwiegend             “Ohne Betriebsrat waren wir ohnehin aufgeschmissen.
Wochen- oder Tagesverträge sind und                Schon vor meiner Zeit in der Firma hatte sich ein Ar-
wöchentlich oder täglich geschlossen               beitnehmer um die Aufstellung eines Betriebsrates be-
                                                   müht, jedoch erfolglos: Ihm wurde vorher gekündigt.
werden. Die Vermittlungsagentur lässt              Danach traute sich niemand mehr. Da mein Vertrag
dich einen Tag oder ein paar Stunden               kurze Zeit später auslief, war mir schon vorher bewusst,
                                                   dass er nicht mehr verlängert werden würde. Zumin-
vorher wissen, dass du zur Arbeit kom-
                                                   dest musste ich diesmal nicht auf eine Verlängerung
men musst. Wenn du nicht schnell                   hoffen, sondern versuchte direkt, eine neue Anstellung
genug reagierst, hast du deinen Job                zu finden.“

verloren und kein Geld an diesem Tag
                                                   Solche Erfahrungen untergraben das Vertrauen junger
verdient.”                                         ArbeitnehmerInnen in den sozialen Dialog und seine
                                                   Institutionen, namentlich die ILO.

                                                   Über diese Fälle von Verhinderung von Arbeitneh-
                                                   merorganisation oder des “union busting” stellen sich
(26 Jahre, männlich, Belgien)                      jedoch auch strukturelle Fragen: Inwiefern schützen

                                                                                                               9
Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
Gesetze zum Schutz organisierter ArbeitnehmerInnen         Planeten? Wie gestalten wir soziale Sicherung, wenn
     vor der Nicht-Verlängerung befristeter Verträge? Oder      das Leitbild – bzw. die Realität – nicht unbedingt die le-
     wenn ich als Freelancerin (formal?) keine(n) Arbeitge-     benslange, feste Vollbeschäftigung ist?
     ber habe, sondern (schein ?-)selbstständig bin, wie soll
     ich in einen Dialog zwischen “ArbeitnehmerIn” und          Wie gelingt es weltweit, Erwerbsarbeit als einen Teil
     “ArbeitgeberIn” treten?                                    des Lebens eines Menschen, nicht aber als dessen einzi-
                                                                gen bestimmenden Inhalt zu betrachten? Wie trennen
     Zugleich erleben junge ArbeiterInnen aus Freihandels-      wir Arbeitszeit von privater Zeit trotz technologischer
     zonen Guatemalas und Indonesiens bis hin zu Gastro-        Möglichkeit, permanent erreichbar zu sein? Wie be-
     nomiebetrieben Europas die Missachtung gesetzlichen        grenzen wir Stress, Druck und verhindern ausufernde
     Arbeitsrechtes, die auch durch unzureichende oder          Überstunden?
     nur oberflächliche Kontrollen der Einhaltung der Stan-
     dards ermöglicht wird.                                     Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen - und das heißt
                                                                jeder Mensch. Würdige Arbeitsbedingungen weltweit
     In Anbetracht dieser weltweiten Erfahrungen wird           heißen würdige Arbeitsbedingungen für jeden und
     deutlich, wie groß die Herausforderungen und auch          jede. Zu diesem Anspruch steht die Ungleichbehand-
     die Fragen sind, vor denen die Internationale Arbeits-     lung von Menschen aufgrund ihres Geschlechtes, des
     organisation – aber ebenso alle BürgerInnen sowie          Alters oder der Herkunft in eklatantem Widerspruch.
     AkteurInnen gesellschaftlicher Gestaltung – stehen.        Wie gelingt es uns also, diese Widersprüche aufzulö-
     Der Gründer der Christlichen Arbeiterjugend, Cardinal      sen? Konkrete Fragen, die dazu gehören: Wie errei-
     Cardijn, soll bei seinem Tod im Jahr 1967 gesagt haben:    chen wir eine Gleichstellung der Geschlechter? Wie ge-
     „Auf, auf, wir stehen erst am Anfang!“. Diese Aussage      stalten wir eine sichere, menschenwürdige und für alle
     zum Ende eines bewegten Lebens mit einem beachtli-         AkteurInnen gewinnbringende (Arbeits)Migration?
     chen Lebenswerk scheint mir auch passend für dieses
     Jubiläum. Einiges ist erreicht – und noch mehr ist zu      Ich wünsche der ILO und ebenso uns allen, dass wir Ant-
     tun!                                                       worten auf diese Fragen finden und Mechanismen ent-
                                                                wickeln für menschenwürdige Erwerbsarbeit, Gleich-
     Der Mensch muss im Mittelpunkt des Wirtschaftens           berechtigung und menschenwürdiges Leben für alle
     stehen. Menschenwürdige Arbeit soll, so die ILO, welt-     auf diesem Planeten.
     weit garantiert werden.

     Dies bedeutet jetzt und in der Zukunft, dass die Ein-
     haltung arbeitsrechtlicher Gesetze garantiert werden
     muss. Wie gelingt dies? Benötigen wir dafür stärkere
     Kontrollen, die natürlich entsprechende finanzielle
     Mittel von staatlicher Seite erfordern würden? Wie
     könnten diese auch bisher schlecht erreichbare Sekto-
     ren wie die der Hausangestellten erfassen?

     Es bedeutet auch, dass alle über die Gestaltung von Er-
     werbsarbeit mitbestimmen können. Wie gelingt also
     „sozialer Dialog“ jenseits vom „klassischen Gegenüber“
     von „ArbeitnehmerInnen“ und „ArbeitgeberInnen“?

     Es bedeutet, dass Fortschritt dem Menschen dienen
     muss – also auch die Automatisierung. Die technolo-
     gische Entwicklung muss allen zugute kommen. Wie                       Sarah Prenger ist Präsidentin der Inter-
     sichern wir dies ab? Wie verteilen wir (Erwerbs)Arbeit                 nationalen Christlichen Arbeiterjugend
     so, dass jede(r) die eigenen Fähigkeiten einbringen und                (IYCW –International Young Christian
     das Ihre / Seine zum Wohl der Gesellschaft leisten kann?               Workers). Die IYCW hat einen Konsulta-
     Es bedeutet, dass jeder Mensch ein Anrecht auf Sozial-                 tivstatus bei der ILO.
     schutz hat. Wie sichern wir also soziale Sicherung, gute
     Bildung und nötige Infrastrukturen für alle auf diesem                 www.joci.org

10
Welches sind die größten Heraus-
forderungen für die ILO im nächsten
Jahrzehnt und was wünschen Sie sich
für die Zukunft der ILO?
Prossy Nambatya / Koordinatorin JACODeWU, Uganda

D   ie Arbeit der ILO in und mit verschiedenen Orga-
    nisationen ist großartig, insbesondere durch die
Gewährleistung der Rechte der ArbeitnehmerInnen
                                                           diger Arbeit, da Menschenrechte und die Rechte für
                                                           ArbeitnehmerInnen nicht berücksichtigt werden. Des-
                                                           halb wird die Sicherheit von WanderarbeitnehmerIn-
und der Arbeitsnormen. Es gibt jedoch viele Heraus-        nen häufig untergraben.
forderungen, die die ILO und ihre PartnerInnen in den
nächsten zehn Jahren erwarten:                             Die wirtschaftliche Liberalisierung hat die Arbeitneh-
                                                           merInnen der Gnade der multinationalen Unterneh-
Die Zahl der jungen Menschen, besonders in den Ent-        men und InvestorInnen ausgeliefert. Da die Mitglied-
wicklungsländern, ist überwältigend hoch, und hier-        staaten autonom sind, ist die ILO nicht in der Lage, in
bei handelt es sich um Menschen voller Energie, die be-    einem bestimmten Land regulierend einzugreifen. Die
reit sind, sich in die Arbeitswelt zu wagen. Inzwischen    multinationalen Konzerne sind finanziell so mächtig,
ist die Zahl der jährlich geschaffenen Arbeitsplätze im    dass sie von den Gastländern nicht dahingehend kon-
Vergleich zu Personen im erwerbsfähigen Alter weit-        trolliert und reguliert werden können, die Normen
aus geringer. Außerdem sind viele Länder nicht sehr        für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz einzu-
streng bei der Durchführung der Ruhestandspolitik,         halten. Von Seiten der Gastländer gibt es nur eine sehr
sodass viele ältere Menschen sich noch im Arbeitsleben     begrenzte oder gar keine Überwachung und Kontrolle
befinden und die jungen Menschen außen vor bleiben.        der Standards.
Viele junge Menschen sind verzweifelt und die Chan-
cen auf einen Arbeitsplatz werden jeden Tag geringer,      Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Bezug auf Ar-
sodass in vielen Szenarien Defizite bei der menschen-      beits- und Arbeitnehmerrechte bleiben eine Herausfor-
würdigen Arbeit entstehen.                                 derung, da sie auf nationaler Ebene ohne die Interven-
                                                           tion der ILO festgelegt werden. Obwohl die ILO sich um
Die zunehmende Arbeitsmigration stellt in vielen Tei-      Gerechtigkeit und Fairness in der Arbeitswelt bemüht,
len der Welt eine Bedrohung für Beschäftigung dar und      kann sie die Mitgliedstaaten kaum zwingen, die inter-
führt zu Armut. Was die Binnenmigration angeht, so         nationalen Arbeitsnormen umzusetzen. Die Tatsache,
verfügen viele Länder nicht über gut geplante Städte,      dass die Umsetzung von Arbeitsgesetzen finanzielle
die den Eingewanderten leicht Arbeitsplätze zur Ver-       Auswirkungen hat und die ILO nicht garantieren kann,
fügung stellen können, und die wenigen verfügbaren         dass die Mitgliedstaaten die entsprechenden Beträge
Arbeitsplätze können die Standards für menschenwür-        bereitstellen, um die Durchsetzung der legalen Rah-
dige Arbeit nicht erfüllen. So werden die von der ILO      menbedingungen zu gewährleisten, kann dazu füh-
festgelegten internationalen Standards wahrschein-         ren, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen in ei-
lich von vielen Mitgliedstaaten nicht erfüllt. In vielen   nigen Mitgliedstaaten die internationalen Normen bei
afrikanischen Ländern ist die Mehrheit der Bevölke-        weitem nicht erfüllen.
rung in der Landwirtschaft beschäftigt und mit dem
Trend zur Landflucht bleibt die landwirtschaftliche Flä-   Daher hat die ILO auch die Aufgabe, die Mitgliedstaa-
che unbearbeitet. Stattdessen wandern die Menschen         ten zu überwachen, um sicherzustellen, dass die Ver-
in die Städte und geraten in den Sektor der informel-      pflichtungen und Vereinbarungen eingehalten wer-
len Beschäftigung, indem es kaum menschenwürdige           den. Andererseits gibt es keine Garantie dafür, dass die
Arbeitsbedingungen gibt. Auch auf internationaler          Delegierten der Mitgliedstaaten ihre BürgerInnen über
Ebene ist die Arbeitsmigration eine Herausforderung,       Entscheidungen und Vereinbarungen, die während
wenn es um Arbeitsrechte und Chancengleichheit für         der Internationalen Arbeitskonferenzen getroffen wer-
die Einwandernden geht. Viele Zugewanderte erhal-          den, informieren, sodass die Bevölkerung vielleicht gar
ten möglicherweise keinen Zugang zu menschenwür-           nicht weiß, was sie fordern kann und was ihr zusteht.

                                                                                                                      11
Vor allem informelle, d.h. unorganisierte Arbeitneh-       merInnen und menschenwürdige Arbeitsbedingun-
     merInnen, sind häufig nicht informiert und können          gen anzugleichen.
     keine Rechenschaftspflicht einfordern, was die Ziele
     der ILO definitiv beeinträchtigen wird.                    Die ILO sollte mehr Mandate für Interventionen und
                                                                Mitspracherechte bezüglich der von den einzelnen
     Der vermehrte Einsatz von Technologie statt Menschen       Mitgliedstaaten festgelegten rechtlichen Rahmenbe-
     für die Produktion stellt eine große Bedrohung für das     dingungen erhalten, um sicherzustellen, dass sie die
     Erreichen einer menschenwürdigen Beschäftigung             internationalen Arbeitsnormen einhalten und die Stan-
     dar. Dies wirft die Befürchtung auf, dass viele Men-       dards für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz
     schen entlassen und durch Maschinen ersetzt werden,        kontinuierlich überwachen.
     um Kosten zu minimieren und Gewinne zu maximie-
     ren. Während die ILO mit den Mitgliedstaaten zusam-
     menarbeiten will, um Arbeitsplätze für viele Menschen
     zu schaffen, werden gleichzeitig viele Menschen durch
     den verstärkten Einsatz von Technologie entlassen.

     Das Ausmaß der Umweltzerstörung stellt eine sehr
     große Bedrohung für die Natur und die Menschen dar.
     Viele Länder sind von der globalen Erwärmung betrof-
     fen, besonders diejenigen, deren wichtigste Beschäfti-
     gungsquelle schon seit Jahrhunderten die Landwirt-
     schaft ist. Es besteht die dringende Forderung nach
     Diversifizierung der Einkommensquellen und nach Be-
     schäftigungsmöglichkeiten. Und weil die betroffenen
     Länder für die Veränderungen nicht vollständig vor-
     bereitet sind, können sie sich nicht sofort an die neue
     Situation anpassen.

     Vielfalt und kulturelle Unterschiede untergraben die
     Möglichkeit für Männer und Frauen auf Chancen-
     gleichheit in der Arbeitswelt. Frauen sind nach wie vor      Prossy Nambatya war bis Ende des Jahres 2017
     mit ihrer gesellschaftlich vorgegebenen und repro-           Koordinatorin des Joint Action Committee on Decent
     duktiven Rolle konfrontiert – mit der Konsequenz, dass       Work in Uganda (JACODeWU). Das JACODeWU ist ein
     sie im Hinblick auf Beschäftigungsmöglichkeiten mit          Multistakeholderforum von Kirchen, Gewerkschaften,
     Männern nicht gleichgestellt sind.                           ArbeitgeberInnen und der Regierung in Uganda zur
                                                                  Förderung des ILO- Länderprogramms ‚Menschen-
     Das Joint Action Committee on Decent Work in Uganda          würdige Arbeit‘.
     (JACODeWU), welches darauf abzielt, die Länderpro-
     gramme der ILO für menschenwürdige Arbeit zu un-             https://futureofwork-labourafterlaudatosi.net/about-
     terstützen, wurde 2012 gegründet. Es steht im Dialog         the-project/
     mit der ILO und hat folgende Wünsche für die Zukunft:
     Die ILO sollte mit einem robusteren Überwachungs-
     und Bewertungssystem aufwarten, das die Mitglied-
     staaten dazu veranlasst, die Verpflichtungen und Ver-
     einbarungen einzuhalten und umzusetzen, die sie im
     Hinblick auf die Gewährleistung menschenwürdiger
     Arbeitsbedingungen eingegangen sind.

     Sie sollte internationale Standards fördern, um die mul-
     tinationalen Unternehmen zu veranlassen, innerhalb
     der rechtlichen Rahmenbedingungen in den Gastlän-
     dern zu arbeiten, damit die ArbeitnehmerInnen res-
     pektiert und menschenwürdige Arbeitsbedingungen
     gewährleistet werden können.

     Sie sollte sich um eine engere Zusammenarbeit mit
     anderen globalen Organisationen bemühen, um ihre
     Programme im Hinblick auf die Rechte der Arbeitneh-

12
Schritt für Schritt zu
umfassenderen Formen der
Interessenvertretung
William Gois / Migrant Forum Asia

A    ls regionales Netzwerk von Nichtregierungsorga-
     nisationen (NRO) spielen wir, das MigrantInnen-
forum in Asien (MFA – Migrant Forum Asia) bei der
                                                                                    sationen in Asien allmählich und in der Golfregion
                                                                                    ist er kaum vorhanden. Zwar gibt es Anzeichen dafür,
                                                                                    dass sich dies langsam wieder verändert, doch sind
Förderung von Verbindungen und Beziehungen eine                                     die Zielländer weiterhin vorsichtig und zögern, mit
bedeutende Rolle, und unser Einfluss vor Ort ist unend-                             diesen Organisationen zusammenzuarbeiten. Dem-
lich wertvoll. Das MFA begann seine langjährige Koope-                              entsprechend steht die ILO im Hinblick auf ihre Koope-
ration mit der ILO durch die Mitwirkung und Unterstüt-                              ration mit MigrantInnenorganisationen vor der Her-
zung bei verschiedenen Initiativen und Programmen                                   ausforderung, sich mit zunehmend autoritären und
der ILO, darunter beim Projekt „Work in Freedom“6                                   migrantenfeindlichen Regimen in der ganzen Welt
(Arbeit in Freiheit) sowie der Ratifizierungskampagne                               auseinanderzusetzen. Dies konnte sowohl im Rahmen
zu relevanten ILO-Konventionen über MigrantInnen                                    verschiedener zwischenstaatlicher Dialoge als auch bei
wie das Übereinkommen Nr. 189 (Übereinkommen                                        der (Nicht-)Gewährung von Freiheiten, die ILO-Initiati-
über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte).                                   ven auf institutioneller und arbeitstechnischer Ebene
Das MFA beschäftigt sich hauptsächlich mit evidenzba-                               in der Region genießen, implizit beobachtet werden.
sierter Politikanalyse, Medienarbeit und Kampagnen.
Durch unsere Arbeit waren wir in der Lage, an intensi-                              Im Bereich der Migration muss die wirksame Interes-
ven Aktivitäten mit Basisorganisationen in über 20 Län-                             senvertretung und Einbeziehung der Betroffenen bei
dern teilzunehmen, die entweder Ziel- oder Herkunfts-                               Organisationen an der Basis beginnen, die wichtige
länder von Migration sind.                                                          Ressourcen bereitstellen und gleichzeitig die Rolle von
                                                                                    TeilnehmerInnen am Prozess übernehmen.
MigrantInnenorganisationen in Asien sind nach wie
vor wichtige InteressenvertreterInnen / BeraterInnen                                Explizit könnte eine effektive Interessenvertretung
in verschiedenen dreigliedrigen Vereinbarungen zu                                   durch evidenzbasierte Forschungsarbeit mit Hilfe der
den Arbeitsbeziehungen und unterhalten enge Verbin-                                 Dokumentation erreicht werden. Die Dokumentation
dungen zu lokalen Gewerkschaften, Regierungsstellen                                 ist eine große Herausforderung für Migrantenorgani-
und Privatunternehmen. Zuletzt wurden VertreterIn-                                  sationen aufgrund der immer wiederkehrenden Praxis
nen der Zivilgesellschaft eingeladen, als BeobachterIn-                             der Beschlagnahme von Pässen und anderen Doku-
nen am Abu Dhabi-Dialog (ADD)7 teilzunehmen. Das                                    menten. Obwohl die Notwendigkeit einer politikba-
MFA konnte über einen längeren Zeitraum relevante                                   sierten Interessenvertretung und von Empfehlungen
Impulse geben und an den Gesprächen mit den Regie-                                  zu den Beschäftigungspraktiken in den Ländern betont
rungen während des gesamten ADD teilnehmen. Wäh-                                    wird, muss auch die Einbeziehung der Dokumentation
rend die Zivilgesellschaft dies als Wendepunkt bei der                              als wichtige Informationsquelle in Angriff genommen
Verbesserung der Beziehungen zu den Regierungen                                     werden. Aus diesem Grund wurde die Anwerbebera-
in der Region betrachten kann, führt das dynamische                                 tung für MigrantInnen (Migrant Recruitment Advisor
gesellschaftspolitische Klima in Asien dazu, dass Mig-                              - MRA) im Rahmen der Initiative für faire Anwerbung
rantInnenorganisationen ständig nach neuen Wegen                                    von Arbeitskräften (Fair Recruitment Initiative) entwi-
suchen, um mit der Gemeinschaft der MigrantInnen                                    ckelt. Sie wurde zu einem wichtigen Programm, um
und anderen wichtigen AkteurInnen in Kontakt zu                                     auf Verstöße gegen die ordnungsgemäße Anwerbung
treten. Im Gegensatz zu anderen Regionen schrumpft                                  von Arbeitskräften zu reagieren. Das MFA unterstützt
der Handlungsspielraum der MigrantInnenorgani-                                      dies durch sein Meldesystem für die Verletzung von
                                                                                    MigrantInnenrechten (Migrants Rights Violation Re-

6 S. die Beschreibung dieses ILO-Programms hier: https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/projectdocumentation/wcms_217626.pdf.
7 Der ADD wurde 2008 als Forum für den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen asiatischen Herkunfts- und Zielländern von Arbeitskräften gegründet. Als staatlich
  gelenkter regionaler Beratungsprozess (RCP) zielt der ADD darauf ab, eine sichere, geordnete und regelmäßige Arbeitsmigration in einigen der weltweit größten tempo-
  rären Korridore für Arbeitsmigration zu ermöglichen. Weitere Informationen unter: http://abudhabidialogue.org.ae/about-abu-dhabi-dialogue

                                                                                                                                                                         13
porting System - MRS/Hamsa). Die Mitglieder des Netz-       und der Migrationskorridore weiter fördern. Die Akti-
     werks werden ermutigt, entsprechende Verstöße über          vitäten müssen sich nun darauf konzentrieren, diesen
     das System zu melden, und in einigen Fällen werden          kontinuierlichen Prozess der Kampagnen und Initiati-
     auch die nationalen Mechanismen zur Beilegung von           ven zur Umsetzung und Überwachung innerhalb der
     Missständen einbezogen, damit das Soforthilfe-Team          Migrationskorridore, Regionen und Nationen fortzu-
     die erforderlichen Maßnahmen ergreifen kann. Mit Un-        setzen. Nichtregierungsorganisationen und Gewerk-
     terstützung des Internationalen Gewerkschaftsbundes         schaften können getrennt mobilisieren, müssen aber
     (IGB) und der ILO hat das System bei den Mitgliedern        zusammenarbeiten, um einen nachhaltigen Beitrag
     stetige Fortschritte erzielt und trägt auch zu einer grö-   zur Agenda zu leisten. Folglich können wir, indem wir
     ßeren Interessenvertretungsagenda bei.                      den politischen Spielraum für die Einbeziehung und
                                                                 Anerkennung der Rolle von AkteurInnen wie Grenz-
     Darüber hinaus ist es notwendig, Basisorganisationen        beamte oder SubagentInnen, Flüchtlingshilfeorgani-
     und andere AkteurInnen (z.B. SubagentInnen) einzu-          sationen und anderen NRO und Gremien festlegen,
     binden und ständig dazu zu verpflichten, ihre Arbeit        ein stärkeres Engagement erreichen, wenn wir den auf
     zu dokumentieren. In dieser Hinsicht hat die ILO die        Rechten basierenden Ansatz operationalisieren.
     Zivilgesellschaft stets unterstützt und baut weiterhin
     fruchtbare Beziehungen zu ihr auf. Das MFA seinerseits      Darüber hinaus haben Hausangestellte, was den Be-
     setzt seine Kampagnen auf regionaler und nationaler         reich der Migration angeht, insbesondere für die Zivil-
     Ebene fort, indem es WanderarbeiterInnen, Journalis-        gesellschaft weiterhin oberste Priorität, da sie schutz-
     tInnen, religiös orientierte ArbeitnehmerInnen, Sozi-       bedürftig sind und in einigen Fällen sowohl in den
     alarbeiterInnen und Regierungsbeamte organisiert,           Ziel- als auch in den Herkunftsländern keine Grund-
     um wichtige Diskussionen zu fördern und den Zusam-          rechte haben. Die ILO unterstützt diesen Bereich wei-
     menhalt zu ermöglichen. Ein Beispiel für die Zusam-         terhin, insbesondere während der 100. Tagung der
     menarbeit zwischen MFA und der ILO war der Globale          Internationalen Arbeitskonferenz, auf der das Überein-
     Medienwettbewerb zur Arbeitsmigration (Global Me-           kommen Nr. 189 über Hausangestellte verabschiedet
     dia Competition on Labour Migration) (2017), der eine       wurde. Internationale Standards sollten zur Verbesse-
     qualitativ hochwertige Medienberichterstattung über         rung ihrer Arbeitsbedingungen dienen, was ein Mei-
     Migration und Personalrekrutierung in der ganzen            lenstein für MigrantInnen und Menschenrechte war.
     Welt förderte.                                              Während die vor uns liegende Aufgabe für uns als Zivil-
                                                                 gesellschaft herausfordernd ist, kann ein umfassender
     Im gegenwärtigen geopolitischen Klima sind zivilgesell-     und stetiger Fortschritt aufrechterhalten werden, um
     schaftliche Organisationen nicht nur mit ungeregelter/      die Ratifizierungskampagne durch eine enge regiona-
     geregelter Arbeitsmigration, sondern auch mit großen        le Ausrichtung aufrechtzuerhalten.
     Flüchtlingsbewegungen konfrontiert. Es besteht also
     die Notwendigkeit, soziale Schutzmaßnahmen oder             Zudem bleibt das Phänomen der Zwangsarbeit in den
     Maßnahmen zur sozialen Sicherheit von Flüchtlingen          gesamten Migrationskorridoren bestehen und verletzt
     zu formulieren, die eine langfristige Eigenständigkeit      grundlegende und fundamentale Menschenrechte.
     ermöglichen und nicht nur eine bloße Reaktion darstel-      Durch illegale Methoden bei der Anwerbung von Ar-
     len. Dies veranlasste die internationale Gemeinschaft, in   beitsmigrantInnen wird das Problem der Zwangsarbeit
     zwei globalen Verträgen separate Agenden für Flücht-        noch verschärft. Das 2016 in Kraft getretene ILO-Proto-
     linge und MigrantInnen auszuarbeiten.                       koll zur Bekämpfung neuer Formen von Zwangsarbeit
                                                                 zielte darauf ab, dieses Problem anzugehen. Durch
     In einer Zeit, in der die Interessenvertretung für Mig-     die Ratifizierung dieses Protokolls sind die Länder ver-
     rantInnen dringend eines weltweit vereinbarten und          pflichtet, Fälle von Zwangsarbeit regelmäßig zu mel-
     ratifizierten Leitfadens zur Steuerung von Arbeit und       den und zu bearbeiten, und dadurch übernehmen sie
     Migration bedarf, bietet der „Globale Pakt zu Migrati-      Verantwortung sowohl gegenüber ihren Staatsange-
     on“ Hoffnung und Gelegenheit, die Handhabung der            hörigen als auch der migrantischen Bevölkerung ge-
     Migration zu verbessern und aktuelle Fragen und Her-        genüber.
     ausforderungen im Zusammenhang mit der Migration
     anzugehen. Während zivilgesellschaftliche Organi-           Angesichts dieser Herausforderungen sind die drin-
     sationen wie das MFA ihre Besorgnis über den unver-         gendsten Bedürfnisse der Interessenvertretung für Mi-
     bindlichen Charakter des Dokuments zum Ausdruck             grantInnen folgende: Konzentration auf sich abzeich-
     bringen, ist der „Globale Pakt zu Migration“ doch ein       nende Migrationstendenzen; Einbeziehung der Rechte
     Schritt in die richtige Richtung und könnte als Verweis     von MigrantInnen und Flüchtlingen unter dem größe-
     auf die Bedeutung fairer und sicherer Einwanderungs-        ren Dach der Menschenrechte; Kapazitätsaufbau und
     verfahren dienen. Außerdem würde er die multilatera-        ständige Zusammenarbeit mit Organisationen an der
     len Bemühungen im Bereich der Arbeitsbeziehungen            Basis im Hinblick auf evidenzbasierte Forschung und

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Interessenvertretung. In Anerkennung der Komple-
mentarität der beiden Globalen Pakte zum Schutz von
MigrantInnen und Flüchtlingen fordern wir die Länder
nachdrücklich auf, die in den Pakten genannten Be-
stimmungen umzusetzen und ihre Bedeutung für die
Wahrung der Menschenrechte von MigrantInnen und
Flüchtlingen in der ganzen Welt hervorzuheben. Ob-
wohl die ILO eine Organisation ist, die sich in erster Li-
nie mit den Herausforderungen der Arbeitsmigration
befasst, fordern wir die Organisation auf, auch bei der
Entwicklung des Globalen Paktes für Flüchtlinge mit-
zuwirken, um die Gleichwertigkeit der beiden Pakte zu
gewährleisten.
                                                                                     William Gois vertritt das Migrant Forum Asia,
Während wir die Bemühungen der ILO in den Berei-                                     einem regionalen Netzwerk aus Nicht-Regierungs-
chen Arbeitsmigration, faire Anwerbung von Arbeits-                                  organisationen, Verbänden und Gewerkschaften
kräften und Geschlechterstudien im Migrationskon-                                    von ArbeitsmigrantInnen sowie individuellen
text begrüßen, bestehen wir darauf, die Beziehungen                                  JuristInnen in Asien, das sich für den Schutz und
zur Zivilgesellschaft über die Gewerkschaften hinaus                                 die Förderung der Rechte von ArbeitsmigrantIn-
zu stärken, um verschiedene nichtstaatliche AkteurIn-                                nen aus dem asiatischen Raum einsetzt.
nen einzubeziehen und so eine wirklich integrative
und langfristige globale Interessenvertretungsstruktur                               www.mfasia.org
einzuführen.

Verteidigung eines auf Rechten
basierenden Ansatzes zur Regulierung
der Arbeitsmigration
Nicola Piper / Asia Pacific Migration Centre der Universität Sydney

D   as entstehende internationale Arbeitssystem durch
    grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitneh-
merInnen wurde im Allgemeinen und für die ILO im
                                                                                  und der zunehmenden oder anhaltenden Privatisie-
                                                                                  rung wesentlicher öffentlicher Güter wie Gesundheit
                                                                                  und Bildung ist. Was die Regulierung der Arbeitneh-
Besonderen als eine der größten Herausforderungen                                 mermobilität betrifft, so sind die multilateralen Rah-
identifiziert. Von den schätzungsweise 232 Mio. Mig-                              menwerke (wie die ILO-Übereinkommen Nr. 97 und
rantInnen, die weltweit unterwegs sind, haben bis zum                             1438) stark „unter-ratifiziert“ und (wesentlich verbrei-
Jahr 2013 150 Mio. ihre Herkunftsländer verlassen, um                             tetere) bilaterale Vereinbarungen enthalten nur selten
Arbeit zu suchen (ILO 2015). Die meisten Formen der                               Klauseln über Rechte. Dieser Sachverhalt hat tiefgrei-
Migration sind auf beschäftigungsrelevante Aspekte                                fende Auswirkungen auf die Einstellung und Beschäf-
zurückzuführen, da die geografische Mobilität weitge-                             tigung von MigrantInnen.
hend eine Antwort auf fehlende wirtschaftliche Mög-
lichkeiten aufgrund von unzureichenden oder nicht                                 Die ausbeuterischen Tendenzen im Rekrutierungspro-
vorhandenen sozialen Sicherheitsnetzen der Staaten                                zess entlang globaler Produktions- und Pflegeketten,

8 Das ILO-Übereinkommen Nr. 97 „Übereinkommen über Wanderarbeiter“, trat 1952 in Kraft. 49 der 187 ILO-Mitgliedsstaaten haben dieses Übereinkommen bisher
  ratifiziert, unter ihnen Deutschland im Jahr 1959. Das ILO-Übereinkommen Nr. 143 „Übereinkommen über Mißbräuche bei Wanderungen und die Förderung der
  Chancengleichheit und der Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer“ trat 1978 in Kraft. 23 ILO-Mitgliedsstaaten haben dieses Übereinkommen bisher ratifiziert,
  Deutschland gehört nicht dazu.

                                                                                                                                                                  15
die Ersetzung von Verträgen sowie die Unter- und Nicht-                              tem der ILO, das in Bezug auf die globalen Regierungs-
     zahlung von Löhnen sind in der Tat die drängendsten                                  institutionen einzigartig ist, da es eine nahezu gleich-
     Probleme, die von MigrantInnen- und Arbeitsrechts-                                   berechtigte Vertretung der ArbeitnehmerInnen neben
     aktivistInnen identifiziert wurden (unterstützt durch                                ArbeitgeberInnen und Regierungen ermöglicht. Da die
     Forschungsergebnisse9). Gut dokumentierte Fälle von                                  Arbeitnehmervertretung über formale Gewerkschaf-
     Ausbeutung, wie die Behandlung südasiatischer Bau-                                   ten jedoch historisch von der europäischen und nord-
     arbeiterInnen, die vor der FIFA Fußball-Weltmeister-                                 amerikanischen Erfahrung der industriellen Revoluti-
     schaft 2022 in Katar beschäftigt sind, sind in dieser Hin-                           on und der Arbeiterbewegung abgeleitet ist, basiert sie
     sicht nur die Spitze des Eisbergs (Amnesty International                             auf qualifizierten ArbeitnehmerInnen in formalisier-
     2016). MigrantInnen sind häufig vom Missbrauch und                                   ten Beschäftigungsverhältnissen, die auf einem Modell
     der Verletzung ihrer Arbeitsrechte betroffen, und zwar                               der „industrial citizenship“ (Berufsbürgerschaft) basie-
     nicht nur während der Beschäftigung in Übersee, son-                                 ren, das sich aus westlichen Kontexten ableitet. Histo-
     dern während des gesamten Migrationszyklus, begin-                                   risch gesehen waren informelle ArbeitnehmerInnen,
     nend bereits in der Phase vor der Migration und auch                                 darunter Frauen und MigrantInnen, lange Zeit von der
     nach der Rückkehr.                                                                   politischen Repräsentation und dem Prozess der Festle-
                                                                                          gung von Standards ausgeschlossen, deren Hauptmit-
     Einer der grundlegenden Sachverhalte, die Ursache                                    tel die Schaffung einer Reihe von Übereinkommen und
     für das problematische globale Arbeitssystem sind, ist                               Empfehlungen zu nationalen Arbeitspraktiken waren.
     die fehlende Mobilitätsfreiheit. MigrantInnen werden                                 In der gegenwärtigen Phase der Transnationalisierung
     in der Regel mit befristeten Verträgen eingestellt und                               der Arbeitsmärkte reicht jedoch ein für nationale Re-
     sind oft an bestimmte ArbeitgeberInnen gebunden.                                     gulierungssysteme konzipierter Standardisierungsrah-
     Dies macht WanderarbeitnehmerInnen außerordent-                                      men nicht mehr aus.
     lich verwundbar und verzerrt das Machtgleichgewicht
     zugunsten der ArbeitgeberInnen. Wie bereits der erste                                In diesem Zusammenhang weisen zwei Beispiele aus
     Direktor der Internationalen Arbeitsorganisation, Al-                                jüngster Zeit auf einen schrittweisen Reformprozess
     bert Thomas, in einer Rede vor der Weltbevölkerungs-                                 innerhalb der ILO hin: das Übereinkommen zur Heim-
     konferenz von 1927 feststellte, hat die Praxis der Mig-                              arbeit (Nr. 177, 1996), das einen Durchbruch für eine
     rationspolitik zunehmend restriktiven und selektiven                                 weitgehend weibliche informelle Erwerbsbevölkerung
     Charakter angenommen. Er wies darauf hin, dass „die                                  darstellte, obwohl es nach wie vor ein besonders „un-
     Entwicklung von praktisch vollständiger Freiheit zu                                  ter-ratifiziertes“ Instrument ist. Das Übereinkommen
     einer immer strengeren Regulierung durch kollektive                                  über private Arbeitsvermittlung (Nr. 181, 1997) stellt
     und nationale Maßnahmen“ tendiert und dass die Mi-                                   ein Instrument dar, das die entstehenden transnatio-
     grationsbewegungen „eine grundlegende Transfor-                                      nalen Arbeitssysteme anerkennt (Standing 2008). Das
     mation erfahren. Die mehr oder weniger anarchische                                   ILO-Übereinkommen für menschenwürdige Arbeit
     Freiheit, mit der (…) sie vorgegangen sind, nimmt nun                                für Hausangestellte (Nr. 189, 2011) ist das jüngste Bei-
     ab, und die Regierungen neigen dazu, sie einer immer                                 spiel, das nicht nur für eine große Zahl von Arbeit-
     strengeren Kontrolle zu unterwerfen.“ (1983, 705). Die                               nehmerInnen im Globalen Süden relevante Normen
     zentrale Herausforderung für die ILO besteht daher da-                               liefert – Frauen, informell Beschäftigte und MigrantIn-
     rin, diese Praxis des „Migrationsmanagements“ durch                                  nen – sondern ihre Entstehung war auch Gegenstand
     einen auf Rechten basierenden Ansatz für Migration zu                                eines halbrevolutionären Prozesses, bei dem viele
     ersetzen, der das Recht auf Arbeit und die Rechte am                                 zivilgesellschaftliche Organisationen über die klassi-
     Arbeitsplatz als universelles Recht umfasst. Mit dem                                 schen Gewerkschaften hinaus einbezogen wurden, die
     Anspruch, „das Zentrum für normatives Handeln in der                                 hauptsächlich qualifizierte, formelle (vor allem männ-
     Arbeitswelt, eine Plattform für internationale Debatten                              liche) Arbeitskräfte repräsentieren. Dies hat den immer
     und Verhandlungen über Sozialpolitik und eine Quelle                                 lauter werdenden Stimmen, die die ILO auffordern, ein
     von Diensten für Lobbyarbeit“ (ILO 1999:2) zu sein, ist                              „dreigliedriges Plus-System“ über die strengen Gren-
     die ILO theoretisch ideal positioniert, um einen solchen                             zen der Arbeitnehmervertretung durch ausschließlich
     auf Rechten basierenden Ansatz für die Steuerung der                                 konventionelle Gewerkschaften hinaus zu erwägen, ei-
     Arbeitsmigration zu entwickeln.                                                      nen neuen Impuls gegeben.

     Ein wichtiger Weg zur allmählichen Verwirklichung                                    Als Reaktion auf das wachsende Bewusstsein von pre-
     eines solchen auf Rechten basierenden Ansatzes wird                                  kären Beschäftigungsverhältnissen startete die Inter-
     durch die Demokratisierung des Entscheidungspro-                                     nationale Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 1999 eine
     zesses und die Beteiligung der betroffenen Menschen                                  Kampagne “menschenwürdige Arbeit für alle”. Was
     beschritten. Es ist wieder einmal das dreigliedrige Sys-                             die Prekarität von MigrantInnen anbelangt, so war ein

     9 Siehe zum Beispiel Farbenblum, B., Taylor-Nicholson, E. and Paoletti, S. (2013), Migrant Workers’ Access to Justice at Home: Indonesia, Open Society Foundations:
       New York.

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