Wünsche für die Zukunft - Was ExpertInnen der ILO empfehlen - SÜDWIND-Institut
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Impressum Abkürzungsverzeichnis Bonn, Oktober 2018 Herausgeber: ACT Action, Collaboration, Transformation SÜDWIND e.V. – ADD Abu Dhabi-Dialog Institut für Ökonomie und Ökumene Kaiserstraße 201 CAJ Christliche Arbeiterjugend 53113 Bonn CLRA Center for Labour Research & Action Tel.: +49 (0)228-763698-0 DGB Deutscher Gewerkschaftsbund info@suedwind-institut.de www.suedwind-institut.de EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Bankverbindung: EMRK Europäische Menschenrechtskonvention KD-Bank IASEW Indian Academy for Self Employed Women IBAN: DE45 3506 0190 0000 9988 77 ILO International Labour Organization / Internationale Arbeits- BIC: GENODED1DKD organisation Herausgeberin: ICSE Internationale Klassifikation nach der Stellung im Beruf Dr. Sabine Ferenschild IGB Internationaler Gewerkschaftsbund Redaktion und Korrektur: Florin Ameln, Vera Schumacher IGH Internationaler Gerichtshof V.i.S.d.P.: Martina Schaub ILC International Labour Conference / Internationale Arbeits- konferenz Gestaltung und Satz: ISS International Institute of Social Studies www.pinger-eden.de IStGH Internationaler Strafgerichtshof Druck und Verarbeitung: Brandt GmbH, Bonn, IWF Internationaler Währungsfonds gedruckt auf Recycling-Papier IYWC International Young Christian Workers / Internationale Titelfoto: christliche Arbeiterjugend shock/fotolia.de, SÜDWIND JACODeWU Joint Action Committee Decent Work Uganda MBO auf Mitgliedschaft basierende Organisation(en) Für den Inhalt dieser Publikation ist MFA Migrant Forum Asia allein SÜDWIND e.V. verantwortlich. Die hier dargestellten Positionen geben nicht MRA Migrant Recruitment Advisor den Standpunkt von Engagement Global MRS Migrants Rights Violation Reporting System gGmbH und dem Bundesministerium für NRO Nichtregierungsorganisation(en) wirtschaftliche Zusammenarbeit und ORP Organization and Representation Programme Entwicklung wieder. SDG Sustainable Development Goals / Nachhaltige Entwick- Gefördert aus Mitteln des Kirchlichen lungsziele Entwicklungsdienstes durch Brot für die Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst, SEWA Self Employed Women‘s Organisation durch den Evangelischen Kirchenverband SV-Ausschuss Sachverständigenausschuss Köln und Region sowie die Evangelische UN United Nations / Vereinte Nationen Kirche im Rheinland. WIEGO Women in Informal Employment: Globalizing and Organizing WTO World Trade Organisation / Welthandelsorganisation Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des Gefördert durch: 2
Inhalt Einleitung 4 Herausforderungen für das nächste Jahrzehnt und Wünsche für die Zukunft Sudhir Katiyar / PRAYAS - Center for Labour Research and Action 6 100 Jahre ILO – „Auf, auf, wir stehen erst am Anfang!“ Der weite Weg zu menschenwürdiger Arbeit für alle. Sarah Prenger / Internationale Christliche Arbeiterjugend 8 Welches sind die größten Herausforderungen für die ILO im nächsten Jahrzehnt und was wünschen Sie sich für die Zukunft der ILO? Prossy Nambatya, Koordinatorin JACODeWU 11 Schritt für Schritt zu umfassenderen Formen der Interessenvertretung William Gois / Migrant Forum Asia 13 Verteidigung eines auf Rechten basierenden Ansatzes zur Regulierung der Arbeitsmigration Nicola Piper / Asia Pacific Migration Centre der Universität Sydney 15 Informell ist normal Karin Pape / WIEGO 18 Die ILO und der informelle Sektor - noch ein weiter Weg Namrata Bali / SEWA 21 ‘Menschenwürdige Arbeit für Sexarbeiter*innen‘ als Geschenk zum 100-jährigen Geburtstag der ILO Karin Astrid Siegmann /International Institute of Social Studies (ISS) der Erasmus Universität Rotterdam 23 Die ILO stellt sich den Herausforderungen des Wandels der Arbeitswelt Claudia Menne, DGB 26 Internationalisierung der Tarifpolitik Frank Hoffer / ACT-Initiative 28 Absicherung des Überwachungsmechanismus und des Streikrechts als zentrale Herausforderungen für die ILO in den nächsten 10 Jahren Reingard Zimmer / Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin 30 Sanktionsmacht entwickeln! Markus Demele / Kolping International 32 3
Einleitung Herzlichen Glückwunsch, ILO! Im Jahr 2019 feiert die Stimmen zu Gehör bringen, die auf noch Fehlendes Internationale Arbeitsorganisation (International La- und auf notwendige zukünftige Weichenstellungen bour Organisation - ILO) ihr hundertjähriges Jubiläum. hinweisen. Denn die ILO steht vor großen Herausfor- derungen: Nach wie vor sind die Arbeitswelten in for- Die ILO wurde in einer Zeit gegründet, in der die Welt melle und informelle Bereiche gespalten. Arbeitsmig- infolge des Ersten Weltkriegs in Schutt und Asche lag rantInnen erleben überall auf der Welt, dass sie ihrer und ArbeiterInnen und BürgerInnen seit Jahrzehnten Rechte beraubt werden. Nicht einmal die Kernarbeits- unter den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und normen der ILO, die als Menschenrechte bei der Arbeit sozialen Verwerfungen des 19. Jahrhunderts litten. Mit gelten, konnten bisher überall durchgesetzt werden, der ILO wollten die Gründungsstaaten Rahmenbedin- geschweige denn existenzsichernde Löhne. Für neue gungen für eine menschenwürdigere Arbeit schaffen, Herausforderungen wie die Arbeitsformen, die im die Arbeits- und Lebensbedingungen aller Menschen Zuge der Digitalisierung entstehen oder wegfallen, verbessern und so einen Beitrag zur Sicherung des müssen Antworten gefunden werden, damit aus dem Weltfriedens leisten. technologischen Fortschritt ein sozialer Fortschritt für alle wird. Auf diese und weitere Aspekte und Herausfor- Vieles hat die ILO in den vergangenen Dekaden er- derungen gehen die folgenden Beiträge ein, für die die reicht: Trotz zahlreicher Rückschläge aufgrund des HerausgeberInnen verschiedene AutorInnen aus Euro- Zweiten Weltkrieges, politischer Konflikte wie dem pa, Asien und Afrika gewonnen haben. ’Kalten Krieg’ oder wachsender Verteilungskämpfe und Interessensgegensätze angesichts der Grenzen des Wachstums hat die ILO maßgeblich zur Gestaltung Zur Struktur des Völkerrechts beigetragen und ein verbindliches, internationales Arbeitsrecht geschaffen. Auf dieses Alle AutorInnen stehen mit der Deutschen Kommissi- können sich zum Beispiel Beschäftigte, die auf lokaler on Justitia et Pax und / oder dem SÜDWIND-Institut in Ebene um ihre Rechte kämpfen, berufen und das Be- einer langjährigen partnerschaftlichen Arbeitsbezie- schwerde- und Aufsichtssystem der ILO nutzen.1 Aus hung. Gemeinsam arbeiten wir zu besseren Arbeits- den Debatten um die Arbeitsbedingungen in globa- bedingungen in globalen Wertschöpfungsketten, zu len Wertschöpfungsketten, die Nachhaltigkeitsziele einer rechtebasierten Ausgestaltung internationaler der Vereinten Nationen oder die menschenwürdige Migration und zu einer Weltwirtschaft im Dienst von Gestaltung von Migration sind die ILO und ihr Nor- Mensch und Umwelt. Alle AutorInnen wurden Ende menwerk nicht wegzudenken. Dass die ILO nicht nur des Jahres 2017 von uns gebeten, ausgehend von ihren eine bedeutende Vergangenheit und Gegenwart hat, jeweiligen Arbeitszusammenhängen, einen kurzen sondern auch für die Gestaltung der Zukunft globaler Beitrag mit ihren Wünschen für die Zukunft der ILO zu Arbeitswelten eine zentrale Instanz ist, davon sind die formulieren. HerausgeberInnen dieser Publikation überzeugt. Wir haben die Beiträge nach inhaltlichen Kriterien an- Dennoch soll diese letzte Veröffentlichung in einer geordnet, auch wenn die Grenzen hier fließend sind: Reihe von insgesamt fünf Studien zur ILO im Rahmen Wir beginnen mit Beiträgen, die eher genereller Na- eines SÜDWIND-Projektes nicht einfach ein Lob auf das tur sind (Sudhir Katiyar, Sarah Prenger, Prossy Nam- Geleistete sein. Vielmehr wollen wir mit den Beiträ- batya). Darauf folgen Beiträge, die sich auf die Fragen gen internationaler ExpertInnen in dieser Publikation von Migration (William Gois, Nicola Piper) und auf den 1 Zu den Verfahren, Strukturen und Instrumenten der ILO siehe Ferenschild, Sabine (2017): Mission gescheitert? Die Internationale Arbeitsorganisation und ihr Einsatz für menschenwürdige Arbeit; URL: https://goo.gl/yxux3f (letzter Abruf: 19.09.2018) 4
informellen Sektor (Karin Pape, Namrata Bali, Karin Astrid Siegmann) konzentrieren. Den Abschluss bilden Beiträge, die sich mit den Zukunftsinitiativen der ILO, Tarifpolitik und Streikrecht (Claudia Menne, Frank Hof- fer, Reingard Zimmer) und der Sanktionsmacht der ILO (Markus Demele) beschäftigen. Die vorliegende Publikation erscheint gleichzeitig auf Deutsch, herausgegeben vom SÜDWIND-Institut, und auf Englisch, herausgegeben von der Deutschen Kom- mission Justitia et Pax. Sie bietet allen Interessierten hoffentlich Gedankenanstöße und Impulse für nötige künftige Weichenstellungen in der ILO. Dr. Sabine Ferenschild Dr. Hildegard Hagemann SÜDWIND-Institut Deutsche Kommission Justitia et Pax 5
Herausforderungen für das nächste Jahrzehnt und Wünsche für die Zukunft Sudhir Katiyar / PRAYAS - Center for Labour Research and Action, Indien Ich arbeite bei einer zivilgesellschaftlichen Organi- Sicherstellung der Vertretung der enormen Masse sation, die mit informellen ArbeiterInnen in Indien der Beschäftigten im informellen Sektor: Die ILO ba- zusammenarbeitet. Wir haben bereits mit der Inter- siert auf einer dreiteiligen Struktur, die Arbeitgebersei- nationalen Arbeitsorganisation (ILO) zusammenge- te, Arbeitnehmerseite und den Staat miteinander ver- arbeitet, aber nicht in größerem Umfang. Wir waren bindet. Jedoch ist die Mehrheit der ArbeitnehmerInnen hauptsächlich als BeraterInnen für einige ILO-Projekte nicht mehr durch die bestehenden Gewerkschaften tätig. Obwohl die Projekte, an denen wir beteiligt wa- vertreten. Die meisten ArbeitnehmerInnen sind dem ren, sich mit den ArbeitnehmerInnen des informellen informellen Sektor zuzuordnen und gehören keiner Sektors beschäftigten, scheinen diese insgesamt nur Gewerkschaft an. Tatsächlich kann es Widersprüche eine untergeordnete Rolle bei den Aktivitäten der ILO zwischen der Klasse der bestehenden Aristokratie der zu spielen. So sind zum Beispiel die in diesen ILO-Pro- ArbeiterInnen und den informellen ArbeiterInnen ge- jekten beschäftigten MitarbeiterInnen auf Projektbasis ben.2 Deshalb muss die ILO neu überlegen, welche Ar- eingestellt und wenn das Projekt endet, endet auch beitnehmerInnen sie vertritt. ihre Beschäftigung bei der ILO. Meine Kritik ist auf diese Erfahrung zurückzuführen. Sie beruht nicht auf Verbindung zu den Bewegungen der informellen/ genauer Forschung. Wenn also einige Beobachtungen nicht angemeldeten ArbeitnehmerInnen: Die ILO nicht mit der Realität übereinstimmen, möchte ich verfolgt eine Politik der ausschließlichen Zusammenar- mich im Voraus entschuldigen. beit mit anerkannten Gewerkschaften/Vereinigungen. Diese Politik lässt jedoch die Masse der im informellen D ie Vision der ILO, dass ein universeller, dauerhafter Frieden nur dann hergestellt werden kann, wenn er auf sozialer Gerechtigkeit beruht, bleibt so aktuell Sektor beschäftigten ArbeitnehmerInnen außer Acht. In den meisten Ländern mit einem hohen Anteil an in- formell Beschäftigten entstehen nach und nach Bewe- wie vor 100 Jahren, als die ILO gegründet wurde. Die gungen dieser ArbeitnehmerInnen. Je nach Situation Art der Arbeit hat sich jedoch enorm verändert. Das im entsprechenden Land können sie unter unterschied- Schwinden der staatlich geführten Volkswirtschaften licher Führung auftreten. Als Beispiel seien hier die Be- hat zur allgemeinen Akzeptanz des auf Liberalisierung wegungen der hispanischen ArbeitnehmerInnen in und Privatisierung beruhenden Wachstumsmodells den USA genannt, die die Bürgerrechte einfordern und und des ungezügelten Vormarsches des Kapitalismus die informell Beschäftigten in diesem Land vertreten. geführt. Dies hatte schwerwiegende Folgen für die Ar- Die ILO sollte bereit sein, eine Verbindung mit diesen beitnehmerInnen. Das Aufkommen von Out-Sourcing vielfältigen Bewegungen einzugehen, die die informel- bedeutet, dass sich die ArbeitnehmerInnen nicht mehr len ArbeitnehmerInnen und ihre Bestrebungen nach so einfach zusammenschließen können. Die Produkti- einem menschenwürdigen Leben vertreten. on wird zu unzähligen (Sub-)ProduzentInnen ausgela- gert, die über riesige und manchmal transkontinentale Dokumentieren von Lieferketten: Da die Produktion Regionen verteilt sind. Während die Aristokratie der auf eine Vielzahl von ProduzentInnen übertragen wird, Arbeiterklasse nach wie vor sozialen Schutz genießt, wird es umso schwieriger, die ArbeitnehmerInnen zu übernimmt die riesige Masse von ArbeiterInnen, die organisieren. Eine der Hauptaufgaben besteht darin, oft MigrantInnen aus anderen Regionen und Ländern die Lieferkette und insbesondere die in der Lieferket- sind, die Schwerstarbeit zu einem bloßen Mindestlohn te beschäftigten Arbeitskräfte zu dokumentieren. Die ohne jeglichen sozialen Schutz. Andererseits verändert ILO muss diesen Prozess vereinfachen. Die Lieferketten die Technologie die Art der Arbeit selbst. Mit dem Ver- sind die neuen Fabriken. Das Wachstum der sozialen schwinden vieler traditioneller Arbeitsformen entste- Medien und des Internets eröffnet die Möglichkeit der hen neue Formen der Beschäftigung, die die Definition Entstehung neuer Formen der Kollektivierung, die die der Arbeiterklasse erschweren. alten Gewerkschaften ersetzen. Dieses veränderte Szenarium stellt neue Herausforde- 2 Dies zeigt sich an den Gewerkschaftsmitgliedern, die Rechtsparteien wählen. rungen dar und verlangt kreative Antworten. 6
Migrationspolitik: Der demographische Wandel in lung, die fast 5 Mio. ArbeiterInnen beschäftigt, erfolgt der Welt und die bestehenden Einkommensunter- vollständig von Hand und erfordert fast rund um die schiede führen zu einer Zunahme der Arbeitsmigrati- Uhr harte Arbeit. Aufgrund von billigen Arbeitskräften, on innerhalb der Länder und über die Landesgrenzen die durch Schuldknechtschaft gebunden oder die Op- hinaus. Dies führt zu sozialen Unruhen und ist eine der fer von Menschenhandel aus weit entfernten Regionen Hauptursachen für Instabilität. Die ILO sollte bei der sind, lohnt sich eine Mechanisierung finanziell nicht. Entwicklung des Globalen Paktes der Vereinten Nati- Zwölf-Stunden-Schichten werden im industriellen Ar- onen zur Migration die Führungsrolle übernehmen, beitsumfeld zur Norm. Selbst Mindestlöhne, die bereits indem sie Arbeitsnormen ausarbeitet, die die Realität auf einem sehr niedrigen Niveau festgelegt sind, wer- der Migration berücksichtigen.3 Sie sollte sich gemein- den nicht gezahlt. Das von der ILO propagierte Konzept sam mit nationalen Regierungen dafür einsetzen, dass der menschenwürdigen Arbeit erfasst diese Realität. die Realität und die Notwendigkeit berücksichtigt Dies muss in den Vordergrund der Arbeit der ILO ge- werden, dass ArbeitnehmerInnen von außerhalb der rückt werden. Grenzen kommen, und sicherstellen, dass diese Arbeit- nehmerInnen Rechte genießen, die universell sind und Diversifizierte Belegschaft: Die Beschäftigungspoli- nicht durch nationale Grenzen beeinträchtigt werden. tik (der ILO, Einf.d.Red.) scheint auch eine Vorliebe für Einstellung von Personal aus dem Globalen Norden zu Hinarbeiten auf einen neuen Sozialpakt/ universel- haben. Im Büro in Indien ist die Auffassung weit ver- le soziale Sicherheit für alle: Während der organisier- breitet, dass nur die Expatriates aus den reichen west- te Sektor schrumpft, nimmt auch die soziale Sicherheit, lichen Ländern eine dauerhafte Anstellung genießen. die bisher mit dem Arbeitsplatz verbunden war, ab. Diese Auffassung sollte sich ändern. Die Probleme der Deshalb ist es notwendig, einen neuen Sozialpakt zu Arbeiterklasse sind am schwerwiegendsten im Globa- entwickeln, der allen ArbeitnehmerInnen ein Mindest- len Süden, wo die Arbeitsbedingungen und Löhne an maß an Sicherheit bietet. Zurzeit existiert eine Bewe- die Jahre der frühen Industrialisierung erinnern. Eine gung hin zu universellen Mindestlöhnen, die sich auch stärkere Vertretung dieser Länder auf den verschiede- über Grenzen hinaus erstrecken, um der Tendenz des nen Entscheidungsebenen (der ILO, Einf.d.Red.) wird Kapitals, die Löhne auf ein bloßes Minimum zu reduzie- diese Auffassung ändern. Man könnte auch überlegen, ren, Einhalt zu gebieten. Die ILO sollte die Bewegung den Sitz der ILO aus der kühlen Klimazone von Genf in für einen universellen globalen Mindestlohn als erstes ein Land des Globalen Südens zu verlagern, in dem die Element des „Universal Social Security Compact“ an- ArbeitnehmerInnen mit den größten Herausforderun- führen.4 Dieser Pakt sollte die unzähligen Arbeitsnor- gen konfrontiert werden. men ersetzen, die von verschiedenen Branchengrup- pen gefördert werden. Verlagerung des Schwerpunkts auf den Globalen Süden: So wie viele andere internationale Instituti- onen wird auch die ILO nach wie vor vom Globalen Norden dominiert. Was die Beschäftigten und die poli- tische Agenda angeht, so scheint der Schwerpunkt vor allem auf den Themen zu liegen, die die entwickelte westliche Wirtschaft beherrschen. Dies zeigt sich in der aktuellen Beschäftigung mit der Zukunft der Ar- beit. Auch wenn das Thema selbst und besonders für eine Organisation wie die ILO, die sich mit der Arbeit beschäftigt, nach wie vor Aufmerksamkeit verdient, bleibt die Tatsache bestehen, dass in den Ländern des Globalen Südens große Menschenmassen in Afrika und Sudhir Katiyar arbeitet bei PRAYAS – Center for Asien weiterhin mit Problemen wie Arbeitslosigkeit Labour Research and Action (CLRA), einer indischen und Armut zu kämpfen haben. Sektoren wie Landwirt- Nicht-Regierungsorganisation. CLRA setzt sich für die schaft, Baugewerbe und die Gewinnung von Steinen Interessen von Beschäftigten in informellen Sektoren und Erden sind weiterhin arbeitsintensiv und wenig wie Baumwollproduktion und Ziegeleien ein. mechanisiert, da die Mechanisierung wegen der nied- rigen Lohnkosten unwirtschaftlich ist. Um es an einem http://clra.in/ Beispiel aus Indien zu verdeutlichen: Die Ziegelherstel- 3 Der „Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“ (Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration) wird im Dezember 2018 von den Vereinten Nationen in Marrakesch / Marokko angenommen. 4 Vgl. hierzu http://www.international-convention-for-minimum-wage.org/ (Anm. d. Red.) 7
100 Jahre ILO – „Auf, auf, wir stehen erst am Anfang!“ Der weite Weg zu menschenwürdiger Arbeit für alle Sarah Prenger / Internationale Christliche Arbeiterjugend 100 Jahre Internationale Arbeitsorganisation. 100 Jahre einer Institution der Vereinten Nationen, deren beschlussfassende AkteurInnen über “An meinem Arbeitsplatz erlebe ich Regierungen hinaus auch VertreterInnen von Arbeit- auch psychische Gewalt. Sie gebrau- geber- und Arbeitnehmerorganisationen sind. 100 chen Schimpfwörter, sie schreien und Jahre einer Institution mit dem selbst definiertem Ziel verletzen uns, weil wir Frauen sind. Wir «Sicherstellung menschenwürdige(r) Arbeit für alle Menschen auf der Welt».5 100 Jahre einer internationa- schweigen, weil wir den Job behalten len Institution, die 187 Mitgliedsstaaten aus aller Welt wollen. Die Gewalt, die wir erleben, ist verzeichnen kann. Dies ist wahrlich ein Anlass, innezu- beides – horizontal und vertikal: Horizon- halten, auf diese hundertjährige Geschichte und die Erfolge der ILO zu blicken sowie diese zu beglückwün- tal, da die männlichen Kollegen, die die schen! gleiche Arbeit machen wie wir, gewalt- tätig und belästigend sind, und vertikal, Zugleich sollte dieser feierliche Moment uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir trotz dieses hun- wenn es von einem Manager kommt als dertjährigen Bestehens nicht von menschenwürdiger Machtbeweis und Machismo gegenüber Erwerbsarbeit weltweit und für alle Bevölkerungsgrup- pen sprechen können. Dies wird auch angesichts von uns. Sie geben Mehrarbeit für den glei- Erfahrungsberichten junger ArbeitnehmerInnen aus chen Lohn, sehen uns als Ware an, als verschiedenen Kontinenten deutlich: Objekte.” (28 Jahre, weiblich, Nicaragua). “Ich habe meine Familie verlassen, um meinen Mann bei der Versorgung unserer Kinder in ihrer Bildung und der Bewältigung unserer finanziellen Nöte zu unterstützen, und ging nach Hongkong. In meinem ersten Arbeits- verhältnis hatte ich kein eigenes Zimmer, sondern übernachtete einfach im Wohnzimmer. Einige Monate später wurde ich von meinem Arbeitgeber sexuell belästigt, kündigte darauf meinen Arbeitsvertrag und bat meine Vermittlungsagentur, mich zurück in die Philippinen zu senden. Die Agen- tur half mir absolut nicht.” (28 Jahre, weiblich, Philippinen) 5 Vgl. https://www.ilo.org/berlin/lang--en/index.htm (letzter Abruf: 09.01.2018). 8
Dies sind keine Einzelfälle. Beim Weltrat der Internatio- nalen Christlichen Arbeiterjugend 2016 diagnostizier- ten Delegierte aus verschiedensten Ländern gemein- same Herausforderungen: unsichere, prekäre Jobs, die keine Zukunftsplanung zulassen – wie beispielsweise Befristungen, Leiharbeit, aber auch Scheinwerkverträ- ge; Reduzierungen oder das Fehlen sozialer Sicherung; Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes und der Herkunft; Benachteiligung junger Menschen wegen mangelnder Berufserfahrung oder schlichtweg wegen des Alters; Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung. “Ich heiße Steve und arbeite seit drei Auf der anderen Seite stehen hoher Druck, (nicht im- Jahren informell als Müllsammler für mer bezahlte) Überstunden und Stress sowie informelle Haushalte. Jede Familie bezahlt mir Erwerbsarbeit. auf die Hand zwischen 2.000 und 5.000 Diese unwürdigen Erwerbsarbeitsbedingungen hin- CFA-Francs“ im Monat, doch das ist sehr dern junge Menschen daran, ihr Umfeld und die Ge- unsicher, weil sie manchmal gar nicht sellschaft mit- oder auch nur ihr eigenes Leben zu ge- stalten. Dabei hätten sie eigentlich ein hohes Interesse bezahlen. In meinem Fall sieht es so aus, daran und würden auch am Arbeitsplatz gerne die ei- als sei ich indirekt angestellt bei AVERDA genen Potentiale und Verbesserungsideen einbringen. (eine Privatunternehmen, dass von Jedoch machen wir zunehmend die Erfahrung, dass ArbeitnehmerInnen an der Organisation und somit der der Regierung für die Müllabholung Mitgestaltung des Arbeitsplatzes gehindert werden. So bezahlt wird).” berichtet ein 22jähriger CAJler aus Paraguay: * Währung der westafrikanischen Wirtschafts- und „Ich arbeite in einer Fabrik, die Kleidung herstellt. Wir Währungsunion; entspricht nach www.oanda.com arbeiten direkt mit den Chemikalien, mit bloßen Hän- 3,05 Euro bis 7,62 Euro (Stand: 16.01.2018). den, ohne Arbeitsschutz. Unsere Chefs beobachten ge- nau, wenn sich Gruppen bilden und wir anfangen, uns über unseren Arbeitsplatz zu unterhalten. Schon mehr- (22 Jahre, männlich, Gabun) fach wurden Kollegen deshalb entlassen. Deshalb ver- suche ich nun, mich außerhalb der Firma mit meinen Kollegen zu treffen.” Von der Hilflosigkeit unter den ArbeitnehmerInnen in einem Unternehmen der Energiebranche erzählt eine “Seit vier Jahren arbeite ich nun mit 26-jährige Deutsche: befristeten Verträgen, die überwiegend “Ohne Betriebsrat waren wir ohnehin aufgeschmissen. Wochen- oder Tagesverträge sind und Schon vor meiner Zeit in der Firma hatte sich ein Ar- wöchentlich oder täglich geschlossen beitnehmer um die Aufstellung eines Betriebsrates be- müht, jedoch erfolglos: Ihm wurde vorher gekündigt. werden. Die Vermittlungsagentur lässt Danach traute sich niemand mehr. Da mein Vertrag dich einen Tag oder ein paar Stunden kurze Zeit später auslief, war mir schon vorher bewusst, dass er nicht mehr verlängert werden würde. Zumin- vorher wissen, dass du zur Arbeit kom- dest musste ich diesmal nicht auf eine Verlängerung men musst. Wenn du nicht schnell hoffen, sondern versuchte direkt, eine neue Anstellung genug reagierst, hast du deinen Job zu finden.“ verloren und kein Geld an diesem Tag Solche Erfahrungen untergraben das Vertrauen junger verdient.” ArbeitnehmerInnen in den sozialen Dialog und seine Institutionen, namentlich die ILO. Über diese Fälle von Verhinderung von Arbeitneh- merorganisation oder des “union busting” stellen sich (26 Jahre, männlich, Belgien) jedoch auch strukturelle Fragen: Inwiefern schützen 9
Gesetze zum Schutz organisierter ArbeitnehmerInnen Planeten? Wie gestalten wir soziale Sicherung, wenn vor der Nicht-Verlängerung befristeter Verträge? Oder das Leitbild – bzw. die Realität – nicht unbedingt die le- wenn ich als Freelancerin (formal?) keine(n) Arbeitge- benslange, feste Vollbeschäftigung ist? ber habe, sondern (schein ?-)selbstständig bin, wie soll ich in einen Dialog zwischen “ArbeitnehmerIn” und Wie gelingt es weltweit, Erwerbsarbeit als einen Teil “ArbeitgeberIn” treten? des Lebens eines Menschen, nicht aber als dessen einzi- gen bestimmenden Inhalt zu betrachten? Wie trennen Zugleich erleben junge ArbeiterInnen aus Freihandels- wir Arbeitszeit von privater Zeit trotz technologischer zonen Guatemalas und Indonesiens bis hin zu Gastro- Möglichkeit, permanent erreichbar zu sein? Wie be- nomiebetrieben Europas die Missachtung gesetzlichen grenzen wir Stress, Druck und verhindern ausufernde Arbeitsrechtes, die auch durch unzureichende oder Überstunden? nur oberflächliche Kontrollen der Einhaltung der Stan- dards ermöglicht wird. Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen - und das heißt jeder Mensch. Würdige Arbeitsbedingungen weltweit In Anbetracht dieser weltweiten Erfahrungen wird heißen würdige Arbeitsbedingungen für jeden und deutlich, wie groß die Herausforderungen und auch jede. Zu diesem Anspruch steht die Ungleichbehand- die Fragen sind, vor denen die Internationale Arbeits- lung von Menschen aufgrund ihres Geschlechtes, des organisation – aber ebenso alle BürgerInnen sowie Alters oder der Herkunft in eklatantem Widerspruch. AkteurInnen gesellschaftlicher Gestaltung – stehen. Wie gelingt es uns also, diese Widersprüche aufzulö- Der Gründer der Christlichen Arbeiterjugend, Cardinal sen? Konkrete Fragen, die dazu gehören: Wie errei- Cardijn, soll bei seinem Tod im Jahr 1967 gesagt haben: chen wir eine Gleichstellung der Geschlechter? Wie ge- „Auf, auf, wir stehen erst am Anfang!“. Diese Aussage stalten wir eine sichere, menschenwürdige und für alle zum Ende eines bewegten Lebens mit einem beachtli- AkteurInnen gewinnbringende (Arbeits)Migration? chen Lebenswerk scheint mir auch passend für dieses Jubiläum. Einiges ist erreicht – und noch mehr ist zu Ich wünsche der ILO und ebenso uns allen, dass wir Ant- tun! worten auf diese Fragen finden und Mechanismen ent- wickeln für menschenwürdige Erwerbsarbeit, Gleich- Der Mensch muss im Mittelpunkt des Wirtschaftens berechtigung und menschenwürdiges Leben für alle stehen. Menschenwürdige Arbeit soll, so die ILO, welt- auf diesem Planeten. weit garantiert werden. Dies bedeutet jetzt und in der Zukunft, dass die Ein- haltung arbeitsrechtlicher Gesetze garantiert werden muss. Wie gelingt dies? Benötigen wir dafür stärkere Kontrollen, die natürlich entsprechende finanzielle Mittel von staatlicher Seite erfordern würden? Wie könnten diese auch bisher schlecht erreichbare Sekto- ren wie die der Hausangestellten erfassen? Es bedeutet auch, dass alle über die Gestaltung von Er- werbsarbeit mitbestimmen können. Wie gelingt also „sozialer Dialog“ jenseits vom „klassischen Gegenüber“ von „ArbeitnehmerInnen“ und „ArbeitgeberInnen“? Es bedeutet, dass Fortschritt dem Menschen dienen muss – also auch die Automatisierung. Die technolo- gische Entwicklung muss allen zugute kommen. Wie Sarah Prenger ist Präsidentin der Inter- sichern wir dies ab? Wie verteilen wir (Erwerbs)Arbeit nationalen Christlichen Arbeiterjugend so, dass jede(r) die eigenen Fähigkeiten einbringen und (IYCW –International Young Christian das Ihre / Seine zum Wohl der Gesellschaft leisten kann? Workers). Die IYCW hat einen Konsulta- Es bedeutet, dass jeder Mensch ein Anrecht auf Sozial- tivstatus bei der ILO. schutz hat. Wie sichern wir also soziale Sicherung, gute Bildung und nötige Infrastrukturen für alle auf diesem www.joci.org 10
Welches sind die größten Heraus- forderungen für die ILO im nächsten Jahrzehnt und was wünschen Sie sich für die Zukunft der ILO? Prossy Nambatya / Koordinatorin JACODeWU, Uganda D ie Arbeit der ILO in und mit verschiedenen Orga- nisationen ist großartig, insbesondere durch die Gewährleistung der Rechte der ArbeitnehmerInnen diger Arbeit, da Menschenrechte und die Rechte für ArbeitnehmerInnen nicht berücksichtigt werden. Des- halb wird die Sicherheit von WanderarbeitnehmerIn- und der Arbeitsnormen. Es gibt jedoch viele Heraus- nen häufig untergraben. forderungen, die die ILO und ihre PartnerInnen in den nächsten zehn Jahren erwarten: Die wirtschaftliche Liberalisierung hat die Arbeitneh- merInnen der Gnade der multinationalen Unterneh- Die Zahl der jungen Menschen, besonders in den Ent- men und InvestorInnen ausgeliefert. Da die Mitglied- wicklungsländern, ist überwältigend hoch, und hier- staaten autonom sind, ist die ILO nicht in der Lage, in bei handelt es sich um Menschen voller Energie, die be- einem bestimmten Land regulierend einzugreifen. Die reit sind, sich in die Arbeitswelt zu wagen. Inzwischen multinationalen Konzerne sind finanziell so mächtig, ist die Zahl der jährlich geschaffenen Arbeitsplätze im dass sie von den Gastländern nicht dahingehend kon- Vergleich zu Personen im erwerbsfähigen Alter weit- trolliert und reguliert werden können, die Normen aus geringer. Außerdem sind viele Länder nicht sehr für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz einzu- streng bei der Durchführung der Ruhestandspolitik, halten. Von Seiten der Gastländer gibt es nur eine sehr sodass viele ältere Menschen sich noch im Arbeitsleben begrenzte oder gar keine Überwachung und Kontrolle befinden und die jungen Menschen außen vor bleiben. der Standards. Viele junge Menschen sind verzweifelt und die Chan- cen auf einen Arbeitsplatz werden jeden Tag geringer, Die rechtlichen Rahmenbedingungen in Bezug auf Ar- sodass in vielen Szenarien Defizite bei der menschen- beits- und Arbeitnehmerrechte bleiben eine Herausfor- würdigen Arbeit entstehen. derung, da sie auf nationaler Ebene ohne die Interven- tion der ILO festgelegt werden. Obwohl die ILO sich um Die zunehmende Arbeitsmigration stellt in vielen Tei- Gerechtigkeit und Fairness in der Arbeitswelt bemüht, len der Welt eine Bedrohung für Beschäftigung dar und kann sie die Mitgliedstaaten kaum zwingen, die inter- führt zu Armut. Was die Binnenmigration angeht, so nationalen Arbeitsnormen umzusetzen. Die Tatsache, verfügen viele Länder nicht über gut geplante Städte, dass die Umsetzung von Arbeitsgesetzen finanzielle die den Eingewanderten leicht Arbeitsplätze zur Ver- Auswirkungen hat und die ILO nicht garantieren kann, fügung stellen können, und die wenigen verfügbaren dass die Mitgliedstaaten die entsprechenden Beträge Arbeitsplätze können die Standards für menschenwür- bereitstellen, um die Durchsetzung der legalen Rah- dige Arbeit nicht erfüllen. So werden die von der ILO menbedingungen zu gewährleisten, kann dazu füh- festgelegten internationalen Standards wahrschein- ren, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen in ei- lich von vielen Mitgliedstaaten nicht erfüllt. In vielen nigen Mitgliedstaaten die internationalen Normen bei afrikanischen Ländern ist die Mehrheit der Bevölke- weitem nicht erfüllen. rung in der Landwirtschaft beschäftigt und mit dem Trend zur Landflucht bleibt die landwirtschaftliche Flä- Daher hat die ILO auch die Aufgabe, die Mitgliedstaa- che unbearbeitet. Stattdessen wandern die Menschen ten zu überwachen, um sicherzustellen, dass die Ver- in die Städte und geraten in den Sektor der informel- pflichtungen und Vereinbarungen eingehalten wer- len Beschäftigung, indem es kaum menschenwürdige den. Andererseits gibt es keine Garantie dafür, dass die Arbeitsbedingungen gibt. Auch auf internationaler Delegierten der Mitgliedstaaten ihre BürgerInnen über Ebene ist die Arbeitsmigration eine Herausforderung, Entscheidungen und Vereinbarungen, die während wenn es um Arbeitsrechte und Chancengleichheit für der Internationalen Arbeitskonferenzen getroffen wer- die Einwandernden geht. Viele Zugewanderte erhal- den, informieren, sodass die Bevölkerung vielleicht gar ten möglicherweise keinen Zugang zu menschenwür- nicht weiß, was sie fordern kann und was ihr zusteht. 11
Vor allem informelle, d.h. unorganisierte Arbeitneh- merInnen und menschenwürdige Arbeitsbedingun- merInnen, sind häufig nicht informiert und können gen anzugleichen. keine Rechenschaftspflicht einfordern, was die Ziele der ILO definitiv beeinträchtigen wird. Die ILO sollte mehr Mandate für Interventionen und Mitspracherechte bezüglich der von den einzelnen Der vermehrte Einsatz von Technologie statt Menschen Mitgliedstaaten festgelegten rechtlichen Rahmenbe- für die Produktion stellt eine große Bedrohung für das dingungen erhalten, um sicherzustellen, dass sie die Erreichen einer menschenwürdigen Beschäftigung internationalen Arbeitsnormen einhalten und die Stan- dar. Dies wirft die Befürchtung auf, dass viele Men- dards für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz schen entlassen und durch Maschinen ersetzt werden, kontinuierlich überwachen. um Kosten zu minimieren und Gewinne zu maximie- ren. Während die ILO mit den Mitgliedstaaten zusam- menarbeiten will, um Arbeitsplätze für viele Menschen zu schaffen, werden gleichzeitig viele Menschen durch den verstärkten Einsatz von Technologie entlassen. Das Ausmaß der Umweltzerstörung stellt eine sehr große Bedrohung für die Natur und die Menschen dar. Viele Länder sind von der globalen Erwärmung betrof- fen, besonders diejenigen, deren wichtigste Beschäfti- gungsquelle schon seit Jahrhunderten die Landwirt- schaft ist. Es besteht die dringende Forderung nach Diversifizierung der Einkommensquellen und nach Be- schäftigungsmöglichkeiten. Und weil die betroffenen Länder für die Veränderungen nicht vollständig vor- bereitet sind, können sie sich nicht sofort an die neue Situation anpassen. Vielfalt und kulturelle Unterschiede untergraben die Möglichkeit für Männer und Frauen auf Chancen- gleichheit in der Arbeitswelt. Frauen sind nach wie vor Prossy Nambatya war bis Ende des Jahres 2017 mit ihrer gesellschaftlich vorgegebenen und repro- Koordinatorin des Joint Action Committee on Decent duktiven Rolle konfrontiert – mit der Konsequenz, dass Work in Uganda (JACODeWU). Das JACODeWU ist ein sie im Hinblick auf Beschäftigungsmöglichkeiten mit Multistakeholderforum von Kirchen, Gewerkschaften, Männern nicht gleichgestellt sind. ArbeitgeberInnen und der Regierung in Uganda zur Förderung des ILO- Länderprogramms ‚Menschen- Das Joint Action Committee on Decent Work in Uganda würdige Arbeit‘. (JACODeWU), welches darauf abzielt, die Länderpro- gramme der ILO für menschenwürdige Arbeit zu un- https://futureofwork-labourafterlaudatosi.net/about- terstützen, wurde 2012 gegründet. Es steht im Dialog the-project/ mit der ILO und hat folgende Wünsche für die Zukunft: Die ILO sollte mit einem robusteren Überwachungs- und Bewertungssystem aufwarten, das die Mitglied- staaten dazu veranlasst, die Verpflichtungen und Ver- einbarungen einzuhalten und umzusetzen, die sie im Hinblick auf die Gewährleistung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen eingegangen sind. Sie sollte internationale Standards fördern, um die mul- tinationalen Unternehmen zu veranlassen, innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen in den Gastlän- dern zu arbeiten, damit die ArbeitnehmerInnen res- pektiert und menschenwürdige Arbeitsbedingungen gewährleistet werden können. Sie sollte sich um eine engere Zusammenarbeit mit anderen globalen Organisationen bemühen, um ihre Programme im Hinblick auf die Rechte der Arbeitneh- 12
Schritt für Schritt zu umfassenderen Formen der Interessenvertretung William Gois / Migrant Forum Asia A ls regionales Netzwerk von Nichtregierungsorga- nisationen (NRO) spielen wir, das MigrantInnen- forum in Asien (MFA – Migrant Forum Asia) bei der sationen in Asien allmählich und in der Golfregion ist er kaum vorhanden. Zwar gibt es Anzeichen dafür, dass sich dies langsam wieder verändert, doch sind Förderung von Verbindungen und Beziehungen eine die Zielländer weiterhin vorsichtig und zögern, mit bedeutende Rolle, und unser Einfluss vor Ort ist unend- diesen Organisationen zusammenzuarbeiten. Dem- lich wertvoll. Das MFA begann seine langjährige Koope- entsprechend steht die ILO im Hinblick auf ihre Koope- ration mit der ILO durch die Mitwirkung und Unterstüt- ration mit MigrantInnenorganisationen vor der Her- zung bei verschiedenen Initiativen und Programmen ausforderung, sich mit zunehmend autoritären und der ILO, darunter beim Projekt „Work in Freedom“6 migrantenfeindlichen Regimen in der ganzen Welt (Arbeit in Freiheit) sowie der Ratifizierungskampagne auseinanderzusetzen. Dies konnte sowohl im Rahmen zu relevanten ILO-Konventionen über MigrantInnen verschiedener zwischenstaatlicher Dialoge als auch bei wie das Übereinkommen Nr. 189 (Übereinkommen der (Nicht-)Gewährung von Freiheiten, die ILO-Initiati- über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte). ven auf institutioneller und arbeitstechnischer Ebene Das MFA beschäftigt sich hauptsächlich mit evidenzba- in der Region genießen, implizit beobachtet werden. sierter Politikanalyse, Medienarbeit und Kampagnen. Durch unsere Arbeit waren wir in der Lage, an intensi- Im Bereich der Migration muss die wirksame Interes- ven Aktivitäten mit Basisorganisationen in über 20 Län- senvertretung und Einbeziehung der Betroffenen bei dern teilzunehmen, die entweder Ziel- oder Herkunfts- Organisationen an der Basis beginnen, die wichtige länder von Migration sind. Ressourcen bereitstellen und gleichzeitig die Rolle von TeilnehmerInnen am Prozess übernehmen. MigrantInnenorganisationen in Asien sind nach wie vor wichtige InteressenvertreterInnen / BeraterInnen Explizit könnte eine effektive Interessenvertretung in verschiedenen dreigliedrigen Vereinbarungen zu durch evidenzbasierte Forschungsarbeit mit Hilfe der den Arbeitsbeziehungen und unterhalten enge Verbin- Dokumentation erreicht werden. Die Dokumentation dungen zu lokalen Gewerkschaften, Regierungsstellen ist eine große Herausforderung für Migrantenorgani- und Privatunternehmen. Zuletzt wurden VertreterIn- sationen aufgrund der immer wiederkehrenden Praxis nen der Zivilgesellschaft eingeladen, als BeobachterIn- der Beschlagnahme von Pässen und anderen Doku- nen am Abu Dhabi-Dialog (ADD)7 teilzunehmen. Das menten. Obwohl die Notwendigkeit einer politikba- MFA konnte über einen längeren Zeitraum relevante sierten Interessenvertretung und von Empfehlungen Impulse geben und an den Gesprächen mit den Regie- zu den Beschäftigungspraktiken in den Ländern betont rungen während des gesamten ADD teilnehmen. Wäh- wird, muss auch die Einbeziehung der Dokumentation rend die Zivilgesellschaft dies als Wendepunkt bei der als wichtige Informationsquelle in Angriff genommen Verbesserung der Beziehungen zu den Regierungen werden. Aus diesem Grund wurde die Anwerbebera- in der Region betrachten kann, führt das dynamische tung für MigrantInnen (Migrant Recruitment Advisor gesellschaftspolitische Klima in Asien dazu, dass Mig- - MRA) im Rahmen der Initiative für faire Anwerbung rantInnenorganisationen ständig nach neuen Wegen von Arbeitskräften (Fair Recruitment Initiative) entwi- suchen, um mit der Gemeinschaft der MigrantInnen ckelt. Sie wurde zu einem wichtigen Programm, um und anderen wichtigen AkteurInnen in Kontakt zu auf Verstöße gegen die ordnungsgemäße Anwerbung treten. Im Gegensatz zu anderen Regionen schrumpft von Arbeitskräften zu reagieren. Das MFA unterstützt der Handlungsspielraum der MigrantInnenorgani- dies durch sein Meldesystem für die Verletzung von MigrantInnenrechten (Migrants Rights Violation Re- 6 S. die Beschreibung dieses ILO-Programms hier: https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/projectdocumentation/wcms_217626.pdf. 7 Der ADD wurde 2008 als Forum für den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen asiatischen Herkunfts- und Zielländern von Arbeitskräften gegründet. Als staatlich gelenkter regionaler Beratungsprozess (RCP) zielt der ADD darauf ab, eine sichere, geordnete und regelmäßige Arbeitsmigration in einigen der weltweit größten tempo- rären Korridore für Arbeitsmigration zu ermöglichen. Weitere Informationen unter: http://abudhabidialogue.org.ae/about-abu-dhabi-dialogue 13
porting System - MRS/Hamsa). Die Mitglieder des Netz- und der Migrationskorridore weiter fördern. Die Akti- werks werden ermutigt, entsprechende Verstöße über vitäten müssen sich nun darauf konzentrieren, diesen das System zu melden, und in einigen Fällen werden kontinuierlichen Prozess der Kampagnen und Initiati- auch die nationalen Mechanismen zur Beilegung von ven zur Umsetzung und Überwachung innerhalb der Missständen einbezogen, damit das Soforthilfe-Team Migrationskorridore, Regionen und Nationen fortzu- die erforderlichen Maßnahmen ergreifen kann. Mit Un- setzen. Nichtregierungsorganisationen und Gewerk- terstützung des Internationalen Gewerkschaftsbundes schaften können getrennt mobilisieren, müssen aber (IGB) und der ILO hat das System bei den Mitgliedern zusammenarbeiten, um einen nachhaltigen Beitrag stetige Fortschritte erzielt und trägt auch zu einer grö- zur Agenda zu leisten. Folglich können wir, indem wir ßeren Interessenvertretungsagenda bei. den politischen Spielraum für die Einbeziehung und Anerkennung der Rolle von AkteurInnen wie Grenz- Darüber hinaus ist es notwendig, Basisorganisationen beamte oder SubagentInnen, Flüchtlingshilfeorgani- und andere AkteurInnen (z.B. SubagentInnen) einzu- sationen und anderen NRO und Gremien festlegen, binden und ständig dazu zu verpflichten, ihre Arbeit ein stärkeres Engagement erreichen, wenn wir den auf zu dokumentieren. In dieser Hinsicht hat die ILO die Rechten basierenden Ansatz operationalisieren. Zivilgesellschaft stets unterstützt und baut weiterhin fruchtbare Beziehungen zu ihr auf. Das MFA seinerseits Darüber hinaus haben Hausangestellte, was den Be- setzt seine Kampagnen auf regionaler und nationaler reich der Migration angeht, insbesondere für die Zivil- Ebene fort, indem es WanderarbeiterInnen, Journalis- gesellschaft weiterhin oberste Priorität, da sie schutz- tInnen, religiös orientierte ArbeitnehmerInnen, Sozi- bedürftig sind und in einigen Fällen sowohl in den alarbeiterInnen und Regierungsbeamte organisiert, Ziel- als auch in den Herkunftsländern keine Grund- um wichtige Diskussionen zu fördern und den Zusam- rechte haben. Die ILO unterstützt diesen Bereich wei- menhalt zu ermöglichen. Ein Beispiel für die Zusam- terhin, insbesondere während der 100. Tagung der menarbeit zwischen MFA und der ILO war der Globale Internationalen Arbeitskonferenz, auf der das Überein- Medienwettbewerb zur Arbeitsmigration (Global Me- kommen Nr. 189 über Hausangestellte verabschiedet dia Competition on Labour Migration) (2017), der eine wurde. Internationale Standards sollten zur Verbesse- qualitativ hochwertige Medienberichterstattung über rung ihrer Arbeitsbedingungen dienen, was ein Mei- Migration und Personalrekrutierung in der ganzen lenstein für MigrantInnen und Menschenrechte war. Welt förderte. Während die vor uns liegende Aufgabe für uns als Zivil- gesellschaft herausfordernd ist, kann ein umfassender Im gegenwärtigen geopolitischen Klima sind zivilgesell- und stetiger Fortschritt aufrechterhalten werden, um schaftliche Organisationen nicht nur mit ungeregelter/ die Ratifizierungskampagne durch eine enge regiona- geregelter Arbeitsmigration, sondern auch mit großen le Ausrichtung aufrechtzuerhalten. Flüchtlingsbewegungen konfrontiert. Es besteht also die Notwendigkeit, soziale Schutzmaßnahmen oder Zudem bleibt das Phänomen der Zwangsarbeit in den Maßnahmen zur sozialen Sicherheit von Flüchtlingen gesamten Migrationskorridoren bestehen und verletzt zu formulieren, die eine langfristige Eigenständigkeit grundlegende und fundamentale Menschenrechte. ermöglichen und nicht nur eine bloße Reaktion darstel- Durch illegale Methoden bei der Anwerbung von Ar- len. Dies veranlasste die internationale Gemeinschaft, in beitsmigrantInnen wird das Problem der Zwangsarbeit zwei globalen Verträgen separate Agenden für Flücht- noch verschärft. Das 2016 in Kraft getretene ILO-Proto- linge und MigrantInnen auszuarbeiten. koll zur Bekämpfung neuer Formen von Zwangsarbeit zielte darauf ab, dieses Problem anzugehen. Durch In einer Zeit, in der die Interessenvertretung für Mig- die Ratifizierung dieses Protokolls sind die Länder ver- rantInnen dringend eines weltweit vereinbarten und pflichtet, Fälle von Zwangsarbeit regelmäßig zu mel- ratifizierten Leitfadens zur Steuerung von Arbeit und den und zu bearbeiten, und dadurch übernehmen sie Migration bedarf, bietet der „Globale Pakt zu Migrati- Verantwortung sowohl gegenüber ihren Staatsange- on“ Hoffnung und Gelegenheit, die Handhabung der hörigen als auch der migrantischen Bevölkerung ge- Migration zu verbessern und aktuelle Fragen und Her- genüber. ausforderungen im Zusammenhang mit der Migration anzugehen. Während zivilgesellschaftliche Organi- Angesichts dieser Herausforderungen sind die drin- sationen wie das MFA ihre Besorgnis über den unver- gendsten Bedürfnisse der Interessenvertretung für Mi- bindlichen Charakter des Dokuments zum Ausdruck grantInnen folgende: Konzentration auf sich abzeich- bringen, ist der „Globale Pakt zu Migration“ doch ein nende Migrationstendenzen; Einbeziehung der Rechte Schritt in die richtige Richtung und könnte als Verweis von MigrantInnen und Flüchtlingen unter dem größe- auf die Bedeutung fairer und sicherer Einwanderungs- ren Dach der Menschenrechte; Kapazitätsaufbau und verfahren dienen. Außerdem würde er die multilatera- ständige Zusammenarbeit mit Organisationen an der len Bemühungen im Bereich der Arbeitsbeziehungen Basis im Hinblick auf evidenzbasierte Forschung und 14
Interessenvertretung. In Anerkennung der Komple- mentarität der beiden Globalen Pakte zum Schutz von MigrantInnen und Flüchtlingen fordern wir die Länder nachdrücklich auf, die in den Pakten genannten Be- stimmungen umzusetzen und ihre Bedeutung für die Wahrung der Menschenrechte von MigrantInnen und Flüchtlingen in der ganzen Welt hervorzuheben. Ob- wohl die ILO eine Organisation ist, die sich in erster Li- nie mit den Herausforderungen der Arbeitsmigration befasst, fordern wir die Organisation auf, auch bei der Entwicklung des Globalen Paktes für Flüchtlinge mit- zuwirken, um die Gleichwertigkeit der beiden Pakte zu gewährleisten. William Gois vertritt das Migrant Forum Asia, Während wir die Bemühungen der ILO in den Berei- einem regionalen Netzwerk aus Nicht-Regierungs- chen Arbeitsmigration, faire Anwerbung von Arbeits- organisationen, Verbänden und Gewerkschaften kräften und Geschlechterstudien im Migrationskon- von ArbeitsmigrantInnen sowie individuellen text begrüßen, bestehen wir darauf, die Beziehungen JuristInnen in Asien, das sich für den Schutz und zur Zivilgesellschaft über die Gewerkschaften hinaus die Förderung der Rechte von ArbeitsmigrantIn- zu stärken, um verschiedene nichtstaatliche AkteurIn- nen aus dem asiatischen Raum einsetzt. nen einzubeziehen und so eine wirklich integrative und langfristige globale Interessenvertretungsstruktur www.mfasia.org einzuführen. Verteidigung eines auf Rechten basierenden Ansatzes zur Regulierung der Arbeitsmigration Nicola Piper / Asia Pacific Migration Centre der Universität Sydney D as entstehende internationale Arbeitssystem durch grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitneh- merInnen wurde im Allgemeinen und für die ILO im und der zunehmenden oder anhaltenden Privatisie- rung wesentlicher öffentlicher Güter wie Gesundheit und Bildung ist. Was die Regulierung der Arbeitneh- Besonderen als eine der größten Herausforderungen mermobilität betrifft, so sind die multilateralen Rah- identifiziert. Von den schätzungsweise 232 Mio. Mig- menwerke (wie die ILO-Übereinkommen Nr. 97 und rantInnen, die weltweit unterwegs sind, haben bis zum 1438) stark „unter-ratifiziert“ und (wesentlich verbrei- Jahr 2013 150 Mio. ihre Herkunftsländer verlassen, um tetere) bilaterale Vereinbarungen enthalten nur selten Arbeit zu suchen (ILO 2015). Die meisten Formen der Klauseln über Rechte. Dieser Sachverhalt hat tiefgrei- Migration sind auf beschäftigungsrelevante Aspekte fende Auswirkungen auf die Einstellung und Beschäf- zurückzuführen, da die geografische Mobilität weitge- tigung von MigrantInnen. hend eine Antwort auf fehlende wirtschaftliche Mög- lichkeiten aufgrund von unzureichenden oder nicht Die ausbeuterischen Tendenzen im Rekrutierungspro- vorhandenen sozialen Sicherheitsnetzen der Staaten zess entlang globaler Produktions- und Pflegeketten, 8 Das ILO-Übereinkommen Nr. 97 „Übereinkommen über Wanderarbeiter“, trat 1952 in Kraft. 49 der 187 ILO-Mitgliedsstaaten haben dieses Übereinkommen bisher ratifiziert, unter ihnen Deutschland im Jahr 1959. Das ILO-Übereinkommen Nr. 143 „Übereinkommen über Mißbräuche bei Wanderungen und die Förderung der Chancengleichheit und der Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer“ trat 1978 in Kraft. 23 ILO-Mitgliedsstaaten haben dieses Übereinkommen bisher ratifiziert, Deutschland gehört nicht dazu. 15
die Ersetzung von Verträgen sowie die Unter- und Nicht- tem der ILO, das in Bezug auf die globalen Regierungs- zahlung von Löhnen sind in der Tat die drängendsten institutionen einzigartig ist, da es eine nahezu gleich- Probleme, die von MigrantInnen- und Arbeitsrechts- berechtigte Vertretung der ArbeitnehmerInnen neben aktivistInnen identifiziert wurden (unterstützt durch ArbeitgeberInnen und Regierungen ermöglicht. Da die Forschungsergebnisse9). Gut dokumentierte Fälle von Arbeitnehmervertretung über formale Gewerkschaf- Ausbeutung, wie die Behandlung südasiatischer Bau- ten jedoch historisch von der europäischen und nord- arbeiterInnen, die vor der FIFA Fußball-Weltmeister- amerikanischen Erfahrung der industriellen Revoluti- schaft 2022 in Katar beschäftigt sind, sind in dieser Hin- on und der Arbeiterbewegung abgeleitet ist, basiert sie sicht nur die Spitze des Eisbergs (Amnesty International auf qualifizierten ArbeitnehmerInnen in formalisier- 2016). MigrantInnen sind häufig vom Missbrauch und ten Beschäftigungsverhältnissen, die auf einem Modell der Verletzung ihrer Arbeitsrechte betroffen, und zwar der „industrial citizenship“ (Berufsbürgerschaft) basie- nicht nur während der Beschäftigung in Übersee, son- ren, das sich aus westlichen Kontexten ableitet. Histo- dern während des gesamten Migrationszyklus, begin- risch gesehen waren informelle ArbeitnehmerInnen, nend bereits in der Phase vor der Migration und auch darunter Frauen und MigrantInnen, lange Zeit von der nach der Rückkehr. politischen Repräsentation und dem Prozess der Festle- gung von Standards ausgeschlossen, deren Hauptmit- Einer der grundlegenden Sachverhalte, die Ursache tel die Schaffung einer Reihe von Übereinkommen und für das problematische globale Arbeitssystem sind, ist Empfehlungen zu nationalen Arbeitspraktiken waren. die fehlende Mobilitätsfreiheit. MigrantInnen werden In der gegenwärtigen Phase der Transnationalisierung in der Regel mit befristeten Verträgen eingestellt und der Arbeitsmärkte reicht jedoch ein für nationale Re- sind oft an bestimmte ArbeitgeberInnen gebunden. gulierungssysteme konzipierter Standardisierungsrah- Dies macht WanderarbeitnehmerInnen außerordent- men nicht mehr aus. lich verwundbar und verzerrt das Machtgleichgewicht zugunsten der ArbeitgeberInnen. Wie bereits der erste In diesem Zusammenhang weisen zwei Beispiele aus Direktor der Internationalen Arbeitsorganisation, Al- jüngster Zeit auf einen schrittweisen Reformprozess bert Thomas, in einer Rede vor der Weltbevölkerungs- innerhalb der ILO hin: das Übereinkommen zur Heim- konferenz von 1927 feststellte, hat die Praxis der Mig- arbeit (Nr. 177, 1996), das einen Durchbruch für eine rationspolitik zunehmend restriktiven und selektiven weitgehend weibliche informelle Erwerbsbevölkerung Charakter angenommen. Er wies darauf hin, dass „die darstellte, obwohl es nach wie vor ein besonders „un- Entwicklung von praktisch vollständiger Freiheit zu ter-ratifiziertes“ Instrument ist. Das Übereinkommen einer immer strengeren Regulierung durch kollektive über private Arbeitsvermittlung (Nr. 181, 1997) stellt und nationale Maßnahmen“ tendiert und dass die Mi- ein Instrument dar, das die entstehenden transnatio- grationsbewegungen „eine grundlegende Transfor- nalen Arbeitssysteme anerkennt (Standing 2008). Das mation erfahren. Die mehr oder weniger anarchische ILO-Übereinkommen für menschenwürdige Arbeit Freiheit, mit der (…) sie vorgegangen sind, nimmt nun für Hausangestellte (Nr. 189, 2011) ist das jüngste Bei- ab, und die Regierungen neigen dazu, sie einer immer spiel, das nicht nur für eine große Zahl von Arbeit- strengeren Kontrolle zu unterwerfen.“ (1983, 705). Die nehmerInnen im Globalen Süden relevante Normen zentrale Herausforderung für die ILO besteht daher da- liefert – Frauen, informell Beschäftigte und MigrantIn- rin, diese Praxis des „Migrationsmanagements“ durch nen – sondern ihre Entstehung war auch Gegenstand einen auf Rechten basierenden Ansatz für Migration zu eines halbrevolutionären Prozesses, bei dem viele ersetzen, der das Recht auf Arbeit und die Rechte am zivilgesellschaftliche Organisationen über die klassi- Arbeitsplatz als universelles Recht umfasst. Mit dem schen Gewerkschaften hinaus einbezogen wurden, die Anspruch, „das Zentrum für normatives Handeln in der hauptsächlich qualifizierte, formelle (vor allem männ- Arbeitswelt, eine Plattform für internationale Debatten liche) Arbeitskräfte repräsentieren. Dies hat den immer und Verhandlungen über Sozialpolitik und eine Quelle lauter werdenden Stimmen, die die ILO auffordern, ein von Diensten für Lobbyarbeit“ (ILO 1999:2) zu sein, ist „dreigliedriges Plus-System“ über die strengen Gren- die ILO theoretisch ideal positioniert, um einen solchen zen der Arbeitnehmervertretung durch ausschließlich auf Rechten basierenden Ansatz für die Steuerung der konventionelle Gewerkschaften hinaus zu erwägen, ei- Arbeitsmigration zu entwickeln. nen neuen Impuls gegeben. Ein wichtiger Weg zur allmählichen Verwirklichung Als Reaktion auf das wachsende Bewusstsein von pre- eines solchen auf Rechten basierenden Ansatzes wird kären Beschäftigungsverhältnissen startete die Inter- durch die Demokratisierung des Entscheidungspro- nationale Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 1999 eine zesses und die Beteiligung der betroffenen Menschen Kampagne “menschenwürdige Arbeit für alle”. Was beschritten. Es ist wieder einmal das dreigliedrige Sys- die Prekarität von MigrantInnen anbelangt, so war ein 9 Siehe zum Beispiel Farbenblum, B., Taylor-Nicholson, E. and Paoletti, S. (2013), Migrant Workers’ Access to Justice at Home: Indonesia, Open Society Foundations: New York. 16
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