Working paper no. 15 Christina Schaefer - SFB 980
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working paper no. 15 Christina Schaefer Esperienza. Zur Diskursivierung von Erfahrungswissen in Leon Battista Albertis Libri della famiglia Sonderforschungsbereich 980 Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit Collaborative Research Centre Episteme in Motion. Transfer of Knowledge from the Ancient World Berlin 2019 to the Early Modern Period ISSN 2199-2878
SFB Episteme – Working Papers Die Working Papers werden herausgegeben von dem an der Freien Universität Berlin angesiedelten Sonderforschungsbereich 980 Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit und sind auf der Website des SFB sowie dem Dokumentenserver der Freien Universität Berlin kostenfrei abrufbar: www.sfb-episteme.de und http://refubium.fu-berlin.de Die Veröffentlichung erfolgt nach Begutachtung durch den SFB-Vorstand. Mit Zusendung des Typoskripts überträgt die Autorin/der Autor dem Sonderforschungsbereich ein nichtexklusives Nutzungsrecht zur dauerhaften Hinterlegung des Dokuments auf der Website des SFB 980 sowie dem Refubium der Freien Universität. Die Wahrung von Sperrfristen sowie von Urheber- und Verwertungsrechten Dritter obliegt den Autorinnen und Autoren. Die Veröffentlichung eines Beitrages als Preprint in den Working Papers ist kein Ausschlussgrund für eine anschließende Publikation in einem anderen Format. Das Urheberrecht verbleibt grundsätzlich bei den Autor/innen. Zitationsangabe für diesen Beitrag: Christina Schaefer: Esperienza. Zur Diskursivierung von Erfahrungswissen in Leon Battista Albertis Libri della famiglia, Working Paper des SFB 980 Episteme in Bewegung, No. 15/2019, Freie Universität Berlin Stable URL online: https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/17607 Working Paper ISSN 2199 – 2878 (Internet) Diese Publikation wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung“ Freie Universität Berlin Schwendenerstraße 8 D – 14195 Berlin Tel: +49 (0)30 838-503 49 Email: info@sfb-episteme.de
Esperienza. Zur Diskursivierung von Erfahrungswissen in Leon Battista Albertis Libri della famiglia Christina Schaefer Abstract: Der Beitrag untersucht die Kategorie des Erfahrungswissens als eine spezifische Form elusiven Wissens am Beispiel von Leon Battista Albertis Libri della famiglia (1433–41). Im Zentrum steht die Frage, wie in diesem ökonomischen Dialog der Renaissance das Problem der Vermittelbarkeit von Erfahrung verhandelt wird und mit welchen diskursiven Strategien ihm begegnet wird. Zunächst erfolgt ein Aufriss des Problemfeldes, inwiefern Erfahrungswissen als eine Form elusiven Wissens zu bewerten ist (1). Dann zeigt ein skizzenhafter historischer Überblick, dass das rinascimentale Lob der Erfahrung auf eine lange, bereits antike Tradition rekurriert (2). Anschließend werden verschiedene Strategien untersucht, mittels derer die Sprecher in Albertis Dialog Erfahrung zu fassen und zu vermitteln versuchen: der Umgang mit erfahrenen Leuten (3.1), das Erzählen von Anekdoten (3.2) und die Entwicklung einer erfahrungsbasierten Lehre (3.3). Abschließend wird die Frage aufgeworfen, inwieweit die Dialogfiktion selbst als ein Versuch gelten muss, dem Leser historisches Erfahrungswissen auf besonders anschauliche Weise, nämlich im Als ob eines lebendigen Gesprächs, zu vermitteln (4). Abstract: Taking the example of Leon Battista Alberti’s Libri della famiglia (1433–41), this paper investigates the category of experience as a specific form of elusive knowledge. It focuses on how the problem of communicability of experience is treated in this Renaissance dialogue on oikonomia and which discursive strategies are employed in order to cure it. First, I will sketch the problem of experience as a form of elusive knowledge (1). Then, a short historical outline shall demonstrate that the rinascimental praise of
2 Christina Schaefer experience draws from a long, ancient tradition (2). After that, I identify the strategies used by the speakers of Alberti’s dialogue in order to get hold of experience and to communicate it: having contact with experienced people (3.1), telling anecdotes (3.2), and developing an experience-based doctrine (3.3). Finally, I’ll raise the question in what sense the dialogical fiction must itself be considered an attempt to convey historical experience to the reader in a particularly vivid way, i.e. by mimicking real conversation (4). Dass Erfahrung eine ganz spezifische Form von Wissen generiert oder generieren kann, ist keine neue Erkenntnis. Als notorischer Verteidiger des Erfahrungswissens gilt bereits Michel de Montaigne, der der Erfahrung das letzte Kapitel seiner Essais (1580), „De l’experience“ (Buch III, 13), widmet. Aus Montaignes Sicht lehrt uns insbesondere die Erfahrung, die ‚wir selbst (mit uns) gemacht haben‘, alles, was wir brauchen: „l’experience […] que nous avons de nous mesme [...] [est] certes suffisante à nous instruire de ce qu’il nous faut“.1 Ja, sie gilt ihm als Quelle der Weisheit: „De l’experience que j’ay de moy je trouve assez de quoy me faire sage“.2 Montaigne schließt hier, freilich mit Fokus auf dem, was man ‚an und mit sich selbst‘ (und nicht zuletzt am eigenen Leib), erfahren hat, an die aus der Antike überlieferten Sentenzen an, nach denen Erfahrung (experientia bzw. usus) die beste Lehrmeisterin sei.3 Zugleich macht sich aber schon bei ihm eine Schwierigkeit bemerkbar, wenn es darum geht, Erfahrung in Sprache zu fassen: „Je ne sçay qu’en dire, mais il se sent par experience que tant d’interprétations dissipent la verité, et la rompent“.4 Das Problem, das sich hier bei Montaigne andeutet, ist jenes der Vermittel- und Kommunizierbarkeit von Erfahrung, und zwar von Erfahrung im Allgemeinen, 1 Michel de Montaigne, „De l’experience“, in: ders., Essais, hg. von Albert Thibaudet, Paris 1950 (Bibliothèque de la Pléiade 14), S. 1194–1257, hier S. 1204. 2 Ebd., S. 1205. 3 Vgl. etwa: „Est rerum omnium magister usus“ (Caesar, De bello civili, 2, 8, 3), „Usus magister est optimus“ (Cicero, Pro C. Rabirio Postumo oratio 9), „Experientia docet“ (MA H. Walther 8521 b), hier zitiert nach: Hubertus Kudla (Hg.), Lexikon der lateinischen Zitate: 3500 Originale mit Übersetzungen und Belegstellen, 3., durchges. Auflage, München 2007 (11999), S. 239. – Von der Erfahrung (uso) als ‚Vater‘ der Weisheit spricht wenige Jahre vor Montaigne auch Stefano Guazzo in seiner Civil conversazione (1574/79): „’l padre della sapienzia è l’uso e la madre la memoria“ (Stefano Guazzo, La civil conversazione, 2 Bde., hg. von Amedeo Quondam, Modena 1993, Bd. 1, S. 26). Der Herausgeber, Amedeo Quondam, nennt als mögliche Quelle folgendes Aulus Gellius-Zitat: „Usus me genuit, mater peperit Memoria/Sophiam vocant me Grai, vos Sapientiam“ (ebd., Bd. 2, S. 64, Anm. 133). – Zur Korrelation und synonymen Verwendung von experientia und usus vgl. unten Anm. 15. 4 Montaigne, „De l’experience“, S. 1197; m. Herv.
Esperienza 3 keineswegs nur von der Erfahrung ‚von‘ bzw. ‚mit sich selbst‘ (de nous mesme/de moy, wie Montaigne formuliert). Und es ist dieses Vermittlungsproblem, das Erfahrungswissen zu einer spezifischen Form elusiven Wissens macht:5 Was man aus Erfahrung weiß, weiß man, weil man es selbst erfahren, nicht weil man es gesagt bekommen oder gelesen hat. Montaigne ist nun keineswegs der erste, der den Wert der Erfahrung schätzt. Die Renaissance gilt generell als eine Epoche, die dem Erfahrungswissen einen neuen, wichtigen Stellenwert zuschreibt. Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Beitrag einen frühen volkssprachlichen Dialog des Quattrocento, Leon Battista Albertis Libri della famiglia (1433–41), in dem die Kategorie der esperienza an diversen Stellen stark gemacht wird. Im Zentrum steht hierbei die Frage, inwiefern in dieser – neben Tassos Padre di famiglia (1580) – wohl bekanntesten italienischen Renaissance-Ökonomik das Problem der Vermittelbarkeit von Erfahrungswissen eine Rolle spielt bzw. explizit verhandelt wird. Speziell wird es dabei um eine Analyse der Diskursivierungsstrategien gehen, die in diesem Dialog im Hinblick auf Erfahrungswissen zum Einsatz kommen. I. Erfahrungswissen als elusives Wissen Inwiefern kann Erfahrungswissen als eine Form elusiven Wissens aufgefasst werden? Erfahrungswissen, darin ist sich die aktuelle Forschung über die Fächergrenzen hinweg einig, ist nicht ohne Weiteres von seinem Träger, dem Subjekt der Erfahrung, ablösbar und auf andere Personen oder in (propositionale) Sprache transferierbar.6 Es ist, anders gesagt, nicht restlos objektivierbar bzw. nicht ohne Verluste in ein regelfähiges bzw. propositionales Wissen umwandelbar.7 5 Zum Begriff des elusiven Wissens vgl. Ulrike Schneider, „Vom Wissen um gratia. Strategien der Diskursivierung elusiven Wissens in der Frühen Neuzeit“, in: dies./Anne Eusterschulte (Hgg.), Gratia. Mediale und diskursive Konzeptualisierungen ästhetischer Erfahrung in der Vormoderne, Wiesbaden, S. 89–105. Vgl. auch insgesamt die Arbeit des Teilprojekts B05 „Theorie und Ästhetik elusiven Wissens in der Frühen Neuzeit: Transfer und Institutionalisierung“ (Leitung Prof. Dr. Ulrike Schneider) des SFB 980 „Episteme in Bewegung“ und insb. die Einleitung des im Rahmen dieses Teilprojekts entstandenen Sammelbands Por le cose innanzi agli occhi. Medien- und gattungsspezifische Modi der Diskursivierung elusiven Wissens in Dichtungen der Frühen Neuzeit, hg. von Ulrike Schneider, Wiesbaden (in Vorbereitung). 6 In Übereinstimmung mit einigen Grundannahmen des SFB 980 ließe sich auch sagen, dass ein Transfer immer schon eine Restrukturierung, Rekontextualisierung und insofern Wissensveränderung bedeutet. Im Fall von Erfahrungswissen ist diese Veränderung im Transfer nun allerdings offenbar so grundlegend, dass das, was Erfahrungswissen ausmacht, zumindest partiell verloren geht. 7 Zur Nichtpropositionalität und Nichtobjektivierbarkeit von Erfahrung vgl. Christiane Schildknecht, „Metaphorische Erkenntnis – Grenze des Propositionalen?“, in: Metapher,
4 Christina Schaefer Damit rückt das Erfahrungswissen in die Nähe dessen, was Gilbert Ryle als knowing how beschrieben hat: als ein praktisches Wissen, das sich nur im Vollzug aktualisiert und nur in der Ausführung und Einübung, nicht durch Lernen von Regeln erworben wird.8 Nach Ryle entzieht sich ein knowing how der Propositionalisierung, d.h. der Überführung in ein knowing that zwar nicht grundsätzlich, aber es geht darin – qua praktisches Wissen – nicht auf: Die durchaus (nachträglich) formulierbaren Regeln versetzen den Wissensträger schlicht noch nicht in die Lage, die gewünschte Tätigkeit auch tatsächlich Kognition und Künstliche Intelligenz, hg. von Hans Julius Schneider, München 1996, S. 33–52, hier S. 42–44; Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 2., durchges. und um einen Anh. und ein Nachw. erw. Auflage, Göttingen 1999 (11982), S. 230–235. Zur „linguistic incommunicability“ von Erfahrung vgl. David Lewis, „What experience teaches“, in: Mind and Cognition: A Reader, hg. von William G. Lycan, Cambridge, Mass./Oxford 1990, S. 499–519, hier S. 515 (unter Rekurs auf ein Zitat von Laurence Nemirow). Zum Problem, „Erfahrung zu erzählen“ vgl. Andreas Kablitz, „Erzählung und Erfahrung, oder: Von der Unmöglichkeit, Erfahrung zu erzählen“, in: Erfahrung und Referenz. Erzählte Geschichte im 20. Jahrhundert, hg. von Axel Rüth und Michael Schwarze, Paderborn 2016, S. 27–41. Zur nichtvollständigen Überführbarkeit von Erfahrungswissen in „objektivierbare[s] Wissen“ vgl. Fritz Böhle, „Wissenschaft und Erfahrungswissen – Erscheinungsformen, Voraussetzungen und Folgen einer Pluralisierung des Wissens“, in: Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, hg. von Stefan Böschen und Ingo Schulz-Schaeffer, Wiesbaden 2003, S. 143–177, hier S. 171. Zu gewissen „vorsprachliche[n]“ und insofern nichtpropositionalen Momenten von Erfahrung vgl. Friederike Rese, Erfahrung als eine Form des Wissens, Freiburg i. Br./München 2014, S. 271–293, hier S. 271. – Uneins ist sich die Forschung darüber, inwieweit die nichtpropositionalen Anteile von Erfahrungswissen endgültig nicht zu propositionalisieren sind: Lewis geht von einer prinzipiellen sprachlichen Unkommunizierbarkeit von Erfahrung aus, und Wieland betrachtet Erfahrung als grundsätzlich „nicht objektivier[bares]“ und „nichtpropositionales Wissen“ (Wieland, Platon, S. 230 und 224). Rese hingegen bezweifelt genau dies (vgl. Rese, Erfahrung, S. 39 und 50f., Anm. 82). Unter Rekurs auf Aristoteles postuliert sie eine genuin begriffliche und sprachliche Struktur von Erfahrungswissen: Dieses sei zwar „schwer“ mitteilbar, aber es sei mitteilbar, weil es im Unterschied zu Wahrnehmungswissen auf dem Vermögen des Denkens und Urteilens beruhe und dieses seinerseits immer schon vom logos, also begrifflich bzw. sprachlich geprägt sei (vgl. ebd., S. 50, Anm. 82). Sie lässt aber offen, worin die von ihr erwähnte ‚Schwierigkeit‘ der Mitteilung von Erfahrungswissen konkret besteht. Damit darf es weiter als fraglich gelten, dass die Propositionalisierung, wie Rese behauptet, verlustlos vonstatten geht. – Zur These, dass Erfahrungswissen unter bestimmten Voraussetzungen und insbesondere durch Narrativierung „durchaus kommunizierbar“ sei (Böhle, „Wissenschaft und Erfahrungswissen“, S. 167), vgl. unten Abschnitt 3.2. 8 „When a person knows how to do things of a certain sort (e.g., make good jokes, conduct battles or behave at funerals), his knowledge is actualised or exercised in what he does. It is not exercised (save per accidens) in the propounding of propositions or in saying ‚Yes‘ to those propounded by others“ (Gilbert Ryle, „Knowing How and Knowing That. The Presidential Address“, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series 46 (1945/46), S. 1– 16, hier S. 8; Herv. im Original).
Esperienza 5 auszuführen.9 Genau in dieser Fähigkeit zur Ausführung aber besteht das knowing how. Besonders evident ist dies in Bereichen, in denen körperlich- sinnliche Erfahrung bzw. praktische Übung eine wichtige Rolle spielen, z.B. beim Sport oder beim Spielen eines Musikinstruments. Selbst wenn man theoretisch weiß, wie die Bewegung der Finger am Klavier oder die Schwimmbewegung ablaufen, heißt das noch nicht, dass man Klavierspielen oder Schwimmen kann.10 Dasselbe gilt für scheinbar so ‚unkörperliche‘, ‚regelgeleitete‘ Tätigkeiten wie das Schachspielen, das Ryles Paradebeispiel ist: Einen guten Schachspieler erkennt man nicht daran, dass er sämtliche Regeln des Schachs aufsagen kann, sondern dass er fähig ist, in der jeweiligen Spielsituation einen guten Zug zu machen.11 Auch im Bereich situativer und sozialer Kompetenzen, d.h. menschlicher Interaktion und gesellschaftlichen Verhaltens, geht es offensichtlich ganz wesentlich um knowing how. Ryle zitiert nicht zufällig das „[knowing how to] behave at funerals“ als Beispiel.12 Dass bei all diesen Beispielen von praktischem Wissen eine gewisse Körperlichkeit, d.h. eine körperliche Aktivität oder die physische Präsenz eines Gegenübers, eine Rolle spielt, scheint ebenfalls kein Zufall zu sein. In Michael Polanyis Konzept des praktischen Wissens, genauer: des tacit knowing, spielt der körperliche Aspekt sogar eine ganz zentrale Rolle.13 Beim tacit knowing handelt es sich nach Polanyi um ein jeglichem Erkenntnisvorgang implizites Wissen, das sprachlich nicht fassbar ist, weil es an unterschwellige Wahrnehmung (subception) und ein körperliches Moment von Erkenntnis gekoppelt ist. Tacit knowing ist, so Polanyi, ein vom Körper ‚interiorisiertes‘, ein ‚inkorporiertes‘, ‚einverleibtes‘ Wissen.14 Mit Polanyi lässt sich entsprechend argumentieren, dass 9 „When a person knows how to do things of a certain sort (e.g., cook omelettes, design dresses or persuade juries), his performance is in some way governed by principles, rules, canons, standards or criteria. […] It is always possible in principle, if not in practice, to explain why he tends to succeed, that is, to state the reasons for his actions. […] But his observance of rules, principles, etc., must, if it is there at all, be realised in his performance of his tasks. […] In short the propositional acknowledgement of rules, reasons or principles is not the parent of the intelligent application of them; it is a step-child of that application“ (ebd., S. 8f.; m. Herv.). Die Bezeichnung als ‚Stiefkind‘ ist in diesem Zusammenhang freilich bezeichnend, denn sie verweist auf den sowohl nachträglichen als auch optionalen Charakter der Propositionalisierung. 10 Ryle nennt auch „dancing gracefully“ als Beispiel (ebd., S. 3). 11 Vgl. ebd., S. 5. 12 Ebd., S. 8. 13 Vgl. Michael Polanyi, The Tacit Dimension, Gloucester, Mass. 1983 (11966). – Zu einigen grundlegenden, hier aber zu vernachlässigenden Differenzen zwischen Ryles und Polanyis Ansätzen (insb. dazu, dass es Polanyi um einen spezifischen Aspekt jeglicher Erkenntnis geht, während Ryle mit knowing how und knowing that zwei verschiedene Formen von Wissen differenziert), vgl. Eva-Maria Jung, Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens, Berlin/Boston 2012, S. 30f. 14 Vgl. Polanyi, The Tacit Dimension, S. 16f.
6 Christina Schaefer die ‚schwere‘ Kommunizierbarkeit vieler Formen von Erfahrungswissen (ähnlich wie beim praktischen Wissen) nicht zuletzt mit einer körperlichen Dimension dieses Wissens zu tun hat und damit letztlich damit, dass sich körperliche Erfahrung nur bedingt versprachlichen lässt. Wenn ich hier davon ausgehe, dass es zwischen Erfahrungswissen und praktischem Wissen gewisse Ähnlichkeiten oder Überschneidungen gibt, ist dazu zweierlei anzumerken. Zum einen hat die Korrelierung von Erfahrung und Praxis (sowie der daraus resultierenden Wissensarten) eine lange Tradition. In den hier infrage stehenden frühneuzeitlichen Quellen werden beispielsweise regelmäßig die von lat. experientia derivierten Begriffe (ital. esperienza, frz. expérience) mit den aus griech. praxis bzw. lat. usus abgeleiteten Termini (ital. pratica, uso; frz. pratique, usage) zusammengebracht und zum Teil sogar synonym verwendet.15 Trotz (oder gerade wegen) dieser traditionellen begrifflichen Engführung steht eine systematische Untersuchung des Verhältnisses von Erfahrungswissen und praktischem Wissen aber noch aus.16 Als wegweisend kann jedoch Fritz Böhles Vorschlag gelten, innerhalb des Erfahrungswissens nochmals zu differenzieren zwischen einem strukturell an das subjektive Handeln gebundenen, „nicht-objektivierbare[n] Wissen“ einerseits und einem „objektivierbaren Wissen“ andererseits.17 Erfahrung wäre damit – so meine Hypothese – genau dann nicht restlos objektivier- und propositionalisierbar, wenn sie ein praktisches Wissen betrifft, d.h. wenn es um ein aus Erfahrung gewonnenes und nicht zuletzt an somatische Momente gebundenes knowing how oder tacit knowing geht. Um diese Art von Erfahrungswissen geht es, wenn im Folgenden von Erfahrungswissen als einer Form elusiven Wissens die Rede ist. 15 So korreliert beispielsweise Montaigne „experience“ und „usage“ (Montaigne, „De l’experience“, S. 1208 und 1212), Guazzo „sperienza“, „uso“ und „prattica“ (Guazzo, La civil conversazione, Bd. 1, S. 26; vgl. dazu auch Amedeo Quondams Anmerkung in: ebd., Bd. 2, S. 71, Anm. 163). – Möglicherweise lässt sich diese Korrelation von Erfahrung und Praxis auf eine spezifische Bedeutungsdimension von griech. prattein zurückführen, das, wie Monika Mommertz anmerkt, nicht nur „handeln“, sondern auch „erfahren bzw. wenn man so will ‚von innen‘ erleben“ meinen kann. Vgl. Monika Mommertz, „Das Wissen ‚auslocken‘. Eine Skizze zur Geschichte der epistemologischen Produktivität von Grenzüberschreitung, Transfer und Grenzziehung zwischen Universität und Gesellschaft“, in: Theorie versus Praxis? Perspektiven auf ein Missverständnis, hg. von Yuka Nakamura, Christine Böckelmann und Daniel Tröhler, Zürich 2006, S. 19–51, hier S. 25. Mommertz hebt hier offenbar auf die intransitive Verwendung von prattein ab: „sich befinden, in einem gewissen Zustand sein, sich verhalten“ bzw. „in einen Zustand, ans Ziel kommen“ (Wilhelm Gemoll/Karl Vretska, Gemoll. Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, 10., völlig neu bearbeitete Auflage, München 2010, S. 670). 16 Häufig wird in der Forschung ein wie auch immer gearteter Zusammenhang von Erfahrung(swissen) und praktischem Wissen implizit vorausgesetzt. Eine explizite Reflexion, wie sie Rese in Bezug auf die Aristotelischen Kategorien empeiria und phronēsis (qua Handlungswissen) vorlegt, bildet eher die Ausnahme. Vgl. Rese, Erfahrung, S. 35–46. 17 Böhle, „Wissenschaft und Erfahrungswissen“, S. 171.
Esperienza 7 II. Zum Lob der Erfahrung in der Antike und seiner Rezeption in Mittelalter und Früher Neuzeit Mit Leon Battista Albertis Libri della famiglia wenden wir uns der vormodernen Ökonomik, der Lehre von der Haushalts- und Familienführung, und damit einem Bereich zu, der seit der Antike mit einem Lob der Erfahrung verbunden ist. Im Italien der Renaissance erleben ökonomische Schriften eine wahre Blüte. Zahlreiche Autoren des Quattro- und Cinquecento äußern sich zum governo della casa bzw. zur cura familiare und rekurrieren dabei auf die antike Ökonomik- Tradition, wobei Xenophons Oikonomikos, die pseudo-Aristotelische Ökonomik sowie die Aristotelische Politik als Hauptquellen fungieren.18 Die vormoderne Ökonomik widmet sich nun keineswegs nur wirtschaftlichen Aspekten, sondern vor allem den sozialen Beziehungen zwischen den Personen, die gemeinsam ein Haus bewohnen und bewirtschaften.19 Ihre Leitfragen lauten: Wie soll der gute pater familias Frau, Kinder und Diener behandeln und wie die Güter seines Hauses verwalten? In der Antike wird im Rahmen der Moralphilosophie im Allgemeinen und der Ökonomik im Besonderen das in der Praxis erworbene Erfahrungswissen hoch geschätzt. Schon Aristoteles definiert die Erfahrung (empeiria) in der Metaphysik als den Ursprung von Kunst/Handwerk (technē) und Wissenschaft (epistēmē).20 Dabei sieht er den ‚Mehrwert‘ von Kunst und Wissenschaft darin, dass sie aus der Erfahrung verallgemeinern, sich eine „allgemeine Annahme über das Ähnliche“ bzw. einen zugehörigen „allgemeinen Begriff (logos)“ bilden.21 Und er stellt ebenfalls klar, dass Erfahrung, zumindest zum erfolgreichen Handeln, unerlässlich sei: 18 Zu den italienischen Renaissance-Ökonomiken des Cinque- und Seicento vgl. grundlegend Daniela Frigo, Il padre di famiglia: governo della casa e governo civile nella tradizione dell’,economica‘ tra Cinque e Seicento, Rom 1985. 19 Der Begriff Familie ist in der vormodernen Ökonomik weit gefasst und umfasst neben den Blutsverwandten auch die Dienerschaft. Brunner hat für diesen ökonomischen Mikrokosmos den Begriff des „ganzen Hause[s]“ geprägt (Otto Brunner, „Die alteuropäische ‚Ökonomik‘“, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 13 (1950), S. 114–139, hier S. 118). 20 „Wissenschaft aber und Kunst gehen für die Menschen aus der Erfahrung hervor“ (Aristoteles, Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz [ed. Wellmann], auf der Grundlage der Bearb. von Héctor Carvallo und Ernesto Grassi neu hg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 38 = Buch I, 1, 981a). 21 Ebd. In Bezug auf die Kunst des Arztes heißt dies, dass dieser nicht nur Kranke zu heilen verstehe, sondern zudem „die Ursache kenn[e]“ (ebd., S. 39). Den Unterschied von Kunst/Handwerk (technē) und Wissenschaft (epistēmē) bestimmt Aristoteles dann in seiner Ethik u.a. darüber, dass der Gegenstand der Wissenschaft das Notwendige sei, weswegen die Wissenschaft sich mit Beweisen beschäftige, während Kunst qua Herstellungswissen (poiēsis) sich ebenso wie die Handlungsklugheit (phronēsis) auf etwas beziehe, was auch anders sein könne (vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik: griechisch-deutsch, übers. von
8 Christina Schaefer Zum Zweck des Handelns [prattein] steht die Erfahrung [empeiria] der Kunst [technē] an Wert nicht nach, vielmehr sehen wir, daß die Erfahrenen mehr das Richtige treffen als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den allgemeinen Begriff (lógos) besitzen. Die Ursache davon liegt darin, daß die Erfahrung Erkenntnis des Einzelnen ist, die Kunst des Allgemeinen, alles Handeln und Geschehen aber am Einzelnen vorgeht.22 Er verdeutlicht dies am Beispiel des Arztes, der, wenn er nur abstraktes Wissen ohne Erfahrung besitze, kaum erfolgreich heilen werde.23 In der Nikomachischen Ethik subsumiert er dann die Ökonomik unter die „praktischen Wissenschaften“ (praktikai tōn epistemōn), in denen es auf das gute „Handeln“ (praxis) ankomme, für welches wiederum man nicht „unerfahren in der Praxis des Lebens“ (apeiros gar tōn kata ton bion praxeōn) sein dürfe.24 Was der gute Haushälter laut Aristoteles benötigt, ist Handlungsklugheit bzw. praktische Vernunft (phronēsis), und diese erwirbt er offenbar durch Erfahrung.25 Xenophon seinerseits beschreibt die Haushaltsführung zu Beginn seines Oikonomikos als ein Fachwissen (epistēmē) bzw. Fachgebiet, in dem das Wissen zur Anwendung kommt (technē), vergleichbar mit der Heilkunst, Schmiedekunst oder Baukunst.26 Und keineswegs zufällig lässt sich seine Sokrates-Figur die Grundregeln der Haushaltsführung von dem erfahrenen Praktiker Ischomachos erklären.27 Die Weisheit des großen Philosophen manifestiert sich also nicht zuletzt darin, dass er bereit ist, auf dem ihm fremden ökonomischen Terrain die Autorität des Olof Gigon, neu hg. von Rainer Nickel, Düsseldorf 22007 (12001), S. 240–245 = Buch VI, 3–4, 1139b–1140a). Zum Verhältnis von empeiria, technē und epistēmē bei Aristoteles vgl. auch Rese, Erfahrung, S. 30–35. 22 Aristoteles, Metaphysik, S. 38 (= Buch I, 1, 981a). 23 „Wenn nun jemand den Begriff besitzt ohne Erfahrung und das Allgemeine weiß, das darin enthaltene Einzelne aber nicht kennt, so wird er das rechte Heilverfahren oft verfehlen; denn Gegenstand des Heilens ist vielmehr das Einzelne“ (ebd.). Damit ist die Kritik am bloßen Bücherwissen, auf die noch zurückzukommen ist, schon bei Aristoteles angelegt. 24 Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 11 und 13 (= Buch I, 1094b und 1095a). 25 Zur Handlungsklugheit (phronēsis) als Eigenschaft des guten Haushälters vgl. ebd., S. 247 (= Buch VI, 5, 1140b) sowie ebd., S. 253 (= Buch VI, 8, 1141b). Zur phronēsis bei Aristoteles vgl. Friederike Rese, Praxis und Logos bei Aristoteles. Handlung, Vernunft und Rede in Nikomachischer Ethik, Rhetorik und Politik, Tübingen 2003, S. 103–140, hier insb. S. 130– 140 (zur Relation von phronēsis und Erfahrung). 26 Xenophon, Oikonomikos/Gespräch über die Haushaltsführung, in: ders., Ökonomische Schriften, griechisch und deutsch von Gert Audring, Berlin 1992, S. 30–128, hier S. 31. 27 Vgl. den Dialog zwischen Sokrates und Ischomachos ab Kap. 6 von Xenophons Oikonomikos (ebd., S. 54ff.). Ischomachos wird eingeführt als „schöner und guter“ Mann (ebd., S. 59): Damit ist an dieser Stelle der gute Haushälter gemeint, der, insofern er die Götter ehrt und sich gut um sein Haus und Vermögen kümmert, zeitgenössisch als Inbegriff eines ‚schönen und guten‘ Mannes (kaloskagathos) galt. Vgl. dazu die Anmerkung des Herausgebers und Übersetzers (ebd., S. 123, Anm. 9).
Esperienza 9 Erfahreneren anzuerkennen. Auch Cicero stellt in De officiis fest, dass es allgemein, insbesondere aber in praktischen Berufen wie denen des Arztes, des Feldherrn oder des Rhetors (und man könnte ergänzen: des Haushälters) nicht genüge, nur die „Vorschriften des Faches“ („artis praecepta“) zu kennen, sondern dass es zusätzlich der „Erfahrung und Übung“ („usu et exercitatione“) bedürfe.28 Diese wenigen prominenten Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass das Lob der Erfahrung in der Antike, speziell im Bereich der Moralphilosophie und der ihr zugehörigen Ökonomik, seinen festen Platz hat. Im Mittelalter wird der Wert von experientia zwar keineswegs negiert, sie nimmt jedoch, so die allgemeine Einschätzung der Forschung, eine vergleichsweise marginale Position ein.29 Gründe hierfür werden zum einen in dem stark logisch-deduktiv geprägten Denken der Scholastik gesehen, zum anderen in der theologischen Kritik an der curiositas, mit der die Erfahrung im Mittelalter assoziiert wurde.30 Erst der Humanismus, scheint es, hat eine Revalorisierung des Erfahrungswissens mit sich gebracht, die sukzessive zu einer neuen, modernen Auffassung von Wissenschaft führte, welche Erfahrung zu ihrem „Grundaxiom[]“ machte.31 Man wird gleichwohl vermeiden müssen, hinsichtlich des der Erfahrung beigemessenen Werts eine starre Opposition 28 Marcus Tullius Cicero, De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, lat.–dt., übers., komm. und hg. von Heinz Gunermann, durchges. und verbesserte Ausgabe, Stuttgart 1984 (11976), S. 54f. (= Buch I, 60). 29 Generell zur Begriffsgeschichte von experientia vgl. Marco Veneziani (Hg.), Experientia. Atti del X colloquio internazionale, Roma, 4–6 gennaio 2001, Florenz 2002; sowie das von Costantino Esposito und Pasquale Porro kuratierte Special issue „L’esperienza/L’expérience/Die Erfahrung/Experience“ der Zeitschrift Quaestio: annuario di storia della metafisica 4 (2004). Einen Überblick über die variierende(n) Bedeutung(en) von Erfahrung (empeiria/experientia) als wissenschaftliches Beweisverfahren gibt Giacinta Spinosa, „ἐµπειρίᾱ/experientia: modelli di ‚prova‘ tra antichità, medioevo ed età cartesiana“, in: Veneziani (Hg.), Experientia. 30 Zur scholastischen Abwendung von der Erfahrung, die auf einer ‚anderen‘ Aristoteles- Rezeption beruhe (und zwar nicht des Aristoteles, der die Erfahrung lobe, sondern des ‚systematisch-deduktiven‘ Aristoteles der Analytiken, v.a. in der Nachfolge von Averroes), vgl. Eckhard Keßler, „O vitae experientia dux. Die Rolle der Erfahrung im theoretischen und praktischen Weltbezug des frühen Humanismus und ihre Konsequenzen“, in: Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung, hg. von Hedwig Röckelein und Udo Friedrich, Berlin 2012, S. 60–74, hier S. 60f. Erfahrung, so Keßler, sei „allenfalls – neben ratio und auctoritas – in zweifelhaften Fällen zu exemplarischer Bestätigung“ herangezogen worden (ebd., S. 61). Zum Zusammenhang von Erfahrung und vana curiositas vgl. Jan-Dirk Müller, „Erfarung zwischen Heilssorge, Selbsterkenntnis und Entdeckung des Kosmos“, in: Literatur und Kosmos. Innen- und Außenwelten in der deutschen Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, hg. von Gerhild Scholz Williams und Lynne Tatlock, Amsterdam 1986, S. 307–342, hier S. 313–315. 31 Udo Friedrich, „Erfahrung als Wert. Über das Verhältnis von Wissen und Subjekt in der Frühen Neuzeit“, in: Eule oder Nachtigall? Tendenzen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung, hg. von Marie Luisa Allemeyer et al., Göttingen 2007, S. 49–72, hier S. 53.
10 Christina Schaefer zwischen scholastischem Mittelalter einerseits und Humanismus bzw. Renaissance andererseits sehen zu wollen.32 Zum einen wird der Revalorisierung von Erfahrung bereits von spätscholastischen Autoren der Weg geebnet,33 zum anderen ist die frühneuzeitliche Umwertung des Erfahrungsbegriffs insgesamt als ein sich nur allmählich vollziehender Prozess zu betrachten, in dem zeitweise durchaus unterschiedliche Begriffsprägungen nebeneinander Bestand haben.34 Ich will nur einige wenige Beispiele aus dem romanischen Kontext anführen, die demonstrieren, dass experientia auch im Spätmittelalter eine Kategorie von Relevanz war. Schon im 14. Jahrhundert rekurrieren Autoren aus ganz unterschiedlichen Wissenskontexten an entscheidenden Stellen auf die Kategorie der Erfahrung.35 So basiert Marsilius von Padua im Defensor pacis (1324) sein 32 Dass die Humanisten dem scholastischen Denken noch wesentlich verpflichtet waren und schon deswegen von keiner strikten Opposition von Scholastik und Humanismus auszugehen ist, hat jüngst Anita Traninger sehr anschaulich gemacht in: Dies., Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus, Stuttgart 2012. 33 Auf die diesbezügliche Rolle von Ioannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham verweist Keßler, „O vitae experientia dux“, S. 61f. 34 Vgl. Friedrich, „Erfahrung als Wert“, S. 52–57. Vgl. dazu auch Martin Kintzinger, „Experientia lucrativa? Erfahrungswissen und Wissenserfahrung im europäischen Mittelalter“, in: Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung, hg. von Hedwig Röckelein und Udo Friedrich, Berlin 2012, S. 95–117, hier insb. S. 104–116. Zur Bedeutung von Erfahrung/experientia in den Naturwissenschaften der Frühen Neuzeit vgl. Peter Dear, „The Meanings of Experience“, in: The Cambridge History of Science, Bd. 3: Early Modern Science, hg. von Katharine Park und Lorraine Daston, Cambridge u.a. 2008, S. 106–131; Paolo Ponzio, „The Articulation of the Idea of Experience in the Sixteenth and Seventeenth Centuries“, in: Quaestio: annuario di storia della metafisica 4 (2004), S. 175–195; Chiara Crisciani, „Experientia e opus in medicina ed alchimia: forme e problemi di esperienza nel tardo Medioevo“, in: ebd., S. 149–173. Zur Relation von experientia und dem in der Frühen Neuzeit aufstrebenden beobachtungsbasierten Wissen (observatio) vgl. Gianna Pomata, „Observation Rising: Birth of an Epistemic Genre, 1500–1650“, in: Histories of Scientific Observation, hg. von Lorraine Daston und Elizabeth Lunbeck, Chicago/London 2011, S. 45– 80. Eine der zentralen Referenzen für die frühneuzeitliche Wissenschaft ist Aristoteles’ Analytica posteriora, in deren Schlusskapitel Erfahrung (empeiria) als Grundlage wissenschaftlicher Beweisführung verhandelt wird. Vgl. Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 3/II, 1. Halbband: Analytica posteriora, übers. und erl. von Wolfgang Detel, Berlin 1993 (Reprint 2018), S. 83 (= II,19, 100a3-9). 35 Zu weiteren, teilweise noch früheren Beispielen mittelalterlicher Reflexion von experientia vgl. Kintzinger, „Experientia lucrativa“ (u.a. zu Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Konrad von Megenberg), sowie die Beiträge von Jacqueline Hamesse („Experientia/ experimentum dans les lexiques médiévaux et dans les textes philosophiques antérieurs au 14e siècle“, S. 77–90) und Roberto Busa SJ („Experientia, experimentalis, experimentum, experior, inexperientia, inexpers nell’Aquinate e negli altri autori censiti nell’Index Thomisticus“, S. 101–168) in Veneziani (Hg.), Experientia. Speziell zur experientia in der spätmittelalterlichen Naturphilosophie (vor dem Hintergrund der Aufwertung des
Esperienza 11 reformerisches Konzept von Staat nicht mehr auf ein präetabliertes Wertesystem, sondern auf Gesetze, deren Wert er – unter Rekurs auf Aristoteles – darüber bestimmt, dass sie die über viele Menschenalter gesammelte und sukzessive vervollkommnete Erfahrung (experientia) kondensierten und damit irrtümlichen und missbräuchlichen Richtersprüchen vorbeugen könnten.36 Im Rahmen der universitär verankerten (und damit institutionell sanktionierten) Jurisprudenz räumen auch die Rechtsgelehrten Bartolo da Sassoferrato (1314–57) und Baldo degli Ubaldi (1327–1400) der juristischen Praxis und Erfahrung einen zentralen Stellenwert ein. Bartolo erwähnt die experientia im Tractatus testimoniorum explizit als Voraussetzung juristischer prudentia.37 Und bei Baldo erscheinen doctrina und practica als komplementär, ja untrennbar miteinander verknüpft: Der practicus führt – unter Zuhilfenahme der loci ab experientia – das Werk des theoricus fort, sei es als Richter oder Anwalt bei Gericht, sei es im Rahmen der universitären Lehre als Vermittler der doctrina an die Studenten.38 In der Universität, so Baldo, schlucke man die Gesetze hinunter, im Justizpalast verdaue man sie.39 Aber auch (und gerade) fernab der Welt der Scholaren beruft man sich auf die experientia. So stützt sich beispielsweise Christine de Pizan in ihrer Argumentation gegen die frauenfeindlichen Positionen vieler Autoren (und insb. des Rosenromans) ganz zentral auf die Erfahrung, genauer: auf ihre eigene Erfahrung als Frau. Diese, heißt es im Livre de la cité de dames (1405), zeige mit absoluter Sicherheit („en toute certitude“), dass die misogynen Schriften die Frauen zu Unrecht beschuldigten.40 Christine, die Erzählerin und Protagonistin empirischen Wissens im Kontext der Scientific Revolution) vgl. Jürgen Sarnowsky, „Expertus – experientia – experimentum. Neue Wege der wissenschaftlichen Erkenntnis im Spätmittelalter“, in: Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung, hg. von Hedwig Röckelein und Udo Friedrich, Berlin 2012, S. 47–59. 36 Vgl. Teil I, Kap. XI, § 3 in: Marsilius von Padua, Defensor pacis/Der Verteidiger des Friedens, lat.-dt., 2 Bde., auf Grund der Übers. von Walter Kunzmann bearb. und eingel. von Horst Kusch, Darmstadt 1958, Bd. 1, S. 102–109. Den Hinweis auf diese Textstelle verdanke ich Frank Rexroth, „Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts“, in: Wissen, maßgeschneidert: Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne, hg. von Björn Reich, Frank Rexroth und Matthias Roick, München 2012, S. 12–44, hier S. 39. 37 Vgl. Danilo Segoloni, „,Practica‘, ,practicus‘, ,practicare‘ in Bartolo e in Baldo“, in: L’educazione giuridica, hg. von Alessandro Giuliani und Nicola Picardi, Bd. 2: Profili storici, Perugia 1979, S. 52–103, hier S. 70f. 38 Vgl. ebd., S. 56. 39 „Leges in scholis deglutiuntur, sed in palatio digeruntur, quia practica est scientia digestiva, et ubi theoricus desinit practicus incipit“ (Baldo degli Ubaldi, In primam digesti veteris partem commentaria […], Ad lib. IV, De minoribus viginti quinque annis. Repetitio ad legem Aemilius, nn. 34f., [D. 4,4,38]; hier zitiert nach Segoloni, „,Practica‘, ,practicus‘, ,practicare‘“, S. 77, Anm. 10). 40 Christine de Pizan, Le livre de la cité des dames, übers. und hg. von Thérèse Moreau und Éric
12 Christina Schaefer des Buchs, wird schließlich, nachdem sie zunächst mehr dem Urteil anderer vertraut hatte („je me rapportais plus au jugement d’autrui qu’à ce que je sentais et savais dans mon être de femme“), von Dame Raison, der allegorisierten Vernunft, zu der Einsicht gebracht, dass sie besser daran tue, sich auf ihre eigene Erfahrung zu verlassen („de s’en référer à sa propre expérience“).41 Genau darin, in Christines Berufung auf die eigene, individuelle Erfahrung (und nicht mehr nur auf einen abstrakten Wert menschlicher Erfahrung) kann man einen Hinweis auf das sehen, was in der Forschung als „humanistische Wende zur Erfahrung“ bezeichnet und insbesondere mit der Person Francesco Petrarcas assoziiert worden ist.42 Petrarca, so etwa Eckhard Keßler, sei es gewesen, der, aufgrund seiner Einsicht, dass es kein „allgemein verbindliches, von einer Wesensdefinition des Menschen abgeleitetes Lebensziel geben [könne]“, der individuellen wie historischen Erfahrung einen neuen Wert beigemessen habe: Jeder Mensch müsse „das seiner individuellen Natur angemessene Ziel“ selbst finden, und zwar auf Basis seiner eigenen oder aus der Geschichte gewonnenen Erfahrung.43 Im Anschluss an Aristoteles und Cicero erklärt Petrarca die Erfahrung zur Grundlage der Künste und zur „sicherste[n] Lehrmeisterin der Dinge“ („certissima magistra rerum“); das in der historia gefundene exemplum, das aus der Geschichte großer Männer gewählte Vorbild, wird ihm dabei zum geeigneten Mittel, sich selbst und die eigenen Handlungsoptionen zu ergründen.44 Hicks, Paris 2000 (11986), S. 38. Vgl. dazu auch: „l’expérience démontre clairement que la vérité est tout le contraire de ce que l’on affirme en cherchant à charger les femmes de tous les maux“ (ebd., S. 39). 41 Ebd., S. 37 und 39. – Vgl. auch den Beginn der Passage, wo der Zweifel von der Reflexion auf die eigene Erfahrung qua Frau angestoßen wird: „je me mis à réfléchir sur ma conduite, moi qui suis née femme“ (ebd., S. 36). 42 Keßler, „O vitae experientia dux“, S. 62. 43 Ebd., S. 65. Zu Petrarcas Quellen, insb. Aristoteles, vgl. ebd., S. 64, Anm. 20. 44 „Me quidem nichil est quod moveat quantum exempla clarorum hominum. Iuvat enim assurgere, iuvat animum experiri an quicquam solidi habeat, an generosi aliquid atque adversus fortunam indomiti et infracti, an sibi de se ipse mentitus sit. [4] Id sane, preter experientiam que certissima magistra rerum est, nullo melius modo fit, quam si eum his quibus simillimus esse cupit, admoveam“ (Francesco Petrarca, Lettres familières/Rerum familiarium, Bd. 2: Livres/libri IV–VII, hg. von Ugo Dotti, Paris 2002, S. 291 = Buch VI, 4, § 3f.). Vgl. dazu die deutsche Übersetzung von Berthe Widmer: „Mich aber beflügelt nichts so sehr wie die Vorbilder herrlicher Menschen. Nützlich ist, sich aufzurichten, nützlich, seine Gesinnung zu erforschen, ob an ihr etwas Festes sei, auch etwas Edles, das dem Schicksal standhält, ohne zu brechen, oder ob sie vielleicht sich selber belogen habe. 4. Das aber kann (ausser dank der Erfahrung, welche die zuverlässigste Lehrerin in allem ist) auf keine Art besser geschehen, als indem man sie an andere heranrückt, denen sie möglichst ähnlich sein möchte“ (Francesco Petrarca, Familiaria: Bücher der Vertraulichkeiten, Bd. 1: Buch 1–12, hg. von Berthe Widmer, Berlin/New York 2005, hier S. 328).
Esperienza 13 Auf der Folie dieses auf „praktische[] Nützlichkeit“ und „moralische Handlungsorientierung“ ausgerichteten Ideals beleben zahlreiche Humanisten in der Nachfolge Petrarcas das antike Lob der Praxis neu und messen der lebensweltlichen Erfahrung neue, entscheidende Bedeutung zu.45 Davon zeugt nicht zuletzt die zunehmende, häufig satirische Kritik an jenen Gelehrten, die nur über Bücherwissen ohne Praxis- und Lebenserfahrung verfügen.46 Diese Klage über die Weltfremdheit und Lebensuntauglichkeit gewisser Scholaren weist ihrerseits auf den sich verändernden gesellschaftlichen Kontext und das sich im Zuge des Aufstiegs der Städte und Höfe herausbildende neue Adelsideal hin, in dem gewisse Formen des knowing how, insbesondere die Beherrschung bestimmter Formen des gesellschaftlichen Umgangs und der Etikette, immer wichtiger werden. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf die europaweit breite Rezeption der Hofmannstraktate und -dialoge, allen voran von Castigliones Libro del Cortegiano (1528).47 In dieser sich transformierenden Gesellschaft der Frühen Neuzeit kommt es zu einem Aufstieg neuer, ‚praktischer‘ Experten, die den studierten Experten (Kleriker, Universitätsgelehrte) zunehmend Konkurrenz machen.48 Zu diesen ‚Praktikern‘, deren Expertise immer größere gesellschaftliche Anerkennung findet, zählen 45 Keßler, „O vitae experientia dux“, S. 63. Zur humanistischen Aufwertung der Erfahrung in der Nachfolge Petrarcas, die so weit geht, auch den Irrtum (error) von seiner heilsgeschichtlichen Assoziation mit der Sünde zu lösen und als durchaus nützliche Form menschlicher Erfahrung (experientia) zu fassen, vgl. Marc Föcking, „Fruchtbare Fehler. Missverständnisse der Rezeption als Innovationsfaktoren in der Literatur der italienischen Renaissance“, in: Innovation durch Wissenstransfer in der Frühen Neuzeit. Kultur- und geisteswissenschaftliche Studien zu Austauschprozessen in Mitteleuropa, hg. von Johann Anselm Steiger, Sandra Richter und Marc Föcking, Amsterdam 2010, S. 185–208, hier S. 198. 46 Die Kritik am weltfremden, praxisuntauglichen Gelehrten trifft insbesondere die Juristen, aber auch die Theologen und Mediziner (vgl. Frank Rexroth, Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter, Basel 2008). Sie hat eine lange Tradition und reicht vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Ihre antike Grundlage findet die Kritik am praktisch unerfahrenen Gelehrten in Aristoteles’ Metaphysik (vgl. oben Anm. 23). – Speziell zur Gelehrtensatire in der Frühen Neuzeit vgl. Marian Füssel, „Die Experten, die Verkehrten? Gelehrtensatire als Expertenkritik in der Frühen Neuzeit“, in: Wissen, maßgeschneidert: Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne, hg. von Björn Reich, Frank Rexroth und Matthias Roick, München 2012, S. 269– 288; zur humanistischen Gelehrtenkritik in der Nachfolge Petrarcas vgl. Matthias Roick, „Der Fahnenflüchtige lässt sich krönen. Petrarca und die Anfänge der humanistischen Kritik am Experten“, in: ebd., S. 45–82. 47 Zur Rezeption des Cortegiano vgl. Peter Burke, The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s Cortegiano, Cambridge/Oxford 1995. 48 Zum Aufstieg der ‚Praktiker‘ vgl. Hedwig Röckelein, „Einleitung: Experten zwischen scientia und experientia“, in: Experten der Vormoderne zwischen Wissen und Erfahrung, hg. von Hedwig Röckelein und Udo Friedrich, Berlin 2012, S. 3–7, hier S. 4. Laut Rexroth fand der Begriff Experte (expertus, peritus) zeitgenössisch sowohl auf Studierte wie Nichtstudierte Anwendung (vgl. Rexroth, „Systemvertrauen und Expertenskepsis“, S. 40).
14 Christina Schaefer neben Chirurgen, Rechtskundigen, Apothekern, Astronomen und Reisenden auch Kaufleute, Hofmänner und Diplomaten.49 Im Zusammenhang mit Alberti sind vor allem die Kaufleute und Hofmänner interessant. III. Zur Diskursivierung von Erfahrungswissen in Albertis Libri della famiglia Im Folgenden wird es um die Frage gehen, wie in Albertis Libri della famiglia mit den eingangs erwähnten Grenzen der Diskursivierbarkeit von Erfahrungswissen umgegangen bzw. inwiefern der elusive Charakter von Erfahrungswissen explizit reflektiert wird. Ich werde mich dabei im Rahmen des vorliegenden Beitrags vor allem auf die beiden letzten Bücher des Dialogs konzentrieren, in denen vermehrt die ‚Praktiker‘ der Familie Alberti zu Wort kommen und aufgrund ihrer Lebenserfahrung als Autoritäten innerfamiliärer Wissensvermittlung auftreten. Nicht weiter eingehen werde ich auf die interessante, aber den vorliegenden Rahmen sprengende Frage, in welcher Relation das Erfahrungswissen in Albertis Dialog zu den ebenfalls prominent in Szene gesetzten Formen gelehrten Wissens (und den damit verbundenen häuslichen Konversationsmodi) steht.50 Die Libri della famiglia, soviel sei einleitend gesagt, bestehen aus insgesamt vier Büchern, wovon die ersten drei ca. 1433–34 entstanden sind, das vierte einige Jahre später.51 Mit Buch IV trat Alberti 1441 beim certame coronario, einem von ihm mitinitiierten volkssprachlichen Dichterwettstreit in Florenz, an. Eine Besonderheit des Dialogs ist, dass Alberti in ihm ausschließlich Mitglieder seiner eigenen Familie, inklusive seiner selbst, als Sprecher auftreten lässt. Die Rahmenerzählung präsentiert diverse Mitglieder der Familie Alberti, die im Jahr 1421 in Padua im Haus des todkranken Lorenzo, des Vaters des Autors, zusammenkommen und über ökonomische Fragen wie Vaterschaft, Ehe und Haushaltsführung, aber auch Freundschaft diskutieren. Die Hauptsprecher, 49 Vgl. Röckelein, „Einleitung“, S. 4; Roick, „Der Fahnenflüchtige lässt sich krönen“, S. 81f. Zum Diplomaten als Träger von Erfahrungswissen vgl. Daniela Frigo, „Prudence and Experience: Ambassadors and Political Culture in Early Modern Italy“, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 38/1 (2008), S. 15–34, insb. S. 24. 50 Zum Verhältnis von gelehrtem Wissen und Erfahrungswissen (bzw. dottrina und esperienza; Wissen per pruova und per coniettura) bei Alberti vgl. Francesco Tateo, „‚Dottrina‘ ed ‚esperienza‘ nei libri della Famiglia di L. B. Alberti“, in: ders., Tradizione e realtà nell’Umanesimo italiano, Bari 1967, S. 279–318; Francesco Furlan, Studia albertiana: lectures et lecteurs de L. B. Alberti, Turin 2003, S. 143–153. Zu einer Analyse der gelehrten Konversationsmodi in Della famiglia vgl. Christina Schaefer, „Ragionare domestico e familiare: Zu Formen und Funktionen gelehrter häuslicher Konversation in Leon Battista Albertis Libri della famiglia“, in: Relazioni e relativi – Genealogie, famiglie, parentele (Akten des Deutschen Italianistentags, Erlangen 2014), hg. von Marc Föcking und Michael Schwarze, Heidelberg (im Druck). 51 Für eine ausführliche Zusammenfassung von Struktur und Inhalt von Della famiglia vgl. Furlan, Studia albertiana, S. 117–138.
Esperienza 15 darunter Battista als das Alter ego des Autors, gehören drei verschiedenen Generationen an: Der 17-jährige Battista vertritt mit seinem Bruder Carlo die Jugend, der 30-jährige Lionardo und der laut Text ‚etwas ältere‘ Adovardo repräsentieren die mittlere, Vater Lorenzo sowie Giannozzo und Piero die ältere Generation. 3.1 Giannozzo und der Umgang mit alten Leuten Während in den beiden ersten Büchern von Della famiglia die Gespräche zwischen Adovardo, Lionardo und Battista und damit die der Gebildeten, der letterati, der Familie Alberti dominieren, tritt mit dem alten Giannozzo in Buch III ein erster unstudierter ‚Praktiker‘ auf, der der anwesenden Jugend seine Ratschläge zum guten Haushalten darlegt. Giannozzo selbst weist wiederholt darauf hin, dass er nicht belesen, aber dafür praktisch umso erfahrener sei. Sein Leben lang, sagt er, habe er sich bemüht, die Dinge mehr aus eigener Erfahrung als aus den Aussagen anderer zu lernen, und nicht zufällig bezeichnet er dieses Erkennen aus eigener Erfahrung („conoscere […] colla pruova mia“) als ein Erkennen der Wahrheit („verità“): „Tu sai, Lionardo, che io non so lettere. Io mi sono in vita ingegnato conoscere le cose più colla pruova mia che col dire d’altrui, e quello che io intendo più tosto lo compresi dalla verità che dall’argomentare d’altrui“.52 Er macht zudem deutlich, dass sein Urteilsvermögen dem eines letterato in nichts nachstehe: Ob eine Behauptung glaubhaft sei, sei für ihn davon abhängig, ob man Beweise liefere, nicht ob man gelehrte Autoritäten zitieren könne.53 Aufgerufen ist damit freilich das traditionelle, mit der Kritik am bloßen Bücherwissen verbundene Lob der praktischen Erfahrung, wie es in der praktischen Philosophie seit der Antike etabliert ist. Die Figur des Giannozzo verkörpert hier also ganz den prudente massaio, den aus Erfahrung klugen Haushälter, dessen Autorität – nach Xenophontischem Vorbild – auch von den letterati der Familie anerkannt wird.54 52 Leon Battista Alberti, I libri della famiglia, hg. von Ruggiero Romano und Alberto Tenenti, neu hg. von Francesco Furlan, Turin 1999, Buch III, S. 201f., Z. 259–262. Im Folgenden zitiert mit der Sigle A unter Angabe des Buchs, der Seiten- und Zeilenzahl. 53 „E perché uno di questi i quali leggono tutto il dì, a me dicesse ‚così sta‘, io non gli credo però se io già non veggo aperta ragione, la quale più tosto mi dimonstri così essere, che convinca a confessarlo. E se uno altro non litterato mi adduce quella medesima ragione, così crederrò io a lui senza allegarvi autorità, come a chi mi dia testimonianza del libro, ché stimo chi scrisse pur fu come io uomo“ (A III, S. 202, Z. 262–269). Dazu, dass sich ein ‚echter‘ Experte auf sein eigenes Urteil verlässt, vgl. Füssel, „Die Experten, die Verkehrten“, S. 285. 54 Zur (Selbst-)Bezeichnung Giannozzos als „prudente“ vgl. A III, S. 197, Z. 125. Masserizia ist der zeitgenössische italienische Begriff für die Kunst des Haushaltens (vgl. ebd., Z. 121; ebd., S. 210, Z. 528 und passim). Massaio, massaia bezeichnet entsprechend den Haushälter bzw. die Haushälterin (vgl. A III, S. 197, Z. 133 und passim). Zum Xenophontischen Modell (d.h. Sokrates’ Anerkennung der Autorität des Praktikers) vgl. oben Abschnitt 2.
16 Christina Schaefer Selbst der höchst gebildete Lionardo lobt Giannozzo ausdrücklich als einen Experten und Praktiker („sperto e pratico“), dessen Wissen in den Dingen der Welt um ein Vielfaches wertvoller sei als das eines ungehobelten Literaten: „O Giannozzo, quanto giova più nelle cose di questo mondo uno simile sperto e pratico che uno rozzo litterato!“55 Giannozzo verkörpert damit genau jene Handlungsklugheit (phronēsis), die nach Aristoteles neben dem Staatsmann auch den guten Haushälter auszeichnet, aber weder Kunst/Handwerk (technē) noch Wissenschaft (epistēmē) ist, sondern „ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten [alēthous meta logou praktikē] […] im Bezug auf das, was für den Menschen gut oder schlecht ist“.56 Auf den ersten Blick scheint es nun, als sei Giannozzos Expertise problemlos propositionalisierbar, denn er legt sein haushälterisches Ideal – i.e. das rechte Maß von Ausgaben und Sparsamkeit – in klaren Regeln dar: GIANNOZZO […] Sa’ tu quali mi piaceranno? Quelli i quali a’ bisogni usano le cose quanto basta e non più, l’avanzo serbano; e questi chiamo io massai. LIONARDO Ben v’intendo, quelli che sanno tenere il mezzo tra il poco e il troppo. GIANNOZZO Sì, sì. LIONARDO Ma in che modo si conosce egli quale sia troppo, quale sia poco? GIANNOZZO Leggermente, colla misura in mano. LIONARDO Aspetto e desidero questa misura. GIANNOZZO Cosa brevissima e utilissima, Lionardo, questa. In ogni spese prevedere ch’ella non sia maggiore, non pesi più, non sia di più numero che dimandi la necessità, né sia meno quanto richiede la onestà.57 Trotz dieser klar formulierten Regeln macht Giannozzo schon eingangs an seinem eigenen Beispiel deutlich, dass Erfahrungswissen nur sehr bedingt auf diese Weise vermittelbar ist. Er selbst sei nämlich erst im Lauf der Zeit zu einem guten Haushälter geworden und habe als junger Mann keinerlei Verständnis für 55 A III, S. 203, Z. 290–292. 56 Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 245 (= Buch VI, 5, 1140b). Während Aristoteles die Handlungsklugheit/phronēsis hier von der Wissenschaft/epistēmē abgrenzt, gehe ich – im Sinne der im SFB 980 verwendeten Begrifflichkeit – davon aus, dass phronēsis alias prudentia ein Teil von „Episteme“ ist, wobei Episteme ein mit Geltungsansprüchen verbundenes Wissen ‚von etwas‘ meint, das sich eben gerade auch in nichtdiskursiven (etwa medialen, ästhetischen oder an Praktiken gebundenen) Manifestationsformen zeigen kann. Eine diskursiv nicht vermittelbare praktische Handlungsklugheit wäre eine solche nichtdiskursive Wissensform und als solche Teil dessen, was als „Episteme“ gefasst wird. 57 A III, S. 202, Z. 275–289.
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