Zwischen und in mehreren Kulturen - Erfahrungen der Migration
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PROJEKTE Zwischen und in mehreren Kulturen – Erfahrungen der Migration Das 20. Jahrhundert ist wie kein anderes Jahrhundert von Flucht, Vertreibung, Migration und Reisen jeglicher Art geprägt – und diese Phänomene verändern grundsätzlich die Strukturen unseres Alltags. Darüber hinaus stellen sie tradierte Vorstellungen über Identität, Heimat und Kultur radikal in Frage. Literarische Texte von Migrantinnen und Migranten reflektie- ren auf ganz besondere Weise die Schwierigkeiten der Bestim- mung des Ich im Spannungsfeld verschiedener Zugehörigkeiten, die Erfahrungen des Exils und der Entwurzelung, die sprachliche Heimatlosigkeit sowie kulturelle Begegnungen. Ihre Texte bieten daher zahlreiche Möglichkeiten, sich im schulischen Kontext mit Fragen der Migration, der Fremd- und Selbstwahrnehmung ausei- nanderzusetzen. Ein groß angelegtes fächerübergreifendes Projekt der BRG/BG für Slowenen, mit Andrea Zikuling als Projektkoordinatorin, versuch- te im Slowenisch-, Deutsch-, Englisch- und Italienischunterricht anhand zahlreicher literarischer und filmischer Beispiele Schüle- rInnen zum Perspektivenwechsel und zur Reflexion des eigenen Handelns gegenüber Fremden anzuhalten. Alexandra Mundweil und Claudia Soukup reflektierten in ihren Klassen die sprachliche Dimension des Heimatverlusts und das Schreiben in der Fremde bzw. in einer fremden Sprache. Somit lernten SchülerInnen die innovative Schreibweise von AutorInnen mit Migrationshintergrund und ihre wichtigsten Themen kennen. Sabine Fuchs startete an der Universität Graz ein Leseseminar für Lehramtsstudierende mit Kinder- und Jugendliteratur zum The- ma „Das Fremde“. Gleichzeitig hat sie in ihrer Klasse in der BHAK Bruck an der Mur unterschiedliche Aspekte der Reise-Thematik (Flucht, Migration, Abenteuerreise) behandelt. 55
PROJEKTE Andrea Zikuling Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte und Konflikte Dojemanje lastnega in tujega: stičišča a in konflikti Percezione di sè e dell’altro: contatti e conflitti STECKBRIEF Das Projekt Wahnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte und Konflikte Schule ZG/ZRG za Slovence v Celovcu Klasse / SchülerInnen 5a Teilnehmende Fächer Deutsch, Englisch, Italienisch, Slowenisch Bildnerische Erziehung Projektleitung Olga Gallob, Christian Sadnikar, Cristina Santoro-Sienčnik, Miha Vrbinc, Vera Wutti-Incko, Andrea Zikulnig 1. Einführung und Ausgangssituation und war bereit, sich im folgenden Schuljahr am Litera- turprojekt mit dem Titel „Sich in die Welt hinaus lesen“ Im Laufe des Bundesseminars zum Thema Weltliteratur zu beteiligen. Da sich in dieser Kugy-Klasse neben zwei- im Unterricht im März 2011, an dem mehrere Kolleg- sprachigen SchülerInnen aus Kärnten und SchülerInnen Innen unserer Schule teilnahmen, konnten wir uns auf- mit Migrationshintergrund auch mehrere „Bildungsmi- grund des klaren Konzepts und Terminplans, der Fülle grantInnen“, d.h. SchülerInnen aus Italien befinden (die von Textbeispielen und Unterrichtsmodellen und der inzwischen ganz gut Deutsch und Slowenisch beherr- Zusicherung, dass das Pilotprojekt von Hajnalka Nagy schen), sind Mehrsprachigkeit, Multikulturalität und begleitet werden würde, durchaus vorstellen mit einem Weltoffenheit Voraussetzungen für einen erfolgreichen kleineren Beitrag teilzunehmen. Unterricht. Zum einen bot sich eine intensivere Ausei- nandersetzung mit Wahrnehmungsmustern des Eigenen Während sofort feststand, mit welchen Klassen wir gerne und des Fremden, zum anderen eine Ausweitung zu ei- daran arbeiten würden, waren das konkretere Thema, die nem fächerübergreifenden Projekt in allen vier Sprachen Textauswahl und die Organisation zu diesem Zeitpunkt an. noch völlig unklar. Dieser „Rest“ musste an der Schule selbst ausgehandelt werden. Wir wussten damals nicht, Man kann das Literaturprojekt sicher auch als vertie- dass damit ein Prozess ins Rollen gebracht wurde, dessen fende Ergänzung zu bereits etablierten Schulaustausch- Dynamik weit größere Ausmaße annehmen würde. Nach programmen, Sprachwochen und Auslandsaufenthalten der Eingrenzung und Formulierung des Themas waren werten: sich aus der Schule in die Welt hinaus lesen, sich wir LehrerInnen und SchülerInnen sensibilisiert für die neue Lebenswelten lesend aneignen. Vielschichtigkeit der Problematik, mit der wir uns nicht nur lesend und interpretierend auseinandersetzen woll- Zu Beginn des Schuljahres 2011/12 wurde in einer Sit- ten. Workshops, Ausstellungen, Gespräche mit Men- zung der SprachlehrerInnen dieser Klasse das Thema auf schen, die uns den Blick auf ihre - uns fremde - Lebens- Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte welt öffnen konnten, wurden nach und nach, wie es sich und Konflikte eingegrenzt und die Projektziele festge- eben ergab, in das Weltliteraturprojekt eingegliedert. legt. In Zusammenarbeit mit den SchülerInnen wurden die Texte ausgewählt. Festzuhalten ist, dass SchülerInnen Die damalige 5a Klasse, eine viersprachige Kugy-Klasse und LehrerInnen die fächerübergreifende Kooperation (Slowenisch und Deutsch, im gleichen Stundenausmaß, in Form einer Abstimmung der einzelnen Klassenlektü- Italienisch und Englisch ab der 1. Klasse) hatte zu dem ren auf ein gemeinsames Thema als besonders motivie- Zeitpunkt gerade ein Sozialprojekt erfolgreich beendet rende Herausforderung erlebten. Das war nämlich neu. 56
Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte und Konflikte PROJEKTE Der didaktisch-methodische Zugang blieb in Eigenregie Die Filmkomödie Almanya über türkische Arbeitsmig- des jeweiligen Sprachlehrers bzw. der jeweiligen Sprach- rantInnen im Deutschland der 60er Jahre setzt sich hu- lehrerin. Als Abschluss sollten die SchülerInnen im 2. Se- morvoll mit Integrationsproblemen und Vorurteilen mester das Gesamtprojekt allen anderen Projektteilneh- auseinander. Jedes Mitglied der Großfamilie ist auf der merInnen in Form einer dreisprachigen Zusammenschau Suche nach seinem persönlichen Gleichgewicht zwischen präsentieren. Anpassung und den Traditionen der Herkunftskultur. Projektziele Mare nero ist ein Immigrationsroman, mit einem jungen Horizonterweiterung durch Auseinandersetzung Marokkaner auf der Reise in das gelobte Land Europa. mit Gegenwartsliteratur Beschreibung der tragischen Situation der Flüchtlinge. Sprach- und Lesekompetenz erhöhen, Varietäten einer Sprache erfassen Alessandro Barrico erzählt die Legende vom Ozeanpi- Unterschiedliche Positionen und verschiedene anisten Novecento, einem Findelkind, das um 1900 auf Wahrnehmungsmuster der Selbst- und dem Dampfer Virginian zwischen Europa und Amerika Fremdwahrnehmung kennen lernen unterwegs ist, ohne je das Schiff zu verlassen; Themen: Literatur als Spiegelung gesellschaftlicher Auswanderung, Musik, Freundschaft. Wirklichkeiten erfassen Eigenen Umgang mit Sprach- und The Outsiders gilt als der Klassiker der amerikanischen Kulturunterschieden reflektieren Jugendliteratur über zwei verfeindete Gangs, soziale Un- terschiede, familiäre Vernachlässigung und familiären Behandelte Werke Zusammenhalt. Čefurji raus! behandelt die Migrationsthematik am Bei- spiel des Jugendlichen Marko und seiner Auseinander- Die folgenden Berichte stellen dar, wie in den einzelnen setzung mit dem Erwachsenwerden, seiner Identität, Fächern an den Projektzielen gearbeitet wurde. Es war den Eltern, den Vorurteilen seiner Umwelt. Er ist ein spannend für uns zu sehen, welche Zugänge zum Thema talentierter Basketballer, hört aber mit dem Training aus den einzelnen literarischen Werken heraus entwickelt auf und sitzt lieber mit seinen Freunden im Laibacher wurden. Stadtteil Fužine herum. Sein Vater schickt ihn daraufhin nach Bosnien, damit er das dortige Leben kennenlernt. Vojnović bedient sich der sprachlichen Ausdrucksweise 2. Das Projekt im Slowenischunterricht seines Protagonisten und schreibt in einer sehr realitäts- (Dir. Dr. Mag. Miha Vrbinc) nahen Mischsprache aus Slowenisch und Bosnisch. Es ist ein komplexes Bild der MigrantInnen und ihrer Proble- Im Rahmen des Leseprojekts „Sich in die Welt hinaus le- me, mit viel bittersüßem Humor, wobei die Verantwor- sen“ wurde im Slowenisch-Unterricht der Roman Čefurji tung aller für das Zusammenleben hervorgehoben wird. raus! von Goran Vojnović gelesen und bearbeitet. Die Verleihung des Kresnik-Preises für den besten slowe- nischen Roman des Jahres 2009 bedeutet eine besondere Gründe für die Auswahl dieses Textes Anerkennung, die auch zu kontroversen Diskussionen eine sehr erfolgreiche Rezeption im slowenischen geführt hat. Literaturraum Thematik: Jugendlicher mit Migrationshintergrund – Paradiesische Aussichten ist ein leicht lesbarer Jugendro- Miteinander-Leben, Entwurzelung man über das Alltagsleben in einer Pariser Vorstadt, er- Sprache: Sprachmischungen von Bosnisch und zählt aus der Perspektive der 15-jährigen Doria, die sich Slowenisch – literarischer Umgang damit ihren Platz/ihre Identität zwischen ihrer Herkunftskultur „Bildungsroman“, „Episodenroman“ und der Kultur des Einwanderungslandes suchen muss. Umgang mit Volksgruppen, MigrantInnen am Beispiel der Schreibung von Familiennamen in Dokumenten Tauben fliegen auf erhielt 2010 den Deutschen Buch- preis. Es ist ein anspruchsvoller Roman über eine ungari- sche Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien, die sich in Themenkreise der Schweiz emporarbeitet und sozusagen integriert. Die Goran Vojnović verfasst Kolumnen auf beiden Töchter wachsen im Dazwischen auf, sie erleben www.dnevnik.si – Textsorte Kommentar, Leserbrief durch Erzählungen, Briefe und Anrufe aus der Distanz Sprache und Sprachvarianten: den Balkankrieg mit, Fremdes wird Eigenes, Eigenes wird Soziolekte – Dialekte – Standardsprache fremd. Minderheiten- und Migrationsproblematik: Roma im 57
PROJEKTE Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte und Konflikte Burgenland, die slowenische Volksgruppe in Italien, 3. Das Projekt im Deutschunterricht bosnische MigrantInnen in Slowenien (Prof. Mag. Andrea Zikulnig) Bearbeitung Im Deutschunterricht wurden Faiza Guènes Jugend- Einzellektüre roman Paradiesische Aussichten, Melinda Nadj Abonjis gemeinsame Lektüre Roman Tauben fliegen auf und der Film Almanya behan- Diskussion delt. Gruppenarbeit: Bearbeitung von Zeitungstexten über den Roman Čefurji raus! Wichtige Kriterien für die Auswahl der Lektüre waren Erarbeitung eines Fragebogens die Überlegungen, dass Werkstättenprojekt die SchülerInnen lesend Gegenwelten kennen Während der Austauschwoche mit dem Vega-Gymna- lernen sollen sium aus Ljubljana wurde im Rahmen des Unterrichts ihnen der Zugang durch eine teilweise Identifikation ein Werkstättenprojekt durchgeführt: Dabei wurden mit jugendlichen Ich-ErzählerInnen leichter fällt. die SchülerInnen in gemischte Gruppen geteilt und ab- solvierten einen Stationenbetrieb: Im Workshop hörten sich die SchülerInnen das Märchen Rotkäppchen im slo- Arbeit mit den Büchern wenischen Gailtaler Dialekt an; anhand einer Karte der Faiza Guènes Jugendromanbestseller Kiffe kiffe demain, Gemeinde Schiefling/Škofiče wurde ihnen das Sammeln der im Milieu maghrebinischer Einwanderer in der Pari- und Aufzeichnen von slowenischen Haus- und Flurna- ser Banlieue spielt, liegt in deutscher Übersetzung (Para- men erklärt. Gruppenweise wurde ein Deutsch- bzw. Ita- diesische Aussichten) in einer Textausgabe mit Materiali- lienischkurs durchgeführt. en, Arbeitsheft und Informationen für LehrerInnen vor. Zum Roman von Goran Vojnović gab es einen Fragebo- Ausgehend von einer vergleichenden Analyse der Titelsei- gen, der in gemischten Kleingruppen bearbeitet wurde. ten der französischen und deutschen Ausgabe wurde ver- Aus den Ergebnissen dieser Fragebögen ist ersichtlich, sucht, die Erwartungshaltung der jungen LeserInnen in dass den SchülerInnen aus Ljubljana der Roman durch- Frankreich und im deutschsprachigen Raum zu beschrei- wegs bekannt war, gelesen haben ihn aber nur wenige. ben. Gelesen wurde das Werk zuhause. Anschließend Informationen über den Text erhielten sie aus den Medi- bearbeiteten die SchülerInnen in Gruppen verschiedene en, in denen der Roman – aufgrund seines Leseerfolges Themenkreise: den historisch-politischen Hintergrund, – intensiv behandelt worden war. Bezugspunkte zum In- die soziale Problematik in den Pariser Vororten und die halt – MigrantInnen in Ljubljana, vor allem im Stadtteil Antwort der Politik, die Sprache des Jugendromans, die Fužine – konnten hergestellt, jedoch nicht mit eigenen Erzählperspektive, Eigenes und Fremdes in der Welt der Begegnungserfahrungen verknüpft werden. Erzählerin Doria. Bei der Präsentation des Romans wurde vor allem der In- Melinda Nadj Abonjis Roman Tauben fliegen auf, der halt – Entwicklung der Hauptfigur – vorgestellt und auf Erfahrungen von Einwanderern aus dem ehemaligen Ju- die Schwierigkeiten beim Lesen – der Roman ist in einer goslawien in der Schweiz behandelt, wurde zwar auf die eigenständigen, die Sprachwirklichkeit der Protagonis- Leseliste gesetzt, aber von den meisten SchülerInnen als ten abbildenden Sprache verfasst – hingewiesen. Grundlage für eine vertiefende Auseinandersetzung ab- gelehnt. Einigen erschien es als „zu schwierig“, anderen Bei diesem Roman ist es sehr wichtig, sich vor allem auf als „zu fad“. Aus dem Fragebogen zum Abschluss des Pro- die verwendete Sprache »einzulassen«, da sie ein wich- jekts jedoch geht hervor, dass etwa die Hälfte der Klasse tiges Abbild der Lebenswirklichkeiten darstellt. Insofern das Buch (aus Neugierde?) gelesen hat. konnte durch die (slowenisch-deutsche bzw. slowenisch- italienische) Zweisprachigkeit der SchülerInnen stärker Da Jugendkultur heute wesentlich durch Filme und Mu- darauf eingegangen werden; SchülerInnen, die Slowe- sik geprägt wird, wurde das dritte Immigrantenschicksal nisch als Zweit- oder Drittsprache lernen, hatten hierbei mit Almanya erarbeitet, einer Filmkomödie über die Ein- eher Verständnisschwierigkeiten. Thematisch konnte der wanderung türkischer Arbeiter in den sechziger Jahren Roman in das Gesamtthema Migration eingeordnet wer- nach Deutschland. den. Zunächst wurden bereits in der 5. Klasse erworbene Kenntnisse über die Sprache des Films wiederholt und 58
Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte und Konflikte PROJEKTE anhand eines Beobachtungsbogens Erzähltechnik, filmi- 4. Das Projekt im Englischunterricht sche Mittel und die zentralen Themen des Films bear- (Prof. Mag. Vera Wutti-Incko) beitet. Im Zentrum des Englisch-Projektes stand das Buch von Im Mittelpunkt standen die humorvolle Darstellung von Susan Hinton: The Outsiders. deutsch-türkischen und türkisch-deutschen Klischees und die Antworten der einzelnen Mitglieder der Familie Gründe für die Auswahl dieses Textes auf die Frage der eigenen Identität. Sehr geeignet für die 6. Klasse (10. Schulstufe), in der nur 2 Wochenstunden Englischunterricht stattfinden. Wie bereits erwähnt, entstand durch die intensive Be- Sehr geeignet für eine Klasse mit hohem Buben-Anteil, schäftigung mit der Lektüre eine eigene Dynamik. In den da die Protagonisten aus dieser Gruppe sind, und viele Schulalltag wurden Veranstaltungen zu Themenkreisen Themen im Focus sind, die Buben stark ansprechen. „Migration“, „Fremdsein“, „Leben in mehreren Kulturen“ Interessante Impulse die Methodik betreffend und und „Leben am Rande der Gesellschaft“ integriert: sehr gute Arbeitsblätter aus einem Begleitheft stehen zur Verfügung. IMPORT/EXPORT – eine Schreibwerkstatt mit Ernst Schmiederer in Zusammenarbeit mit dem Verlag Wieser. Im Zentrum standen folgende Themen und die Erörte- Thema: Autobiografisches Schreiben, Erzählungen von rung folgender Haltungen: Migration und Mobilität, Wir. Berichte aus dem neuen Perspektivenwechsel: Wie sieht ein Sachverhalt aus OE, www.wirberichten.at dem Blickwinkel der verschiedenen Protagonisten aus? Kann ich das Verhalten der anderen nachvollziehen/ Wanderausstellung Migration on Tour (Demokratie- verstehen? zentrum Wien und Initiative Minderheiten) mit Füh- Erarbeiten von Unterschieden und Gemeinsamkeiten rung in der Aula der Universität Klagenfurt (www.mig- der Mitglieder der zwei verfeindeten Gangs rationontour.at, www.demokratiezentrum.org) Entstehen von Vorurteilen/Stereotypen Thema: Aktuelle Zuwanderungstrends und historische Strukturelle Gewalt führt zu gesteigerter Migrationsmuster, Asyl, Aufenthalts-und Arbeitsrecht, Aggression Jugendlicher Einbürgerungspolitik und Integration Zur Dokumentation aller Arbeitsschritte und des bearbeiteten Materials gestaltete jede/r Schüler/in eine Schulveranstaltung für die Oberstufe: Gespräch mit eigene Arbeitsmappe als Vorbereitung für die mündli- Harry Stojka über Roma in Österreich (3.11.2012) che Matura. Als Abschluss: Film „The Outsiders“ Schularbeit: Vier von zehn Jungen sagen: Schularbeit: Erörterung zu Beispielen aus dem Text „Zu viele Türken“ http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/ Es zeigte sich, dass diejenigen SchülerInnen, die während 716836/vier-von-zehn-Jungen-sagen_Zu-viele-Tuer- des Projekts selbstverantwortlich und engagiert mitgear- ken (14.12.2011) – bifie beitet hatten, tatsächlich ein umfassenderes, tieferes Ver- ständnis für die Themen wie Gangviolence, Gewalt in Kulturkontakt, Kulturkonflikt und Zwei- und Mehr- der Familie, Wurzeln von Vorurteilen, Freundschaft und sprachigkeit sind wesentlich für unser Schulprofil und Loyalität, soziale Ungleichheit etc. bekommen hatten. prägen unseren Schulalltag. Es war daher eine willkom- mene Herausforderung für uns, den Blick „über den Tel- lerrand hinaus“ zu wagen, uns auf die Suche nach dem 5. Das Projekt im Italienischunterricht Eigenen im Fremden und dem Fremden im Eigenen zu (Prof. Mag. Cristina Santoro-Sienčnik) machen, indem wir uns lesend auf die Reise durch Le- benswelten von jugendlichen Figuren machten, die im Die Ausgangstexte im Italienischunterricht waren Text- Spannungsfeld verschiedener Kulturen heranwachsen. ausschnitte aus dem Buch Mare nero von Gianni Paris Durch die Verknüpfung der Lektüre mit Recherchen und Alessandro Bariccos Novecento. Am Projekt ha- über historisch-politische Hintergründe wurde versucht, ben auch die LehrerInnen Mag. Olga Gallob und Mag. Literatur auch als Spiegelung von Lebenswirklichkeiten Christian Sadnikar mitgewirkt. Somit war neben dem zu verstehen, die in Hörfunk, Fernsehen, Presse, Internet Fach Italienisch (1 WS) auch die Bildnerische Erziehung dem jeweiligen Medium entsprechend aufbereitet und – Immersion Italienisch (1 WS im 2. Semester) beteiligt. präsentiert werden. 59
PROJEKTE Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte und Konflikte Ziele etwa im Mittelfeld, bis auf Susan Hintons The Outsiders, Kennenlernen der Migrationsbewegungen und ein Werk, das aufgrund des straffen Spannungsbogens Beweggründe für Migration Anfang des Jahrhunderts mehr Anklang findet. Interessant ist auch, dass Melin- und heute da Nadj Abonjis Tauben fliegen auf zwar im Unterricht Entwickeln von Verständnis für Kulturen als Mosaik nicht näher bearbeitet wurde, nachdem es ein Großteil aus Erfahrungen, Gebräuchen, Traditionen, Sprachen, der männlichen Schüler abgelehnt hatte, dass aber etwa Lebensgewohnheiten, usw. die Hälfte der Klasse (wahrscheinlich die Schülerinnen, Entwicklung einer Haltung des Respekts gegenüber die begeisterte Leserinnen sind) den Roman „für sich“ Menschen, die einen anderen kulturellen Hintergrund gelesen und auch gut gefunden hat. haben Erkennen des Wertes der kulturellen Identität Meinungen der beteiligten SchülerInnen Auseinandersetzung mit den eigenen Werten und Durch dieses Projekt/ Od tega projekta… der eigenen kulturellen Herkunft haben wir viel Neues über Migration und Bereicherung des Wortschatzes MigrantInnen gelernt. Verbesserung der Lese- und Schreib- und smo zvedeli več o imigraciji in imigrantih. Sprachkompetenz in Italienisch sind wir aufmerksamer für Stereotype und versuchen, Vorurteile gegen andere Kulturen, Sprachen und Reli- Den Verlauf des Projekts in 15 Einheiten siehe im An- gionen zu vermeiden. hang. smo bili razočarani o slabih izkušnjah migrantov. schauen wir mit anderen Augen auf die Welt. smo se soočali z zgodbami njihovega trpljenja. 6. Bildnerische Erziehung The project has given us access to other cultures. (Prof. Kristijan Sadnikar, Prof. Mag. Cristina Santoro- e ha aperto la nostra mente, rispetto a nuove realtà, Sienčnik) non sempre piacevoli. In diesem Fach wurde die Power-Point-Präsentation im Die Eigendynamik des Projekts ist eine positive Er- Rahmen der Gesamtpräsentation aller Schulprojekte fahrung, die uns alle – SchülerInnen wie LehrerInnen (20. April 2012) vorbereitet: – überrascht hat. Ein zentraler Punkt dabei war der ge- genseitige Austausch über die Werke, die wir ausgewählt a) Jede/r Schüler/in macht sich Gedanken darüber, was hatten. Dadurch erschien die Einbindung von thema- in einem bestimmten Fach gemacht wurde bzw. was sie/ tisch passenden Veranstaltungen allen sinnvoll und er- er mitnehmen konnte, was sie/ihn besonders angespro- gab sich fast selbstverständlich. Die Führung durch die chen hat. Außerdem werden die SchülerInnen gebeten Ausstellung „Migration on Tour“ beispielsweise lieferte eine Reflexion über die gelesenen Werke zu schreiben. eine übersichtliche, informationsreiche Ergänzung zum literarisch bearbeiteten Phänomen der Migration. Im b) Gruppenarbeit: Jede Gruppe beschäftigt sich mit Workshop IMPORT/EXPORT mit Ernst Schmiederer einem Fach und tauscht sich mit Hilfe der oben genann- wurde durch autobiografisches Schreiben die persönliche ten Impulse über die Gestaltung der Präsentation aus. Auseinandersetzung mit dem Thema möglich. Migration wurde von so manchem Schüler/ mancher Schülerin nun c) Teile der Präsentation werden vorbereitet. Einige auch als Teil der eigenen Familiengeschichte entdeckt SchülerInnen befassen sich dann mit der Einführung und und im Klassenzimmer bewusst gemacht. Das Gespräch mit dem Schlusswort, ein EDV-technisch begabter Schü- mit Harry Stojka über Roma in Österreich lenkte die ler stellt die einzelnen Beiträge zusammen. Aufmerksamkeit der SchülerInnen auf die Situation an- derer österreichischer Minderheiten. Erst zu diesem Zeitpunkt werden allen Beteiligten das Ausmaß und die Tiefe des Projektes bewusst. Unsere Themenwahl hat sich also – nicht nur in den Au- gen der beteiligten LehrerInnen – als griffig und passend erwiesen. Migration und Kulturkontakt als Phänomene 7. Fazit zu verstehen, die eine Gesellschaft verändern und berei- chern, ist uns ein Anliegen. Wäre es allerdings bei einem Zum Abschluss des Projekts erhielten die SchülerInnen bescheideneren Projekt geblieben, hätten wir es auch in einen Reflexionsbogen, aus dem hervorgeht, dass die Fil- Ordnung gefunden. Zudem ist zu erwähnen, dass wir me und Verfilmungen am meisten Anklang gefunden ha- – in Zeiten der hektischen Vorbereitungen auf die Zen- ben. Alle ausgewählten Texte befinden sich in der Skala tralmatura – zumindest im Deutschunterricht Texte und 60
Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden: Kontakte und Konflikte PROJEKTE Textsorten für die Schularbeiten im Angebot des Bifie finden konnten, die sich ins Projekt inhaltlich einfügten. Wesentlich für die Bedeutung, die die SchülerInnen der Projektarbeit beimaßen, waren die Zusammenarbeit mit der Universität Klagenfurt, vor allem aber die Präsenta- tion im Musil-Haus, da die Jugendlichen diese wichtige Institution der erwachsenen LeserInnen-Welt für sich „erobern“ konnten. Außerdem waren unsere SchülerInnen neugierig auf die Projekt-Präsentationen ihrer Wiener AltersgenossInnen, durch die sie viele Anregungen (vor allem Buchtipps) er- hielten. Ein Termin während der Unterrichtszeit wäre al- lerdings sinnvoller gewesen, da es schwierig war, die auch in ihrer Freizeit kulturell und sportlich aktiven Schüle- rInnen für den Freitagnachmittag zu gewinnen. Es hat sich herausgestellt, dass ein einfaches Konzept – nämlich die Klassenlektüre in den einzelnen Sprachfä- chern auf ein Thema abzustimmen – für alle Beteiligten sehr ertragreich sein kann. Dieses simple „Rezept“ emp- fehlen wir interessierten KollegInnen weiter. Literatur Baricco, Alessandro (1994): Novecento. Mailand: Feltrinelli. Guastalla, Carlo (2001): Giocare con la letteratura.Firenze: Alma edizioni. Guène, Faïza (2004): Kiffe kiffe demain. Paris: Hachette Littérature. Guène, Faïza (2009): Paradiesische Aussichten. Aus dem Franzö- sischen von Anja Nattefort. Diesterweg: Westermann Schrödel. (=Texte. Medien. Hrsg. v. Annett Davideit, Peter Petrovi. Textaus gabe mit Materialien) Hinton, Susan (2000): The Outsiders. USA: Penguin. Paris, Gianni (2006): Mare nero. Milano: Ediarco (= collana L’Italia che guarda). Vojnović, Goran (2008): Čefurji raus! Ljubljana: Študentska založba. Weblinks [alle Zugriff am 30.10.2012] http://www.almanya.de www.demokratiezentrum.org http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/716836/vier- von-zehn-Jungen-sagen_Zu-viele-Tuerken www.dnevnik.si info@importundexport.at www.migrationontour.at http://www.sehinton.com www.wirberichten.at http://homepage.univie.ac.at/elisabeth.reif/IKL%20Handbuch.pdf 61
PROJEKTE Alexandra Mundweil, Claudia Soukup Sich in die Fremde hineinschreiben. Sprache ist nicht nur Sprache. Leben und Schreiben in einer neuen Welt STECKBRIEF Das Projekt Sich in die Fremde hineinschreiben Schule BG 18 Klostergasse Klostergasse 25, Wien Klasse / SchülerInnen 7b (14 SchülerInnen) Teilnehmende Fächer Deutsch, Englischh Projektleitung Alexandra Mundweil, Claudia Soukup 1. Einführung und Ausgangssituation geschärft werden. Dies erscheint doch in einer multikul- turellen Gesellschaft und somit auch im Schulumfeld als Die Klasse 7b wird mit Englisch als Schwerpunkt geführt, extrem wichtig. Eine wesentliche Fragestellung war, in- d.h. dass die SchülerInnen seit der 1. Klasse Englisch als wiefern Sprache auch „Heimat“ ist. Arbeitssprache verwenden. In der Klasse sind fast aus- schließlich SchülerInnen mit Deutsch als Muttersprache Behandelte Literatur: zu finden. Im Englischunterricht wurde der Roman Girl in Trans- lation von Jean Kwok gelesen. Die Hauptfigur ist die elf- 2. Das Projekt jährige Kimberly Chang, die mit ihrer Mutter aus Hong- kong nach New York auswandert. Das Buch schildert das Das Projekt wurde vor allem in Englisch und Deutsch schwierige Leben der ZuwandererInnen, die mit man- durchgeführt. Einzelne Aspekte (z.B. die Geschichte gelnden Sprachkenntnissen in einer völlig fremden Welt Hong Kongs und die Geschichte Bulgariens bzw. des ohne Geld zurechtkommen müssen. (vgl. dazu www. ehemaligen Ostblocks) wurden auch in Geschichte und amazon.de) Politische Bildung erarbeitet. Im Deutschunterricht stand Dimitré Dinevs Erzählband Globalisierung war in dieser Klasse bereits zu einem Ein Licht über dem Kopf im Zentrum. Die Geschichten früheren Zeitpunkt im Geographieunterricht ein we- drehen sich um Menschen unterschiedlichster Herkunft, sentlicher Themenschwerpunkt. Somit konnte in der wechselnde Schauplätze und Lebenssituationen. Wie Auseinandersetzung mit der ausgewählten Literatur auf es ist, an der Grenze zu leben, immer unterwegs zu sein beachtliches Hintergrundwissen der SchülerInnen zu- und seines Selbst nicht sicher zu sein, erzählt Dinev „mit rückgegriffen werden. viel Humor in einer ebenso prägnanten wie poetischen Sprache“, indem er auch „den Heimatlosen eine Sprache Lehr- und Lernziele [gibt]“. (vgl. http://www.hanser-literaturverlage.de) Wir wollten in dem Projekt aufzeigen, wie Kultur und Diese beiden Bücher wurden parallel in Englisch und vor allem Sprache unsere Wahrnehmung prägen. Deutsch erarbeitet. Darüber hinaus sollte die Aufmerksamkeit auf kulturel- le Missverständnisse gelenkt und das Bewusstsein dafür 62
Sich in die Fremde hineinschreiben. PROJEKTE 3. Der Projektablauf im Englischunterricht Kim, her mother and Matt: in the musical (Claudia Soukup) instrument store (pp. 170 – 171) Kim and Annette: talk about Kim’s home and Im Zentrum des Unterrichts stand Jean Kwoks Girl in the factory (pp. 178 – 180) Translation. In diesem Buch geht es um ein Mädchen Kim, Matt and his father: at the gambling table aus Hong Kong, das mit seiner Mutter nach New York (pp. 192 – 195) kommt. Die Mutter spricht überhaupt kein Englisch, das Mädchen nur ein paar Brocken. 3.3 Dritte Einheit (dritte Woche, drittes Drittel) Methoden Partnerarbeit Es wurden diverse Methoden aus der Dramapädagogik Kurzbeschreibung (ein paar Wörter bis maximal ein – drama in education – angewandt. Diese ermöglichen Satz) von 10 key scenes aus dem letzten Drittel in chro- ein direktes Erleben, nehmen Bezug auf Vorkenntnisse nologischer Reihenfolge der SchülerInnen, machen Erfahrungen erlebbar und Diese werden von der Lehrerin gesammelt und dienen lassen die SchülerInnen zu AkteurInnen werden. All dies als Basis für einen Schnelldurchlauf des Geschehens. erfolgte in einer Mischung aus Einzel-, Paar- und Grup- penarbeit. Methode SchülerInnen im Kreis, zählen auf drei durch; Lehrerin 3.1 Erste Einheit (erste Woche, erstes Drittel) liest key scene vor und nennt dazu eine Zahl (1 bis 3), alle SchülerInnen mit dieser Zahl müssen in der Mit- Bearbeitung der Ausschnitte anhand des Arbeitsblattes te des Kreises (ohne Absprache) diese Szene in einem in Partnerarbeit (siehe Anhang) Standbild darstellen. Dabei ist der Kreis in ständiger Überprüfung von Leseverständnis; Bewegung, damit alle anderen die Möglichkeit haben, Interpretationsarbeit das Standbild von allen Seiten zu betrachten. Auf Hin- erstes Eingehen auf kulturelle Unterschiede, weis der Lehrerin löst sich Standbild wieder auf und die kulturelle Missverständnisse, culture clash nächste Szene wird aufgerufen. zusätzliche Erkenntnis: Sprache ist mehr als ein reines Verständigungsmittel (z. B. erscheint uns die chi- Mit dieser Methode kann man einen bereits bekannten nesische Sprache viel blumiger, es wird viel mehr um- Text im Schnelldurchlauf noch einmal für alle vergegen- schrieben, weniger direkt angesprochen – dies spiegelt wärtigen. Die SchülerInnen müssen dabei präsent sein sich auch im Verhalten wider) und agieren bzw. erleben Szenen als ZuschauerInnen. 3.2 Zweite Einheit (zweite Woche, zweites Drittel) Zusätzlich In Zweier- oder Dreiergruppen ziehen die SchülerInnen Lektüre und Besprechung der Texte Cultural Misunder- von der Lehrerin ausgewählte Szenen, die sie nach Vor- standings und Resolve cross-cultural misunderstandings bereitung vorführen müssen. Dabei geht es nicht darum, (siehe unter http://www.psychologytoday.com und Texte auswendig zu lernen (oft sind die Dialoge sowieso http://sielearning.tafensw.edu.au/MCS/9362/Sterilisa- nicht im Text ausgeführt), sondern darum, sich in die tion%20disk%203/lo/7374/7374_00.htm). Szene hineinzuversetzen (dabei befassen sich die Schüler- Innen noch einmal intensiv mit der Situation). Bezugnahme auf den Film Almanya, den die Klasse gese- hen hat und dessen Inhalte sowohl in Deutsch als auch in Ausgewählte Szenen: Englisch besprochen und aufgearbeitet wurden. Dr. Weston and Kimberly: the first interview (pp. 103 – 106) Kimberly, her mother and Aunt Paula: the arrival 4. Projektablauf im Deutschunterricht of the acceptance letter (pp. 113 – 115) (Alexandra Mundweil) Kimberly, her mother and sales assistant: at Macy’s (pp. 136 – 138) Im Deutschunterricht wurde der Erzählband Ein Licht Kimberly and Aunt Paula: dinner at Aunt Paula’s über dem Kopf von Dimitré Dinev gelesen. Zusätzlich house (pp. 142 – 143) zu dieser Lektüre wurde Dimitré Dinevs biografischer Dr. Copeland, Kim and Curt: the cheating episode Hintergrund beleuchtet. Besonderes Augenmerk wurde (pp. 150 – 152) dabei auf die Tatsache gelegt, dass er seine Werke in deut- scher Sprache schreibt und veröffentlicht. 63
PROJEKTE Sich in die Fremde hineinschreiben. 4.1 Erste Projektphase wenn man sich beim Rasieren schneidet, gebraucht man die Muttersprache.“ (Eddie Constantine (1917-93), frz. Im Zuge der Auseinandersetzung mit diesem Schriftstel- Schauspieler) ler widmeten wir uns auch der allgemeinen Analyse der Funktionen literarischen Schreibens: Wozu schreiben „Mit jeder Sprache, die du erlernst, befreist du einen bis da- Menschen? her in dir gebundenen Geist.“ (Friedrich Rückert (1788- 1866), dt. Dichter) Unter anderem wurden dabei folgende Motive bespro- chen: „Sprache ist keine Heimat, man nimmt eine Sprache ja mit in ein anderes Land.“ (Herta Müller (*1953), Literatur- a) Literatur, die einen Zweck verfolgt: Nobelpreisträgerin) Selbstfindung / Selbstentäußerung (sich etwas „Ich habe entschieden deutsch zu schreiben, weil das die „von der Seele schreiben“) Sprache ist, mit der ich beschimpft und geliebt werde, die Kritik / Aufklärung (provozieren, aufmerksam Sprache, mit der ich mein Brot kaufe und meine Arbeit ge- machen, verstören, irritieren) sucht habe – und vor allem die Sprache, die ich jeden Tag Erinnerung („Literatur als Gedächtnisort“) auf der Straße höre!“ (Dimitré Dinev) Beispiel geben / belehren (?) Unterhaltung / Entspannung (aus der Realität 4.2 Zweite Projektphase fliehen, in fremde Welten entführen) Geld verdienen, berühmt werden Die Begriffe „Kultur“, „kulturelle Identität“ und „Kultur- erfreuen, beeindrucken (durch Kunst, Schönheit pyramide“ wurden gemeinsam im Unterricht erarbeitet der Sprache) (s. Arbeitsblätter im Anhang und weiterführende Mate- rialien in Thaler 2010). b) zweckfreie Literatur (l’art pour l’art – Zur Ergänzung und Vertiefung wurden weiters die Be- „Die Kunst ist frei von Dienst“) griffe „Heimat“, „Identität“, „Sprache“ und auch „Migra- tionsliteratur“ definiert und erklärt. Ein Impulstext zu diesem Thema war das Interview „Le- ben retten. Dimitré Dinev über die Bedeutung von Li- Methode teratur, das gesprochene Wort und überraschendes Han- Recherchearbeit in der Schulbibliothek deln“ (in: Die Furche, 22.07.2004). Die anschließenden Präsentationen in Kleingruppen (in Form von kurzen Impulsreferaten) boten Raum für Für Dimitré Dinev ist die Sprache der Inbegriff für Hei- weitere Diskussionen. mat an sich. Als Basis für die Diskussion, was Sprache be- deutet und inwiefern Sprache auch „Heimat“ sein kann, 4.3 Dritte Projektphase dienten folgende Zitate: Im Mittelpunkt in dieser Phase stand Parallelen, ein „Es ist ein langer Weg, bis man in die Fremde gelangt, aber Kurzspielfilm (1995; 6 Minuten) von Sawat Ghaleb. (vgl. noch länger ist der Weg der Hand bis zur Feder. Sollte man http://www.filmeeinewelt.ch/deutsch/files/40175.pdf ) aber auch diesen gehen und das erste Wort niederschreiben und danach das nächste, bis das Blatt genauso schwarz wie Methode: weiß ist, sollte man also eines Tages doch in der Fremde Besprechung und Interpretation des Films. weiterschreiben, oder auch erst damit beginnen, dann hat Was sind Vorurteile? Woher kommen sie? Inwiefern man das begriffen, was jeder Autor irgendwann erfährt, lassen wir uns von unserem „ersten Eindruck“ täuschen? nämlich, dass das Wort seine Heimat ist.“ (Dinev 2004, S. Formen der Kommunikation – verbal vs. nonverbal 210) Weiteres Beispiel: Angelika Obert: Ein Fall von Ausländerfeindlichkeit (s. Arbeitsblatt im Anhang) „Jede neue Sprache ist wie ein offenes Fenster, das einen Kreatives Schreiben (sich in andere Menschen neuen Ausblick auf die Welt eröffnet und die Lebensauffas- und fremde Situationen hineinversetzen) sung weitet.“ (Frank Harris (1856-1931), amerik. Schrift- steller) „Man kann noch so viele Fremdsprachen beherrschen – 64
Sich in die Fremde hineinschreiben. PROJEKTE 4.4 Abschluss Den Abschluss des Projekts bildete eine schriftliche Re- flexion der Thematik anhand eines weiteren Impulstextes von Dimitré Dinev: In der Fremde schreiben. 5. Fazit Das Projekt „Sich in die fremde Welt hinein schreiben“ war sehr anspruchsvoll, da sich die SchülerInnen sehr in- tensiv mit den unterschiedlichsten Aspekten des Themas beschäftigen und verschiedene Perspektiven in der Aus- einandersetzung mit der ausgewählten Literatur in Be- tracht ziehen mussten. Gleichzeitig wurde das Projekt mit großer Begeisterung und viel Engagement angenommen. Unser Ziel, das Bewusstsein für kulturelle Unterschiede zu schärfen, haben wir auf jeden Fall erreicht. Auch ist ein Gefühl dafür entstanden, wie schwierig es ist, nicht nur in einer neuen Heimat, sondern darüber hinaus auch in einer neuen Sprache Fuß zu fassen. Literatur Dimitré Dinev (2004): „In der Fremde schreiben“. In: Klaus Schenk (Hrsg): Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne. Tübingen, Basel: Fancke; S. 210 Dinev, Dimitré (2006): In der Fremde schreiben. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Literatur und Migration. Sonderband text + kritik IX, S. 209 f. Dinev, Dimitré (2007): Ein Licht über dem Kopf. München: btb. Duden (2007): Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deut- schen Sprache. Duden Bd. 7. Mannheim: Dudenverlag. Kwok, Jean (2010): Girl in Translation. Riverhead Obert, Angelika (o.J.): Ein Fall von Ausländerfeindlichkeit. (http://www.filmeeinewelt.ch/deutsch/files/40175.pdf ) Thaler, Karin (Hrsg., 2010): Praxismappe Globales Lernen. Globali- sierung verstehen: Menschen – Märkte – Politik. Methoden für den Unterricht (Sekundarstufe II). Wien BMUKK/ BAOBAB. Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner 1991. Schwens-Harrant, Brigitte (2004): „Leben retten. Dimitré Dinev über die Bedeutung von Literatur, das gesprochene Wort und überra- schendes Handeln“. In: Die Furche, 22.07.2004. Links [Zugriff am 30.10.2012] http://www.psychologytoday.com http://www.hanser-literaturverlage.de/buecher/buch. html?isbn=978-3-552-06000-5 http://www.filmeeinewelt.ch/deutsch/files/40175.pdf http://sielearning.tafensw.edu.au. 65
PROJEKTE Sabine Fuchs In die Welt lesen – Das Tor zur Welt durchschreiten STECKBRIEF Das Projekt In die Welt lesen - das Tor zur Welt durchschreiten Schule BHAK Bruck/Mur Universität Graz Klasse / SchülerInnen 3. und 4. Klasse (eine studentische Gruppe) Teilnehmende Fächer Deutsch Projektleitung Dr. Sabine Fuchs „Lesen ist neben anderen Dingen vor allem zweierlei: um für den Ballonflug der Literatur die erdende Basis zu Entwicklungspsychologisch ist es ein Schritt in Richtung liefern. Die unterschiedlichen Arbeitsaufträge, Gruppen- persönliche Autonomie, der in seiner Tragweite nur mit arbeiten2 und auch klassenübergreifende Aktionen über dem Laufen Lernen und mit dem Spracherwerb ver- MOODLE sollten die Erkundungen möglichst abwechs- gleichbar ist. Geradeso wie das freie Gehen die unterstüt- lungsreich machen. zende Hand der Eltern überflüssig macht und das eigene Sprechen die exklusiven Dolmetscherrechte von Mutter Die Beschäftigung mit literarischen und faktischen Tex- und Vater erlöschen lässt, öffnet die Fähigkeit zu lesen ten sollte mehrere Kompetenzen der SchülerInnen festi- erst eigentlich das Tor zur Welt“ (Hochgatterer 2012, gen: Texte formal und inhaltlich erschließen (z.B. Text- S. 83f.) Besser als Paulus Hochgatterer es in seiner Züri- analyse), sich mit Texten kritisch auseinandersetzen (z.B. cher Poetikvorlesung tut, kann das Potential des Lesens Interpretation), Texte in Kontexten verstehen (z.B. Text- nicht beschrieben werden. Wenn also das Lesen das Tor vergleich), Texte verfassen und einfache wissenschaftliche zu Welt öffnet, dann gehen wir mit Literatur in diese hi- Techniken anwenden (z.B. Zitierregeln). Produktorien- nein. Und diesen Ausflug in fremde Welten habe ich mit tierte Aufgaben sollten es den SchülerInnen erleichtern, meinen SchülerInnen und StudentInnen unternommen. literarische Verfahrensweisen durch eigenes kreatives Hier nun der Reise- bzw. Lesebericht. Schreiben zu erkennen. Für die Einübung all dieser Kom- petenzen aus den Bereichen Lesen und Schreiben habe ich den Deutschunterricht, der an den Handelsakade- 1. SchülerInnenreise in die neuere deutschsprachige Literatur mien auch den Kulturbereich3 abdeckt, fast das gesamte (mit Abzweigungen) erste Schulhalbjahr unter das Motto „In die Welt lesen“ gesetzt. 1.1 Vorbereitungen 1.2 Die didaktische Route4 Die SchülerInnen einer dritten und vierten Klasse an der Bundeshandelsakademie Bruck/Mur1 sind nicht gerade Die Aufgabenformate sind so gewählt, dass schon Gelern- die begeisterten Reisenden in Sachen Literatur. Für sie tes und individuelle Stärken ebenso zum Tragen kommen – wobei einige von ihnen selbst oder ihre Eltern Mig- wie das Einüben in Neues, bekannte Schreibaufgaben mit rantInnen sind – suchte ich Literatur, die entweder von ungewöhnlicher Thematik sollen mit erst zu Übendem Migration erzählt oder von MigrantInnen geschrieben ergänzt werden. wurde. Zugleich stellte ich Unterlagen, die den Status- Quo der Migration von Österreich beschreiben, bereit, Ausgehend von subjektiven Erfahrungen, Einstellungen 66
In die Welt lesen – Das Tor zur Welt durchschreiten PROJEKTE zum „Fremden“ führt der Weg über die Erarbeitung so- Staniši, Der Klang der Fremde von Kim Thúy, Scher- wohl neuer Informationen als auch Empathie ermögli- benpark von Alina Bronsky und Tschick von Herrndorf chendes Lesen von Literatur hin zu einem reflektierten boten den ersten Eindruck für die weitere Lektüre. Ein Wissen, das sich in den Texten spiegelt. Ein individuelles weiteres Buch, Die Hymne auf ein liederliches Leben, Lesetagebuch soll die aufmerksame Lektüre erleichtern, kam über eine Lesung des Autors Francesco Madeo, der Schwierigkeiten mit dem Text dokumentieren und für besonders die jungen ZuhörerInnen in seinen Bann zog, spätere Diskussionen und Arbeiten zur Verfügung stellen. hinzu. Erworbene Schreibroutinen, wie z.B. das Wie einer um- fassenden Charakterisierung, einer Zusammenfassung, Behandelte Literatur die Zuhilfenahme schon geübter kreativer Techniken wie der Mind-map, Brain-Storming erleichtern das Erlernen Alina Bronskys Scherbenpark handelt von Sascha Nai- und Trainieren neuer Schreibhandlungen. Dazu zählen mann, einem siebzehnjährigen Mädchen, das trotz ihres die Analyse und Interpretation fiktionaler Texte sowie jungen Alters schon eine richtige Erwachsene ist. Nach die Rezension. Produktive Texterschließungsstrategien der tragischen Ermordung ihrer Mutter und deren Le- (Paralleltext, Leerstellen füllen, Vor- bzw. Nachgeschich- bensgefährten muss sie sich, zwar mit Hilfe einer Tante, te schreiben) sollen vor allem das schon etablierte eigene aber allein mit ihren zwei kleineren Geschwistern durch Konzept aufbrechen und den individuellen Zugang ver- das Leben kämpfen. Die Familie ist ursprünglich aus schriftlichen, aber auch das Kopieren von schon existie- Moskau und lebt in Deutschland im „Scherbenpark“ renden Texten (Inhaltsangaben auf den Homepages) aus- in einem Hochhaus-Ghetto. Ihre tragische Lebensge- schließen. Durch das Feed-back der Gruppenmitglieder schichte will sie in einem Buch verarbeiten, das sie mit als auch durch meine Rückmeldungen zu den einzelnen zwei harten Vorsätzen beginnt: Sie will ihrer Mutter ein Texten soll eine Überarbeitung der eigenen Texte forciert Buch schreiben, und sie will Vadim töten. Das Buch ist werden. Wie weit sich nun das subjektive Konzept über aber auch ein Weg zu sich selbst. die zusätzlichen Informationen und die praktische Text- arbeit erweitert oder gar verändert hat, kann über eine Wie der Soldat das Grammophon repariert beginnt mit der ernsthafte schriftliche Reflexion des gesamten Prozesses Flucht des jungen Aleksandar und seiner Eltern aus dem für den Lernenden selbst und für mich als Lehrperson vom Bürgerkrieg heimgesuchten Bosnien. In den Westen sichtbar werden. versucht sich der Junge das fremde Deutschland zu er- obern. Eine Geschichte über Heimatverlust und Heimat- Eine Herausforderung - sowohl für mich als auch für die suche und nicht zuletzt über die Kraft des Erzählens. (vgl. SchülerInnen - stellt die klassenübergreifende Diskussion http://www.amazon.de/gp/offer-listing/3630872425/ über die Einschätzung von Literatur nach Lektüre in zwei ref=dp_olp_used?ie=UTF8&condition=used) Unterrichtsstunden dar. Das Verfahren greift alltägliche Routinen auf (Chatten), stellt sie aber in einen neuen In Der Klang der Fremde flieht die zehnjährige Kim mit Kontext, d.h. vor allem, den SchülerInnen wird bewusst, ihrer Familie aus Vietnam. Stationen der „abenteuerli- dass ihre Meldungen zum „Unterricht“ zählen wie eine chen Odyssee“ sind ein Flüchtlingslager, das weite Meer Aufgabe und deshalb reflektierter sein sollten. und schließlich Kanada, wo sie eine neue Heimat finden. Ein Roman über Flucht, Vertreibung, Mut, Schmerz und Einige der Instruktionen sind als COOL-Aufträge nach- Lust der Erinnerung. (vgl. http://www.amazon.de/Der- lesbar, viele andere sind mündlich als Hausübung bzw. als Klang-Fremde-Kim-Th%C3%BAy/dp/3888976790/ Aufgabenstellungen im Unterricht nicht grafisch doku- ref=sr_1_sc_1?s=books&ie=UTF8&qid=1363883383 mentiert. Prinzipiell bestehen die Instruktionen aus einer &sr=1-1-spell) individuellen Denkleistung (mit Notizen) – d.h. der Pro- zess ist für alle verbindlich – gefolgt von Recherche oder In Wolfgang Herrndorfs Jugendroman Tschik scheint es Vergleichen mit den KollegInnen und abschließend einer zunächst, dass Maik seinen Sommer allein verbringen produktorientierten Aufgabenstellung (allein, im Unter- muss, dann kommt aber Tschick, mit dem er ein richtiges richt auch zu zweit oder in der Gruppe). Sommerabenteuer erlebt: Mit einem geklauten Auto ma- chen sie sich auf eine Reise quer durch Ostdeutschland 1.3 Die Reise und erfahren dabei, was wirkliche Freundschaft ist. Um für jede/n Schüler/in eine möglichst individuelle Besonders der Beginn von Der Klang der Fremde (siehe Lektüre zu ermöglichen, startete das Projekt mit einem Kasten) bietet sich an, daraus Informationen zu erschlie- Auswahlverfahren. Die Anfänge mehrerer Bücher, näm- ßen. Diese fast detektivische Arbeit machte den Schüler- lich Wie der Soldat das Grammophon repariert von Saša Innen viel Spaß und beim produktiven Part, ihre Geburt 67
PROJEKTE In die Welt lesen – Das Tor zur Welt durchschreiten in ähnlicher Weise zu verschlüsseln, wurde deutlich wie pretiert, und es wurde damit gemeinsam und individuell komplex Literatur sein kann. Das literarische Verfahren produktiv gearbeitet. Dies geschah in ganz unterschied- selbst auszuprobieren setzt voraus, die Strategien der Au- lichen Arbeitsaufträgen, so wurde z.B. in der Gruppe ein torin zu erkennen und zu durchschauen. Die SchülerIn- Brain-Storming zum Titel gemacht, das dann in einen in- nen erkannten durch das mehrmalige Überarbeiten ihrer dividuellen Text (unabhängig zum Buch) mündete (vgl. Texte nachhaltig, wie der Text seine Wirkung entfaltet. Cool Auftrag 3, siehe Anhang) An den anderen Anfängen erschlossen die SchülerIn- nen, was sie über die ProtagonistInnen schon kennen, Als weitere produktive Verfahren schrieben die Schüle- welche Vermutungen sie über das Folgende anstellen. rInnen einen Text über die Begegnung mit einer/einem Sie versuchten die Leerstellen zu füllen und besprachen der ProtagonistInnen und eine umfassende Charakte- auch den zu erahnenden Schreibstil. Aufgrund dieses ristik einer beliebigen Figur aus dem literarischen Text. ersten Zuganges bzw. der Lesung wählten die SchülerIn- Alle diese Texte greifen gesellschaftliche Themen auf, die nen ihren literarischen Text aus. In den Klassen wurden für Jugendliche interessant sind. Deshalb verfasste jede/r nun vier Bücher gelesen, womit sich automatisch bei der eine Erörterung zu einem Thema, das er/sie im Roman intensiven Beschäftigung mit den literarischen Texten als wichtig erachtet hat. Wesentlich war mir dabei, die Gruppen bildeten. Informationen aus Sachtexten Untersuchungen etc. mit den literarischen Texten in Beziehung zu setzen. „Ich kam während der Tet Offensive zur Welt, als das Jahr des Affen anfing und die vor den Häusern aufgehängten Noch vor Weihnachten kam in unserer Bibliothek der langen Knallerketten mit den Maschinengewehren im Chor Bücherkoffer des Projekts „Sich in die Welt hinauslesen“ zu knattern begannen. Ich erblickte das Licht der Welt in der Universität Klagenfurt an, sodass die SchülerInnen Saigon, wo die Reste der in tausend Stücke zerfetzten Böller drei Deutschstunden lesend in der Bibliothek verbrach- den Boden rot färbten wie Kirschblütenblätter oder das Blut ten, um dann über diesen ersten Eindruck aus dem ge- der zwei Millionen aufgebotenen Soldaten, verstreut über wählten Buch eine Kaufempfehlung (wertende Rezensi- die Städte und Dörfer eines entzweigerissenen Vietnam. Ich wurde im Schatten dieses feuerwerksgeschmückten, leucht- on) zu schreiben. Ein klassenübergreifender Austausch zu girlandenverzierten Neujahrshimmels voller Raketen und allen diesen Büchern, die gelesen oder auch nur angelesen Geschosse geboren. Meine Geburt diente dem Zweck, ver- wurden, fand über MOODLE statt. lorenes Leben zu ersetzen. Mein Leben stand in der Pflicht, das meiner Mutter fortzuführen.“ 1.4 Ankunft (Kim Thúy (2010): Der Klang der Fremde. Aus dem Franz. Den Abschluss bildete eine – redigierte – Sammlung von Andrea Alvermann u. Brigitte Große. München: Kunst- aller Arbeiten zu den Büchern mit einer Einführung mann, S. 7) (Coverletter) und einer Reflexion über den gesamten Unterrichtsprozess für das Kulturportfolio. Diese um- Parallel zur Lektüre zu Hause erforschten wir im Unter- fangreichen Portfolios, die auch von den SchülerInnen richt Sachtexte, die über Migration in Österreich berich- kommentiert wurden, belegen sowohl den individuellen teten. Dazu hatten die SchülerInnen COOL-Aufträge Prozess der Lektüre und den Schreibprozess als auch die (siehe Anhang), die sie selbständig in Gruppen erarbei- Veränderung der eigenen Einstellung zu Migration. Dass teten. Den Abschluss bildete eine Zusammenfassung der Lesen ein Tor zu Welt öffnet, ist von allen so erlebt wor- Sachtexte. den. Damit eine intensivere Beschäftigung mit allen Texten Mit diesem Unterrichtsprojekt gelang es, die Lese- und möglich ist, wurde im Unterricht die Erarbeitung von Schreibkompetenzen der SchülerInnen zu stärken und Sachtexten, die Zusammenfassung, das Besondere von inhaltlich über eigene (Vor-)Urteile, Sichtweisen nach- literarischen Texten und die Analyse bzw. Interpretati- zudenken, eigene Erfahrungen (auch zu Migration) zu on besprochen und immer wieder an Beispielen aus dem formulieren und sich auf Neues einzulassen. Deutschbuch (Eder-Hantscher et al. 2010, Module 1,4 und 11) geübt. Die Interpretation einer Kurzgeschichte war dann auch das Thema der Schularbeit. 2. Lehramts-StudentInnen und „Das Fremde in der Kinder- und Jugendliteratur“ Nach Abschluss der individuellen Lektüre, begleitet von einem Lesetagebuch, wurde nun das persönliche Erle- Schon im Jahre 2011 hatte ich beschlossen, die im Som- ben mit jenen KlassenkameradInnen besprochen, die mersemester 2012 stattfindende Lehrveranstaltung zur das gleiche Buch gelesen hatten. Der Text wurde inter- Kinder- und Jugendliteratur an der Karl-Franzens-Uni- 68
In die Welt lesen – Das Tor zur Welt durchschreiten PROJEKTE versität Graz unter das Motto „Das Fremde“ zu stellen. wurde, gab es noch – oftmals intensive und kontroverse Diese Lehrveranstaltung bietet Lehramts-StudentInnen – Diskussionen mit diesen „ExpertInnen“. Durch dieses am Institut für Germanistik einen Einblick in die Ge- Verfahren erhielten die zukünftigen LehrerInnen nicht schichte der (deutschsprachigen) Kinder- und Jugendli- nur eine umfassende Inhaltsangabe der unterschiedli- teratur immer mit einem Schwerpunktthema, fokussiert chen Bücher, sondern fundierte Einblicke in jedes der auf die aktuelle Produktion. gewählten Bücher. Besonders die Ideen für den Einsatz im Unterricht, die allen TeilnehmerInnen zur Verfügung Da viele Titel aus der Liste der Kinder- und Jugendlite- gestellt werden, bieten eine gute Grundlage für den eige- ratur, die die ProjektinitiatorInnen der Universität Kla- nen Einsatz im Unterricht. genfurt zur Verfügung stellten, nicht mehr oder nur sehr schwer erhältlich waren5, stellte ich eine aktualisierte Liste an verfügbaren Büchern, die alle „das Fremde“ in möglichst unterschiedlicher Art und Weise thematisie- ren, unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Produktion zusammen. Für die literaturwissenschaftli- chen und didaktischen Herangehensweisen kamen noch die Standardwerke zur Kinder- und Jugendliteratur und zur Literaturdidaktik sowie themenspezifische Sammel- bände, Aufsätze und Bücher dazu. Nach einigen Vorlesungseinheiten über die Geschichte der (deutschsprachigen) Kinder- und Jugendliteratur folgte eine Einführung zum „Fremden“ (in der Literatur), die eine Studentin besonders kreativ in ihrem Portfolio zusammenfasste (Abb.1 und 2.). Die anschließenden Re- ferate der StudentInnen beinhalteten eine kurze Einfüh- Abb. 2. rung zur/zum AutorIn, eine informative Inhaltsangabe, einen speziellen Blick auf die Darstellung des Fremden Durch die abgegebenen Portfolios wurde deutlich, dass im Text und die Besonderheiten des Textes. Der Kultur- die StudentInnen den Reichtum (sowohl die hohe An- transfer bei Übersetzungen wurde ebenso berücksichtigt zahl als auch die Intensität der Bearbeitung) der von wie die Entstehungszeit. ihnen gelesenen und bearbeiteten Literatur zu schätzen gelernt haben, besonders weil diese Literatur neu und un- bekannt für sie war. Viele konnten zu ihrem zweiten Un- terrichtsfach Verknüpfungen herstellen (z.B. Geschichte, Fremdsprachen, Theologie etc.). Dass gerade der fokus- sierte Blick auf das „Fremde“ für die StudentInnen an- sprechend und besonders brauchbar für ihren Unterricht erschienen ist, zeigt sich auch in den Reflexionen: „Am interessantesten erschienen mir jedoch die inneren Prozesse der Veränderung und das Bewusstwerden des eigenen Fremden. Gerade diese Auseinandersetzung mit dem Eigenen (z.B. zu Wachstums- und Pubertätserschei- nungen) lassen hohes Identifikationspotential für den Le- ser zu und machen das Lesen im Allgemeinen nahbarer. […] Speziell für diesen Zweck (Identifikation) erscheinen mir Kinder- und Jugendbücher des „Fremden“ als beson- ders geeignet, ja sogar relevant für einen weltoffenen Un- terricht.“ ( J.F., 09.07.2012) Abb. 1. „Die Auswahl an ‚brauchbarer‘ Kinder- und Jugendli- Abschließend stellten die ReferentInnen ihre Ideen für teratur ist immens. Trotzdem oder gerade aus diesem die Verwendung im Unterricht vor. Da jedes der vorge- Grund kann sich die Suche nach einem geeigneten Buch stellten Bücher auch von anderen StudentInnen gelesen als äußerst schwierig herausstellen. […] Das Fremde bie- 69
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