Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...

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Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
Zum Volkstrauertag
am 15. November 2020
Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten
Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
INHALT

Inhalt
		 ZUM GELEIT                             		KIRCHLICHE
 4 Geleitwort                             		GEDENKFEIERN
		 Wolfgang Schneiderhan,                 14 Um des Friedens willen stets
		 Präsident des Volksbundes Deutsche     		   das Richtige tun
		 Kriegsgräberfürsorge e. V.             		   Predigtmeditation zu
                                          		   Matthäus 25, 14-30
 6 Gemeinsames Grußwort
                                          		   Pater Manfred Kollig SSCC,
		 von Bischof Dr. Georg Bätzing,
                                          		   Generalvikar des Erzbistums Berlin
   Vorsitzender der Deutschen Bischofs-
		 konferenz, und Landesbischof           18		 Fürbitte
		 Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm,
   Vorsitzender des Rates der EKD         20 Vom ungerechten Verwalter – vom          Besucher am Rande einer Gedenkveranstaltung in der Normandie 2019. Die „Blumen gegen
                                          		   wahrhaftigen Leben                     das Vergessen“ wurden für die Gräber Unbekannter gespendet.
                                          		   Predigtmeditation zu Lukas 21, 1-6       Volksbund/Uwe Zucchi
 8 TOTENGEDENKEN                          		   Kristina Kühnbaum-Schmidt,
                                          		   Landesbischöfin der Ev.-Luth. Kirche
                                          		   in Norddeutschland
		 GEDENKEN GESTALTEN
10 Gedenkveranstaltungen:                 24 Fürbitte
                                                                                      		VORSCHLÄGE FÜR 		                                    46 Europa erfahren – lernen,
		 Ablauf und Gestaltung
                                                                                      		GEDENKREDEN                                          		 begegnen, reflektieren
                                          		 TEXTE UND BILDER                         34 Gedanken zu Erinnerung                              48 Heimkommen
                                          26 Als ich erfuhr, daß der Friede           		 und Trauer
                                          		 erklärt wurde                               Regina Scheer
                                          		 Argentina Daley 		                                                                              		INFORMATION
                                                                                      38 Der Krieg und die Chance                            		 UND REFLEXION
                                          27 Vignette                                 		 des Danach
                                          		 Sylvia Treudl                            		 Dr. Caroline Fetscher                               52		 Über den Volkstrauertag

                                          28 Inventur                                                                                        54 Der Volksbund Deutsche
                                          		 Günter Eich                              		DAS KRIEGSENDE                                       		 Kriegsgräberfürsorge e.V.

Titelseite (Bildausschnitt):
                                          30 Ein menschlicher Blick auf den           		ERINNERN                                             56 Den Volksbund kontaktieren
Aufräumarbeiten zwischen Reichstag
                                          		 Krieg und seine Folgen                   42 Das „etwas andere Klassenzimmer“
und Brandenburger Tor durch die                                                                                                              58 Sammlungs- und Kollektenbitte
                                          		 Valery Faminsky                          		 in den Niederlanden
Bewohner Berlins. Berlin, Mai 1945.
                                                                                                                                             59 Impressum
   Valery Faminsky/Privatsammlung         32 Im Frühling sterben                      44 1945: Flucht über die Ostsee
Arthur Bondar                             		 Ralf Rothmann                            		 nach Dänemark
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ZUM GELEIT                                                                                                                                                                           ZUM GELEIT

                                                                                                  versehrt. Unter der europäischen Teilung im Kalten Krieg
                                                                                                  litten die Menschen in Mittel- und Osteuropa abermals be-
                                                                                                  sonders schwer.

    Geleitwort
                                                                                                  Der 8. Mai 1945 war zugleich der Beginn eines Aufbruchs,
                                                                                                  wenn auch zaghaft und entbehrungsreich. So entwickelte
                                                                                                  sich in Westeuropa ein einmaliges Friedens-, Freiheits- und
                                                                                                  Wohlstandsmodell. Der Weg im Osten war steiniger, erst
    WOLFGANG SCHNEIDERHAN                                                                         die weitgehend friedlichen Revolutionen von 1989 und die
    Präsident des Volksbundes                                                                     europäische Integration überwanden diese Trennung. Al-
    Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.                                                           lerdings rissen nun lang unterdrückte historische Wunden
                                                                                                  wieder auf, es kam zu einem neuen alten Krieg auf dem Bal-
                                                                                                  kan. Seit 2014 findet ein Krieg – oftmals vergessen – mitten

    A
              b dem 8. Mai 1945 schwiegen in       Bis zuallerletzt wurden Juden, Sinti und       in Europa, in der Ukraine, statt.
              Europa die Waffen, vier Monate       Roma oder Zwangsarbeiter auf Todesmär-
              später dann auch in Asien – end-     schen umgebracht, inhaftierte NS-Geg-
    lich. Der Zweite Weltkrieg kostete zwischen    ner, aber auch viele einfache Soldaten und
                                                                                                         »Kein sofortiges Ende der Gewalt –
    60 bis 70 Millionen Menschenleben, viele       Zivilisten wegen angeblicher „Wehrkraftzer-
    von ihnen erst in den letzten Kriegsmona-      setzung“ noch hingerichtet. Daher war das                 und doch der steinige Beginn
    ten.                                           Kriegsende für die überlebenden NS-Ver-                         eines Aufbruchs.«
    Diese Toten der letzten Kriegstage wurden      folgten in einem existenziellen Sinne eine
    bei hastigen Rückzügen oder nach katastro-                                                                 WOLFGANG SCHNEIDERHAN                             WOLFGANG
                                                   Befreiung. Nicht wenige waren in Deutsch-
    phalen Bombardierungen oft nur notdürf-        land trotz ihrer ungewissen Zukunft erleich-                                                                  SCHNEIDERHAN
    tig bestattet oder sie blieben in den Ruinen   tert über das Ende der furchtbaren Bomben-                                                                       Volksbund/Uwe Zucchi
    verschüttet. Noch heute werden sie gefun-      nächte und aussichtslosen Kämpfe.              Die Generation, die die ersten schweren Schritte zum euro-
    den, geborgen und auf Kriegsgräberstätten                                                     päischen Wiederaufbau gegangen ist, hat den Krieg noch in      General a. D. und Präsident
    umgebettet. Noch heute bekommen ihre           So gewaltvoll dieser Krieg in Deutschland      jungen Jahren erlebt. Angst vor Tod und Verfolgung, Zer-       des Volksbundes, *1946
    nunmehr selbst schon betagten Kinder und       endete, war er doch die Folge eines erbar-     störung und Hunger, der Verlust von oft weit entfernt und      in Riedlingen/Donau
    Enkelkinder Gewissheit über den Todesort       mungslosen Machtanspruchs, der von wei-        einsam verstorbenen Angehörigen – das waren die Erfah-
    ihrer Verwandten.                              ten Teilen zuvor bejubelt worden war. Und      rungen einer ganzen Generation.                                Nach der Offiziersausbildung in
    Von Berlin aus wurde dieser Vernichtungs-      der noch viel größere Verheerung über den                                                                     verschiedenen ­Verwendungen
    krieg mit seinen beispiellosen Verbrechen      Kontinent gebracht hatte: in Rotterdam und     Diese Menschen wissen, was Krieg, aber auch was Frieden        für die Bundeswehr, das
    gegen die Menschheit bereits lange vor         Coventry, in Distomo, Fivizzano oder der       und Freiheit bedeuten und wie Zusammenhalt durch Zei-          Bundesverteidigungsministe-
    1939 geplant und ohne jede Rücksicht los-      Finnmark sowie am schlimmsten in Mittel-       ten voller Not führt. Gerade in diesem Gedenkjahr zum 75.      rium sowie für die NATO in den
    getreten. Und bis hierhin, gewissermaßen       und Osteuropa.                                 Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, im Zeichen        Niederlanden und Brüssel tätig.
    bis zum letzten Meter dieser schon weitge-     Gerade in diesem Teil Europas bedeutete das    der Corona-Pandemie, sollten wir ihnen beistehen und zu-       Von 2002 bis 2009 General-
    hend verwüsteten Hauptstadt, mussten die       Kriegsende kein sofortiges Ende der Gewalt.    hören, so gut es bei den notwendigen Beschränkungen geht.      inspekteur der Bundeswehr.
    Alliierten in einem immensen Kraftakt die      Flucht und Verfolgung trafen nun Deutsche      Ihre Erinnerungen an jüngere Generationen weiterzugeben,       Seit 2014 stellvertretender
    nationalsozialistische Aggression zurück-      ebenso wie viele andere Menschen in der        könnte nicht friedensstiftender sein und ist uns Auftrag an    Präsident und seit 2016
    schlagen.                                      Region. Ganze Landstriche blieben lange        diesem Volkstrauertag und darüber hinaus.                      Präsident des Volksbundes.

4                                                                                                                                                                                                  5
Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
ZUM GELEIT                                                                                                                                                                         ZUM GELEIT

    Gemeinsames
    Grußwort
    BISCHOF DR. GEORG BÄTZING
    Bischof von Limburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

    LANDESBISCHOF PROF. DR. HEINRICH BEDFORD-STROHM
    Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
                                                                                                  BISCHOF                                       LANDESBISCHOF
                                                                                                  DR. GEORG BÄTZING                             PROF. DR. HEINRICH BEDFORD-STROHM

    I
         m 75. Jahr nach dem Ende des Zweiten      gefunden. Doch ein Blick auf die derzei-         Bistum Limburg                                epd/mck/ekd.de
         Weltkrieges gedenken wir der Vergan-      tige Lage in der EU und der Welt erweckt
         genheit anders: Rückblickend haben        nicht den Eindruck friedlicher Zeiten. Die     Bischof von Limburg und Vorsitzen-            ­Landesbischof und EKD-Ratsvorsit-
    fast alle Gedenkfeiern, wie der Staatsakt am   humanitären Auswirkungen kriegerischer         der der Deutschen Bischofskonferenz,          zender, *1960 in Memmingen
    8. Mai in Berlin oder die Erinnerung an Un-    Konflikte und die Schicksale der Schutzsu-     *1961 in Kirchen/Rheinland-Pfalz
    recht und Leid in den Konzentrationslagern,    chenden, die über das Mittelmeer fliehen,                                                    1992 theologische Promotion an der
    nicht oder nur im Kleinen stattgefunden.       zeichnen ein anderes Bild. Bei aller positi-   1987 Priesterweihe und 2005 Ernennung         Universität H
                                                                                                                                                            ­ eidelberg und 2004 Professur
    Wie wir 2020 den Volkstrauertag begehen,       ven Kraft zu einem vertieften Miteinander      zum Monsignore. 2012 Ernennung zum            an der ­Universität Gießen. Seit 2011 Landes-
    wird sich zeigen.                              droht die Pandemie diese Entwicklung wie       Generalvikar des Bistums Trier und 2016       bischof der ­Evangelisch-Lutherischen
    Das Kriegsende im Mai 1945 ist für uns         ein Katalysator zu verschärfen: Landesgren-    Ernennung zum Bischof von Limburg.            Kirche in Bayern.
    Deutsche und Europäer vor allem ein mit        zen werden geschlossen und der Krisenzu-
    der Hoffnung auf Frieden verbundener Tag       stand wird von Einzelnen offenbar genutzt,
    der Befreiung. Der Volkstrauertag lenkt un-    um ihre Macht zu sichern und demokrati-
    seren Blick auf die vielen Opfer und harten    sche Grundlagen auszuhebeln. Im geeinten       sche Diskurse vielfach populistisch geführt   ende und in Zeiten von Corona notwen-
    Entbehrungen des Krieges. Zugleich be-         Europa darf der innere Friede nicht durch      werden und einen Anstieg von gruppenbe-       dig. In diesem Sinne hoffen und beten wir:
    drängt uns die globale Pandemie-Erfahrung,     Uneinigkeit zu einem rein äußerlichen Ver-     zogener Menschenfeindlichkeit und Diskri-     Gott behüte Sie und schenke uns seinen
    die uns vor Augen führt, dass innerer und      tragsfrieden degenerieren. Wir müssen aus      minierung bewirken.                           Frieden.
    äußerer Friede noch immer nicht selbst-        der Geschichte lernen und benötigen in Eu-     Der Ruf Christi aus dem Matthäus-Evangeli-
    verständlich sind. Selten wurde uns nach       ropa eine Kultur des Dialogs und des gegen-    um ergeht an uns alle: Wahrhaft Frieden zu
    dem Zweiten Weltkrieg deutlicher, wie sehr     seitigen Respekts.                             stiften bedeutet, inneren Frieden zu suchen
    wir Jesu Worte auch heute noch brauchen:       In der Gesellschaft schwinden der Respekt      und äußeren Frieden aktiv zu fördern. Dazu
    „Selig sind, die Frieden stiften“ (Mt. 5,9).   vor dem Nächsten und das Bewusstsein für       gehört vor allem, einander zu akzeptieren,
    In Europa haben wir nach 1945 – Gott sei       den Wert des Friedens: Hassreden nehmen        zu respektieren und zu vertrauen – nichts
    Dank! – zu einem friedlichen Miteinander       vor allem im digitalen Raum zu, wo politi-     weniger scheint 75 Jahre nach dem Kriegs-

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Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
Totengedenken
                                                                                              Wir denken heute an die Opfer von
                                                                                              Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen
                                                                                              und Männer aller Völker.

                                                                                              Wir gedenken der Soldaten, die in den
                                                                                              Weltkriegen starben, der Menschen, die
                                                                                              durch Kriegshandlungen oder danach in
                                                                                              Gefangenschaft, als Vertriebene
                                                                                              und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

                                                                                              Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet
                                                                                              wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten,
                                                                                              einer anderen Rasse zugerechnet wurden,
                                                                                              Teil einer Minderheit waren oder deren Leben
                                                                                              wegen einer Krankheit oder Behinderung als
                                                                                              lebensunwert bezeichnet wurde.

                                                                                              Wir gedenken derer, die ums Leben kamen,
                                                                                              weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft
                                                                                              geleistet haben, und derer, die den Tod fanden,
                                                                                              weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem
                                                                                              Glauben festhielten.

                                                                                              Wir trauern um die Opfer der Kriege und
                                                                                              Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von
                                                                                              Terrorismus und politischer Verfolgung, um die
                                                                                              Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte,
                                                                                              die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

                                                                                              Wir gedenken heute auch derer, die bei uns
                                                                                              durch Hass und Gewalt gegen Fremde und
                                                                                              Schwache Opfer geworden sind. Wir trauern
                                                                                              mit allen, die Leid tragen um die Toten,
                                                                                              und teilen ihren Schmerz.                         Das Sprechen des
                                                                                                                                                ­Totengedenkens durch den
                                                                                              Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung
    Kriegsgräberstätte Budaörs bei Budapest, 2018. Hier sind Tote der Belagerungskämpfe um                                                      ­Bundespräsidenten am
                                                                                              auf Versöhnung unter den Menschen und
    Budapest 1944/1945 bestattet, die über 160.000 Menschenleben forderten. Viele von ihnen                                                     Volkstrauertag wurde von
                                                                                              Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem
    sind bis heute noch nicht geborgen.                                                                                                         Bundespräsident Theodor
                                                                                              Frieden unter den Menschen zu Hause
       Volksbund/Uwe Zucchi                                                                                                                     Heuss 1952 eingeführt.
                                                                                              und in der ganzen Welt.

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Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
GEDENKEN GESTALTEN                                                                                                                   GEDENKEN GESTALTEN

 Gedenkveranstaltungen
 Ablauf und Gestaltung
                     Liebe Leserin, lieber Leser,

                     wir freuen uns, dass Sie eine Gedenkveranstaltung zum
                     Volkstrauertag organisieren. Die Vorschläge, die wir Ihnen
                     in dieser Handreichung unterbreiten, skizzieren grob einen
                     von vielen möglichen Abläufen – Gedenken und Trauern ist
                     vielfältig und kann vielfältig gestaltet werden.

                                                                                                                               Schüler aus Baden-Württem-
                        Die Gliederung dieser Handreichung                        Zu Ihrer Vorbereitung haben wir vorab        berg bei einer Performance.
                                                                                                                               Gedenkveranstaltung im
                        folgt in etwa dem Ablauf einer                            Bausteine für eine Gedenkfeier
                                                                                                                               französischen Niederbronn,
                        Gedenkveranstaltung:                                      zusammengetragen:                            2019. Bis in den März 1945
                                                                                                                               kam es im Elsass zu schweren
                                                                                                                               Kämpfen.
                           Begrüßung der Anwesenden                                Totengedenken                                 Volksbund/Maurice Bonkat
                           Einstimmung: Gedicht, literarischer Text,
                           Zitat aus Feldpost oder Tagebuch                        Predigtmeditation – für Veranstalter, die
                           Musikstück                                              christliche Gedenkfeiern ausrichten und
                           Verlesen des Totengedenkens                             hierfür Anregungen oder Predigtvor-
                           Nennung der Namen einzelner Kriegstoter                 schläge suchen.
                           aus der jeweiligen Ortschaft
                           Gedenkrede                                              „Gedichte und Lesungsvorschlag“ – diese
                           Gebet                                                   Texte eignen sich zum Vorlesen während
                           Kranzniederlegung                                       der Gedenkveranstaltung, beispielsweise
                           Schweigeminute                                          durch Schüler oder Jugendliche.
                           Gesang oder Musikstück
                           (z. B. National- und/oder Europahymne,                  „Redevorschlag“ – kann von dem ­
                           Der gute Kamerad)                                       jeweiligen Hauptredner auf die örtlichen
                           Dank an Unterstützer                                    ­Gegebenheiten angepasst und ganz oder
                           Verabschiedung                                           auch nur in Teilen verwendet werden.

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Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
GEDENKEN GESTALTEN                                                                                                                              GEDENKEN GESTALTEN

 Digitales Gedenkportal:                       Zum Download steht sie ebenfalls unter                                                      Gedenken an die alliierte
 Weitere Hintergrundinforma-                   www.volkstrauertag.de zur Verfügung:          VOLKSBUND-VERANSTALTUNGEN                     Landung in der Normandie.
                                                                                                                                           Mit ihr begann die Befrei-
 tionen und Materialien
                                               Hier können Sie auch einzelne Texte aus der   Referat Erinnerungskultur und                 ung Westeuropas, doch erst
 Für die musikalische ­Gestaltung haben wir    Broschüre im DIN-A4-Format herunterladen      Netzwerkarbeit                                ein Jahr später endete der
 auf der Webseite www.volkstrauertag.de        und ausdrucken. Zudem finden Sie Ver-                                                       Krieg in Europa. Kriegs-
 eine Liste von geeigneten Liedern und Mu-     anstaltungsankündigungen, Berichte und                                                      gräberstätte La Cambe,
 sikstücken gesammelt.                         weitere methodische und thematische           Wir freuen uns über Ihre Rückmeldungen und    2019.
                                               Materialien. Falls Sie keinen Zugang zu den   Berichte von lokalen Gedenkveranstaltungen.     Volksbund/Uwe Zucchi
 Der hier vorgeschlagene Ablauf ist als Vor-   digitalen Angeboten haben, bitten wir Sie,    Bei Fragen helfen wir gern.
 schlag zu verstehen, Sie als Veranstalter     sich telefonisch oder postalisch an uns zu    Bitte wenden Sie sich an:
 werden ihn an die Anforderungen und           wenden.
 Gegebenheiten vor Ort anpassen. Diese
 ­                                                                                           Tel.    030 230936-22
 Handreichung kann Ihnen als Leitfaden                                                       erinnerungskultur@volksbund.de
 für die Gedenkveranstaltung dienen. Sie
 ­erscheint jährlich neu.

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Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
KIRCHLICHE GEDENKFEIERN                                                                                KIRCHLICHE GEDENKFEIERN

                                      Am Volkstrauertag 2019 wird in                  stellt, lautet: Was lernen wir Menschen aus
                                      der Gedenkstätte Berlin-Plötzen-                der Geschichte? Was können wir aus ihr
                                      see der hier im Nationalsozialis-               lernen?
                                      mus inhaftierten und hingerichte-
                                      ten Widerstandskämpfer gedacht                  Schauen wir 75 Jahre zurück: Der für seinen
                                        Volksbund/Uwe Zucchi                          Widerstand gegen den Nationalsozialismus
                                                                                      bekannte Bischof von Berlin, Kardinal Graf
                                                                                      von Preysing, dessen Todestag sich zum
                                                                                      70. Mal jährt, hat in seinem Hirtenbrief zur
                                                                                      Fastenzeit 1945 kurz vor Ende des Zweiten
                                                                                      Weltkriegs geschrieben: „Jede Zeit hat ih-
                                                                                      ren Fluch, und jede Zeit hat ihren Segen.
                                                                                      Der Segen unserer Zeit liegt wohl in der
                                                                                      immer wachsenden Sehnsucht des Gläubi-

                                      75
                                                  Jahre nach dem Zweiten Welt-        gen nach dem Tisch des Herrn, nach dem
                                                  krieg glaubten und hofften wir,     Brot des Starken. (…). Der Heiland, der in
                                                  alles im Griff zu haben. 75 Jahre   unser Herz kommt, weiß um unsere Not,
                                      schweigen bei uns die militärischen Waf-        und wird uns den Glauben stärken an das
                                      fen. Die derzeit etwa 150 gewaltsamen Kri-      Ewige Leben und wird in uns die Hoffnung
                                      sen und Kriege finden relativ weit weg statt:   vermehren auf diesen himmlischen Lohn.“
                                      in Afrika, in Asien, in Syrien und vielen
                                      Ländern des Nahen Ostens, auch in Mexiko        Die Sprache von Kardinal von Preysing
                                      und Kolumbien und anderen Teilen Latein-        klingt fremd. Heute würde derselbe Inhalt

 Um des Friedens willen
                                      amerikas.                                       anders ausgedrückt. Aber der Sinn bleibt
                                                                                      auch für uns bedeutsam. Der damalige Ber-
                                      Doch in diesem Jahr wurden wir nicht erst       liner Bischof geht nicht in den Leiden sei-

 stets das Richtige tun
                                      am Osterfest aufgeweckt. Seit Januar er-        ner Zeit unter. Die Brille, durch die er seine
                                      reichten uns ständig Nachrichten über eine      Zeit sieht, hat eine besondere Stärke: „Jede
                                      drohende Coronavirus-Pandemie. Heute            Zeit hat ihren Fluch, und jede Zeit hat ihren
                                      kennt jeder Covid-19. Eines von Tausenden       Segen.“ Wer durch diese Brille schaut, wird

 Predigtmeditation
                                      Viren, die es gibt, hat es innerhalb kurzer     zu jeder Zeit und aus jeder Situation heraus
                                      Zeit geschafft, weltweit bekannt zu werden.     lernen.

 zu Matthäus 25, 14-30
                                      Wir haben erlebt, dass nicht nur Nachrich-
                                      ten, sondern auch Viren in unserer globa-       Viele haben nach den beiden Weltkriegen
                                      lisierten Gesellschaft schnell um die ganze     gesagt und sagen es bis heute: Die Men-
 PATER MANFRED KOLLIG SSCC            Welt gehen.                                     schen haben doch damals nur ihre Pflicht
 Generalvikar des Erzbistums Berlin                                                   getan. Sie haben getan, was ihnen die
                                      Eine Frage, die sich am heutigen Volkstrau-     Mächtigen befohlen haben. Und sie haben
                                      ertag, 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg      teilweise aus Angst zur Waffe gegriffen.
                                      und im Jahr dieser Covid-19-Pandemie,

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Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
KIRCHLICHE GEDENKFEIERN                                                                                                                                         KIRCHLICHE GEDENKFEIERN

 Das mag für viele Menschen zutreffen oder       Nur das zu tun, was die Gesetze vorschrei-      anzunehmen und sie mit den Gaben zu gestalten, die uns
 nicht. Steht es uns außerhalb ordentlicher      ben, reicht nicht aus, um den Ansprüchen        geschenkt wurden. Die Beziehung zu Gott stärkt, nicht nur
 Gerichtsprozesse zu, über die Menschen          Jesu zu genügen. Die Liebe ermöglicht stets     alles richtig machen zu wollen, sondern das Richtige zu tun,
 dieser Zeit zu urteilen? Wer hat schon den      mehr, als es die Gesetze fordern.               selbst dann, wenn es nicht korrekt zu sein scheint. Die Be-
 Mut, in Krieg und Krisen sich selbst zu ris-                                                    ziehung zu Gott stärkt, sich und sein Leben zu riskieren, um
 kieren? Wer hat schon den Mut zum Wi-           Der Volkstrauertag erinnert an die Welt-        das Leben anderer zu schützen und zu unterstützen.
 derstand? Und doch können wir gerade            kriege und ihre Folgen, an Opfer und Täter.
 von denen lernen, die ihre Stärke einge-        Er erinnert auch an die Menschen, die nicht     Auch an diesem Volkstrauertag, 75 Jahre nach dem Zweiten
 setzt haben, um im Nationalsozialismus          nur korrekt waren und nach dem Gesetz ge-       Weltkrieg, gibt es viele Gründe zu danken, weil Menschen
 Widerstand zu leisten und gegen den aus         handelt haben. Er will uns ermahnen, von        sich in diesen 75 Jahren für den Frieden eingesetzt haben
 Machtgier begonnen Zweiten Weltkrieg zu         den Menschen zu lernen, die in der Not so-      und einsetzen. Zuletzt haben dies viele Menschen in un-
 kämpfen.                                        lidarisch waren und ihre Talente eingesetzt     serem Land und weltweit in der sogenannten Corona-Kri-
                                                 haben; besonders auch von denen, die sich       se bewiesen. Wo es schwierig wird, Situationen zu durch-
 Menschen wie der Berliner Bischof Kardi-        und ihr Leben riskiert haben.                   schauen; wo wir Probleme sehen, ohne Lösungen zu haben;
 nal Graf von Preysing hatten für sich klar:                                                     wo Fragen gestellt werden, auf die wir noch keine Antwort
 Der einzige Herr ist unser Gott. In seinem                                                      kennen; wo Menschen aus Angst und Sorge um ihre Ange-
 bereits zitierten Hirtenbrief nennt er Gott                                                     hörigen mit Worten und sogar handgreiflich um Nahrung
 den „Allgerechten, Allweisen und Allheili-
                                                     »Wer hat schon den Mut zum                  und medizinische Versorgung kämpfen: Dort kommt es
 gen“. Ihm ist unser Gewissen verpflichtet.        Widerstand? Gerade von diesen                 darauf an, dass Menschen nicht ihr Talent vergraben, um
                                                    Menschen können wir lernen.«                 sich zu schonen und ihr Leben zu retten, sondern es riskie-
 Im heutigen Abschnitt aus dem Matthäus-                                                         ren und sich einsetzen. Unser Dank gilt allen, die in Krisen   PATER MANFRED KOLLIG
 Evangelium erzählt uns Jesus das Gleichnis           PATER MANFRED KOLLIG SSCC                  und Konflikten sowohl medizinisch, psychologisch, seel-        SSCC
 von drei Menschen, die von ihrem Herrn                                                          sorglich, ordnend und beratend ihren Dienst tun, als auch         Walter Wetzler, 2017
 ihre Gaben erhalten haben. Der einzige, der                                                     denen, die viele ehrenamtliche Dienste zum Wohl der
 nach dem geltenden Gesetz handelt, ist der      In dem zitierten Hirtenbrief von 1945 geht      Schwachen und Armen leisten. Gott, der Ewiges Leben            Theologe und Generalvikar
 dritte Diener, der nur ein Talent empfangen     Kardinal von Preysing auf die Bedeutung         schenkt, will, dass Menschen stets das Richtige tun, um        des Erzbistums Berlin,
 hat. Er handelt genau nach Vorschrift. Er       ein, die das Ewige Leben für das Leben in der   das irdische Leben in Frieden und in Freiheit und in der       *1956 in Koblenz
 hat das Sicherste getan, was Menschen da-       Gegenwart hat, indem er schreibt: „Wenn         Sorge um den Nächsten zu gestalten. Er schenke dazu die
 mals tun konnten: Sein Talent hat er in der     wir Christen einen lebendigen Glauben           Gaben seines Geistes. Amen.                                    Studium der Theologie in
 Erde versteckt, damit keiner es finden und      an dieses Ewige Leben haben, und in der                                                                        Simpelveld (Niederlande) und
 klauen konnte. Deshalb, so das Gesetz, war      Hoffnung fest gegründet sind, dereinst die-                                                                    Münster, 1981 Weihe zum
 er von aller Haftungspflicht befreit.           ses Ewige Leben zu erlangen durch Gottes                                                                       Priester. 1994 bis 2000 in der
                                                 Gnade und Christi Blut, dann macht dieser                                                                      Ordensleitung der Arnsteiner
 Und gerade ihn, der alles richtig gemacht       Gedanke die Welt zwar nicht zum Paradies,                                                                      Patres in Rom tätig. Ab 2003
 hat, bezeichnet Jesus als „schlechten und       nicht bewahrt er uns vor Schmerz und Not,                                                                      Bereichsleiter für die Liturgie
 faulen Diener“. Er, der alles richtig gemacht   aber er macht uns stark, all das zu ertragen,                                                                  des Weltjugendtags. Später
 hat, hat offenbar in den Augen Jesu nicht       was die Zeitlichkeit uns auferlegt.“                                                                           leitete er die Hauptabteilung
 das Richtige getan. Die anderen beiden Die-                                                                                                                    Seelsorge im Bistum Münster.
 ner, die ihre Talente einsetzen, werden hin-    Was wir lernen können? Die Beziehung zu                                                                        2017 Ernennung zum General-
 gegen gelobt. Sie haben das Richtige getan.     Gott stärkt, die gegenwärtige Wirklichkeit                                                                     vikar des Erzbistums Berlin.

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Zum Volkstrauertag am 15. November 2020 - Gedenkstunden und Gottesdienste gestalten - Volksbund Deutsche ...
KIRCHLICHE GEDENKFEIERN

                                                                                Fürbitte
                                                                                Gott, du denkst Gedanken des             Fürsorge. Stelle ihnen Menschen an
                                                                                Friedens. Dein Herz will unsere          die Seite, die sie unterstützen. Segne
                                                                                Herzen bewegen, damit wir als            alle, die sie medizinisch, spirituell
                                                                                Menschen immer wieder aufeinander        oder psychologisch begleiten.
                                                                                zugehen und uns miteinander
                                                                                versöhnen. Wir bitten dich:              Du Gott des Friedens: Wir bitten dich,
                                                                                                                         erhöre uns.
                                                                                Für die Menschen, die gegenwärtig
                                                                                in Kriegs- und Krisenregionen leben:     Für uns selbst, die wir im
                                                                                Schenke den Opfern von Gewalt und        Frieden leben: Bewahre uns vor
                                                                                Terror Unterstützung. Gib denen,         Gleichgültigkeit. Stärke uns, aus
                                                                                die sich um die Verletzten und           deinem Geist solidarisch zu handeln
                                                                                Sterbenden kümmern, die Kraft,           in unserem eigenen Land und
                                                                                die sie benötigen. Führe die Herzen      weltweit.
                                                                                derer, die Gewalt anwenden, zur          Du Gott des Friedens: Wir bitten dich,
                                                                                Einsicht und Umkehr.                     erhöre uns.
                                                                                Du Gott des Friedens: Wir bitten dich,   Du Gott des Friedens und der
                                                                                erhöre uns.                              Liebe: Wir danken Dir, dass du uns
                                                                                Für die Menschen, die durch Kriege       begleitest und uns den Weg zeigst.
                                                                                und Krisen Angehörige und Freunde        Dein Geist bestimme unsere Haltung
                                                                                verloren haben: Schenke ihnen Trost,     und erleuchte unser Gewissen, um
                                                                                bewahre sie vor Verzweiflung,            in unserer Zeit zu leben. Dein Geist
                                                                                Bitterkeit und Hass.                     bewege unsere Herzen, damit wir
                                                                                                                         unsere Gaben einsetzen zum Wohl
                                                                                Du Gott des Friedens: Wir bitten dich,   der ganzen Welt, heute und alle
                                                                                erhöre uns.                              Tage unseres Lebens bis in Ewigkeit.
                                                                                                                         Amen.
                                                                                Für alle, die weltweit Opfer von
                                                                                Pandemien werden, die unter
                                                                                Hunger, Armut und Obdachlosigkeit
                                                                                leiden, die nur geringe
                                                                                Bildungsmöglichkeiten haben sowie
                                                                                für alle Menschen auf der Flucht:
 Berlin, Mai 1945 (Wallstraße)   Valery Faminsky/Privatsammlung Arthur Bondar   Begleite sie mit deiner

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 Vom ungerechten
 Verwalter – vom
 wahrhaftigen Leben
 Predigtmeditation zu Lukas 16, 1-6
 KRISTINA KÜHNBAUM-SCHMIDT
 Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland

 D
          er Vorwurf trifft tief – wie zutref-   dessen Verbrechen. Zu einer Auseinander-
          fend er ist, bleibt offen. Welche      setzung mit dieser Schuld und deren Aner-
          Schuld der ungerechte Verwalter        kennung, zu Reue, echter Begegnung mit         Berlin, Mai 1945 (Miquelstraße in Berlin-Friedrichsfelde, heute Zachertstraße)
 auf sich geladen hat, erfahren wir nicht.       den Opfern, zur Bitte um Vergebung und           Valery Faminsky/Privatsammlung Arthur Bondar
 Aber, das Misstrauen ist gesät, der Verwalter   Neuanfang kam es erst Jahrzehnte später.
 muss gehen: „Gib Rechenschaft über deine        Unmittelbar nach Kriegsende aber sahen
 Verwaltung; denn du kannst hinfort nicht        die meisten Überlebenden nicht zurück.
 Verwalter sein.“ Was nun? Welche Lebens-
 alternative gibt es? Wird die Vergangenheit                                                    greift er auf Strategien zurück, die ihm ver-          sich nicht erlassen. Denn für den Erlass ei-
 fortan die Zukunft bestimmen? Oder gibt es                 »Kein Neuanfang                     traut sind: Er veruntreut das Geld seines Ar-          ner Schuld, für Vergebung und Neuanfang,
 neue Möglichkeiten?                                ohne die Auseinandersetzung                 beitgebers – nun im großen Stil –, indem er            braucht es ein Gegenüber. Für die Schuldner
                                                                                                die Schuldscheine seiner Schuldner fälscht             seines Herrn ist das der Verwalter. Er selbst
 Als vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg in Eu-                 mit Schuld.«                     und so deren Schuldenlast reduziert. Mit               kann sich dieses Gegenüber nicht sein und
 ropa endete, reagierten viele Menschen in           KRISTINA KÜHNBAUM-SCHMIDT                  seinem eigennützigen Verhalten hilft er                ein anderes Gegenüber sucht er sich nicht.
 Deutschland apathisch und hoffnungslos.                                                        zugleich auch anderen. Instinktiv weiß er,
 Müde vom jahrelangen Krieg, sich abfin-                                                        was er tun muss, um nach den Spielregeln               Die Figur des Verwalters ist schillernd: Was
 dend mit eigenem wie fremdem Elend und          Auch der ungerechte Verwalter blickt nicht     seines Umfeldes weiter durchzukommen:                  genau es mit dem Vorwurf der Untreue auf
 Leid, schienen sie schlicht zu funktionieren    zurück. Er kümmert sich nicht um das, was      neue Beziehungen aufbauen, Abhängigkei-                sich hat, bleibt offen. Als Reaktion auf seine
 – um zu überleben. Oder sie versuchten wei-     ihm vorgeworfen wird. Sondern er ist fest      ten schaffen, ein neues Netzwerk knüpfen.              Kündigung hilft er jetzt den Gläubigern sei-
 terzumachen, als wäre nichts passiert. Vie-     entschlossen, das Beste aus seiner Situation                                                          nes Arbeitgebers und macht sie sich so zu
 le leugneten ihre tiefe Verstrickung in das     zu machen. Als sein Arbeitgeber ihm sein       Der Verwalter kann anderen die Schuld                  möglichen Freunden. Damit aber schädigt
 nationalsozialistische Herrschaftssystem        Wohlwollen entzieht, bemüht er sich um-        erlassen, die sie gegenüber seinem Herrn               er (erst jetzt oder jetzt erst recht?) seinen Ar-
 und ihre Mitverantwortung und Schuld an         gehend um das Wohlwollen anderer. Dazu         haben. Seine eigene Schuld aber kann er                beitgeber. Sollte der ihn zuvor

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KIRCHLICHE GEDENKFEIERN                                                                                                                                                  KIRCHLICHE GEDENKFEIERN

 zu Unrecht beschuldigt haben, trifft sein             es oft zu in dieser Welt: „Die Kinder dieser      lorenen Groschen, vom verlorenen Sohn. Sie erzählen, wie
 Vorwurf nun doch zu. Schuldlos oder zu-               Welt sind unter ihresgleichen klüger als die      Buße, Reue und Vergebung ein neues Miteinander, neue
 mindest teilweise entlastet wie die Gläubi-           Kinder des Lichts.“                               Gemeinschaft, ja sogar Freude ermöglichen: „So, sage ich
 ger kommt der Verwalter aus dieser Situati-                                                             euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder,
 on nicht heraus. Dazu müsste er das direkte           Für einen wirklichen Neuanfang, ein wahr-         der Buße tut.“ Der ungerechte Verwalter zeigt, wie es – zur
 Gespräch, die Auseinandersetzung mit den              haftiges Zusammenleben ohne kalkulierte           Not – weitergehen kann. Eine grundlegende Veränderung
 Vorwürfen, die Konfrontation mit eigener              Taktik, aber wäre anderes nötig: das klare        hin zu einem Leben in Gerechtigkeit aber geschieht nicht.
 Schuld und deren Folgen suchen.                       Benennen von Schuld und die Auseinan-             Ein neuer Anfang bleibt aus. Denn um die Schuld der Ver-
                                                       dersetzung damit, sowie die daraus fol-           gangenheit anzuerkennen und das ihr entsprechende Ver-
 Oberflächlich ermöglicht sein geschickt kal-          gende Reue und Bitte um Vergebung. Für            halten abzulegen, ist die Auseinandersetzung damit nötig,
 kuliertes Verhalten dem Verwalter ein Aus-            einen solchen Weg stehen die Gleichnisse,         braucht es Buße und Reue. Mit cleverem Kalkül kann man
 kommen und Überleben – diese gewiefte                 die unmittelbar vor dieser Perikope erzählt       vielleicht überleben und sich durchs Leben schlagen. Etwas
 Klugheit erkennt sein Herr an. Denn so geht           werden – vom verlorenen Schaf, vom ver-           anderes aber ist es, aus erfahrener Vergebung wirklich neu
                                                                                                         und menschlich – mitmenschlich – zu leben. Versöhnt mit
                                                                                                         anderen und mit sich selbst, in Gerechtigkeit und Frieden.

                                                                                                         Am Volkstrauertag stellt sich die Frage, welche dieser Alter-
                                                                                                         nativen wir wählen. Sowohl im Blick auf unsere Geschich-
                                                                                                         te als auch auf Gegenwart und Zukunft. Erinnern wir uns         KRISTINA KÜHNBAUM-
                                                                                                         aufrichtig unserer Geschichte und der damit verbundenen         SCHMIDT
                                                                                                         Schuld, damit Frieden und Versöhnung weiter wachsen?               Nordkirche/Marcelo
                                                                                                         Beenden wir Rüstungsexporte, die bei uns Arbeitsplätze          Hernandez
                                                                                                         sichern und anderswo den sicheren Tod bringen? Verzich-
                                                                                                         ten wir auf günstige Preise, die nur zu haben sind um den       Kristina Kühnbaum-Schmidt,
                                                                                                         Preis der Menschenwürde in Billiglohnländern? Sind wir          Landesbischöfin der Evange-
                                                                                                         bereit für die Übernahme von gesellschaftlicher, politischer,   lisch-Lutherischen Kirche
                                                                                                         persönlicher Mitverantwortung für Frieden und Gerechtig-        in Norddeutschland,
                                                                                                         keit?                                                           *1964 in Braunschweig

                                                                                                                                                                         Studium der Theologie in
                                                                                                                                                                         Göttingen und Berlin. Zunächst
                                                                                                                                                                         als Vikarin und Pfarrerin in
                                                                                                                                                                         Braunschweig, ab 2009 zusätz-
                                                                                                                                                                         lich als pastoralpsychologische
                                                                                                                                                                         Beraterin und Dozentin am
                                                                                                                                                                         Predigerseminar tätig. Von 2013
 Sowjetische „Repatriierte“, vermutlich Zwangsarbeiter aus dem Berliner Raum vor ihrer Heimreise                                                                         bis 2019 Regionalbischöfin des
 (Irenenstraße, Ecke Wönnichstraße), Berlin, Mai 1945. Oftmals drohte ihnen in der Sowjetunion als                                                                       Propstsprengels Meiningen-Suhl
 vermeintlichen Kollaborateuren weitere Verfolgung. Viele der Displaced Persons konnten jahrelang oder                                                                   in Thüringen, 2019 Wahl zur
 gar nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren.     Valery Faminsky/Privatsammlung Arthur Bondar                                                                      Landesbischöfin der Nordkirche.

22                                                                                                                                                                                                         23
KIRCHLICHE GEDENKFEIERN

Fürbitte
Gott,                                               Tröste alle, die trauern,
sieh auf unsere Schuld,                             um die Opfer von Gewaltherrschaft
unsere große Schuld.                                und Kriegen,
Höre unsere Bitte um Vergebung.                     um den Verlust ihrer Heimat,
Verleih uns Frieden gnädiglich.                     um geliebte Menschen.
Dona nobis pacem.                                   Verleih uns Frieden gnädiglich.
                                                    Dona nobis pacem.
Höre die Schreie der Opfer von Krieg
und Gewalt,                                         Lass uns einander vergeben,
Flucht und Vertreibung,                             weil wir selbst aus deiner Vergebung
hilf uns, ihr Leid zu beenden,                      leben.
lenke unsere Füße auf den Pfad des                  Lass uns die Versöhnung suchen,
Friedens.                                           die dein Frieden möglich macht.
Verleih uns Frieden gnädiglich.                     Verleih uns Frieden gnädiglich.
Dona nobis pacem.                                   Dona nobis pacem.

Gieße Sehnsucht in unser Herz,
auf dass wir wahrhaftiges Leben
suchen
und Versöhnung schaffen,
wie sie aus Gerechtigkeit und Frieden
wächst.
Verleih uns Frieden gnädiglich.
Dona nobis pacem.

Die Performance „Das bewegte Kreuz“ wurde 2019
anlässlich des Volksbund-Jubiläums in Kassel
aufgeführt. Sie setzt sich mit dem Jubiläumsmotto
„Frieden braucht Mut“ tänzerisch auseinander.
  Volksbund/Uwe Zucchi

                                                                                           25
TEXTE UND BILDER                                                                                                                                                                         TEXTE UND BILDER

 Als ich erfuhr, daß der                                                                                 Vignette
 Friede erklärt wurde                                                                                    SYLVIA TREUDL

 ARGENTINA DALEY
                                                                                                         hast                                 endlich zu hause hieß:
                                                                                                         auf zuckerbäcker gelernt             vorwürfe, einbrenndick
 Der Krieg ist zu Ende. Als Überlebende                                                                  dein einziger staubguß               stellvertretend an dich gerichtet
 werde ich nicht beten noch singen, noch meine                                                           zu dem du kamst                      von einer familie
   Hände                                                                                                 war der                              kaputt wie eine hochzeitstorte
 anderen reichen zum Tanz, ich werde keinen Wein                                                         von sterbenden mauern                in die ein fußball eingeschlagen hat
   trinken oder                                                                                          in deinem ersten krieg
 den Mund vollnehmen mit Lobreden auf Politiker                                                                                               geschichte, alles geschichte
   und Könige.                                                                                           warst nachher                        denn es hieß „nie wieder“
                                                                                                         arbeitslos                           und man zitierte Brecht
 Wohl aber werde ich meinen Kopf bedecken                                                                familienvater                        und man trauerte rechtschaffen
 und beweinen die Vielzahl                                                                               unglücklich                          um tote großväter
 von Toten, die sich versammeln, wo immer ich gehe,                                                      überlebend & jung genug              und der krieg war ein unverständliches stück erz
 ihre Leichenaugen mein Gedächtnis,                                                                      für deinen zweiten krieg             im stadtpark
 ihre weißen Formen mein Schatten zu Mittag.                                                             kanonenfutter                        und nichts weiter
                                                                                                         statt bömischer mehlspeis‘           und sehr weit entfernt
                                                                                                         du schütze arsch
                                                                                                         ganz wie im richtigen leben          dachte ich als kind.

                                                                                                                                              (1992)

 Argentina Daley, Lyrikerin und Anglistin, * 1949 in Lewiston,                                                                                Dr. Sylvia Treudl, Autorin und Herausgeberin * 1959 in Krems/
 Idaho; † 2018 in Seattle                                               Argentina Daley, Interrogating
                                                                                                                                              Österreich
                                                                        Reality. © Last Word Press,
                                                                        Olympia, Washington/USA 2019.
 Daleys Familie stammt aus Honduras, sie wächst in Seattle auf,                                                                               Studium der Politikwissenschaft in Wien, Promotion 1984. Von
                                                                        Übersetzung aus dem Englischen
 lebt später in Australien und Olympia, Washington. Lehrte als          in: Daniela Gioseffi (Hrsg.),    Sylvia Treudl, im wilden gleichmaß   1985-1997 Verlegerin und Herausgeberin im Wiener Frauenverlag.
 Anglistin (1988-2000 Evergreen States College for liberal arts,        Falsche Helden – Frauen über     warmgelaufen. Gedichte, Hrsg. v.     Seit 1997 freie Autorin und Herausgeberin; seit März 2000 Mit-
                                                                        den Krieg, S. 254. © Suhrkamp    Werner Herbst. Herbstpresse, Wien
 Olympia, Washington). Veröffentlichte in verschiedenen Zeitschriften   Taschenbuchverlag Verlag 1996,   1992. Mit freundlicher Genehmigung
                                                                                                                                              betreiberin des Unabhängigen Literaturhauses Niederösterreich
 Gedichte.                                                              Frankfurt am Main.               von Sylvia Treudl.                   in Krems. Co-Herausgeberin und Lektorin der Edition ARAMO.

26                                                                                                                                                                                                             27
TEXTE UND BILDER                                                                                                                                                          TEXTE UND BILDER

 Inventur
 GÜNTER EICH

 Dies ist meine Mütze,            so dient es als Kissen
 dies ist mein Mantel,            nachts meinem Kopf.
 hier mein Rasierzeug             Die Pappe hier liegt
 im Beutel aus Leinen.            zwischen mir und der Erde.

 Konservenbüchse:                 Die Bleistiftmine
 Mein Teller, mein Becher,        lieb ich am meisten:
 ich hab in das Weißblech         Tags schreibt sie mir Verse,
 den Namen geritzt.               die nachts ich erdacht.

 Geritzt hier mit diesem          Dies ist mein Notizbuch,
                                                                                                        Berlin, Mai 1945   Valery Faminsky/Privatsammlung Arthur Bondar
 kostbaren Nagel,                 dies meine Zeltbahn,
 den vor begehrlichen             dies ist mein Handtuch,
 Augen ich berge.                 dies ist mein Zwirn.

 Im Brotbeutel sind               (1945)
 ein Paar wollene Socken
 und einiges, was ich
 niemand verrate,

                                  Günter Eich, Lyriker und Hörspielautor, * 1907 in Lebus (Branden-
                                  burg); † 1972 in Salzburg

 Günter Eich, Gesammelte Werke
                                  Lebt vor dem Zweiten Weltkrieg als Schriftsteller in Berlin, durch
 in vier Bänden. Band I: Die
 Gedichte. Die Maulwürfe.         Beziehungen vor einem Fronteinsatz bewahrt. Zeitweise tätig für die
 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am   literarische Zensur der Wehrmacht. Gerät 1945 in Kriegsgefangen-
 Main 1991. Alle Rechte bei und
 vorbehalten durch Suhrkamp       schaft und beginnt wieder zu schreiben. Das Gedicht wird später zum
 Verlag Berlin.                   Inbegriff für den dichterischen Neubeginn nach 1945.

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LITERARISCHE TEXTE                                                                                                                                                                  LITERARISCHE TEXTE

                                                                                                 Berlin, Mai 1945. Blick auf die Helsingforser Straße, ehemalige Bromberger Straße; links im Hinter-
                                                                                                 grund das Plaza Theater (Bildausschnitt).    Valery Faminsky/Privatsammlung Arthur Bondar

Ein menschlicher                                 Die Fotografien schildern ohne jede Pro-        Lebenssituationen besteht. In diesen Bil-
                                                                                                                                                           BILDBAND UND AUSSTELLUNG
                                                 paganda, dafür mit einem zutiefst huma-         dern begegnen sich Menschen, nicht Sieger                 Die Aufnahmen sind in einem um-
Blick auf den Krieg                              nistischen Blick, die völlig zerstörte Stadt,   und Besiegte.                                             fangreichen Katalog und im Herbst
                                                 die erschöpfte Bevölkerung und den Alltag                                                                 2020 im Willy-Brandt-Haus Berlin
und seine Folgen                                 der russischen Truppen. Sie zeigen die in-      Faminsky veröffentlicht diese knapp 500                   zu sehen.
                                                 dividuellen Schicksale von Menschen auf         Bilder nie, seine zwischenmenschlichen                    BERLIN MAI 1945 – VALERY
Der sowjetische Kriegsfotograf Valery Fa-        beiden Seiten der Front: Osteuropäische         wie ungeschönten Momentaufnahmen pas-                     FAMINSKY. Thomas Gust/Ana
minsky gelangt 1945 mit den ersten Sol-          Zwangsarbeiter auf dem Weg in die Heimat,       sen nicht in die historischen Narrative und               Druga/Arthur Bondar, Joseph
daten in das schwer umkämpfte Berlin,            deutsche Flüchtlinge und Ausgebombte,           heroischen Bildwelten der Sowjetzeit. Sie                 Dilworth (Hrsg.), Deutsch/Englisch,
seine Aufgabe ist die Dokumentation des          Zivilisten auf der Suche nach Angehörigen       werden erst in seinem Nachlass entdeckt.                  184 Seiten, 114 s/w Abbildungen,
Lazarettwesens der Roten Armee. Mit dieser       und Lebensmitteln, verwundete Soldaten          Der Fotojournalist Arthur Bondar erwirbt                  Verlag Buchkunst Berlin | ISBN
Legitimation kann er sich frei bewegen und       der Roten Armee, die nur erleichtert sind,      das Archiv 2017 und macht die Bilder zum                  9783981980585, 48,00 Euro.
fotografiert trotz Verbot auch die Zivilbevöl-   das Kriegsende überlebt zu haben. Ein All-      ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich.                 www.buchkunst-berlin.de
kerung in den Tagen um das Kriegsende.           tag zwischen den Ruinen, der aus extremen

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TEXTE UND BILDER                                                                                                                                                  TEXTE UND BILDER

 Im Frühling
 sterben
 RALF ROTHMANN

 Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist
 letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt.
 – Sprach ich meinen Vater früher auf sein starkes Haar an, sagte er, das komme
 vom Krieg. Man habe sich täglich frischen Birkensaft in die Kopfhaut gerieben,
 es gebe nichts Besseres; er half zwar nicht gegen die Läuse, roch aber gut. Und
 auch wenn Birkensaft und Krieg für ein Kind kaum zusammenzubringen sind –
 ich fragte nicht weiter nach, hätte wohl auch wie so oft, ging es um die Zeit, keine
 genauere Antwort bekommen. Die stellte sich erst ein, als ich Jahrzehnte später
 Fotos von Soldatengräbern in der Hand hielt und sah, dass viele, wenn nicht die
 meisten Kreuze hinter der Front aus jungen Birkenstämmen gemacht waren.

                                                                                                          Unbekanntes Feldgrab im Zweiten Weltkrieg   Volksbund
 Ralf Rothmann, Schriftsteller, * 1953 in Schleswig

 Rothmann wächst auf einem Gut bei Schleswig auf, später zieht die
 Familie ins Ruhrgebiet. Nach der Volksschule und einem kurzen Be-
 such der Handelsschule Maurerlehre. Danach mehrere Jahre Arbeit
 auf dem Bau, als Drucker, Krankenpfleger und Koch. 1976 Umzug
 nach Berlin. Sein erster Roman erscheint 1991, seitdem zahlreiche
 Veröffentlichungen und Literaturpreise. „Im Frühling sterben“ schil-
 dert die letzten Kriegsmonate aus Sicht eines zwangsrekrutierten
                                                                        Textauszug aus: Ralf Rothmann,
 Siebzehnjährigen, der sich hinter der Front in Ungarn auf die Suche
                                                                        Im Frühling sterben. © Suhrkamp
 nach dem Grab seines Vaters begibt.                                    Verlag Berlin 2015.

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REDEN BEI GEDENKVERANSTALTUNGEN                                                                                                                    REDEN BEI GEDENKVERANSTALTUNGEN

 Gedanken zu Trauer
                                                                                              ist es, wenn so vieles Unausgesprochene,
                                                                                              Ungeklärte mit dem Tod eines Menschen
                                                                                              verbunden ist, wenn er mit verwundeter

 und Erinnerung
                                                                                              Seele ging, wenn man ihn nichts mehr fra-
                                                                                              gen kann, die Antwort aber überlebens-
                                                                                              wichtig wäre für den, der bleibt. Dann kann
                                                                                              es geschehen, dass die Trauer zur Bitternis
 REGINA SCHEER                                                                                wird, dann ist der Tod nicht ein Teil des Le-
                                                                                              bens, den es zu akzeptieren gilt, sondern
                                                                                              dann vergiftet er das Leben, lässt keinen Ab-
 Redevorschlag                                                                                schied zu, nur ein Verdrängen.

                                                                                              Der gewaltsame Tod aber hinterlässt bei den     „Der Krieg und die Kinder.“ Notiz von Valery

 D
         ie Trauer und die Erinnerung sind     terbliebenen anders trauern, als wenn je-      Hinterbliebenen Ohnmachtsgefühle, viel-         Faminsky zur Aufnahme von Kindern vor
         untrennbar miteinander verbun-        mand geht, der sein Dasein als verfehlt, als   leicht ein inneres Aufbegehren, vielleicht      einem nationalsozialistischen Ehrenmal in
         den.                                  unglücklich erlebt hat. Und wieder anders      Wut, aber auch das Gefühl der Sinnlosig-        Ostdeutschland, April 1945.
                                               sind die Gefühle der Hinterbliebenen eines     keit und des Betrogenseins. Es gibt und gab        Valery Faminsky/Privatsammlung
 Verdrängte Erinnerung macht krank, den        Menschen, der ihnen durch Gewalt genom-        schon immer Zeiten, in denen der gewaltsa-      Arthur Bondar
 Einzelnen ebenso wie die Gesellschaft.        men wurde.                                     me Tod keine Ausnahme war, sondern All-
 Aber man kann verlorene Erinnerung wie-                                                      tagserfahrung für viele, Zeiten der Kriege,
 derfinden, kann sich dem Verdrängten nä-                                                     der Seuchen. Die sind nicht vorbei, wenn der
 hern und manchmal beginnt erst dann die                                                      Krieg beendet wurde oder die Infektionsge-
                                                         »Folgen bis heute:
 Trauer, ohne die kein guter Abschied, auch                                                   fahr gebannt. Wenn der natürliche Ablauf        lust den Wert des Lebens tiefer spüren und
 keine Versöhnung möglich ist. Das ist im          Nun melden die Kriegskinder                des Lebens so durcheinandergebracht wird,       ihren Teil dazu beitragen, das Zusammen-
 Menschenleben so, aber auch in der Ge-                    sich zu Wort.«                     wenn so viele vor der Zeit aus dem Leben        sein mit den anderen menschlicher zu ma-
 schichte ganzer Völker. Noch immer sehen                                                     getrieben wurden, dann wirkt diese Erfah-       chen.
                                                            REGINA SCHEER
 wir, wie in Europa verdrängte Geschichte                                                     rung noch nach Generationen. Manche
 aufgearbeitet wird. Erst wenn tabuisierte                                                    Lieder zeugen davon, biblische Texte, alte      Es ist kein Zufall, dass sich seit einigen Jah-
 Geschehnisse benannt werden, erst wenn                                                       Märchen. „Maikäfer flieg, Vater ist im Krieg.   ren in Deutschland die Kriegskinder zu
 das, was war oder ist, ausgesprochen wurde,   Der Tod nach einem erfüllten Dasein gehört     Mutter ist in Pommernland, Pommernland          Wort melden, die Generation derjenigen,
 verliert die abgewehrte Trauer ihre lähmen-   so selbstverständlich zur menschlichen         ist abgebrannt“ hörte ich schon als Kind.       die Bombennächte, Verlust von Angehöri-
 de Macht.                                     Existenz, dass selbst die Trauer der Hinter-   Diese herzzerreißende Totenklage soll aus       gen, Vertreibung, den Verlust jeder Sicher-
                                               bliebenen ein Bekenntnis zum Leben ist.        dem 30-jährigen Krieg stammen. Nach 1945        heit erlebt haben. Viele von ihnen führen
 Trauer und Tod scheinen ein Begriffspaar      Sie spüren den Verlust des Gegangenen, mit     passte sie immer noch.                          spätere Ängste, Bindungsschwierigkeiten,
 zu sein. Doch es gibt verschiedene Arten      dem sie gern noch weiter gelebt hätten, sie                                                    emotionale Blockierungen auf diese frühen
 von Trauer. Wenn ein Mensch stirbt nach       erinnern sich der Gemeinsamkeit, fühlen        Es gibt Menschen, die nach einer elementa-      Erfahrungen zurück. Zu denen gehört auch,
 einem langen Leben, das man als gelungen      den oder die Gestorbene weiter in ihrer Mit-   ren Verlusterfahrung ihre Seele einfrieren,     dass auf ihre emotionalen Bedürfnisse nie-
 bezeichnen kann, auch wenn kaum ein Le-       te; der Schmerz wandelt sich mit der Zeit,     scheinbar unberührbar werden, in deren          mand Rücksicht nahm, die Erwachsenen
 ben frei von Enttäuschungen, Schmerz und      bis die Dankbarkeit überwiegt, ein Stück des   Nähe frieren andere. Und es gibt Menschen,      hatten ums Überleben zu kämpfen und ein
 Verlusten verläuft, so werden seine Hin-      Wegs gemeinsam gegangen zu sein. Anders        die gerade durch erlebten Schmerz und Ver-      Kind hatte sich nicht zu

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REDEN BEI GEDENKVERANSTALTUNGEN                                                                                                                      REDEN BEI GEDENKVERANSTALTUNGEN

                                                Ehemalige Zwangsarbeiterinnen aus Belarus        auf einem deutschen Soldatengrab aus der Nachkriegszeit
                                                besuchen die Gräber ihrer bei der Zwangsarbeit   der bemerkenswerte Satz: Sie lebten um die Wahrheit betro-
                                                ums Leben gekommenen Angehörigen auf dem         gen / Sie starben um ihr Leben betrogen.) Selbst die SS-Män-
                                                Südenfriedhof in Hamm. Hier liegen Tote beider   ner sind differenziert zu betrachten. Viele waren fanatische
                                                Weltkriege aus mehreren Ländern, der Volksbund   Nationalsozialisten, durchdrungen von einem Herrenmen-
                                                und die Stadt Hamm informieren vor Ort über      schen-Bewusstsein, einige wenige waren gegen ihren Wil-
                                                die verschiedenen Gruppen von Kriegstoten.       len eingezogen, andere wieder junge, ideologisch verwirrte
                                                Der Krieg endete in Hamm am 6. April 1945.       Männer, manche stammten auch aus von Deutschland be-
                                                  Stadt Hamm/Markus Klüppel                      setzten Ländern und hatten sich aus der Situation der Opfer
                                                                                                 heraus auf die andere Seite schlagen wollen. Aber ihren Tod
                                                                                                 mit dem der unzähligen in Deutschland umgekommenen
                                                                                                 Zwangsarbeiter, der KZ-Häftlinge, der Kriegsgefangenen
                                                                                                 aus den besetzten Ländern gleichzusetzen, ist eine bequeme
                                                                                                 Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte.

 beschweren, wenn es zu essen und eine           vielerorts diese Umwidmungen wieder auf-        Meine Recherchen sind nun schon über 20 Jahre her. Wenn
 Schlafgelegenheit bekam. In den Familien        gehoben, die Denkmäler wurden nun aber          ich heute Friedhöfe besuche und mir Kriegsgräber und Ge-
 herrschte oft Sprachlosigkeit und Entfrem-      „allen Opfern von Krieg und Gewaltherr-         denksteine anschaue, sehe ich, dass das Gedenken seitdem
 dung, die weitergegeben wurde und noch          schaft“ gewidmet. Diese zweifelhafte For-       differenzierter, geschichtsbewusster geworden ist. Ich sehe
 bei den nächsten Generationen Störungen         mulierung findet sich auch auf Gedenkstei-      keine Kreuze mehr an Gräbern, in denen auch jüdische Op-
 auslöste, für die es scheinbar keinen Grund     nen an Gräbern. Auf einem kleinen Friedhof      fer liegen, die es sich nicht ausgesucht haben, auf einem      REGINA SCHEER
 gab.                                            in der Mark Brandenburg – das Beispiel          christlichen Friedhof zu liegen. Auch die britischen Kriegs-      Julia Pijagin
                                                 steht für viele – wurden auf diese Weise Op-    gefangenen indischer Herkunft, keine Christen, die im Ge-
 Doch sich und den anderen diese Zusam-          fer des Todesmarsches aus den Konzentrati-      treidesilo von Putlitz arbeiten mussten und zum Kriegsende     Schriftstellerin und Histori-
 menhänge bewusst zu machen, ist Teil der        onslagern Ravensbrück und Sachsenhausen         von der SS am Bahnübergang erschossen wurden, haben            kerin, * 1950 in Ost-Berlin
 Heilung.                                        zusammen mit ihren Bewachern geehrt, die        keine Kreuze mehr an ihren Gräbern auf dem Friedhof von
                                                 auch in den letzten Kriegstagen umkamen.        Putlitz, sondern angemessene Gedenkzeichen. Vor zwanzig        Studium der Theater- und
 In den neunziger Jahren führte mich ein Ar-                                                     Jahren habe ich noch mit einem Vertreter der zuständigen       Kulturwissenschaft an der
 beitsauftrag als Historikerin über Friedhöfe    In Diskussionen darüber hörte ich oft das       Denkmalbehörde darüber diskutiert, der solche Bedenken         Humboldt-Universität. Von
 in Mecklenburg und Brandenburg, wo ich          Argument: Der Tod macht die Menschen            für überflüssig hielt.                                         1972-1976 bei der Wochenzeit-
 sogenannte Kriegsgräber und Gedenkzei-          gleich.                                                                                                        schrift «Forum», danach freie
 chen anschaute, ihren Zustand dokumen-                                                          Auch den Toten gilt es mit Empathie zu begegnen, ihre Na-      Autorin der Literaturzeitschrift
 tierte und manchmal versuchte, die Hinter-      Das glaube ich nicht und viele Angehörige       men nicht zu verschweigen, ihre womöglich andere Kultur        «Temperamente». Nach 1990
 gründe zu erhellen. Relativ leicht war dies     von in deutscher Erde ruhenden Opfern           zu achten. Der Tod hebt nicht auf, was für ein Leben einer     wirkte sie an Ausstellungen
 bei den Kriegerdenkmälern, die oft noch         nicht irgendeiner, sondern der nationalso-      gelebt hat. Trauer um den Toten ist aber nur möglich, wenn     und Filmen mit und veröf-
 aus dem Ersten Weltkrieg stammten, aller-       zialistischen Gewaltherrschaft wollen diese     man sich seiner als einzigartigen Menschen erinnert, wahr-     fentlichte mehrere Bücher zur
 dings waren einige in der DDR umgewidmet        Gleichstellung auch nicht. Gewiss steht je-     haftig erinnert.                                               deutsch-jüdischen Geschich-
 worden und durch das Anbringen einer an-        dem Toten ein Gedenken zu, auch den im                                                                         te. Für ihren ersten Roman
 deren Inschrift den Opfern des Faschismus       Dienst einer schlechten Sache gefallenen                                                                       «Machandel» erhielt sie 2014
 gewidmet. Nach dem Ende der DDR wurden          Soldaten. (In Brieskow-Finkenheerd steht                                                                       den Mara-Cassens-Preis.

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 Der Krieg und die
 Chance des Danach
 DR. CAROLINE FETSCHER

 Redevorschlag

 W
             ohin der weite Weg aus der         und er verfolgte, wie so viele, täglich ver-
             Barbarei uns gebracht hat –        zweifelt die Nachrichten. Kaum ein Blatt
             und noch bringen kann.             im Tagebuch, ohne dass Stalingrad erwähnt
                                                wird, die Judenverfolgung, der Bomben-
 Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist 75 Jah-    krieg, die Hoffnung beim Hören der Reden
 re her. Für uns Heutige hat der Krieg einen    von Churchill oder Roosevelt.                   Berlin, Mai 1945 (Marchlewskistraße, ehemalige Memeler Straße)
 festen Rahmen aus Jahreszahlen, er dauerte                                                       Valery Faminsky/Privatsammlung Arthur Bondar
 von 1939 bis 1945. Aus dem Rückblick ergibt    Hunderttausende Emigranten, Verfolgte
 das die beruhigende Gewissheit: Zwischen       und Inhaftierte spekulierten: Geht es noch
 diesen beiden Daten, in diesem zeithistori-    ein Jahr? Oder viel länger? Vielleicht ist es   chen aus einem Alptraum. Jahrelang hatten           jagd der Nationalsozialisten, endete ihre
 schen Kasten steckt der Krieg. Danach kam      im Winter vorbei? Millionen Menschen            Alarmsirenen und Luftschutzkeller zum               gezielte Sabotage jeglicher Menschlichkeit.
 der Frieden, in dem wir, zumal in den west-    in der gesamten zivilisierten Welt hofften      Alltag gehört, Panik und Todesängste. Das
 lichen Demokratien, relativ gut leben.         auf ein Kriegsende. Die Erlösung kam, und       war vorüber.                                        „Kriegsende“ ist ein tröstliches Wort. Der
                                                wer damals jung war, hat sie miterlebt. An                                                          Krieg ist also an sein Ende gekommen, fast
 Doch damals, im Inneren des Kastens, kann-     einem Waldsaum in Hessen, daran erin-           Doch um die Blumenwiese herum lag ganz              als sei er eine Art Jahreszeit gewesen. Wie
 te niemand dessen Dimension. Er war eine       nert sich die 1930 geborene Frankfurterin       Deutschland, ganz Europa in Trümmern.               ein Naturereignis beschreibt unsere Sprache
 Black Box. Der Weltkrieg tobte global, sein    Edeltraut, pflückte sie im Frühsommer 1945      Alliierte Soldaten bargen jüdische Überle-          ja auch seinen Anfang: „Der Krieg bricht
 letzter Tag lag im Irgendwann einer verhüll-   Blumen, ganz ohne die übliche Angst vor         bende aus den Lagern. Millionen deutscher           aus“, heißt es. So verkleidet Sprache, was
 ten Zukunft. Am 9. September 1942 notierte     Tieffliegern, die jederzeit auftauchen und      Familien wussten nicht, ob ihre Väter, Söh-         alle besser wissen: Kein Krieg bricht aus wie
 Thomas Mann im kalifornischen Exil in sein     feuern könnten. Beim Blick in den blauen        ne und Brüder zurückkehren würden, Bret-            ein Vulkan oder ein Fieber. Menschen hat-
 Tagebuch zu einem Gedankenaustausch            Himmel war der Fünfzehnjährigen urplötz-        terzäune hingen voll mit Suchmeldungen              ten den Krieg verantwortet, und die Kapitu-
 mit seiner Tochter: „Gespräch mit Erika über   lich klar: Ja, der Krieg ist aus! Mit einem     des Roten Kreuzes. In den Straßen sah man           lation des „Dritten Reichs“ war Vorausset-
 den Zustand Europas nach dem Kriege und        Strauß Margeriten und Schlüsselblumen           Kriegsversehrte und Flüchtlinge, Kinder             zung für den Aufbruch in eine Neuordnung
 die unvorstellbare Rolle Deutschlands.“ Um     kam sie nachhause, und bis heute erinnern       hatten Unterricht in Behelfsbaracken. Aber          unter den Leitsternen Demokratie und
 die Zeit schrieb der deutsche Nobelpreisträ-   Wiesenblumen sie jeden Mai an den Au-           die Bomber dröhnten nicht mehr durch die            Menschenrecht.
 ger für Literatur an seinem Josephsroman,      genblick, der ihr vorkam wie das Aufwa-         Nacht, und in Europa endete die Menschen-

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 Mit der sogenannten „Stunde Null“ begann       Der Weg zum Abschied war weit. Erschüt-         gegrenztere Kriege auf den furchtbaren Zweiten Weltkrieg
 das Forträumen des Schutts. Städte erstan-     terung durch Schuld und Traumata lässt          gefolgt, in Korea, Algerien, Vietnam und Kambodscha, in
 den auf, während alliierte Finanzhilfe und     sich nicht fortschaffen wie Trümmer aus         Jugoslawien – und heute in Syrien, in der Ukraine, in Libyen,
 Aufbaueifer die Bundesrepublik aus den         Stein. Die Psyche braucht Zeit, sich ihren      im Yemen.
 Ruinenfeldern ins Wirtschaftswunder bug-       Weg durch Widerstände zu bahnen, und in
 sierten. Der Kasten, in dem der Krieg ge-      den meisten deutschen Familien schwel-          „Wie konnte das geschehen?“ „Warum habt ihr das zugelas-
 steckt hatte, bekam mit dem Mai 1945           ten Scham, Angst und Verdrängung. Nach          sen?“ So werden Leute, die heute Kinder sind, später einmal
 seinen Datumsdeckel, und viele Deutsche        und nach erfuhren Kinder und Jugendliche,       mit Recht fragen. Die Zuschauer wie die Schuldigen werden
 hätten den Kasten gern zugenagelt, um          oft nur durch aufgeschnappte Worte, was         dann wieder versuchen zu verdrängen, zu bagatellisieren, zu
 den moralischen Bankrott der Gesellschaft      Erwachsene angerichtet hatten, sogar die        vertuschen, den Kasten zuzunageln.
 darin zu begraben, so wie man die Toten be-    Eltern, denen man vertraute. Wo sollte die
 graben hatte.                                                                                  Doch die Weltgemeinschaft lernt, und es wird wahrschein-
                                                                                                lich mehr und schneller Antworten geben als zuvor in der
 Aber authentischer Frieden verlangt nach                                                       Geschichte. Internationales Strafrecht hat seit den Nürn-
                                                  »Authentischer Frieden verlangt
 Wahrheit, denn menschliche Seelen ken-                                                         berger Prozessen enorme Fortschritte gemacht. Allem Po-
 nen keine Stunde Null. Nein: Die Seele muss    nach Wahrheit. Menschliche Seelen               pulismus zum Trotz existieren mehr Demokratien als je zu-
 ihr Handeln und Erleben erkennen und                kennen keine Stunde Null.«                 vor, und auf die Charta der Menschenrechte der Vereinten
 verarbeiten. Deshalb wurde der Deckel des                                                      Nationen berufen sich Milliarden Menschen, wenngleich
                                                        DR. CAROLINE FETSCHER
 Kastens nicht zugeschlagen, sondern ange-                                                      die Charta, gemessen an der Geschichte der Gattung, noch
 hoben. Und je mehr Licht in den Kasten fiel,                                                   unglaublich jung ist, gewissermaßen gerade einmal in der
 desto größeres Grauen kam zum Vorschein,                                                       Kinderkrippe.
 zunächst mit den Nürnberger Prozessen.         Jugend Vorbilder finden, wie sie dringend
 Der Zivilisationsbruch des Holocaust hatte     gebraucht wurden? Allenfalls bei fernen         Wie stark weltweite Anstrengung für menschliche Zwecke           DR. CAROLINE FETSCHER
 die Gattung verraten; er hatte Gott denun-     Helden wie dem Tropenarzt Albert Schweit-       wirken kann, das beweisen uns in diesem Jahr die Wissen-            privat
 ziert, klagten andere, wieder andere verlo-    zer, der in Zentralafrika sein Hospital von     schaftlerinnen und Wissenschaftler in der Corona-Krise.
 ren ihren Glauben. „Gott war immer da“,        Lambarene unterhielt, das Schwarze ebenso       Das Virus ist kein Feind, es ist nichts als ein genetisches      Journalistin und Publizistin,
 sagte der Londoner Rabbiner Lionel Blue        aufnahm wie verwaiste Tiere. Lambarene          Programmpartikel, das sich vermehrt. Ganz gleich, was            * 1958 in Tübingen
 einmal über Auschwitz: „Aber die Men-          wurde zum fiktiven Kurort für die Seele von     egoistische Regierungen und Konzerne treiben: Auf allen
 schen waren nicht da.“ Das heißt: Die Täter    Millionen deutscher Kinder im Dschungel         Kontinenten werden Erkenntnisse ausgetauscht, freut man          Fetscher wächst an verschie-
 hatten ihre Menschlichkeit verloren.           der Nachkriegszeit.                             sich an Fortschritten und sucht nach Impfung und Heilung,        denen Orten auf, u. a. in den
                                                                                                unterstützt von Leuten, die für das Allgemeinwohl geben.         USA, Großbritannien und den
 Die Psychoanalytiker Alexander und Mar-        Die Älteren zu konfrontieren, blieb lange ein                                                                    Niederlanden. Studium der
 garete Mitscherlich diagnostizierten der       Tabu. „Wie konnte das geschehen?“ „Warum        Die Menschheit kann sich selbst der ärgste Feind sein, wie       Germanistik, Geschichte und
 Nachkriegsbevölkerung eine „Unfähigkeit        habt ihr das zugelassen?“ Zu solchen Fragen     in der von Deutschland initiierten Barbarei zwischen 1933        Psychologie in Freiburg i. Br.
 zu trauern“. Zu trauern, nicht um die sechs    besaß erst die nächste Nachkriegsgenera-        und 1945. Die Menschheit kann aber auch zur Freundschaft         und Hamburg sowie Abschluss
 Millionen jüdischen Ermordeten, so viel        tion den Mut, die der Rebellen in den 1960er    mit sich selber finden, sich mit sich selber anfreunden. Viel-   an einer Journalisten-Schule,
 erwarteten die Autoren gar nicht, sondern      Jahren. Sie skandierten das laute Echo auf      leicht gibt auch und gerade die Corona-Pandemie uns dazu         Promotion in Zürich. Enga-
 um die entlarvten Idole des Nationalsozi-      die bald nach 1945 entstandene Devise: „Nie     jetzt eine Riesenchance.                                         gierte sich bei Greenpeace.
 alismus, von denen sie sich nicht vollends     wieder Krieg!“ Inzwischen sind, vor und                                                                          Seit 1997 Redakteurin und
 verabschieden wollten.                         nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, ein-                                                                        Autorin des Tagesspiegel.

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