Tod - Trauer - Hoffnung - Nr. 1/2017 - Bathildisheim eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Mitglied in der Diakonie Hessen ......................................................................................................................................................................... Nr. 1/2017 Tod – Trauer – Hoffnung
......................................................................................................................................................................... VERANSTALTUNGEN – TERMINE 29. April IMPRESSUM Rund um den Aktiontag 5. Mai – Aktion Mensch – Europäischer ın ist die Zeitschrift des Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen – Bathildisheim e. V. „Wir gestalten unsere Stadt“, 9–12 Uhr, Marktplatz Bad Arolsen Herausgeber: Bathildisheim e. V. Bathildisstraße 7 18. Mai 34454 Bad Arolsen BBW-Stand beim Jobday in Korbach Fon 05691 899-266 pr@bathildisheim.de www.bathildisheim.de 18. Juni Barocksonntag in Bad Arolsen Redaktion: Dr. Ursula Braun Irene Dittmann-Mékidèche Christian Geyer 22. Juni Jutta Hoffmann Ausbildungsbörse Nordwaldeck im BBW Nordhessen, Bad Arolsen Gaby Kißmer Bernhard Kreutzer Irene Sax Bei der Ausbildungsbörse im Berufs- Jörg Schumacher bildungswerk Nordhessen können Fotos: © Bathildisheim e. V., sich Schüler aus der Region über ihre privat (S. 13, 14, 28), beruflichen Perspektiven informieren. Museum für Sepulkralkultur (S. 16, 17) fotolia (S. 15, 18/19, 28) Aussteller aus dem Landkreis sowie Illustrationen: dem benachbarten Westfalen stellen Heimbüchel PR (S. 6, 7) Logo Leichte Sprache: ihre Produkte sowie die Möglichkeiten Inclusion Europe der Ausbildung von der Ausbildung Anzeigen: bis zum dualen Studium vor. Öffentlichkeitsarbeit Fon 05691 899-266 Anzeigenpreisliste 2017 13. August Layout und Satz: Aufnahmetag BBW Nordhessen, Bad Arolsen Träger & Träger, Kassel www.traegerundtraeger.de 27. August Druck: USE gGmbH, Berlin Sommerfest des Bathildisheim e. V. in Neu-Berich Die USE gGmbH ist ein innovatives und zukunftsori- entiertes Sozialunternehmen für die berufliche Re- 28. August bis 3. September habilitation. Über 850 Menschen mit überwiegend psychischen Behinderungen finden hier Bildungs-, Zirkusprojekt der Karl-Preising-Schule Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten in mehr als 20 attraktiven Berufsfeldern. Neben der Werk- statt für behinderte Menschen (WfbM) mit über 25 31. August Gewerken und Dienstleistungsbereichen ist die USE BBW-Stand beim Tag der Ausbildung in Frankenberg gGmbH auch Träger von Integrationsfachdiensten. Erscheinungsweise: zweimal jährlich 23. November Fortbildungsangebot im Bathildisheim e. V.: Auflage: 3.000 „Die Wirksamkeit von Teilhabe in der Eingliederungshilfe“ © Bathildisheim e. V. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung. Spenden: Evangelische Bank eG IBAN: DE78 5206 0410 0000 2020 10 in 1/2017 |
3 ......................................................................................................................................................................... INHALT Liebe Leserin, lieber Leser, „Tod, Trauer, Hoffnung“ mag mitten im Frühling, so kurz nach TOD – TRAUER – HOFFNUNG Ostern, als Titelthema der in überraschen. Das Thema fällt nicht nur aus der Jahreszeit, sondern – so scheint es – insgesamt aus Der Vorsprung des Lebens – der Zeit. Das Sterben und der Tod sind immer mehr anonymisiert Eine christliche Deutung des Todes 4 worden: Menschen sterben nur noch selten zu Hause im Kreis Nach dem Tod leben alle Menschen ihrer Familie, der Trauerzug zum Friedhof ist kein Ritual mehr, das bei Gott – in Leichter Sprache 6 gepflegt wird, und die Bestattungen auf der grünen Wiese oder im Wenn Mitschüler sterben – Wald nehmen zu. Eine Auseinandersetzung mit so existenziellen Trauerbegleitung in der Schule 8 Krisen wie Krankheit, Vergänglichkeit und Tod werden in unserer Gedichte 15 Gesellschaft verdrängt. Dieser Abwehrmechanismus, der vermeint- Wenn ihr nicht werdet wie lich schützen soll, verstellt aber den Blick für ein würdiges Sterben. die Kinder … 21 Die segensreiche medizinische Entwicklung führt zunehmend dazu, dass Sterbende nicht sterben dürfen, sondern ihnen noch das INTERVIEWS letzte bisschen Leben abgerungen wird, um der profitgetriebenen Gesundheitsindustrie zu dienen. Lebensverlängerung in Richtung Sonja Damm (Haus Emilie) 10 Ewigkeit wird suggeriert und zugleich erhofft. Das aber ist pervers, weil es unseren menschlichen Grundbedingungen widerspricht Gitta Ziech 12 und verhindert, durch die Hoffnung auf die Auferstehung, unser Jutta Lange (Sepulkralmuseum) 14 begrenztes Leben zu lieben. BERICHTE Lange haben wir uns Zeit gelassen, in der in über Sterben, Tod und Trauer nachzudenken. Nunmehr liegt ein buntes und vielfälti- Gedenken zur Progromnacht 23 ges Magazin vor, in dem wir davon erzählen, was uns im Umgang Zwischen Willkommenskultur mit Tod und Trauer orientiert und welche Rituale uns helfen, mit und Abwehrhaltung 24 unseren Gefühlen und Gedanken umzugehen. Dabei war und ist Hessisches Sozialministerium uns wichtig, vom Leben zu erzählen: Denn das Sterben und der unterstützt BBW Nordhessen 25 Tod gehören zum Leben. In einem einführenden Beitrag, der auch in Leichte Sprache übertragen wurde, wird eine christliche Deutung RUBRIKEN des Todes vorgestellt. Die Schule berichtet von ihren Ritualen, wenn ein Schüler, eine Schülerin verstirbt, um Zeit und Raum bewusst zu Veranstaltungen/Termine 2 gestalten und Trost spürbar werden zu lassen. Unter den Interviews Buchtipps 18 in diesem Heft berührt besonders der Beitrag „… ein guter Tag Nachdenkliches 20 zum Sterben“, der davon erzählt, wie ein ehemaliger Internats- Spenden 26 schüler sein Sterben wahrgenommen hat und wie seine Mutter mit Rezepte 28 dem Tod ihres Sohnes umgeht. Wie unterschiedlich Sterben und Spots 29 der Tod in den verschiedenen Jahrhunderten und Kulturen ver- Personalities 31 standen werden, macht der Beitrag über das Sepulkralmuseum in Impressum 2 Kassel deutlich. So lädt dieses Magazin ein, eigene Memento mori wieder zuzu- lassen und im Bewusstsein zu leben, dass Sterben, Tod und Trauer zum Leben gehören, aber der triumphale Osterjubel „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ das letzte Wort behält. Es grüßt Sie herzlich Ihr Christian Geyer | in 1/2017
4 ......................................................................................................................................................................... TITELTHEMA RUBRIK in 1/2017 |
5 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG Der Vorsprung des Lebens Eine christliche Deutung des Todes Tod und Leben sind wie die beiden Seiten einer Münze. Sie Dagegen laufen jegliche Ideen und Wünsche nach ewiger gehören zusammen. Dem irdischen Leben sind sowohl zeit- Jugend und Unsterblichkeit auf die Forderung nach einer liche als auch räumliche Grenzen gesetzt. Eines Tages wird ganz anderen Welt hinaus, die nur mit ganz anderen Men- jedes Leben auf der Erde ein Ende finden. Wissenschaftlich schen vorstellbar ist. Der Glaube stimmt positiv in die Be- ist die Feststellung des Todes verbunden mit dem irreversi- dingungen der menschlichen Existenz in Zeit und Raum ein blen Funktionsverlust der Atmung, des Kreislaufs und des und ermöglicht so dem Menschen, sich hineinzufinden in Zentralnervensystems. das Leben und das Sterben. Wer sterben kann, ist einverstan- den mit der einmaligen Lebenszeit, in der unterschiedlichste Die Bibel erzählt von Gott als dem Schöpfer des Lebens, der Möglichkeiten verwirklicht, aber auch verwirkt werden kön- das Leben aller Kreaturen fördert, erhält und begrenzt. So nen. Die damit beschriebene Freiheit ist durch die Zeit und kann die ablaufende Zeit als die eigene Zeit erkannt und den Raum strukturiert und betont so die unwiederholbare genutzt werden. Sie schenkt den Menschen die Möglichkeit, Einmaligkeit des Lebens mit ihren Höhen und Tiefen. in diesem Zeitraum das eigene Leben zu leben und zu pro- filieren. Das eigene Leben ist damit ein von Gott gegebener Der christliche Glaube kennt nur diesen einen Lebenszeit- Lebensraum, der eine Licht- und eine Schattenseite hat. Zur raum, indem ich entweder mit oder ohne Gott existiere. Lichtseite zählen all die schönen und lebenserhaltenden, Wenn ich aber mit Gott meine Lebenszeit gestalte, dann ja lebensförderlichen Möglichkeiten und Gegebenheiten. erfahre ich, dass Gott in Jesus Christus in dieser Welt wohnt Die Schattenseite spiegelt sich in der Verletzlichkeit und in und sie zum Begegnungsraum mit ihm macht. In der Begeg- der Befristung des Lebens. Krankheit und Tod sind die Folge nung mit Jesus Christus werden Menschen in eine Atmo- dieser Schatten. Angesichts dieser Todesschatten protestiert sphäre versetzt, die Luft zum Atmen und den Raum für in- das menschliche Leben gegen seine Befristung und verlangt dividuelle Entfaltung schenkt. Dadurch werden die Grenzen nach Dauer. Denn die Erkenntnis, dass das eigene Leben und Begrenzungen des Lebens nicht aufgehoben, aber der unvollständig und fragmentarisch bleibt, schmerzt. eigene Lebensraum über den Tod hinaus auf die Ewigkeit hin geweitet und so das Leben vom Fluch des Todes ent- Der Verlust eines geliebten Menschen schmerzt dagegen auf lastet. Menschen können hoffen, dass Christus die Toten in ganz andere Weise. Der Tod raubt einen intimen Beziehungs- Empfang nimmt und ins Gericht führt. Das Gericht Gottes raum, in dem Menschen sich gegenseitig getragen und be- erwarten die, die auf Christus vertrauen als einen Raum, der geistert, geliebt und bereichert haben. Der Tod des Anderen von Versöhnung und Aussöhnung geprägt ist. Christus wird greift hindurch auf das eigene Leben und zerstört soziale als Richter das individuelle Leben in seinen Zusammenhän- Bindungen. Er beraubt mich unzähliger Möglichkeiten, die gen aufdecken und zurechtbringen. Der Dialog zwischen ich in meinem Leben nur mit dem Verstorbenen verwirkli- Gott und dem Menschen bleibt so auch in der Ewigkeit chen könnte. Der vorzeitige Tod von Kindern und jungen bestehen. Menschen ist besonders schwer erträglich, weil sie nur kurze Zeit zum Leben hatten. Auferstehung von den Toten meint dann: Gott verwandelt das gelebte Leben in ein neues, ewiges Leben bei und mit Dennoch sieht der christliche Glaube im Lebensende eine ihm. Eine solche Hoffnung schafft Raum für die Trauer. Denn Wohltat der Schöpfung Gottes: erst durch die Frist, die dem mit der Trauer um einen geliebten Menschen schenken wir Leben gesetzt ist, kommt den einzelnen Lebensphasen ein uns Zeit zur Erinnerung, lassen den Schmerz und die Klage besonderer Wert zu. Ohne diese Begrenzung und Befristung zu, ohne in der totalen Verzweiflung und Resignation zu wüssten wir nicht, wie wir uns und unser Leben erleben versinken. Die Hoffnung auf das ewige Leben verändert würden. Die Befristung macht unser Leben wertvoll und gibt unsere Perspektive auf den Tod: Unsere Toten sind Lebende jeder Stunde eine besondere Bedeutung. Deshalb bittet der bei Gott. Das Leben behält das letzte Wort. Beter im Psalm 90 Gott: „Lehre uns bedenken, dass wir ster- ben müssen, auf dass wir klug werden.“ Christian Geyer | in 1/2017
6 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG RUBRIK Das ist ein Text in Leichter Sprache. Alle schweren Worte sind in Blau geschrieben. Im Text wird gesagt: Was die Worte heißen. Nach dem Tod leben alle Menschen bei Gott Gott schenkt allen Menschen das Leben. Die Menschen nutzen das Leben für schöne Dinge. Sie bestimmen in ihrem Leben selbst. Die Menschen wissen, dass ihr Leben einmal endet. Jeder Mensch muss am Ende vom Leben sterben. in 1/2017 |
7 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG Alle Menschen sind traurig, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Die Menschen, die an Gott glauben sagen: Ihr müsst nicht traurig sein. Nach dem Tod leben alle Menschen bei Gott im Himmel. Dort ist es schön. Es geht den Menschen gut bei Gott. Wenn ihr an Gott glaubt, dann ist er bei euch. Und nach dem Tod werdet ihr bei Gott im Himmel sein. Dort lebt ihr weiter. Außerdem sagen sie: Bis zum Tod könnt ihr die Zeit für schöne Dinge nutzen. | in 1/2017
8 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG Wenn Mitschüler sterben Trauerbegleitung in der Schule Die Mitarbeitenden einer Förderschule wie der Karl-Preising- Bei uns werden folgende Wege der Trauerbegleitung für die Schule stehen immer wieder vor der Aufgabe, sterbenskran- Mitschüler und Mitschülerinnen angeboten: ke Kinder bis zum Tod zu begleiten. Obwohl das sterbende Kind und seine Angehörigen dabei im Mittelpunkt stehen Das Sterben und der Tod eines Mitschülers hat Priorität und stehen müssen, darf die Aufmerksamkeit für die Mit- vor anderen Unterrichtsinhalten und wird im Unterricht schüler und Mitschülerinnen nicht verloren gehen. ausführlich mit den Kindern thematisiert. Ein Koffer mit vielfältigen Unterrichtsmaterialien steht dazu bereit. Im Die Begegnung mit dem Tod vertrauter Menschen ist eine Klassenverband finden individuelle Gedenkrituale statt, Erfahrung, die Kinder und Jugendliche in der Regel mit die den Kindern aktive Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Menschen machen, die erheblich älter sind als sie selbst. So traurig es für sie ist, geliebte Großeltern zu verlieren, so Ein Gedenktisch mit dem Foto des verstorbenen Kindes, wenig müssen sie diese Erfahrung mit ihrer eigenen End- Blumenstrauß und Kreuz wird an zentraler Stelle der lichkeit in Beziehung setzen. Sterben wird erst bedeutsam, Schule aufgestellt und bietet Platz für individuelle Briefe, wenn man „alt“ ist, also ist es für sie selbst noch endlos lang gemalte Bilder oder andere Botschaften für das Kind. entfernt. Ganz anders gestaltet sich das, wenn Kinder und Jugendliche mit dem Tod von Altersgenossen konfrontiert Ein kindgerechter Gottesdienst, zu dem auch die Familie werden, denn hier besteht ein direkter Zusammenhang mit des verstobenen Kindes eingeladen ist, wird von der Seel- ihrer eigenen Lebenssituation und somit eine unmittelbare sorgerin des Bathildisheims gestaltet. Ein Foto des verstor- Bedrohung für sie selbst. benen Kindes wird an den Gedenkstelen angebracht. Den Tod von Klassenkameraden und Klassenkameradinnen Die Mitarbeitenden der Schule signalisieren den Mitschü- zu verarbeiten, stellt für Kinder und Jugendliche somit nicht lern und Mitschülerinnen jederzeit, auch lange nach dem nur eine schmerzhafte Erfahrung dar, sondern kann auch die Tod des Kindes, ihre Offenheit und Gesprächsbereitschaft. eigene Verletzlichkeit deutlich machen und stark verunsi- chernd wirken. Eine sensible pädagogische und seelsorgeri- Die erwachsenen Bezugspersonen trauernder Kinder stehen sche Begleitung bleibt daher unerlässlich. mit dieser Aufgabe vor einer immensen Verantwortung, der in 1/2017 |
9 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG sie nur gerecht werden können, wenn es ihnen gelingt, sich die eigenen Gefühle und Ängste angesichts der Thematik „Tod und Sterben“ zu vergegenwärtigen. Eine Arbeitsgruppe zum Thema Trauer, ein gemeinsames Ritual aller Mitarbeitenden sowie der vertrauensvolle Aus- tausch innerhalb des Kollegiums haben dazu beigetragen, dass in der Karl-Preising-Schule offen und voller christlicher Hoffnung mit der Trauer umgegangen werden kann. Dr. Ursula Braun Förderschulkonrektorin Karl-Preising-Schule Baumhaus für die verstorbene Großmutter in deren geliebtem Apfelbaum, Gemälde eines Grundschülers | in 1/2017
10 ......................................................................................................................................................................... INTERVIEW Wenn man den Tod in den Alltag lässt Damm: Ich arbeite seit 27 Jahren mit zuletzt erfahren die Sterbenden und Menschen mit Behinderungen, somit deren Angehörige oder Betreuer und in: Frau Damm, viele Menschen schieben wurde ich schon einige Male mit dem wir seelsorgerischen Beistand durch das Thema Tod und damit verbunden die Thema konfrontiert. Sicherlich ist die unsere Pfarrerin oder einen ortsansäs- Trauer ganz weit weg. Müssen Sie sich beste Voraussetzung für einen guten sigen Seelsorger. Das ist ganz wichtig, in dieser Wohngemeinschaft oft damit Umgang mit Sterbenden, ihnen in ers- weil es gut tut. beschäftigen? ter Linie respekt- und achtungsvoll zu begegnen. Man muss Mensch sein und in: Trotz aller Bemühungen ist das Thema Sonja Damm: Aufgrund der Alters- Offenheit sowie eine besondere Wach- Tod und Trauer noch immer ein nicht struktur und der teilweise schweren samkeit mitbringen. gern gesehenes in unserer Gesellschaft. Krankheitsbilder bei unseren Bewoh- nern ist das Sterben für uns im Zu- Zum Glück sind in unserem Team die Damm: In einem Zusammenleben wie sammenleben immer wieder Thema. Fähigkeiten und die Bereitschaft, von- hier im Haus Emilie ergibt sich das The- Seit dem Einzug in dieses Haus im Jahr einander zu lernen, gegeben. Für die ma selbstverständlich. Wir lassen es in 2012 sind vier Bewohner gestorben. jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die unseren Alltag! Die Bewohner nehmen Davon zwei im Krankenhaus, und zwei sich möglicherweise noch nicht häufig wahr, dass einer ihrer Freunde oder durften in ihrem gewohnten Umfeld, mit dem Tod beschäftigen mussten, Mitbewohner plötzlich fehlt, bei den in ihrem Zimmer hier im Haus, friedlich sind die älteren eine große Hilfe. Man- Mahlzeiten oder im Tagesablauf. Wir einschlafen. che unserer Mitarbeitenden besuchen erklären dann, dass derjenige schwer Seminare zum Thema Sterbebeglei- krank ist und ins Krankenhaus musste, in: Es gehörte sicherlich nicht zu Ihrer tung. Das ist eine Bereicherung für den vielleicht auch dort gestorben ist. Im- Ausbildung, Kranke und Sterbende bis Einzelnen, aber auch für das gesamte mer begleiten wir das mit Gesprächen zu ihrem Tod zu begleiten. Wie gehen Sie Team. Auch die optimale Begleitung und Ritualen. Im Gruppenraum haben damit um? durch unseren Hausarzt hilft natürlich, wir eine Fotowand, die alle Bewohner bestehende Ängste abzubauen. Nicht zeigt, auch die, die verstorben sind. So in 1/2017 |
11 ......................................................................................................................................................................... INTERVIEW können schöne Erinnerungen, aber gehen sie mit eher kindlichen Vorstel- Sonja Damm, die Leiterin des Hauses Emilie, vor auch traurige Gedanken erlebt werden. lungen mit dem Thema um. Das nimmt einer Fotowand im Gruppenraum. Porträts von Dankbar sind wir allerdings, wenn die einen großen Teil der Angst. Außerdem dort lebenden, aber auch verstorbenen Bewohnern Menschen, die gehen müssen, das hier möchten sie spüren und begreifen, geben Raum für Erinnerungen. in ihrem vertrauten Umfeld machen dass ein Freund, ein Mitbewohner bald dürfen. Nicht nur wir als Team, sondern nicht mehr da ist und entwickeln ganz Im Haus Emilie in Volkmarsen, einer Wohngemein- auch die Mitbewohner haben so die selbstverständlich Rituale, z. B. regel- schaft unter dem Dach des Bathildisheims, leben Gelegenheit, mit großer Achtsamkeit mäßig an das Kranken- oder Sterbebett 26 erwachsene Menschen mit Einschränkungen, diese Situation zu begleiten. Wir kön- zu gehen und Zuwendung zu geben. teilweise mit schwerst-mehrfachen Behinderungen. nen spüren, was die Sterbenden, aber Bis zuletzt. Das Haus wurde im Jahr 2012 eingeweiht und bezo- auch die Mitbewohner, die Angehöri- gen, seither sind vier Bewohner verstorben. gen oder die Betreuer brauchen. in: Frau Damm, vielen Dank für das In- terview. in: Welche Erkenntnisse haben Sie aus den bisherigen Erlebnissen mitgenom- Das Interview führte Gaby Kißmer men? Damm: Die besondere Beziehung, die wir zu unseren Klienten aufgebaut haben, berührt mich als Mensch in der Situation des Sterbens natürlich beson- ders. Da wünsche ich mir manchmal die Leichtigkeit und Unbefangenheit eini- ger unserer Bewohner. Aufgrund ihrer teilweise schweren Behinderungen | in 1/2017
12 ......................................................................................................................................................................... INTERVIEW „Heute ist ein guter Tag, um zu sterben, denn alle Dinge meines Lebens sind anwesend. Indianische Weisheit … ein guter Tag seinem Wohnheim mit den Worten könnte – das sollte ich eigentlich nicht „Du kannst zusammenpacken, ich wer- hören. de dieses Zimmer von innen nicht mehr sehen“ verabschiedet hat. in: Er hat sich in seinen letzten Tagen irgendwie verabschiedet. Ist Abschied in: Also hat er das gespürt … ein Begriff, mit dem Du etwas anfangen kannst? Ziech: Er hat es gespürt. Sören wusste, dass er sterben wird. Ziech: Ja, auf jeden Fall. Man hat uns beiden, als feststand, dass man an sei- in: Kannst Du im Nachhinein sagen, ner Lungenembolie nichts mehr ma- woran er das festgemacht hat? Hat man chen kann – und er wollte auch nichts mit ihm gesprochen? mehr machen lassen –, ganz viel Zeit gelassen. Und es gab eine Situation, als Ziech: Es gab wohl schon Anzeichen: Er wir allein auf der Intensivstation waren, war zweimal nach vorne gekippt und als er zu mir gesagt hat: „Na, Mama, ich wäre fast erstickt. Er hat gemerkt, dass will, dass Du hierbleibst, aber Du musst er schwächer wird, dass er mehr Hilfe mich gehen lassen!“ braucht. Daran hat er wohl für sich fest- (Stille) in: Gitta, Du hast mir erzählt, dass Sören gemacht: Wenn ich noch einmal nach diese indianische Weisheit als Zitat aus vorne kippe und niemand bemerkt es, in: Du musstest Dich sehr früh mit dem dem Film „Stirb langsam“ gesagt hat, als dann war’s das, dann sterbe ich. Er sah Thema Abschied auseinandersetzen, ihm klar war, dass es zu Ende geht. Ein in der letzten Zeit, so im letzten halben aufgrund der Diagnose schon nach Satz, der, wenn man Sören kannte, gut Jahr, auch sehr, sehr krank aus. Sörens Geburt. Ich erinnere mich an Aus- nachvollziehbar ist, der in der Situation sagen zur Lebenserwartung von ca. zwei des Abschiednehmens und des Fest- Irgendwie habe ich es auch gespürt. Jahren. Dann ist Abschiednehmen und haltenwollens aber eher erschreckend Wir hatten, bei allen Mutter-Sohn- Sterben ja irgendwie latent immer Thema wirken kann. Wie hast Du seine Aussage Problemen, immer schon eine enge gewesen. damals empfunden? Verbindung. Ich habe in der Zeit oft davon geträumt, dass ich seine Beerdi- Ziech: Ja, zunächst sprach man vom Gitta Ziech: Das war furchtbar, das gung ausrichten muss. Mein Hausarzt Werdnig-Hoffmann-Syndrom. Nach wollte ich damals überhaupt nicht hat mich beruhigen wollen und meinte, weiteren Tests wurde die Diagnose hören. Ich habe ihm im Krankenhaus er würde aufgrund seiner Konstitution Spinale Muskelatrophie gestellt mit gesagt: „Lass dieses Geschwätz oder uns beide sicher überleben. Auf der einer geschätzten Lebenserwartung ich fahre nach Hause.“ Ich wusste zu anderen Seite habe ich von einer Pfle- von etwa zehn Jahren. In diesem Alter diesem Zeitpunkt nicht, dass er sich am gekraft zufällig mitbekommen, dass es hatte er dann aufgrund seiner starken Abend vorher von einer Pflegekraft in bei Sören einmal ganz schnell gehen Skoliose immense Atemprobleme. Die in 1/2017 |
13 ......................................................................................................................................................................... INTERVIEW zum Sterben damalige Operation zur Wirbelsäulen- auf den Anrufbeantworter gesprochen dann: Wer soll das denn essen? Das versteifung hat dazu beigetragen, dass hattest, um den Termin für dieses In- geschieht ganz unbewusst. Seine Um- er weiterleben konnte. Ohne die wäre terview zu machen, war das ein Gefühl: zugskartons stehen noch unangetastet. das nicht mehr lange gut gegangen. „Sch…, Wohngruppe Hosara ruft an“ – Ich könnte, wenn du Regale aufstellen wie früher, von dem Anschluss hat er ja würdest, alles so einräumen wie es bei in: Kann man sich an Abschiednehmen auch immer angerufen. Das wirft dich Sören war. gewöhnen? erstmal total aus der Bahn. Es hat mich zwei Nächte beschäftigt, und eigentlich in: Hast Du einen Ort der Trauer? Ziech: Nein. In der Anfangszeit war ich ist es doch nur ein Telefonanschluss. viel auf dem Friedhof. Da hat jemand „Die Zeit heilt alle Wunden“ ist ein Ziech: Ja. Warum auch immer haben zu mir gesagt: „Du, die Leute reden Spruch – den würde ich noch nicht ein- wir uns schon vorher einmal darüber schon über Dich, weil Du so oft auf mal anwenden, wenn ein Tier verstirbt. unterhalten – ich selbst habe ja meh- dem Friedhof bist. Aber du hast es doch Da verändert sich was, ganz klar. rere Krebserkrankungen hinter mir –, immer gewusst, dass er nicht alt wird.“ wo wir mal beerdigt werden möchten. Ja gewusst habe ich das, aber darauf in: Trauer geschieht ja ganz unterschied- Ich hatte dann einen Artikel über den vorbereitet? – Überhaupt nicht. lich, der eine zieht sich zurück, der andere Ruheforst in Bad Arolsen gelesen. Sören wird aktiv, macht und tut. Wie trauerst fand das gleich gut, weil er meinte, dass in: Also dann doch „plötzlich und uner- Du? die Zeit in Bad Arolsen seine „geilste“ wartet“, obwohl man über Jahre schein- Zeit gewesen sei. Aber er hat dann bar vorbereitet wurde? Ziech: Ich leide wie ein Schwein – so irgendwann im Blick auf mich gesagt, richtig. Als ich einmal das Gefühl es wäre wohl besser, hier an meinem Ziech: Ja, genau so. bekam, ich kann mich nicht mehr an Wohnort beerdigt zu werden, weil ich Sörens Stimme erinnern, hatte ich sonst ständig pendeln würde – da hatte in: Steckt in Sprüchen wie „Die Zeit heilt einen Zusammenbruch. So stark, dass er wohl Recht. Jetzt hat er einen Platz alle Wunden“ etwas Wahres? Es ist jetzt mein Gesprächspartner den Notarzt unter einem Baum auf dem Friedhof, fast zwei Jahre her, dass Sören verstorben rufen wollte. Ich bin dann nach Hause mit Bank. Da kann ich sitzen, so lange ist. gegangen und habe mich erinnert, ich will. dass ich eine Aufnahme aus der Wohn- Ziech: Das sind Phasen. Ich habe ge- gruppe habe, die ihr uns Eltern damals in: Plötzlich allein. Wie hat sich das ange- nerell das Gefühl, dass es schlimmer zu Weihnachten geschenkt hattet. Ich fühlt? Macht Trauer einsam? wird. Gerade im Sommer nach der Be- musste sie nicht hören, aber da wusste stattung von Sören war ich unheimlich ich: Ich werde Sörens Stimme niemals Ziech: Ob Trauer einsam macht? Mein oft auf dem Friedhof. Und dann gibt vergessen! bester Freund hat sich ein halbes es Anlässe: Weihnachten, Geburtstag, Jahr nach Sörens Tod erhängt. Er war sein Freund Richard kündigt sich an. Es gibt immer wieder Situationen, da Da bist du schon Tage vorher nervös greife ich im Geschäft nach Dingen, die und stehst eigentlich neben dir. Als Du Sören gerne gegessen hat, und denke | in 1/2017
14 Gitta Ziech ist Mutter eines ehema- ligen Schülers im Schülerinternat des Kinder- und Jugendwohnens im Bathildisheim. Ihr Sohn kam im Alter von sieben Jahren in die Wohngrup- pe Hosara und wohnte dort bis zu ......................................................................................................................................................................... INTERVIEW seinem 18. Lebensjahr. Im Alter von 29 Jahren starb er am 17. Mai 2015. Behinderungsbild: Spinale Muskelatrophie derjenige, der die schlimmste Zeit mit- Ziech: Ja, genau. Sören hat scheinbar So konnte ich bis zum Schluss bei ihm gemacht hat, der mit mir das Zimmer genau gewusst, wie es mir gehen wür- sein und bleiben. Im Nachhinein muss ausgeräumt hat, der immer für mich de. Deshalb hat er alle lebensverlän- ich sagen, es war alles gut so wie es da war, vertraut sich mir nicht an und gernden Maßnahmen in einer Patien- war. nimmt sich das Leben. Das waren zwei tenverfügung abgelehnt – ohne mich extreme Schläge in meinem Leben. zu fragen. Das war schon ein Schock. Im in: Gitta, dies war ein ganz besonderes Nachhinein muss ich sagen, war es gut, Interview, herzlichen Dank für Deine in: Haben sich Freunde aufgrund Deiner dass es diese Verfügung gab. Ich hätte Offenheit. Situation zurückgezogen? eine solche Entscheidung nicht treffen können, hätte ihn nicht loslassen kön- Das Interview führte Karsten Meyer, Gruppenleiter Wohngruppe Hosara und Ziech: Mein Freundeskreis ist eigent- nen. Das fällt mir ja jetzt noch schwer. Taufpate von Sören lich noch intensiver als vorher. Es gibt Menschen um mich herum, die nicht in: … so hat er für Dich gesorgt. angenervt sind, wenn ich mal wieder extrem traurig bin. Ziech: Genau, irgendwie tut das weh, ist aber auch schön. in: … die das mittragen und ertragen? in: Was würdest Du Menschen in Deiner Ziech: Ja, und die sich das immer und Situation raten? immer wieder anhören. Es gibt dann auch mal Ansagen von Freunden nach Ziech: Mein Problem war die Patienten- dem Motto „Es muss jetzt dann auch verfügung, die Sören mit einer Bekann- mal wieder gut sein, morgen möchte ten ohne mich verfasst hatte. Im Nach- ich meine alte Frau Ziech wiederha- hinein war ich froh, dass er das geregelt ben“. Aber wenn ich anrufe und sage, hat. Jemand, der so etwas verfasst, hat dass ich auf den Friedhof möchte, muss sich Gedanken um sich gemacht, aber ich nicht alleine gehen. auch um seine Angehörigen. Sören hat für mich gesorgt, war vielleicht besorgt. in: Hat sich etwas für dich im Umgang Es brauchte Zeit, das zu verstehen mit Trauer verändert? und zu akzeptieren. So konnte ich ihn gehen lassen, er hatte es mir ja auch in Ziech: Ich habe zwei wichtige Men- seinen letzten Momenten gesagt: „Du schen in meinem Leben verloren, mei- musst mich gehen lassen.“ ne Oma und Sören. Jemanden nicht mehr bei sich zu haben, nicht mehr berühren zu können, ist für mich ganz schwer. Sören konnte ich nicht loslas- sen. Ich wollte nicht gehen, ich wusste, wenn ich jetzt gehe, war´s das. in: Ein endgültiger Abschied? in 1/2017 |
15 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG Marie Luise Kaschnitz (unbekannt) Nicht mutig Mein Samenkorn Die Mutigen wissen Ich halte ein Samenkorn in der Hand. Dass sie nicht auferstehen Mein einziges Korn. Dass kein Fleisch um sie wächst Am jüngsten Morgen Sie sagen, ich soll das Korn in die Erde legen, Dass sie nichts mehr erinnern ich muss mein Korn schützen, Niemandem wiederbegegnen mein einziges Korn. Dass nichts ihrer wartet Ich habe es nie erlebt, dass es Frühling gibt. Keine Seligkeit Keine Folter Sie sagen, es wächst neues Leben aus dem Korn. Ich Ich verliere mein Korn, Bin nicht mutig. mein einziges Korn. Ich habe es nie erlebt, dass es Frühling gibt. Sie sagen, ich muss mein Korn riskieren. „Nicht mutig“, aus: Marie Luise Kaschnitz, Gesam- Mein einziges Korn. melte Werke in sieben Bänden, Band 5: Die Gedichte. © Insel Verlag, Frankfurt am Main 1985. Alle Rechte Aber ich habe nie Frühling erlebt. bei und vorbehalten durch Insel Verlag Berlin. Mein Geliebter sagt: Es gibt Frühling! Ich lege mein Korn in die Erde. | in 1/2017
16 Der Tod ist heute überwiegend medial als Teil von ,Sensationen‘ ......................................................................................................................................................................... INTERVIEW Thema ist stets mit einer persönlichen Betroffenheit verbunden. Deshalb hat das Museum für Sepulkralkultur sich zur Aufgabe gemacht, die Intimität dieses Themas zu respektieren und zu bewahren. Es stellt sich den vielfältigen Fragen von Sterben, Tod und Bestatten nicht durch das Finden von Antworten, sondern vielmehr, indem es auf der Suche nach ihnen neue Fragen aufwirft. In seiner Schausammlung schafft es Raum für eine Auseinandersetzung mit unserer westlichen Sterbe- und Trauer- kultur. Exponate der Alltagskultur – da- bei handelt es sich um Stücke sowohl der sogenannten Hochkultur als auch der Alltagskultur – kontrastieren dabei bewusst mit Werken zeitgenössischer Kunst. Zusammen bieten sie Antworten auf die Fragen „Wie gingen die Men- schen früher mit Sterben und Tod um?“ und „Welchen Stellenwert hat es heute in einer säkularisierten und weltan- schaulich differenzierten Gesellschaft?“. Der Tod ist heute überwiegend medial Sarg in Form eines Hahns, präsent: Bilder von Toten und vom Paa Joe, Ghana, 2002 Töten werden uns heute täglich durch Fernsehen und Zeitungen frei Haus geliefert. Doch die unmittelbare Erfah- im Zusammenhang mit Sterben, Tod, rung des Einzelnen im Umgang mit Bestatten, Trauern und Erinnern: Grä- Sterben und Tod ist selten geworden. in: Was erwartet den Besucher in einem ber, Särge und Bestattungsriten und Hier ist große Unsicherheit zu spüren Museum für Sepulkralkultur? -bräuche, auch Werke zeitgenössischer und der Wunsch nach mehr Informati- Künstlerinnen und Künstler können so on. Deshalb fühlt sich das Museum für Jutta Lange: Das Museum für Sepulk- im weitesten Sinne auch als Trauer- und Sepulkralkultur einem besonderen Auf- ralkultur ist einzigartig in Deutschland. Begräbniskultur verstanden werden. trag verpflichtet. Eine Zielvorstellung ist In einem Backsteingebäude von 1903 es, den Tod wieder stärker ins Leben zu und in einem Neubau ist 1992 ein le- in: Sterben ist das einzige Erlebnis, das integrieren, dem Tod wieder ein Stück bendiges Museum entstanden, welches auf jeden von uns zukommt. Was kann jener Normalität zurückzugegeben, die die Besucher auf 1400 Quadratmetern ein Museum dazu beitragen, das Thema er früher besessen haben soll. einlädt, sich mit den Themen Sterben, transparent zu machen? Tod und Trauer zu beschäftigen. Der in: In der Vergangenheit verstarben viele Begriff Sepulkralkultur leitet sich vom Lange: Sterben und Tod sind sehr Menschen im häuslichen Umfeld, wur- lateinischen sepulcrum ab und be- existentiell, mal scheint das Thema den aufgebahrt und die Familie konnte deutet Grab, Grabstätte und umfasst sehr weit weg, mal bricht es unvor- trauern und Abschied nehmen. Heute ist hier alle kulturellen Erscheinungen hergesehener Maßen auf uns ein. Das das vielfach anders. Bringen die Besucher in 1/2017 |
17 präsent, aber im Alltag weitesTgehend verdrängt Jutta Lange, Pressesprecherin, Museum für Sepulkralkultur in Kassel ......................................................................................................................................................................... INTERVIEW daher bei Ihren Führungen eine gewisse Formaten von Information, Forschung Anspannung oder Angst mit? und Vermittlung verpflichtet. Lange: Nein, das kann man so nicht in: Wenn das Sterben, der Tod und die sagen. Vielleicht ist bei manchen eine Trauer wirklich einer lebenslangen Vor- gewisse Unsicherheit zu spüren, was bereitung bedürfen, liegt die Vermutung sie wohl im Museum erwartet, aber im nahe, dass Sie mit Ihrem Museum auch Laufe des Ausstellungsbesuches ver- Kinder ansprechen möchten. fliegt die Angst schnell. Die Menschen kommen mit großem persönlichen Lange: Auf jeden Fall. Angesichts der Europaweit einzigartig ist in dem eins- Interesse und sind begeistert von un- existentiellen Thematik kommt bei uns tigen Anwesen der Fabrikantenfamilie serem vielfältigen Angebot. Nicht nur der museumspädagogischen Vermitt- Henschel im Jahr 1992 auf dem Wein- für Konfirmanden, Schulen oder für die lung und den entsprechenden Veran- berg in Kassel ein lebendiges Museum helfenden Berufe und Auszubildenden, staltungen besondere Bedeutung zu. für Sepulkralkultur entstanden Nicht auch für viele nicht nur Kulturinte- Gerade Kinder und Jugendliche stehen düster und todernst, sondern hell und ressierte ist das Museum zu einem im Fokus unserer Arbeit. Es gibt mu- freundlich präsentieren sich die Aus- wichtigen Ort der Auseinandersetzung seumspädagogische Projekte für alle stellungsräume. Die Zusammenfüh- geworden. Manch einer erklärt das Altersstufen, auch für Kitas. Und mit ca. rung von Alt und Neu erzeugt einen Museum sogar zu seinem Lieblings- zehn Jahren feiern Kinder regelmäßig spannungsreichen architektonischen museum. begeistert ihren Geburtstag in unseren Gesamtkomplex, was als inhaltliches Räumen. Prinzip auch in der Schausammlung Und was man vielleicht nicht erwartet, seine Entsprechung findet. aber ganz besonders für uns ist: Hier Mit der Dauerausstellung und den zahl- darf auch gelacht werden. Das zeigte reichen Sonderausstellungen ist das bereits die erste Sonderausstellung Museum ein einzigartiger außerschu- 1992 „Schluß jetzt!“ mit Karikaturen lischer Lernort. Für schulische Projekte zum Thema Sterben, Tod und Trauer. haben wir für Lehrer und Erzieher Pro- Nach 25 Jahren im Herbst 2016 fand gramme entwickelt, die museumsspezi- eine erfolgreiche Fortsetzung in der fisch alltagsbezogenen Fragestellungen Sonderausstellung „Einer geht noch! nachgehen. Jutta Lange, – Cartoons und Karikaturen auf Leben Pressesprecherin und Tod“ statt. Auch wenn wir uns mit Auch weil der Tod vor der Schule den ernsten „letzten Dingen“ beschäf- nicht halt macht, gehen wir zu den Museum für Sepulkralkultur tigen, so möchten wir immer ein Haus Kindern: mit dem Museumskoffer Weinbergstraße 25–27 des Lebens sein. „Vergissmeinnicht“ und einer mobilen 34117 Kassel Mitmachausstellung für Vorschul- und Fon 0561 91893-0 „Das Sterben muss man das ganze Grundschulkinder im Alter von fünf bis info@sepulkralmuseum.de Leben lang lernen“, sagte bereits der zwölf Jahren. Mit Hands-on-Angeboten www.sepulkralmuseum.de römische Philosoph Seneca, und so werden Kinder in spielerischer Weise an führt die Auseinandersetzung mit die Themen Sterben, Bestatten, Trauern Öffnungszeiten: Sterben und Tod hin zu sowohl persön- und Gedenken herangeführt. dienstags 10–17 Uhr lichen, als auch gesellschaftspolitischen mittwochs 10–20 Uhr Fragen des Lebens – und damit mitten in: Vielen Dank für das Interview, donnerstags bis sonntags 10–17 Uhr ins Leben. So sieht sich das Museum Frau Lange! Jeden Mittwoch findet um 18 Uhr eine für Sepulkralkultur den vielfältigen öffentliche Führung statt. Aufträgen in den unterschiedlichsten Das Interview führte Gaby Kißmer | in 1/2017
18 ......................................................................................................................................................................... BUCHTIPPS Es macht Spaß, dieses Bilderbuch ge- meinsam mit Kindern zu entdecken, Fantasien und Hoffnungen zu wagen. Zugleich ist mit dem Anhang eine Mein trauriges Buch Das Buch beschreibt den Weg, den wertvolle Hilfe für Eltern und Erziehen- Hannes zurücklegt zwischen seinem de gegeben, um Kinder in der Trauer Auf der ersten Seite Kinderglauben und der reiferen Vorstel- begleiten zu können. Themen wie stellt er sich vor: Michael lung, dass Gott nicht das Leid wegzau- „Wie sag ich’s meinem Kinde?“ oder Rosen erzählt, wie die bert, sondern im Leid beisteht. Täglich „Soll man Kinder auf eine Beerdigung Traurigkeit ihn gefangen betet er: „Gott, mach, dass Bobo wieder mitnehmen“ werden verständlich und hält, was sie mit ihm gesund wird. Ich verspreche dafür auch, praxisnah entfaltet. macht, in wie vielen mich mit der Schwester und den Eltern Formen sie ihn heimsucht, seit sein immer zu vertragen.“ Christine Hubka mit Illustrationen von Sohn Eddie gestorben ist. Manchmal Nina Hammerle. Ein Bilderbuch für Kinder ist sie als Wut da, manchmal als große Sensibel erzählt die Autorin von den ab 4 Jahren. Verlagsanstalt Tyrolia, 2008, gähnende Leere oder als dunkle Wolke, vielen Spuren Gottes, die Hannes in die- 14,95 Euro die ihn ein-hüllt. Ein Mal sucht er die ser Zeit entdeckt – bis er zum Schluss Einsamkeit, ein anderes Mal tut es gut, beten kann: „Wenn Bobo sterben muss, mit jemandem zu reden. dann streichle ihn, Gott. Er mag das.“ Die besten Beerdigungen der Welt In kindgerechter Form macht dieses Angela Kunze-Beiküfner mit Bildern von Einen Tag Buch Mut, den vielen verschiedenen Christine Mahler. RPA-Verlag Landshut, lang be- Formen der Trauer ins Gesicht zu sehen. 9,95 Euro gleitet das Es hilft, Trauernden eine einfühlsame Buch drei Begleitung zu sein auf dem Weg zurück Kinder, die ins Leben. Wo die Toten zuhause sind Beerdigung spielen. Erzählt von Michael Rosen. Mit Bildern Nein, sie von Quentin Blake. Verlag Freies Geistesle- spielen ben Stuttgart, 2007, 15,90 Euro nicht. Mit vollem Ernst, großer Fantasie und tiefer Ergrif- Hannes sucht Gott fenheit widmen sie sich dem Thema Tod. Liebevoll und würdig werden eine Hannes sorgt sich tote Hummel bestattet, mehrere tote um seinen besten Mäuse, ein überfahrener Hase … auch Freund: den Hund die toten Fische, die sie im Kühlschrank Bobo, der schwer der Großmutter finden. erkrankt ist. Der Tier- arzt kann ihm nicht Beeindruckend, die Unbefangenheit helfen. „Da kann nur und die Furchtlosigkeit, mit der sich die noch Gott helfen“, Kinder fragen: Wohin gehen die Toten? Kinder diesem Thema stellen. sagt eine Nachbarin. Was passiert nach dem Sterben? Der Text bezieht sich in einfacher Sprache Ulf Nilson und Eva Erikson, Moritz Verlag auf den Bibelvers Johannes 14,2. Frankfurt am Main, 13,95 Euro in 1/2017 |
19 ......................................................................................................................................................................... BUCHTIPPS Im Digitale Hamsterrad Irgendwo im Glück Warum machen wir uns zu digitalen Ein Roman voller Humor, Liebe, Trau- Sklaven? Das Buch zeigt, wie es auch rigkeit und Hoffnung, der im Jahr 1995 anders geht, ohne die Technologien in Dublin spielt. Maisie Bean, eine Frau, zu verdammen. Das Buch von Gerald die sich nicht unterkriegen lässt, glaubt, Lemke ist ein Plädoyer für den gesun- nun endlich ihr Leben im Griff zu ha- den Umgang mit Smartphone und Co. ben. Da verschwindet ihr Sohn Jeremey Gerald Lembke ist Professor für Digitale spurlos. Medien und Medienmanagement an der Dualen Hochschule Baden- E-Book, Rowohlt Verlag, 10,99 Euro (D) Württemberg. Als Gestalter von digitalen Welten und zugleich Wenn Menschen mit geistiger Be- kritischer hinderung trauern. Vorschläge Beobachter zur Unterstützung kennt er beide Seiten Die Autorinnen beschreiben allgemein- der digitalen gültige Abläufe des Trauerprozesses Medaille. und dessen Besonderheiten bei Men- schen mit einer geistigen Behinderung. Medhochzwei Es sind sowohl Anregungen für körper- Verlag, liche Übungen, musikalische Unterstüt- 19,99 Euro (D) zung und verbale Hilfen zu finden als auch rituelle Handlungsmöglichkeiten, religiöse und spirituelle Angebote. Raumpatrouille Dieses Buch beschäftigt sich zwar spe- Dies ist ein von Matthias ziell mit den besonderen Bedingungen Brandt wunderbar geschrie- für Menschen mit geistiger Behinde- bener Erzählband über eine rung, trotzdem ist es hervorragend Kindheit in der Bonner Re- geeignet, Kindern oder auch Erwach- publik. senen ohne Behinderung, die sich auf kreative Bewältigung ihrer Trauer ein- Matthias Brandt ist Schau- lassen, beizustehen. spieler und Sohn des früheren Bundeskanzlers Charlene Luchterhand und Nancy Mur- Willy Brandt. phy, Beltz Verlag, Weinheim und Basel, 19,95 Euro (D) Kiepenheuer & Witsch, 18,00 Euro (D) | in 1/2017
Chance ver- 20 passt? ......................................................................................................................................................................... NACHDENKLICHES Ein Krankenhausseelsorger beschreibt in einem Buch* folgendes Erlebnis: „Ich sitze lange am Bett eines unheil- bar an Krebs erkrankten Mannes. Am Schluss fleht er mich an: ,Ich weiß, dass ich sterben werde, aber sagen Sie um Gottes Willen nichts meiner Frau. Sie würde das nicht ertragen.‘ Ich verspreche es ihm. Dann gehe ich. Im Foyer treffe ich zufällig seine Frau. Wir kommen ins Gespräch. Es ist ein gutes Gespräch. Am Schluss fleht sie mich an: ,Ich weiß, dass er sterben wird, aber sagen Sie um Gottes Willen nichts meinem Mann. Er würde das nicht er- tragen.‘ “ Wie entsetzlich! Wie viele gemeinsame Gefühle, Ängste und Hoffnungen haben die beiden einander verwehrt, wie viele Sorgen aber auch vorsichtige Visionen? Welche Chance haben sie einander versagt? Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder … Irene Dittmann-Mékidèche Pfarrerin * Autor und Titel unbekannt in 1/2017 |
HRISSI 21 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder … Lange kannte ich Chrissi. Als Zweit- Abendgottesdienst. Ich erzähle eine klässler hatte er vom Tod einer Klassen- Geschichte über die „Spuren“ Gottes kameradin erfahren. Tief saß dieses Er- und habe Tonpapierfußabdrücke vor- schrecken in ihm. Immer wieder sagte bereitet. Wir suchen Ideen. Welche Spu- RIC er: „Die kleine Steffi ist tot, ist im kalten, dunklen Grabloch!“ Chrissi selbst litt an einer Behinderung, die sein Leben sehr verkürzen würde. Deshalb war es mir zu seiner Konfirmandenzeit so wichtig, ihm andere Bilder und Vorstellungen vom Tod anzubieten. Wie habe ich mich abgestrampelt! Und wie brav hat er mitgespielt. Aber immer, wenn ich noch einmal nachfragte, wo denn Steffi wäre, kam sein Credo: „Im kalten, dunklen Grabloch.“ Chrissi ist mit 17 Jahren ge- storben. Im Trauergespräch erzählt mir dann ein Mitarbeiter, dass Chrissi ihm etwa drei Monate vor seinem Tod anvertraut hat: „Wenn ich einmal tot bin – dann werde ren hinterlässt Gott in unserem Leben? Die Kinder finden viele Ideen: Tiere, Menschen, Ozeane, Sonnenuntergän- ge (für Schöpfer), Freude, Verzeihen, Seelenschutzengel, Liebe (für Geist), Abendmahl, Glaube, keine Angst vor dem Tod, Gottvertrauen (für Jesus). Ich beschrifte die Fußabdrücke mit den Kinderäußerungen und lege sie als runde Spur in unseren Kreis. Völlig unerwartet bittet Danny dar- um, auf den Spuren Gottes gehen zu dürfen. Er zieht die Schuhe aus und geht vorsichtig seine Runde. Setzt sich wieder und meint mit feierlich ergriffe- nen Stimme: „Das ist eigentlich wie ein Versprechen.“ „Hast du jetzt Gott etwas versprochen oder Gott dir?“, frage tiert jede Fußspur: „Ich danke dir, dass ich ein fröhlicher Mensch bin“, „Ich dan- ke dir für die Musik“ ... Vor dem Fußab- druck „Keine Angst vor dem Tod“ bleibt er lange und nachdenklich stehen. Unentschlossen wiegt er sich mit sei- nem Rollstuhl vor und zurück. Er bleibt regelrecht hängen. Dann geht ein Ruck durch seinen Körper. Entschlossen und deutlich sagt er: „Ich habe keine Angst.“ Er vollendet seine Runde, findet noch einige spontane Sätze zu anderen Begriffen, sitzt schließlich wieder auf seinem Platz. ich auf einer Wolke sitzen und Geige ich. „Wir uns gegenseitig“, antwortet Beim anschließenden Abendmahl legt spielen.“ er. Das leuchtet mir ein. Ich gehe in er den Kopf auf die Knie. Er scheint sehr Socken selbst noch einmal die Runde weit weg zu sein. Ich überlege, ob es Die Geigenmusik bei seiner Trauerfeier und sage bei jedem Fußtritt einen ihm vielleicht schlecht geht und ich ihn war ergreifend. kleinen Kommentar: „Ich danke dir für ansprechen sollte. Nach dem Gottes- die Menschen“, „Hilf mir, mit den Tieren dienst tue ich das. „Ich habe gebetet“, respektvoll umzugehen“, „Schenke mir erklärt er mir. Dann zeigt er mir seinen Gottvertrauen in traurigen Zeiten“. Handrücken, das Handgelenk und die Unterarme. Er hat eine ausgeprägte Eric (13 Jahre, progressive Muskeldys- Gänsehaut. Alle Härchen stehen zu Ber- trophie; er ahnt, dass sein Leben nicht ge. Und er sagt: „Du, ich habe gespürt, sehr lange dauern wird) hört aufmerk- wie der Gott durch meine Haut in mich sam zu. „Darf ich mit meinem Rolli auch reingegangen ist.“ „Und überall kribbelt noch mal die Runde machen?“ „Klar!“ Er es?“, frage ich. „Ja“, sagt er und strahlt. macht sich auf den Weg und kommen- | in 1/2017
22 ......................................................................................................................................................................... TOD – TRAUER – HOFFNUNG RAD Planungstreffen Schulanfang. Wir die Augen wirklich geschlossen zu planen den gemeinsamen Themenvor- halten – umgeben von so vielen frem- mittag mit Abschluss-Gottesdienst für den Kindern. Aber, dass er bitte beim die Klassen 2 bis 4 der Karl-Preising- Herausklettern aus dem Bollerwagen Schule und der Helser Grundschule die Augen aufmachen sollte, damit er aus Bad Arolsen. Sie werden sich in nicht stolperte. gemischten Kleingruppen treffen und die Arbeitsergebnisse in einem ge- Es ist so weit: Circa 100 Kinder sitzen meinsamen Gottesdienst vorstellen. Sie im Saal. Die Seitentür geht auf. Der werden malen, basteln, singen zu „Mut- Leichenzug, vom „Pfarrer“ angeführt, ter Erde“, „Bruder Feuer“ und „Schwester kommt herein. 15 schwarz gekleidete Quelle“. Kinder folgen. Brad liegt bewegungslos und entspannt im Bollerwagen. Auch Spontan ergänzt die Lehrerin Frau Op- als die „Hinterbliebenen“ schluchzen, per: „Und Bruder Tod“. Viele der am Pla- getröstet werden, sich verabschieden nungstreffen Beteiligen sind entsetzt: – Brad zuckt nicht mit einer Wimper. Mit diesem Thema kann man Kinder Dann geht der „Pfarrer“. Eine gefühlte nicht belasten! Ewigkeit lang sitzen 100 Kinder schwei- Grabstätte von den Haustieren gend um den Bollerwagen herum, in Hund und Wellensittich, Frau Opper und ich wagen es. Wir dem Brad einsam als „Leiche“ liegt, mit Gemälde eines Grundschülers bieten in unserer Gruppe ein Rollen- geschlossenen Augen. Dann kommt – spiel an: „Beerdigung“. Die Kinder sind in weißem Gewand mit Flügeln – ein begeistert. Requisiten werden verteilt. Engel herein, ein zartgliedriges Mäd- Brad will unbedingt die Leiche sein, chen aus der Helser Grundschule. Es mit geschlossenen Augen vom Pfarrer reicht Brad die Hand, berührt ihn leise. feierlich in einem kleinen mit Kissen Mit geschlossenen Augen erhebt sich ausgestatteten Bollerwagen in den Saal unsere „Leiche“. Mit geschlossenen gezogen werden. Schwarz gekleidete Augen legt Brad seine Hand in die Trauernde würden sich anschließen. unbekannte Hand, klettert mit traum- Wir hatten Brad den Hergang des Rol- wandlerischer Sicherheit aus seinem lenspiels erklärt: „Falls du es schaffst, Bollerwagen und folgt dem Engel, ohne lass deine Augen geschlossen. Beweg die Augen zu öffnen. Beide verlassen dich nicht. Lieg einfach entspannt in den Saal und gehen in einen anderen dem Wagen. Der Pfarrer zieht dich in Raum …! den Saal. Nach der Zeremonie wirst du ganz allein in deinem Wagen liegen. Irene Dittmann-Mékidèche Pfarrerin Mit geschlossenen Augen. Aber fürchte dich nicht: Ein Engel wird kommen. Der berührt dich zärtlich. Er wird dir aus dem Bollerwagen helfen und mit dir in einen anderen Raum gehen. Ich hatte Brad erklärt, wie schwer es sein würde, in 1/2017 |
23 ......................................................................................................................................................................... KARL-PREISING-SCHULE Gedenkveranstaltung zur Progromnacht Schüler der Mittelstufe und Hauptstufe Am Ende ihres Vortrages formulierten Schulleiter Eberhard Eckhard erinnerte der Karl-Preising-Schule gestalteten die jungen Menschen ihre persönlichen an die Verantwortung der Schule, in- das Rahmenprogramm der Gedenkfeier Gedanken und Schlussfolgerungen so: dem er Theodor W. Adorno zitierte: anlässlich des Jahrestages der Progrom- „Heute aber gibt es immer noch Men- „Die Forderung, dass Ausschwitz nicht nacht vom November 1938 auf dem schen, die ähnlich denken, wie am 9. noch einmal sei, ist die allererste an jüdischen Friedhof in Bad Arolsen. November 1938. Sie rufen ,Wir sind Erziehung.“ Diese Forderung an Er- das Volk‘ und wollen bestimmen, wer ziehung und Bildung macht sich die Mit einer jahrgangsübergreifenden dazu gehört und wer nicht! Sie hassen Karl-Preising-Schule auch weiterhin Arbeitsgemeinschaft „Geschichtswerk- und grenzen Menschen aus, weil sie zu eigen. Dazu gehören natürlich ein statt“ hatten sich Schülerinnen und einen anderen Glauben haben, anders lebendiger Geschichtsunterricht, wie Schüler der Hauptstufe gemeinsam mit aussehen, eine andere Meinung ha- auch fächerübergreifende Menschen- ihrem Lehrer Jürgen Wießner auf die ben. Sie sagen: ,Die anderen, die nicht rechtsbildung und die lebensweltbe- Veranstaltung vorbereitet. Sie setzten zu uns gehören, oder die Flüchtlinge zogene Vermittlung von Werten im sich mit dem Leiden der Arolser Juden sind schuld.‘ Einige von ihnen zünden Ethik- und Religionsunterricht. Ent- zur Zeit des Nationalsozialismus ausein- Flüchtlingsheime an, demütigen und scheidend ist jedoch, dass Toleranz, ander und nahmen darüber hinaus an üben Gewalt aus. Wenn wir das dulden, Mitmenschlichkeit und gegenseitige einem Projekttag in der Gedenkstätte dann könnte eines Tages der Hass wie- Achtung auch weiterhin im Schulalltag des ehemaligen KZ Buchenwald teil. Für der siegen!“ gelebt werden. ihren Vortrag wählten sie Zitate aus Do- kumenten und Berichten Überlebender, Der Chor der Mittel- und Hauptstufe Jürgen Wießner Sozialpädagoge , Karl-Preising-Schule die vor allem die Leidensgeschichte der gestaltete den musikalischen Rahmen Arolser Familie Katz dokumentieren. der Gedenkfeier. Mit ihrem Musiklehrer Stefan Helg präsentierten sie unter dem Motto „Jüdischer Widerstand“ drei Lieder in jiddischer Sprache. | in 1/2017
Sie können auch lesen