Zeitschrift für medizinische Ethik
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Zeitschrift m E a u ch ne für i Zf o n l de e. .zfm www medizinische Ethik Wissenschaft • Kultur • Religion 65. Jahrgang 2019 Heft 3 Sterbefasten S. Sahm FVNF und die Medizin am Lebensende B. Schneider/ Der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) U. Sperling S. Stängle et al. Pflegewissenschaftliche Erkenntnisse zu FVNF A. Fringer et al. Zur Philosophie der personen- und familienzentrierten Pflege F.-J. Bormann Ein moraltheologischer Blick auf das sog. Sterbefasten A. Heller/S. Kränzle Tod durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (ToFVET) M. Zimmermann/ Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? R. Zimmermann S. Augsberg Juristische Probleme des sog. Sterbefastens F. Rostalski/J. Brantl Rechtlicher und ethischer Kommentar Schwabenverlag
Zeitschrift für medizinische Gegründet im Jahre 1954 als Zeit- schrift für medizinisch-ethische Ethik Grundsatzfragen und bis 1992 erschienen unter dem Titel ARZT UND CHRIST. Wissenschaft · Kultur · Religion Vierteljahresschrift Herausgegeben im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Franz-Josef Bormann, Alois Joh. Buch und Matthias Volkenandt. Geschäftsführender Herausgeber Franz-Josef Bormann. Redaktion: Markus Held, Katholisch-Theologisches Seminar, Lehrstuhl für Moraltheologie Prof. Dr. F.-J. Bormann, Liebermeisterstr. 12, 72076 Tübingen, Telefon (0 70 71)2 97 54 19, Telefax (0 70 71)29 28 66, E-Mail: redaktion@zfme.de Wissenschaftlicher Beirat: Klaus Baumann (Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit, Freiburg i. Br.), Hermann Brandenburg (Gerontologische Pflege, Vallendar), Peter Dabrock (Systematische Theolo- gie/Ethik, Erlangen), Andreas Heller (Palliative Care und Organisationsethik, Graz), Dirk Lanzerath (Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, Bonn), Karl-Heinz Leven (Geschichte und Ethik der Medizin, Erlangen), Jürgen Manemann (Forschungsinstitut für Philosophie, Hannover), Ursula Nothelle-Wildfeuer (Sozialethik, Freiburg i. Br.), Stephan Sahm (Geschichte und Ethik in der Medi- zin, Frankfurt a. M.), Eberhard Schockenhoff (Moraltheologie, Freiburg i. Br.), Urban Wiesing (Ethik in der Medizin, Tübingen) Geschäftsführender Herausgeber: Prof. Dr. Franz-Josef Bormann, Katholisch-Theologische Fakultät Lehrstuhl für Moraltheologie, Eberhard Karls Universität Tübingen, Liebermeisterstr. 12, 72076 Tübingen, Tel.: 0 70 71-29-7 28 60, Franz-Josef.Bormann@uni-tuebingen.de Verlag: Schwabenverlag AG, Postfach 42 80, D-73745 Ostfildern, Telefon (07 11) 44 06-0, Telefax (07 11) 44 06-1 77, E-Mail: zfme@schwabenverlag.de, Internet: www.zfme.de, Vorstand: Ulrich Peters. Manuskripte, redaktionelle Zuschriften und Besprechungsexemplare sind an die Redaktionsadresse zu r ichten. Herstellung: Satz: Schwabenverlag AG, 73745 Ostfildern. Druck: Stückle Druck und Verlag, Ettenheim. Bestellungen sind zu richten an: Schwabenverlag AG, Postfach 42 80, D-73745 Ostfildern, Telefon (07 11) 44 06-134, Telefax (07 11) 44 06-177, E-Mail: zfme@schwabenverlag.de Bezugsbedingungen: Jahresabonnement einschließlich Onlinezugang 76,– [D] inkl. MwSt. / Studenten bzw. Abonnenten, die sich in der Ausbildung befinden (Nachweis erforderlich) 38,– [D] inkl. MwSt.; je- weils zuzüglich Versandkosten. Das Einzelheft kostet 18,50 [D] zuzüglich Versandkosten. Bezug der Zeit- schrift durch die Post oder den Buchhandel. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um 1 Jahr, wenn nicht eine Abbestellung schriftlich 6 Wochen vor Bezugsjahresende erfolgt. Bankverbindungen: Postbank Stuttgart IBAN DE28 6001 0070 0004 5597 01, BIC PBNKDEFF; Postsparkasse Wien IBAN AT47 6000 0000 0757 6654, BIC BAWAATWW; Postgiro Basel IBAN CH28 0900 0000 8004 70123, BIC POFICHBEXXX, Kto: 80-47012-3. Anzeigen: Es gilt die Anzeigenpreisliste 2018. Alle Verlagsrechte sind vorbehalten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Gewähr übernom- men. Gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Herausgeber und Redaktion wieder. ISSN 0944-7652 E 7602 F
Zeitschrift für medizinische Ethik 65 (2019) 299 Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? Ein Beitrag zum Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) Zusammenfassung Im Kontext der Debatte um § 217 StGB zum Thema Beihilfe zum Suizid wurde auch diskutiert, ob eine pflegerische oder ärztliche Hilfe beim so genannten Sterbefasten bzw. Freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) rechtlich und ethisch mög- lich sei. Eine Beantwortung dieser Fragen hängt wesentlich mit dem Urteil zusammen, ob FVNF als Selbsttötungshandlung betrachtet wird oder nicht. Der Artikel analysiert die Debatte hinsichtlich des Begriffsgebrauchs, der handlungstheoretischen Vorausset- zungen und des phänomenologischen Erlebens. Die Autoren kritisieren die teilweise in- teressegelenkte Engführung des Diskurses um FVNF auf eine Handlung des selbstbe- stimmten Sterbens bzw. passiven Suizids. Mit unterschiedlichen Rahmentheorien kann FVNF hingegen als eine Form des einwilligenden Sterbens betrachtet werden, mit dem das in absehbarer Zukunft erwartbare Sterben vorzeitig eingeleitet wird. Abstract/Summary In the context of the debate about § 217 StGB to the topic assisted suicide it was also discussed whether medical care is legally and ethically possible with the Voluntary Stop- ping of Eating and Drinking (VSED). An answer to these questions is essentially related to the judgment as to whether or not VSED is considered an act of suicide. The article analyses the debate with regard to the use of terms, the foundation in action-theory and phenomenological experiences. The authors criticize the partially interest guided narro- wing of the discourse around VSED to an action of self-determined dying or passive suicide. With different framework theories, however, VSED can be regarded as a form of consenting dying with which the expected dying in the foreseeable future is prematurely initiated. Schlüsselwörter FVNF; Sterbefasten; Lebensbeendende Handlungen; Sterbehilfe; Tun und Unterlas- sen; Suizid; Verzichtsethik. DOI: 10.14623/zfme.2019.3.299-313
300 Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann Keywords VSED; voluntary refusal of food and fluids (FRFF); actions ending life; medical aid in dying; omission; (assisted) suicide; ethics of relinquishing. 1. Einleitung Gespräche zum Thema Sterbefasten in einer Kleingruppe beim zweiten Mainzer Palliative Care Symposion1 an der Universitätsklinik Mainz im März 2019: Einigen Anwesenden, die offenbar im Bereich der Hospiz tätig sind, ist das Phänomen des (bewussten) Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit am Lebensende bekannt, wenn es auch vielfach nicht immer als sol- ches bezeichnet wurde. Sie verbinden damit nichts Ungewöhnliches oder ethisch Problemati- sches. „Sterbefasten“, sagt eine ältere Dame, „sei eine Einwilligung zum Sterben“. Krankenschwestern aus Pflegeeinrichtungen wirken eher skeptisch. Nicht umsonst stehe die Versorgung mit Flüssigkeit in Deutschland auch im Rahmen einer Patientenverfügung meist nicht zur Disposition, dies sei doch Basispflege. Was könne Menschen dazu führen, einen solchen, in ihren Augen grausamen und schmerzhaften Tod zu wählen? Handele es sich beim Sterbefasten nicht um einen ‚verschleierten Suizid‘, dessen Wunsch Pflegekräfte alarmieren müsste? Eine Person – offenbar aus dem Bereich Medizinethik – greift das Stichwort Suizid im po- sitiven Sinne auf. Könnte das Sterbefasten nicht eine Chance sein, das Phänomen der freiwilli- gen Selbsttötung von Schwerkranken endlich vom Etikett einer moralisch problematischen Handlung zu befreien? Wer die ärztliche Begleitung von Sterbefastenden befürworte, könne wohl kaum assistierten Suizid ablehnen. Handelt es sich beim FVNF um eine Form des Suizids oder um ein lebenssattes Sterben? Die Beantwortung der Frage ist nicht nur begriffliche oder akademische Spielerei, son- dern hat rechtliche und ethische, aber auch medizinisch-pflegerische oder seelsorgerli- che Konsequenzen. Die aktuelle öffentliche2 und wissenschaftliche3 Debatte zeigt zwei Lagerbildungen: Die einen wollen FVNF als bewusste Selbsttötungshandlung verste- hen, die anderen hingegen strikt davon abgrenzen und sehen eher ein Einfügen in den unausweichlichen Sterbeprozess bzw. plädieren für eine „ganz andere Handlungsweise.“4 Eine weitere Gruppe vertritt eine Mittelposition, bei der ein schwebender Übergang zwischen einem Akt der Selbsttötung, einem selbstverfügten Tod und einem einwilli- genden Sterben angenommen wird, der sich z. B. nach Fringer durch die Merkmale Mo- bilität, Krankheitsaktivität, Selbstversorgung, Bewusstsein, geschätztes medianes Überleben in Tagen und der Menge der Nahrungsaufnahme präziser bestimmen lässt. 5 Die extremen Positionierungen sind nicht frei von tiefer liegenden Interessen und Zwecken. So neigen die Vertreter der Suizid-These dazu, dass durch die Klassifikation ein ‚Ausweg‘ gefunden wird, wie angesichts einer gesellschaftlichen und rechtlichen Ab- lehnung von Tötung auf Verlangen und assistiertem Suizid doch ein Weg des selbstbe-
Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? 301 stimmten Sterbens ermöglicht wird. Sie sehen mit dem FVNF perspektivisch eine Chance, den Gedanken des ‚guten Sterbens durch (assistierten) Suizid‘ auch in Deutsch- land in die Gesellschaft hineinzutragen.6 Wer die terminologische Differenz betont, möchte gerade an dieser Stelle vorsichtig gegenüber der schiefen Bahn (slippery slope) bleiben, aber rechtliche oder medizinische Handlungsspielräume eröffnen, die im Kon- text der bestehenden Rechtslage FVNF ermöglichen.7 Aus Sicht der Gegner sperren sich Vertreter dieses Lagers gegen einleuchtende Argumente, weil Suizid bereits a priori un- ter moralischen Verdacht oder gar Verdikt gestellt wurde. Die Debatte ist jedoch noch komplexer, da eine Parteinahme zu einer Position (Pro oder Contra Suizid) nicht automatisch zu einer entsprechenden moralischen Schlussfol- gerung führen muss. So kann FVNF zwar als eine Form des Suizids angesehen, aber dennoch eine strikte Trennungslinie zum medizinisch assistierten Suizid aufrechterhal- ten werden. Oder FVNF kann ethisch abgelehnt werden, ohne auf die palliative Versor- gung Sterbender in Folge von FVNF verzichten zu wollen.8 Eine Beurteilung der Ausgangsfrage hängt bereits mit Weichenstellungen im Be- griffsgebrauch sowie mit handlungstheoretischen und moralphilosophischen Rahmen- konzepten zusammen. Der vorliegende Beitrag möchte diese Aspekte näher in den Blick nehmen. 2. Überlegungen zum Begriff und antiken Sprachgebrauch Bereits im Begriffsgebrauch treten markante und z. T. wertende Unterschiede insbeson- dere in der modalen Verknüpfung mit dem Tod bzw. Sterben zu Tage. Unscharf ist die metaphorische Bezeichnung Sterbefasten oder auch terminales Fasten. Sie nennt zwar das Sterben als Ziel- bzw. Endpunkt des Fastens, bezeichnet aber nicht näher, was das Objekt des Verzichts ist. Da sich Intention, Umfang und Ziel des oft religiös, gesundheitlich oder politisch motivierten ‚Fastens‘ doch deutlich von einem auf den Tod hinführenden Ver- zicht auf Nahrung und Flüssigkeit unterscheiden, ist der Begriff in die Kritik geraten.9 Der Begriff ‚Sterbefasten‘ ist aber dennoch kein platter Euphemismus, sondern geht auf einen kulturgeschichtlich seit langem belegten Sprachgebrauch zurück. So erwähnt Ci- cero eine Schrift des griechischen Philosophen Hegesias von Kyrene (3. Jh. v. Chr.10) mit dem Titel ΑΠΟΚΑΡΤΕΡΩΝ (‚Der Fastende‘11), in der – nach Cicero – „jemand durch Fasten (per inediam12) aus dem Leben scheiden will, dann von Freunden zurückgerufen wird und diesen nun die ganzen Beschwerden des menschlichen Lebens aufzählt.“13 He- gesias versteht unter diesem Fasten offenbar einen Akt der freiwilligen Selbsttötung und hat den Quellen zu Folge so offensiv für diese Form des Suizids geworben, dass ihm von Ptolemaios II. ein Lehrverbot erteilt wurde.14 Nach Diogenes Laertios wurde gegen He- gesias sogar mit dem Beinamen ‚Peisithanatos‘ (Todesverführer/Todesüberreder) pole- misiert.15 Auch Seneca spricht im 70. Brief an Lucilius davon, dass Sokrates durchaus die Mög- lichkeit gehabt hätte, durch „abstinentia et inedia“ (Verzicht und Fasten) vorzeitig sein Leben zu beenden, statt 30 Tage auf den Giftbecher zu warten. Sokrates ergreift diese Möglichkeit jedoch aus ethischen und sozialen Gründen nicht.16 Diese punktuellen Ein- blicke in den antiken Diskurs zeigen, dass der metaphorische Begriff des ‚Fastens‘ kei- neswegs eine ethische Legitimation für den Freitod verschafft hat, sondern man sich
302 Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann vielmehr der ambivalenten Bewertung dieses Verhaltens auch in der Antike durchaus bewusst war.17 Aber auch der in der wissenschaftlichen Diskussion etablierte, deskriptiv präzisere Begriff des ‚Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit‘ (FVNF) zeigt insbeson- dere mit Blick auf seine Verhältnisbestimmung zum Tod im Gebrauch eine beachtliche Weite: Für einen Teil der Autorinnen und Autoren ist FVNF konstitutiv mit der Selbst- tötungsabsicht verbunden. Entsprechend definieren z. B. Simon und Hoekstra: FVNF als „freie Entscheidung einer einwilligungsfähigen Person, Essen und Trinken einzustel- len, um damit absichtlich den eigenen Tod herbeizuführen.“18 Todesabsicht, Entscheidungsfähigkeit und Freiwilligkeit können ohne Zweifel als wesentliche Bestandteile des FVNF gesehen werden. Allerdings gibt es Grauzonen, in denen diese nicht eindeutig ermittelbar sind oder kommuniziert werden können. Nach empirischen Studien ist das Phänomen der teilweisen oder vollständigen Reduktion von Nahrung und Flüssigkeit unter Hausärzten und -ärztinnen und Palliativmedizinern und -innen weithin bekannt.19 Allerdings wird es häufig nicht als bewusste Entscheidung kommuniziert, so dass auch Beweggründe und Ziele unbekannt bleiben. Nach André Fringer liegt das Verhältnis unausgesprochener zu ausgesprochenen Fällen bei 73,2 % zu 26,8 % bzw. aus der Perspektive von Hausärzten bei 81,1 % zu 18,9 %.20 Unausgesproche- ner und gradueller Verzicht liegt häufig bei Menschen in höherem Alter vor. Das abneh- mende Bedürfnis nach Nahrung und Flüssigkeit im hohen Alter kann sich hier mit dem Wunsch nach ‚lebenssattem Sterben‘ verbinden, ohne dass diese Menschen ihr Verhalten als bewussten Akt der Selbsttötung bezeichnen würden. Im Falle von fortgeschrittener Demenz kann ferner oft nur der natürliche oder mutmaßliche Wille wahrgenommen werden. Kann hier die z. T. vehemente Weigerung zu essen und zu trinken strikt von FVNF abgegrenzt werden?21 In den meisten Fällen von FVNF steht der Tod durch fortgeschrittene unheilbare Erkrankung oder hohes Alter in absehbarer Zukunft bevor.22 Vor diesem Hintergrund beschreiben Autoren und Autorinnen in der englisch-sprachigen Debatte FVNF auch als „hastening death“23 (Beschleunigung des Todes), was auf das vorzeitige Eintreten in die terminale Sterbephase hinweist. Müller-Busch spricht aus palliativmedizinischer Sicht vom FVNF als „Entscheidung zur Therapiezieländerung (…), um durch die Beendi- gung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme den Sterbeprozess einzuleiten und den Tod vorzeitig herbeizuführen.“24 FVNF wird dann als ein (Sich-)„Fügen in den Sterbeprozess“25 betrachtet, wobei der Sterbeprozess hierbei als passiver Vorgang wahrgenommen wird, in den der Mensch einstimmt und bestenfalls den Anfangszeitpunkt bestimmt. FVNF führt hier gleichsam auf den Tod hin, auch wenn dieser nicht final oder kausal durch das Handeln des Menschen verursacht wird. Doch welche Vorstellung von Kausalität und Handlungskonzept stehen hier im Hin- tergrund? 3. Handlungstheoretische Überlegungen Einer der exponierten Vertreter der Suizid-Position ist der Moralphilosoph Dieter Birn- bacher. Er hatte bereits im Jahr 2015 explizit dafür plädiert, das Sterbefasten „zweifellos“ als eine Form des Suizids zu betrachten, und zwar des „passiven Suizids“ durch Unterlas-
Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? 303 sen.26 Wie es auch eine strafrechtlich relevante Form von „Tötung durch Unterlassen“ gebe, „kann es auch ein ‚Sich-selbst-sterben-Lassen‘ als negative Form der Selbsttötung geben.“27 Birnbacher ging von einer WHO-Suizid-Definition28 aus, von der er drei not- wendige Bedingungen ableitete, wobei er Bedingung drei erweiterte (hier mit Kursivie- rung) um den Suizid von der aktiven Sterbehilfe zu unterscheiden: „1. Der Akteur beab- sichtigt, sein Leben zu beenden; 2. Der Akteur handelt in der Erwartung, dass infolge seines Handelns sein Tod eintritt; 3. Das Handeln des Akteurs verursacht seinen Tod ohne die absichtliche aktive Intervention eines anderen auf Verlangen des Akteurs.“29 Birn bacher erkannte zu Recht, dass diese Bedingungen allerdings ebenso auf das Sterben durch Behandlungsabbruch zutreffen, so dass er eine vierte Bedingung hinzufügen muss: „4. Der Tod ist nicht durch den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung verursacht.“30 Die philosophische Basis für Birnbacher besteht in einer handlungstheoretischen Ni- vellierung von Tun und Unterlassen31 im Blick auf die Folgen/Ziele32 des Tuns bzw. Un- terlassens. Birnbacher spricht im weiteren Zusammenhang von einer „negativen Kausalität“33 und macht damit deutlich, dass er einer kausalen Handlungstheorie ver- pflichtet ist. Mit Blick auf FVNF bedeutet das, dass die absichtsvolle Unterlassung von Essen und Trinken den Tod ebenso kausal verursacht wie eine absichtsvolle Handlung (z. B. die Einnahme eines tödlichen Medikaments). Unter den Stichwörtern ‚Äquivalenzthese‘ versus ‚Signifikanzthese‘ wurde das Prob- lem breit diskutiert, wobei die Vertreter der Äquivalenzthese – wie Birnbacher – eine moralisch bedeutsame Differenz zwischen Töten und Sterbenlassen bestreiten, wäh- rend Anhänger der Signifikanzthese die Gleichsetzung von Sterben durch Unterlassung und Selbsttötung als Varianten desselben Handlungstyps von unterschiedlichen Per spektiven aus kritisieren. 34 Sowohl die bundesdeutsche Rechtsprechung als auch die Bundesärztekammer in ihrer Erklärung zur ärztlichen Sterbebegleitung35 haben an einer kategorialen Differenz zwischen dem Handlungstyp des Tötens und demjenigen des Sterbenlassens festgehalten und inzwischen die missverständlichen Formulierungen ‚ak- tive‘ und ‚passive‘ Sterbehilfe aufgegeben. Die von Birnbacher vorausgesetzte identische ethische Bewertung von Tun- und Un- terlassenshandlungen trifft wiederum nur für eine konsequentialistische bzw. utilitaris- tische ethische Rahmentheorie zu, die davon ausgeht, dass der Wert eines Verhaltens (sei es Tun oder Unterlassen) an den Verhaltenskonsequenzen bemessen wird. 36 Wenn Ziel des Handelns, wie Birnbacher schreibt, „die Herbeiführung des Todes“ ist, können pas- sive Unterlassung (z. B. im FVNF) und aktive Handlung (z. B. Medikamenteneinnahme) in ihrer ethischen Bewertung gleich geschaltet werden. Ethische Theorien, die diese Vo- raussetzungen nicht teilen, kommen entsprechend zu anderen Schlussfolgerungen. Die Frage muss allerdings noch grundsätzlicher betrachtet werden, da sowohl die Kausalität von Unterlassungen als auch kausale Handlungstheorien kontrovers disku- tiert werden. So hat etwa Michael S. Moore (rechts)philosophisch bezweifelt, dass Un- terlassungen als kausale Faktoren für die Verursachung von Ereignissen angesehen wer- den müssen. 37 In der Philosophie wurden seit Anscombe und von Wright die Gültigkeit der Kausalitätshandlungstheorie zunehmend bestritten und stattdessen ein Intentiona- lismus bzw. eine teleologische Handlungstheorie vertreten. Bottek sieht aktuell sogar einen regelrechten Trend der „Ablehnung des Kausalismus zugunsten der intentionalis- tischen Alternative.“38 Nach der kausalen Handlungstheorie bestehe ein unmittelbarer
304 Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann Kausalzusammenhang zwischen Absicht und Handlung, die durch physische Manifes- tationen festgelegt sind, wohingegen die Kritiker hier eine Übertragung des Kausalitäts- begriffs aus dem Bereich naturwissenschaftlichen Denkens problematisieren, da Kausa- lität dort auf nicht-intentionalen Körperbewegungen beruhe. Bei der von Birnbacher u. a. verwendeten Definition von FVNF als absichtsvolle Ver- ursachung des Todes39 werden nun beide Handlungskonzepte ineinander geschoben. Dies ist deshalb notwendig, weil die direkte Wirkung von Unterlassungen nur mit eini- gem argumentativen Aufwand (konkret durch die Benennung von „Möglichkeits bedingungen“40) mit der Kausalitätstheorie begründet werden kann. Konkret stellt sich die Frage, ob die Unterlassung des Essens und Trinkens überhaupt kausal als Verursa- chung des Todes angesehen werden muss. Wenn wir hier den philosophischen Einwän- den gegen die reine Kausalitätshandlungstheorie oder der modifizierten Signifikanz- these folgen,41 dann konzentriert sich das Problem auf die Frage, ob die ‚Absicht‘ im Sinne des Intentionalismus den FVNF als Selbsttötungshandlung beschreiben lässt. Nach der intentionalistischen Handlungstheorie können Handlungen nur teleo logisch, nicht kausal erklärt werden. Handlungen sind demnach Ereignisse, die „als Zweckrealisierungsversuche von Personen angesehen werden können, da sie Konklusio- nen eines praktischen Syllogismus sind.“42 In Anlehnung an Schwemmer beschreibt Bot- tek eine Handlung als „Verhalten, das so rekonstruiert werden kann, dass es zumindest unter einer Beschreibung als Mittel zum Erreichen eines Zweckes des Akteurs angese- hen werden kann.“43 Wenn wir davon ausgehen, dass dem FVNF eine bewusste, intentionale Entschei- dung zu Grunde liegt, kann der Verzicht durchaus als eine Handlung im Sinne des Inten- tionalismus betrachtet werden. Dies verlagert die Betrachtung von der Handlung (und ihren Folgen) zum handelnden Subjekt. Es stellt sich daher die Frage, worin der Zweck bzw. die Absicht dieser Handlung für den Handlungsträger selbst liegt. Ist die Entschei- dung eines FVNF-Willigen bezogen auf den weiteren Kontext primär darin motiviert, den eigenen Tod absichtsvoll herbeizuführen, so dass man FVNF als Suizid-Handlung im Sinne des Intentionalismus beschreiben muss? Wenn wir ausschließen, dass FVNF im Falle von psychischen Erkrankungen wie De- pressionen oder Vergiftungswahn angewandt wird, da hier die Erkrankung die Freiwil- ligkeit einschränkt oder aufhebt, dann wird doch FVNF vor allem dann erwogen, wenn der Tod in absehbarer Zukunft durch eine unheilbare Krankheit oder aufgrund hohen Alters ohnehin bevorsteht. FVNF verlagert den Beginn des unausweichlich bevorste- henden Sterbens nach vorne.44 Der oder die Betroffene beabsichtigen nicht, den Tod an sich willentlich oder willkürlich herbeizuführen, vielmehr beabsichtigen sie Dauer und Leiden in der als unausweichlich wahrgenommenen Sterbephase abzukürzen. Ein FVNF-Williger verhindert so gesehen den Beginn des Sterbeprozesses nicht (mehr) durch lebensverlängernde Maßnahmen, sei es, durch medizinische Eingriffe (z. B. künst- liche Beatmung), sei es durch Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Man könnte fragen, ob nicht die Mittelwahl im Sinne gewöhnlicher oder außerge- wöhnlicher Behandlungsmittel stärker berücksichtigt werden müsse. Besteht also ein Unterschied darin, ob auf künstliche Ernährung (außergewöhnlich) oder auf die prinzi- piell mögliche ‚natürliche‘ Nahrungsaufnahme (gewöhnlich) verzichtet wird? Man wird dann weiter fragen müssen, ob eine enterale (über Magensonde) Ernährung noch als ‚gewöhnlich‘ und nur eine parenterale (über Blutinfusion) künstliche Ernährung als ‚au-
Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? 305 ßergewöhnlich‘ angesehen werden muss. Die Nahrungsgabe bei FVNF-Willigen betrifft aber in jedem Fall die Grundversorgung und ist nicht therapeutischer Art, was die unter- schiedlichen Formen der Nahrungseinnahme nivelliert. Eine Differenz besteht besten- falls darin, dass es sich beim Legen einer Sonde um eine invasive Maßnahme eines ande- ren am Patienten handelt. Der Arzt bzw. die Ärztin werden hierbei zum handelnden Subjekt. Dies heißt allerdings nicht, dass das ärztliche Personal damit auch gleichsam zum ethischen Subjekt wird, da die Entscheidung für eine künstliche Ernährung nicht gegen den Willen der Betroffenen getroffen werden kann. Die Rolle der Ärzte relativiert sich noch mehr bei Behandlungsabbrüchen, die im informed consent letztlich von den Betroffenen selbst verantwortet werden müssen. Wird eine bereits bestehende Sonde- nernährung beim entscheidungsfähigen Patienten abgebrochen, rückt dies in die Nähe des freiw illigen Verzichts auf ‚natürliche‘ Nahrungsaufnahme. So zeigt auch der Blick auf die Mittelwahl bzgl. der verschiedenen Ernährungsformen, dass FVNF stärker dem Typus des Behandlungsabbruchs zuzuordnen ist. Man könnte ferner einwenden, dass es letztlich nicht die unheilbare Erkrankung, wie z. B. der Krebs, ist, die den Tod bedingt, sondern doch die FVNF-Handlung. Dies trifft allerdings auf das Sterben infolge einer Krebserkrankung in vielen Fällen zu. Häufig ist es nicht der Tumor selbst, sondern das Multiorganversagen, die Schwächung des Im- munsystems etc., die dann letztlich zum Tod führen, ohne dass ernsthaft behauptet wer- den könnte, dass die Chemo-Therapie oder die Bestrahlung den Tod herbeigeführt oder beabsichtigt haben. Wenn das Unterlassen von Essen und Trinken nicht kausal als To- desursache angesehen werden kann, die Intention der handelnden Personen aber nicht vorrangig im Sterben selbst liegt, dann kann FVNF nicht als Akt der Selbsttötung be- trachtet werden. 4. Phänomenologische Überlegungen Die Suizid-Argumentation ist folglich bereits handlungstheoretisch kritisch zu bewer- ten. Es stellt sich darüber hinaus allerdings die Frage, ob das Phänomen FVNF über- haupt auf der Ebene philosophischer Handlungsbegründungen angemessen erfasst und reflektiert werden kann. Das menschliche Leben einschließlich des Sterbens ist in seiner Komplexität, Zeitlichkeit und sozialen Einbettung nicht auf rational analysierbare Ab- läufe zu reduzieren. Entsprechend kommen auch rationale und universalistische Ethik- modelle (wie z. B. der Utilitarismus) an ihre Grenzen. Tugend- und Güterethische Modelle hingegen markieren Handlungsspielräume und Normen, die für Einzelfallent- scheidungen Orientierung geben.45 Christof Horn spricht z. B. in Ausweitung des Be- trachtungshorizonts im Anschluss an Hannah Arendt von einer „teleologisch-narrativen Einheit des menschlichen Lebensverlaufs,“46 die es beim Verhalten am Lebensende zu berücksichtigen gelte. Wenn sich ein Individuum dazu entscheidet dem Tod entgegen zu gehen, da ein Weiterleben angesichts unheilbarer Erkrankung oder hohem Alter nicht mehr als sinnvoll oder möglich gesehen wird, erfolgt ein solcher Entschluss im Horizont der Gesamtumstände des Lebens, in seinen zeitlichen und sozialen Einbettungen.47 Es geht dann nicht um die Frage Leben oder Tod, sondern um die Frage des Beginns und der Dauer des als unvermeidlich eingestuften Sterbeprozesses. Diese ‚Einwilligung‘ zum Sterben steht unseres Erachtens in klarer phänomenologischer Differenz zu suizidalen
306 Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann Handlungen. Dies gilt ganz besonders im Blick auf die häufigsten affektiven und sponta- nen Suizidakte, aber trifft in vielen Aspekten auch den assistierten Suizid: Die Selbsttötung stellt in der Regel einen punktuellen Gewaltakt gegen das eigene Leben dar, bei dem der Akteur bzw. die Akteurin aktiv handelnd meist ohne Absprache mit Freunden und Angehörigen die Tat allein plant und durchführt. Suizide entspringen in der Mehrzahl einem Augenblicksimpuls und sind mit akuten Belastungssituationen verbunden, die in der weit überwiegenden Mehrzahl (ca. 90 %) durch eine gedankliche Einengung aufgrund psychischer Störung als unausweichlich eingeschätzt werden. Beim Sterben in Folge von FVNF ist bereits die Rolle des Akteurs eine ganz andere. Es geht gerade nicht darum, sich durch einen aktiven Gewaltakt zu Tode zu bringen (vgl. lat. sui caedere), sondern lediglich etwas zu unterlassen. Der Todeswunsch beim FVNF erfolgt nicht aus der Motivation einer Absage an das Leben, sondern steht im Zusam- menhang mit dem nicht selbst geplanten, aber in absehbarer Zukunft erwarteten Ster- ben. Pointiert formuliert: „Patienten sterben nicht, weil sie nicht essen, sondern sie essen nicht, weil sie sterben.“48 Auch die Zeitdimension differiert beträchtlich: Wird die übliche Selbsttötung durch einen punktuellen und plötzlichen Akt charakterisiert, ist der Entschluss zur FVNF wohlüberlegt und entspringt nicht einem Augenblicksimpuls. Dies gilt zunächst auch bei der Entscheidung zu einem assistierten Suizid aufgrund langwieriger Erkrankung.49 FVNF unterscheidet sich gleichwohl von letzterem, da der Verzicht graduell erfolgen kann, auch bei radikaler Durchführung in den ersten Tagen reversibel ist und die Ent- scheidung durch die fortwährende Aufrechterhaltung immer wieder bestätigt wird. Der Sterbevorgang selbst ist beim assistierten Suizid letztlich ein punktueller Akt, während es sich bei FVNF um einen Prozess handelt, der sich mindestens über sieben Tage er- streckt. FVNF wird in den meisten Fällen mit dem sozialen Umfeld (Angehörige, Pflegende, ärztliches Team) abgestimmt, so dass auch Angehörige nicht mit einer unerwarteten To- desnachricht konfrontiert werden, sondern in die Entscheidung des FVNF-Bereiten ein- willigen. Wenn diese soziale Einbettung nicht vorhanden ist, wird FVNF häufig abge- brochen. 50 Dies ist in der Regel auch beim assistierten Suizid der Fall, allerdings wird der Sterbeprozess von den Angehörigen ebenso wie von Pflegenden unterschiedlich wahr- genommen, wie Dokumentationen eindrücklich belegen. 51 Angehörige, die geliebte Menschen bei FVNF begleitet haben, empfanden das Sterben als ‚natürliches Sterben‘. 52 Die sukzessive Reduktion der Aktivität und Lebensfähigkeit während des FVNF er- möglicht den Angehörigen auch ein schrittweises Abschiednehmen und unterscheidet sich damit deutlich vom Miterleben eines assistierten Suizids mit einem Medikament, das den plötzlichen Eintritt des Todes hervorruft. Auch in der rechtsethischen Reflexion53 wird diese ganzheitlich-phänomenologische Betrachtung vertreten, da – so Thaddeus Mason Pope, Director of the Health Law Insti- tute at Mitchell Hamline School of Law in Saint Paul/Minnesota – Recht nicht aus se- mantischer Kohärenz oder Logik abzuleiten sei, sondern auf Erfahrung beruhe. Hier unterscheide sich das Sterben beim VSED und bei einem Suizid gravierend. 54 „Die Nähe dieses Todes zu dem Zustand, der auch sonst zu beobachten ist, wenn die Funktionen eines ausgezehrten Körpers versagen oder wenn eine künstliche Ernährung durch Ent- zug der Einwilligung beendet wird, unterscheidet diese Form des Sterbens gerade von einem Suizid, der durch Gewalt, Überdosierung von Medikamenten oder Zuführung
Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? 307 von nicht indizierten hohen Mengen von Betäubungsmitteln herbeigeführt wurde.“55 Entsprechend grenzt Tolmein, den FVNF nicht nur deutlich von einer „Selbsttötung im Sinne des § 217 StGB“ ab, sondern bezeichnet FVNF als eine „zum Tod führende Hand- lung sui generis“. 56 Diese Erfahrungen und Überlegungen lassen Zweifel aufkommen, ob es angemessen ist, den Begriff ‚Suizid‘ auf FVNF anzuwenden. Die Bedeutung der Begriffe ist – wie schon Wittgenstein lehrte – nicht von spezifischen Gebrauchskontexten abzulösen. Wir sind deshalb der Meinung, dass auch semantisch die Übertragung des Begriffs Suizid unangemessen für FVNF ist, da dem Begriff Suizid Kontexte anhaften, die für den Kon- text des ‚Sterbefastens‘ inadäquat erscheinen. Wir haben schließlich an anderer Stelle reflektiert, dass FVNF auch im biblisch-theo- logischen Kontext deutlich von einer Suizidhandlung abgegrenzt werden kann. Ohne die Unverfügbarkeit des Lebens und Sterbens negieren zu müssen, kann FVNF aus einer ‚Lebenssattheit‘ motiviert werden, die nach biblischem Sprachgebrauch sowohl eine rückblickende Zufriedenheit als auch ein bilanzierendes ‚Satthaben‘ einschließt. Als Teil einer sozial und religiös eingebetteten Verzichtsethik kann FVNF somit von einer auto- nomen Selbsttötungshandlung unterschieden werden. 57 5. Fazit Das Phänomen, dass Menschen sich dazu entschließen, die Nahrungs- und Flüssig- keitsaufnahme zu reduzieren oder zu unterlassen, kann nicht nur deskriptiv erfasst wer- den, sondern steht in einem Wertungsdiskurs, dessen normative Aspekte rechtliche und medizinisch-pflegerische Bedeutung erlangen. Bereits der Gebrauch der deskriptiven Bezeichnung ‚Freiwilliger Verzicht auf Nah- rung und Flüssigkeit‘ zeigt in seiner jeweiligen Verknüpfung mit dem Sterben markante Unterschiede. Die von Birnbacher et al. suggerierte Nähe zum Suizid ist nur unter bestimmten handlungstheoretischen (negative Kausalität) und ethischen Voraussetzungen (Konse- quentialismus) nachzuvollziehen. Aus der Perspektive eines Intentionalismus wird hin- gegen sichtbar, dass die Menschen, die sich explizit oder implizit für FVNF entscheiden, meist nicht die Absicht verfolgen, den Tod zu verursachen und ihre Handlung auch selbst meist nicht unbedingt als Suizid bezeichnen würden. 58 Vielmehr wollen sie dem als unausweichlich wahrgenommenen Sterben früher seinen Lauf lassen. So gesehen handelt es sich bei FVNF nicht um eine Selbsttötungshandlung, sondern um eine Ent- scheidung, die letztlich ‚nur‘ den Beginn des Sterbeprozesses betrifft. FVNF kann in diesem Kontext auch als ein ‚Einstimmen‘ in den Sterbeprozess bezeichnet werden. Die- ser verläuft dann phänomenologisch betrachtet markant abweichend zur punktuellen Selbsttötungshandlung (z. B. beim assistierten Suizid), indem ein natürlich erscheinen- der Prozess des sukzessiven Zerfalls nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Angehörigen, Pflegenden und das ärztliche Team erfahrbar wird. Folgt man der hier vertretenen Betrachtungsweise, ist auch die palliative Begleitung von sterbenden Men- schen in Folge von FVNF weder rechtlich noch ethisch auf eine Stufe mit Suizidbeihilfe zu stellen.
308 Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann ANMERKUNGEN 1 Das Symposion wurde von der Interdisziplinären Abteilung für Palliativmedizin in Kooperation mit der Interdisziplinären Gesellschaft für Palliativmedizin (RLP) organisiert. Eines der Haupt- Referate befasste sich mit FVNF. Wir danken Prof. Dr. Martin Weber (Universitätsmedizin Mainz) für die Einladung und den fruchtbaren Austausch. Auch Prof. Dr. Andreas Frewer (Uni- versitätsmedizin Erlangen) und PD Dr. Christine Thomas (Klinikum Stuttgart) sei für wertvolle Hinweise zu diesem Artikel herzlich gedankt. 2 Z. B. FOCUS 26.04.2019; SWR2 Tandem, „Nichts mehr essen, nichts mehr trinken, Christiane zur Nieden begleitete das Sterbefasten ihrer Mutter.“ Das Gespräch führt Almut Engelien in swr 2, online unter: https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/tandem/swr2-tandem-nichts-mehr- essen-nichts-mehr-trinken/-/id=8986864/did=19347458/nid=8986864/1te0qet/index.html (Zugriff am 18.3.2019). 3 Vgl. zum aktuellen Diskussionsstand die Themenhefte von Zeitschriften wie Folia Bioethica 39 (2014) Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF); Palliative Ch 3/2015 Sterbefas- ten sowie Praxis PalliativeCare 41 (2018) Sterbefasten? Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit; ferner B. Chabot/C. Walther, Ausweg am Lebensende. Sterbefasten – Selbstbe- stimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, München 52017; M. Coors/A. Simon/B. Alt-Epping (Hg.), Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Medizinische und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen (Münchner Reihe Palliative Care 14), Stuttgart 2019; vgl. auch die Forschungen von André Fringer unter www.sterbefasten.ch (Zugriff am 20.03.2019). Vgl. weitere Literatur in unserem Artikel M. Zimmermann/R. Zim- mermann, Lebenssatt! Theologisch-Ethische Überlegungen zum Sterbefasten/FVNF, in: Zeit- schrift für Evangelische Ethik 64 (2020) (im Erscheinen). 4 So J. Bickhardt/R. M. Hanke, Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit: Eine ganz an- dere Handlungsweise, in: Deutsches Ärzteblatt 111 (2014), A 590-A 592; ferner B. Alt-Epping, Der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist keine Form des Suizids, in: Zeitschrift für Palliativmedizin 19,1 (2018), 12–15. 5 Siehe A. Fringer, Abschied von Essen und Trinken, Luxemburg 2018 (Foliensatz), der eine komplexe Matrix auf Folie 60 zwischen suizidal und natürlich präsentiert; online unter: h ttps://www.omega90.lu/resources?mode=download&type=pdf&dir=_base_ 2 &file= 1428483225830-Luxemburg_2018-09-26_v4-Gesamtfoliensatz-1.pdf (Zugriff am 30.05. 2019). Bewusst offen formulieren auch G. Neitzke et al., Empfehlungen zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidhilfe. Arbeitsgruppe „Ethik am Lebensende“ (AEM), in: Ethik in der Medizin 25 (2013), 349–365, 352: „Demnach kann der FVNF sowohl unter dem Aspekt der Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen als auch unter dem Aspekt der Suizidhilfe diskutiert werden.“ G. Neitzke, Grenzziehung zwischen Suizid und freiwilligem Nahrungsverzicht (FVNF), in: M. Coors/A. Simon/B. Alt-Epping (Hg.), Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Medizinische und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen (Münchner Reihe Palliative Care 14), Stuttgart 2019, 148–156, hier: 152: „selbstverfügter Tod“. 6 Chabot/Walther schließen ihr Buch entsprechend mit den gewagten Vergleichen und provokan- ten Visionen, dass „man sich über ein vorzeitiges Beenden des eigenen, dem Ende zustrebenden Lebens genauso wenig streiten (sc. wird), wie über die Frage, ob jemand sich eine Sarg- oder Urnenbestattung wünscht (was für die Kirchen vor ca. 100 Jahren noch ein gewaltiges Problem war).“ Ferner wird gutes Sterben ob „mit oder ohne Suizid“ mit einer Geburt „mit oder ohne Kaiserschnitt“ verglichen, vgl. Chabot/Walther (Anm. 2), 156. Das Plädoyer des Moralphi- losophen Dieter Birnbacher für die Suizid-These (s. u.) ist nicht unter Absehung seiner Rolle als Präsident der Sterbehilfeorganisation ‚Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben‘ zu sehen. 7 Vgl. O. Tolmein, Warum der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit nicht als Selbsttötung im Sinne des § 217 StGB zu sehen ist – und welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben, in: M. Coors/A. Simon/B. Alt-Epping (Hg.), Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Medizinische und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen (Münchner Reihe Palliative Care 14), Stuttgart 2019, 133–147; B. Alt-Epping, Der Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit in Abgrenzung zum Suizid: Kasuistiken und Analogien, in: M. Coors/ A. Simon/B. Alt-Epping (Hg.), Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Medizinische
Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? 309 und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen (Münchner Reihe Pallia- tive Care 14), Stuttgart 2019, 157–173. Auch die Bundesärztekammer hat sich in ihrer Stellung- nahme zu § 217 StGB positioniert, dass sie die Begleitung beim FVNF nicht als eine Hilfe zur Selbsttötung betrachtet, also auch FVNF nicht als Suizid einstuft, vgl. Bundesärztekammer, Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB): Hinweise und Erläuterungen für die ärztliche Praxis, in: Deutsches Ärzteblatt 114 (2017), A 334-A 336. 8 Zu ersterem M. Coors, Zur theologisch-ethischen Bewertung des Freiwilligen Verzichts auf Nah- rung und Flüssigkeit: Eine evangelische Perspektive, in: M. Coors/A. Simon/B. Alt-Epping (Hg.), Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Medizinische und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen (Münchner Reihe Palliative Care 14), Stuttgart 2019, 120–132, hier 127; auch für F.-J. Bormann erfüllt FVNF alle Merkmale einer Selbsttötungs- handlung, zugleich plädiert er im Horizont einer cooperatio ad malo für eine differenzierte Be- wertung der Mitwirkung von ärztlichem oder pflegendem Personal beim FVNF (vgl. seinen Beitrag in diesem Heft). Vgl. zur zweiten Position Ethikrat katholischer Träger von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen im Bistum Trier, Freiwilliger Verzicht auf Nah- rung und Flüssigkeit. Stellungnahme, Vallendar 2018. 9 Vgl. F. Kittelberger, Der Skandal liegt in der Verharmlosung durch die Verwendung des Begriffs „Fasten“! Real Life statt Fake Wording – der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit hat nichts mit dem Fasten zu tun, in: Praxis PalliativeCare 41 (2018), 21–24; auch Neitzke (Anm. 5), 149: „unangemessen euphemistisch.“ 10 Der Philosoph Hegesias lebte im 3. Jh. v. Chr. und wird auch noch bei Diogenes Laertios 2.86 um ca. 290 n. Chr. und bei Valerius Maximus im 1. Jh. n. Chr. erwähnt. Vgl. Valerius Maxi- mus, Factorum ac dictorum memorabilium – Memorable Doings and Sayings (Loeb Classical Lib- rary 493), ed. and transl. by D. R. Shackleton Bailey, Cambridge/London 2000, Buch VIII,9. 11 Partizip Präsens Aktiv von ἀποκαρτερεῖν = fasten. Die von Cicero in griechischer Umschrift erwähnte Schrift ist nicht erhalten. 12 ‚Inedia‘ wird in den einschlägigen Wörterbüchern als „Das Nichtessen, das Fasten, das Hungern“ (Der neue Georges II, neu bearb., Darmstadt 2013, 2556) bzw. „abstinence from food (voluntary or imposed), fasting“ (Oxford Latin Dictionary, Fasc. IV, Oxford 1968, 890) übersetzt. 13 Übers. RZ, zum Text vgl. M. T. Cicero, Tusculanae Disputationes – Gespräche in Tusculum, lat.- deutsch, hg. v. O. Gigon, Düsseldorf 71998, § 84: „eius autem quem dixi Hegesiae liber est Ἀποκαρτερῶν, quod a vita quidam per inediam discedens revocatur ab amicis; quibus respon- dens vitae humanae enumerat incommoda.“ (78). 14 Cicero berichtet (ähnlich wie Valerius), dass König Ptolemaios II Philadelphos (285–246 v. Chr.) Hegesias das Lehren verwehrt, weil „viele, nachdem sie ihn gehört hatten, sich den Tod gegeben hätten.“ (Cicero [Anm. 13], 84.). 15 Vgl. Diogenes Laertios 2.86. 16 Vgl. L. A. Seneca, Ad Lucilium Epistulae Morales – An Lucilius Briefe über Ethik, übers., eingel. und mit Anm. versehen v. M. Rosenbach, Seneca Philosophische Schriften, Bd. 4, lat.-deutsch, Darmstadt 1984, Achtes Buch, Ep. 70,9: „Socrates potuit abstinentia finire vitam et inedia potius quam veneno mori: triginta tamen dies in carcere et in expectatione mortis exegit, non hoc animo tamquam omnia fieri possent […] sed ut praeberet se legibus, ut fruendum amicis extremum Sokratem daret“ (Sokrates konnte durch Abstinenz und Fasten das Leben beenden eher als durch Gift zu sterben: denn dreißig Tage hat er im Gefängnis und in Erwartung des Todes aus- geharrt, nicht in der Meinung als könne alles geschehen […], sondern um sich den Gesetzen zu stellen und seinen Freunden den Umgang mit einem Sokrates in dieser Extremsituation zu schenken, Übers. RZ). 17 Die Formulierungen bei Chabot/Walther („schon in der Antike …“) suggerieren eine solche Legitimierungsstrategie und verdecken dabei diese Ambivalenz bzw. das explizite Negativurteil. Chabot/Walter (Anm. 2), 13. Den Verweis auf Nahrungsverzicht in Senecas 19. (sic!) Brief an Lucilius konnten wir nicht finden (Chabot/Walter [Anm. 2], 157). 18 Simon/Hoekstra (Anm. 10), 1100. Auch Coors, Simon und Alt-Epping ergänzen zum de- skriptiven Teil des FVNF „dass das Ziel des FVNF das Herbeiführen des eigenen Todes ist.“ Vgl. M. Coors/A. Simon/B. Alt-Epping, Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF): Ein einleitender Überblick, in: M. Coors/A. Simon/B. Alt-Epping (Hg.), Freiwilliger Verzicht auf
310 Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann Nahrung und Flüssigkeit. Medizinische und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen (Münchner Reihe Palliative Care 14), Stuttgart 2019, 7–12, hier 10. 19 Nach der Studie von B. Chabot/A. Goedhart, A survey of self-directed dying attended by proxies in the Dutch population, in: Social Science & Medicine 68 (2009), 1745–1751 waren im Zeitraum 1999–2003 2,1 % aller Todesfälle in den Niederlanden Folge von FVNF (n = 956); eine Studie an Hausärtz(innen) (n = 708) konnte zeigen, dass in den Niederlanden 46 % der Teilnehmer/ innen mindestens eine Person beim FVNF begleitet haben, vgl. E. E. Bolt/M. Hagens/ D. Willems/B. Onwuteaka-Philipsen, Primary Care Patients Hastening Death by Voluntarily Stopping Eating and Drinking, in: Annals of Family Medicine 13,5 (2015), 421–428; nach der Studie von T. Shinjo/T. Morita/D. Kiuchi et al., Japanese physicians’ experiences of termi- nally ill patients voluntarily stopping eating and drinking: a national survey, in: BMJ Supportive & Palliative Care 9 (2019), 143–145 haben 32 % der befragten Hausärzt(innen) und Palliativ mediziner(innen) in Japan (n = 571) bereits Erfahrungen mit FVNF gemacht. 20 Vgl. Fringer (Anm. 5), Folien 58 und 59. 21 So auch der Rechtsethiker T. M. Pope: „While MAID (Medical Aid in Dying) is not an exit op- tion for dementia, VSED may be.” (online unter: http://www.thaddeuspope.com/vsed.html, Zugriff am 26.03.2019). 22 Die Ausnahme ist hierbei der tetraplegische Patient, der auch im Zusammenhang mit FVNF diskutiert wird, so z. B. N. L. Hoekstra/M. Strack/A. Simon, Bewertung des freiwilligen Ver- zichts auf Nahrung und Flüssigkeit durch palliativmedizinisch und hausärztlich tätige Ärztinnen und Ärzte, in: Zeitschrift für Palliativmedizin 16 (2015), 68–73; auch Ethikrat katholischer Träger von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen im Bistum Trier (Anm. 8), 7f. 23 Vgl. z. B. B. Chabot, Hastening Death through Voluntary Cessation of Eating and Drinking. A Sur- vey, in: S. J. Youngner/G. K. Kimsma (Hg.), Physician-Assisted Death in Perspective, New York 2012, 305–316; T. M. Pope, Voluntarily stopping eating and drinking (VSED) to hasten death: may clinicians legally support patients to VSED?, in: BMC Medicine 15 (2017), 187. 24 H. C. Müller-Busch, Freiwilliger Nahrungs- und Flüssigkeitsverzicht am Lebensende. Überlegun- gen zum Sterbefasten, in: F.-J. Bormann (Hg.), Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von ‚Töten‘ und ‚Sterbenlassen‘, Berlin/Boston 2018, 531–542, hier 538. Vgl. auch unsere Definition: „FVNF ist der explizit oder implizit kommunizierte Verzicht eines Menschen auf Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, der den früheren Eintritt des in absehbarer Zukunft erwarteten Todes ermöglicht“, in: Zimmermann/Zimmermann (Anm. 3). 25 So etwa Ethikrat katholischer Träger von Gesundheits- und Sozialeinrichtun- gen im Bistum Trier (Anm. 8), 19. 26 D. Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid?, in: Ethik in der Medizin 27 (2015), 315– 324, ferner ders., Geleitwort, in: B. Chabot/C. Walther, Ausweg am Lebensende. Sterbefasten – Selbstbestimmtes Sterben durch freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken, München 52017, 9–11, sowie ders., Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit = ‚passiver‘ Suizid – was folgt?, in: M. Coors/A. Simon/B. Alt-Epping (Hg.), Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Medizinische und pflegerische Grundlagen – ethische und rechtliche Bewertungen (Münchner Reihe Palliative Care 14), Stuttgart 2019, 106–119. 27 Siehe Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? (Anm. 26), 319. 28 Und zwar die ausführliche englische Fassung „Suicide is an act with a fatal outcome which the deceased, knowing or expecting a fatal outcome, had initiated and carried out with the purpose of provoking the changes he desired“, hier zitiert nach Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? (Anm. 26), 320. Später reduziert die WHO bewusst die Definition in den internati- onalen Papieren zur Suizid-Prävention (2014; dt. 2016), wo es schlicht heißt: „Suizid ist der Akt der bewussten Selbsttötung.“ Vgl. Stiftung Deutsche Depressionshilfe (Hg.), Suizidprä- vention: Eine globale Herausforderung, Leipzig 2016, 14, online unter: https://apps.who.int/iris/ bitstream/handle/10665/131056/9789241564779-ger.pdf;jsessionid= 1B7630BDAF0EBFBE 15D8B714276C91E8?sequence=14 (Zugriff am 31.03.2019). 29 Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? (Anm. 26), 320 f. 30 Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? (Anm. 26), 322. 31 Vgl. seine Basisarbeit D. Birnbacher, Tun und Unterlassen, Aschaffenburg 2015 (zuerst Stutt- gart 1995). Birnbacher expliziert Tun und Unterlassen zwar als Kontrastbegriffe (z. B. in Abgren-
Passiver Suizid oder Einwilligung ins Sterben? 311 zung von von Wright, 27–60), schreibt ihnen aber gleichermaßen kausale Wirksamkeit zu (61– 90), so dass sie moralphilosophisch auch zu denselben Schlussfolgerungen führen. 32 So z. B. Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? (Anm. 26), 319: „Für viele Handlun- gen, die bestimmte Folgen haben, (…) existieren entsprechende Unterlassungen, die dieselben Folgen zum Resultat haben.“ 33 D. Birnbacher/D. Hommen, Negative Kausalität, Berlin/Boston 2012. 34 Vgl. dazu bereits M. Zimmermann-Acklin, Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung, Freiburg i.Ue. 1997, 227–281. Eine ausführliche Auseinandersetzung dazu auch in F.-J. Bor- mann (Hg.), Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von ‚Töten‘ und ‚Sterbenlassen‘, Berlin/Boston 2018, insbesondere II. Teil: Die neuere handlungstheoretische Diskussion, 171–399. 35 Vgl. Bundesärztekammer, Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebeglei- tung, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011), A 346-A 348, B 278, C 278. 36 So etwa Birnbacher (Anm. 31), 20 f.: „Da diese (sc. die konsequentialistische Ethik) die mo- ralische Beurteilung menschlichen Verhaltens grundsätzlich nur von der Beurteilung der (er- warteteten oder erwartbaren) Folgen dieses Verhaltens abhängig macht, kann sie der Unter- scheidung zwischen Handeln und Unterlassen keine eigenständige und folgenunabhängige Bedeutung zugestehen.“ (Kursiv D. B.). 37 Vgl. M. S. Moore, Causation and Responsibility: An Essay in Law, Morals, and Metaphysics, New York 2009; ferner S. McGrath, Causation by omission: a dilemma, In: Philosophical Studies 123 (2005), 125–148; C. Bottek, Unterlassungen und ihre Folgen. Handlungs- und kausalitätstheore- tische Überlegungen (Perspektiven der Ethik 1), Tübingen 2014, 160–336 (kritisch zu Birnbacher, 189–210). 38 Bottek (Anm. 37), 103. Vgl. zur Orientierung auch den luziden Überblick bei C. Horn, Zwi- schen Kausalismus und Teleologie. Das Problem der Handlungserklärung in der analytischen Philo- sophie, in: F.-J. Bormann (Hg.), Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von ‚Töten‘ und ‚Sterbenlassen‘, Berlin/Boston 2018, 171–190; ferner C. Horn/G. Löh- rer (Hg.), Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie, Berlin 2010. 39 Dies wird besonders in der Beschreibung der Möglichkeitsbedingungen von FVNF deutlich: „1. Der Akteur beabsichtigt, sein Leben zu beenden; […] 3. Das Handeln des Akteurs verursacht seinen Tod […]“, Birnbacher, Ist Sterbefasten eine Form von Suizid? (Anm. 26), 320; wieder Birnbacher, Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit = ‚passiver‘ Suizid – was folgt? (Anm. 26), 106. 40 Vgl. bereits Birnbacher (Anm. 31), 31–44; hier wird sichtbar, dass er bei seiner Suizid-Argu- mentation den FVNF im Aufweis bestimmter Bedingungen ganz an seine theoretische Grund- legung anpasst. 41 Vgl. zur Kritik an Birnbacher im einzelnen Bottek (Anm. 37), 103–110, hier 109: „Das Expli- kationsangebot Birnbachers bezüglich des Unterlassensbegriffs [… ruht] auf einem handlungs- theoretischen Fundament […], das einer kritischen Prüfung nicht standhält.“ Zur Kritik am negativen Kausalitätsbegriff Birnbachers, Bottek (Anm. 37), 189–202. Anhänger der modifi- zierten Signifikanzthese möchten die intentionale Struktur von Handlungen mit einer kausalen Dimension vermitteln, vgl. etwa F. J. Bormann, Zur kausalen Differenz von Töten und Sterben- lassen, in: F.-J. Bormann (Hg.), Lebensbeendende Handlungen. Ethik, Medizin und Recht zur Grenze von ‚Töten‘ und ‚Sterbenlassen‘, Berlin/Boston 2018, 248–273. 42 Bottek (Anm. 37), 99. 43 Bottek (Anm. 37), 100. 44 So auch Müller-Busch (Anm. 24), 541: „In Abgrenzung zum Suizid wird der Tod nicht unmit- telbar durch eine tödliche Fremdeinwirkung herbeigeführt, sondern es wird der Beginn des Ster- beprozesses festgelegt, dessen Dauer nicht genau bestimmbar ist […].“ 45 Vgl. zum Hintergrund R. Zimmermann, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ‚impliziten Ethik‘ frühchristlicher Schriften, in: F. Horn/U. Volp/R. Zimmermann (Hg.), Normen frühchristlicher Ethik. Gut – Leben – Leib – Tugend (Wissenschaftliche Unter- suchungen zum Neuen Testament 313), Tübingen 2013, 3–27. 46 Horn (Anm. 38), 189.
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