1.2023 www.museumsmagazin.com - Haus der Geschichte
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intro Museum und Gegenwart – im Haus der Geschichte ist das kein Widerspruch. Seit Jahrzehnten dokumentiert die Dauerausstellung in Bonn die deutsche Zeitgeschich- te und vermittelt somit die Voraussetzungen unserer Ge- genwart. Der aktuelle Bezug stellt auch für die Präsen- tationen in Berlin und Leipzig sowie für die zahlreichen Wechselausstellungen einen wichtigen Ausgangspunkt dar. Der Blick zurück erleichtert es, das Hier und Jetzt besser verstehen und einordnen zu können. Dafür ist es erforderlich, Objekte in der Gegenwart zu sammeln. Ohne das aktive Bewahren relevanter Exponate in den 1990er Jahren wäre es heute nicht möglich, das Zusam- menwachsen nach der deutschen Wiedervereinigung, den Beginn der gesellschaftlichen Digitalisierung oder die wirtschaftliche Globalisierung museal zu präsentie- ren. In den letzten Jahren ist der Aspekt des „Sammelns der Gegenwart“ immer wichtiger geworden angesichts der sich überlappenden Krisen und drastischen Einschnit- te, die längst unseren Alltag prägen. Der Krieg in der Ukraine nimmt dabei eine beson- dere Stellung ein. Ein massiver Angriffskrieg auf einen souveränen Staat inmitten Europas schien vielen bislang undenkbar. Doch die Bilder der Zerstörung und das Leid der Opfer prägen das Alltagsleben auch in Deutschland – daher sind sie für das Haus der Geschichte ein Thema. Als zeithistorisches Museum stellt sich das Haus der Geschichte der Herausforderung, diese Zäsur zu doku- mentieren und zu vermitteln. Seit Kriegsbeginn haben wir zahlreiche Objekte gesammelt, um die verschie- denen Dimensionen des Krieges und dessen Auswir- kungen auf Deutschland zu zeigen. Die Stiftung nahm Kontakt zu Geflüchteten, politischen Akteurinnen und Akteuren, Journalistinnen und Journalisten, Helferinnen und Helfern und Betroffenen auf. Die Ausstellung „Un- abhängigkeit! Fotografien aus der Ukraine 1991–2022“ im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig blickt zurück auf die Entwicklung der ukrainischen Eigenständigkeit in der Zeit vor dem Krieg – verknüpft mit aktuell gesammelten Objekten, die von der russischen Belagerung von Mariu- pol berichten. Selten ist die Gegenwart im Museum so präsent wie hier. Wir laden Sie herzlich ein, in unseren Ausstellungen den Zusammenhang von Geschichte und Gegenwart zu entdecken und zu erleben. Ihr Dr. Manfred Wichmann „Euromaidan“, „Revolution der Würde“, bezeichnet Sammlungsdirektor Proteste in der Ukraine zwischen Ende November 2013 und Februar 2014. Die Fotografie aus der Ausstellung „Unabhängigkeit! Fotografien aus der Ukraine 1991–2022“ im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig von Evgeniy Maloletka zeigt den Kiewer Unabhängigkeitsplatz am 27. November 2013.
inhalt inaussicht inbonn inleipzig inberlin Haus der Geschichte Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Museum in der Kulturbrauerei Tränenpalast Dauerausstellung Dauerausstellung Dauerausstellung Dauerausstellung Unsere Geschichte Unsere Geschichte Alltag in der DDR Tränenpalast Deutschland seit 1945 Diktatur und Demokratie Di – Fr 9 – 18 Uhr, Ort der deutschen Teilung Di – Fr 9 – 19 Uhr, nach 1945 Sa / So / Feiertag 10 – 18 Uhr Di – Fr 9 – 19 Uhr, Sa / So / Feiertag 10 – 18 Uhr Di – Fr 9 – 18 Uhr, Sa / So / Feiertag 10 – 18 Uhr Sa / So 10 – 18 Uhr 6 Unabhängigkeit! Fotografien aus der Ukraine 1991–2022 22 Bonn*e Fête Wechselausstellung Wechselausstellung Wechselausstellung #DeutschlandDigital Unabhängigkeit! „… bisschen anders, 24.3.2023 – Mai 2024 Fotografien aus der Ukraine aber genauso.“ imfokus inberlin 1991 – 2022 Kubanisch-deutsche Geschichte Kai Löffelbein: 24.2. – 2.7.2023 in DDR und BRD – 1964 bis heute 6 Unabhängigkeit! Fotografien aus der 28 Unterwegs mit Stift und Aquarellfarben Fotografien Ukraine 1991 – 2022 „Orte der Einheit“ auf Papier Schattenseiten der Rückblende 2022 Parallelausstellung Neue Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Digitalisierung: Elektroschrott in 21.3. – 23.4.2023 30 Heavy Metal in der DDR und China, Indien und Ghana ZeitzeugenFragen 12 Gesichter des Krieges Ostdeutschland 24.3.2023 – Februar 2024 Friedliche Revolution Mstyslav Chernov über den Krieg in der Ukraine Neue Wechselausstellung in Planung und Mauerfall 1989 16.3. – 21.5.2023 16 Kriegszeugnisse imbesonderen Museumsexponate aus der Ukraine Veranstaltungen Veranstaltungen Veranstaltungen Veranstaltungen 32 „Original Hitler“ inbonn Der „Stern“ präsentierte von 40 Jahren vermeintliche Hitler- Podiumsgespräch Erzählcafé Begleitungen Begleitungen Tagebücher „Ein Jahr ‚Zeitenwende‘ – Bilanz Mit Alina Artamina durch die Dauerausstellung durch die Dauerausstellung 20 Gegen Antisemitismus in Vergangenheit, und Ausblick“. U.a. mit Dr. Hans- (Vorstandsmitglied EuroMaidan Sa / So 15 Uhr (bis 26.2.) Fr 17 Uhr Gegenwart und Zukunft Dieter Heumann, Botschafter a. D. Leipzig e. V.) Sa / So 14 Uhr (neuer Turnus ab 4.3.) Englisch: 24.2., 10.3. und Holocaust-Gedenktag im Haus der Geschichte In Kooperation mit der Friedrich- 28.3.2023, 16 Uhr 24.3.2023 Naumann-Stiftung für die Freiheit späti! Leichte Sprache: 3.3., 17.3. und 22 Bonn*e Fête Anmeldung unter Leipziger Buchmesse Kultur nach Feierabend 31.3.2023 60 Jahre deutsch-französische Beziehungsgeschichten www.freiheit.org „Leipzig liest“ Begleitung mit Getränk in der 14.3.2023, 19:30 Uhr Lesungen und Vorträge Wechselausstellung „... bisschen Sa / So 15 Uhr 25 Bonjour et Bienvenue Mit Tupoka Ogette, Maria anders, aber genauso.“ Begleitung durch die Familiensonntag zur deutsch-französischen Freundschaft 36 inkürze Open Space Stepanova, Peter Wensierski Mit Kuratorin Lina Falivena Dauerausstellung Ab 26.3.2023 an ausgewählten und weiteren Gästen 16.3. und 4.5., 18 Uhr 26 „Zugespitzt“ 38 inzukunft / impressum Donnerstagen und Sonntagen Programminformationen Neue Leihausstellung der Stiftung feiert Premiere in der Wechselausstellung demnächst unter www.hdg.de Sketchwalk im Ludwig Erhard Zentrum in Fürth 39 imbilde #DeutschlandDigital 27.4. – 29.4.2023 Vom Museum in der Kulturbrauerei Diskutieren, Ausprobieren und durch den Kiez im Prenzlauer Berg Mitmachen 18.3.2023, 14 Uhr Veranstaltungen Veranstaltungen Veranstaltungen Veranstaltungen in Bonn: in Leipzig: im Museum in der im Tränenpalast: Kulturbrauerei: Besuchen Sie uns auf Facebook, Twitter und Instagram!
imfokus „Wir sind heute in einer anderen Welt aufge- wacht“, erklärte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Morgen des 24. Februar 2022. Wenige Stunden zuvor waren russische Truppen in die Ukraine einmarschiert, schlugen Ra- keten in Wohn- und Krankenhäuser, Verwaltungs- gebäude, Einkaufszentren und Schulen ein. Nun war das eingetreten, was viele Menschen bis dahin für unvorstellbar gehalten hatten: Ein europäisches Land überfiel einen seiner Nachbarstaaten. Die ver- breitete Zuversicht, dass Gewaltlosigkeit, Unver- letzlichkeit der Grenzen und Selbstbestimmung als zentrale Prinzipien der europäischen Sicherheits- ordnung allgemein anerkannt seien, erwies sich spätestens mit diesem Tag als Illusion. .. NEUE AUSSTELLUNG IM ZEITGESCHICHTLICHEN FORUM LEIPZIG UNABHANGIGKEIT! Blutgetränkte ukrainische Flagge auf dem Maidan, dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, am 20. Februar 2014, Fotografie von Petro Zadorozhny Fotografien aus der Ukraine 1991–2022 von Kornelia Lobmeier > zurück zum Inhalt museumsmagazin 1.2023 7
imfokus Donezk, Zentrum des Kohlereviers Donbass in der östlichen Ukraine, November 1994, Fotografie von Valeriy Miloserdov Seitdem verloren Zehntausende Menschen ihr Leben, nicht den Beginn, sondern eher die dramatische Zuspit- wurden Städte und Dörfer zerstört, sind Millionen auf der zung eines schon länger schwelenden Konflikts. Flucht. Die Schlagzeilen und Bilder aus der Ukraine be- Nach dem Putschversuch von Reformgegnern in stimmen unsere Nachrichten. Aufnahmen aus Butscha, Moskau, die versucht hatten, den sowjetischen Präsiden- Mariupol sowie anderen Kriegsschauplätzen bleiben im ten Michail Gorbatschow abzusetzen und seinen Kurs Gedächtnis und legen Zeugnis ab von der menschenver- von Glasnost und Perestroika zu beenden, erklärte das achtenden russischen Kriegführung, besonders gegen die Parlament in Kiew am 24. August 1991 die staatliche Un- Zivilbevölkerung. abhängigkeit der Ukraine. Damit trat das Land aus der Sowjetunion aus. 90 Prozent der Bevölkerung bestätigten Unabhängigkeit in einem landesweiten Referendum am 1. Dezember 1991 diesen weitreichenden Schritt. Auch die mehrheitlich rus- sischsprachigen Menschen im Donbass und auf der Krim Eine neue Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum stimmten für eine eigenständige Ukraine. Leipzig zeigt vom 24. Februar bis zum 2. Juli 2023 Bilder Die Fotografien in der Ausstellung zeigen den Stolz namhafter ukrainischer Fotografinnen und Fotografen, über die wiedergewonnene staatliche Unabhängigkeit, die mit ihren Arbeiten zu Chronistinnen und Chronisten auf nationale Symbole wie die ukrainische Flagge oder der Geschichte ihres Landes wurden. Dabei beschränkt die eigene Währung. Erfolge auf internationaler Bühne – sich die Schau nicht allein auf die Ereignisse des vergan- sei es in Wissenschaft, im Sport oder kulturellen Be- genen Jahres. Sie erzählt vielmehr die wechselvolle Ge- reich – stärkten das Selbstbewusstsein und die nationale schichte der Ukraine von der Unabhängigkeitserklärung Identität der mehr als 40 Millionen Ukrainerinnen und 1991 bis zum russischen Angriffskrieg, der seit einem Ukrainer: Der neue Staat wurde Teil der internationalen Jahr die Welt in Atem hält. Eines wird beim Betrachten Gemeinschaft und trat unter anderem dem Atomwaffen- der Fotografien deutlich: Der 24. Februar 2022 markiert sperrvertrag bei. Anfang der 1990er Jahre verfügte die Siebenjähriger mit Holzgewehr neben zerstörten russischen Militärfahrzeugen nahe Tschernihiw, 17. April 2022, > zurück zum Inhalt Fotografie von Evgeniy Maloletka 8 museumsmagazin 1.2023 museumsmagazin 1.2023 9
imfokus Ukraine über das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Union durch eine neue pro-russische Regierung. Die Men- Welt – Erbe aus jener Zeit, als sie noch Teil der Sowjet- schen sehnten sich nach Stabilität und Wohlstand – sie union war. Diesen Bestand gab sie mit dem Budapester befürworteten eine Hinwendung nach Europa. Doch die- Memorandum 1994 an Russland ab. Dafür garantierten ses Mal kam es zu blutigen Auseinandersetzungen mit der die USA, Großbritannien und Russland staatliche Unab- Polizei und Spezialeinheiten. Mehr als hundert Demons- hängigkeit, Souveränität und die bestehenden Grenzen trierende wurden getötet. Der Präsident konnte sich nicht der Ukraine. mehr halten und floh. Doch auch die neue Regierung stand vor der Aufgabe, die alten Konflikte zu lösen. Quo vadis? Im Frühjahr 2014 besetzten bewaffnete Einheiten ohne Hoheits- und Rangabzeichen die ukrainische Halb- insel Krim. Auf zwei Fotos sind die „grünen Männchen“, Doch der junge Staat kämpfte mit vielen Problemen: wie die Ukrainer die Eindringlinge spöttisch nennen, zu Bergbau und Stahlproduktion prägten den Osten des Lan- sehen. Der russische Präsident Wladimir Putin bestritt des. Fotos zeigen veraltete Industrieanlagen, die die wirt- zunächst, dass es sich um russische Spezialkräfte han- schaftliche Entwicklung bremsten. Zudem erschwerte dele. Die strategisch wichtige Krim gliederte er völker- eine weitverbreitete Korruption den Umbau von der Plan- rechtswidrig in sein Staatsgebiet ein. Zur gleichen Zeit zur Marktwirtschaft. Die Frage nach der künftigen Ori- besetzten bewaffnete Milizen, die von Russland gesteuert entierung des Landes – Richtung Westeuropa oder eher und massiv unterstützt wurden, den Donbass – das In- Richtung Russland – spaltete die Bevölkerung. dustriegebiet im Südosten der Ukraine. Ein militärischer Die Präsidentschaftswahl 2004 wurde zu einer Rich- Konflikt zwischen Russland und der Ukraine begann, der tungsentscheidung für die Ukraine. Der sich am Westen bis heute andauert und viele Opfer fordert. orientierende Wiktor Juschtschenko konkurrierte mit Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine setzte dem von Russland unterstützten Wiktor Janukowitsch am 24. Februar 2022 eine neue Stufe der Eskalation ein. um das höchste Amt im Staat. Janukowitsch wurde zum Ziel der „militärischen Spezialoperation“, wie Russland Sieger erklärt. Doch das Wahlergebnis war umstritten, den Krieg im Nachbarland euphemistisch nennt, war die zu offensichtlich zeigten sich Wahlmanipulationen. Wo- rasche Eroberung Kiews und der Sturz der Regierung chenlange Proteste in der Farbe der Opposition gaben der um Präsident Wolodymyr Selenskyj. Dieser Plan schei- Protestbewegung ihren Namen: Orangene Revolution. Sie terte. Die russischen Invasoren unterschätzten den Mut erzwang eine Wiederholung der Wahl, aus der schließlich der Menschen, die ihre Heimat verteidigen, ihre Wider- Juschtschenko als Sieger hervorging. standskraft und den Durchhaltewillen. Bilder vom Maidan, dem zentralen Platz in Kiew, in Die ukrainischen Fotografinnen und Fotografen ein Fahnenmeer getaucht, sind untrennbar mit den Er- berichten in ihren Bildern vom Ringen der Ukraine um eignissen vom Winter 2013/14 verbunden. Im „Euromai- staatliche Unabhängigkeit, nationale Identität und Demo- dan“, auch „Revolution der Würde“ genannt, protestierten kratie. Für ihre Arbeit riskieren sie nicht selten ihr Le- landesweit Ukrainerinnen und Ukrainer gegen den Stopp ben. Ihre Bilder machen deutlich, dass ihre Geschichte eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Teil unserer gemeinsamen europäischen Geschichte ist. „Putin privat“: Für ihre Putin-Karikatur in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ 2022 erhalten die Karikaturisten Achim Greser und Heribert Lenz den „Karikaturenpreis der deutschen Zeitungen“. Dieser Preis für politische Karikatur im Rahmen der „Rückblende 2022“ wird vom Bundes- verband Digitalpublisher und Zeitungs- verleger (BDZV) gestiftet. re.o. Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Irpin fliehen vor russischen Bombardements am 9. März 2022, Fotografie von Mykhaylo Palinchak re.u. Nach russischem Raketenbeschuss einer Entbindungsklinik in Mariupol am 9. März 2022, Fotografie von Evgeniy Maloletka Die Ausstellung „Unabhängigkeit! Fotografien aus der Ukraine 1991 – 2022“ ist im Haus der Ge- schichte in Bonn ab September 2023 bis Februar 2024 zu sehen. 10 museumsmagazin 1.2023 > zurück zum Inhalt
imfokus Jenseits der Mainstream-Medien: Für ihre Berichterstattung aus Mariupol im Februar und März 2022 erhielten der ukrainische Journalist Mstyslav Chernov und sein langjähriger Kollege Evgeniy Maloletka die Auszeichnung „Freedom of Speech Award“ der Deut- schen Welle. Als Präsident des Presseverbands der ukrainischen Fotojournalisten gab Chernov zum 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit 2021 den Fotoband „Independent. The History of Modern Ukraine in the Photos of the Best Documentary Photogra- phers“ heraus, in dem mehr als 60 ukrainische Fotografinnen und Fotografen die Geschichte ihres Landes in den vergangenen drei Jahrzehnten erzählen. Auf dieser Publikation basiert die Ausstellung „Unabhängigkeit! Fotografien aus der Ukraine 1991–2022“ im Zeit- geschichtlichen Forum Leipzig, die um aktuelle Fotografien ergänzt wurde. Das „museumsmagazin“ sprach mit Mstyslav Chernov über die besondere Belastung, als Kriegsberichterstatter im eigenen Land zu arbeiten. mm: Sie erreichten Mariupol bleiben, auch nachdem alle anderen am 24. Februar 2022 nur weni- ausländischen Journalisten bereits ge Stunden vor dem Einmarsch abgereist waren, da es uns wichtig russischer Truppen und berich- war, die Geschichte weiterzuerzäh- teten aus der Hafenstadt drei len. Die Stadt war bereits umzingelt, Wochen lang. Was hat Sie moti- aber wir blieben, um alles in unserer viert, dort zu arbeiten, obwohl Macht Stehende zu tun, die Geschich- es von Tag zu Tag gefährlicher ten der Menschen in Mariupol an die wurde? Wie sahen Ihre Arbeits- Öffentlichkeit zu bringen. Später, als bedingungen aus? wir abreisten und mit der Arbeit an Chernov: Das AP-Team und ich be- meinem Film „20 Tage in Mariupol“ • gannen unsere Arbeit etwa einen Mo- begannen, wurde mir klar, dass es GESICHTER • nat vor dem Einmarsch Russlands in noch eine weitere Verpflichtung gab – die Ukraine und berichteten darüber, die Zerstörung der ukrainischen wie sich die Ukrainerinnen und Ukrai- Städte, den Schmerz und den Ver- Mstyslav Chernov ist ein mehrfach ausgezeichneter ukrainischer Journalist ner auf diesen möglichen Einmarsch lust der Ukrainer zu Beginn der In- und Autor vorbereiteten. Am 23. Februar 2022 vasion historisch zu dokumentieren. waren wir in Bakhmut; aus Nachrich- Die Lage in Mariupol war schon kurz ten, Telefonaten und Gesprächen mit nach Umzingelung der Stadt katastro- DES KRIEGES Kollegen ging hervor, dass die Invasi- phal. Es mangelte an Wasser, Strom on am nächsten Tag beginnen sollte. und Lebensmitteln, sodass die Men- Wir waren uns über das Ausmaß nicht schen in Panik gerieten und Geschäf- im Klaren, wussten aber, dass Mariu- te plünderten. Ohne Verbindung zur pol ein wichtiges Ziel für Russland Außenwelt waren die Bewohnerinnen war, da es die Stadt seit 2014 erobern und Bewohner unsicher, ob ihr Land und eine Landbrücke zur Krim er- noch Widerstand leistete; die Gesell- richten wollte. Wir beschlossen, nach schaft war zusammengebrochen. Mir Mariupol zu fahren und brachen am wurde klar, dass Informationen für Abend auf. Gegen drei Uhr morgens das Überleben wichtiger waren als kamen wir an, eine Stunde vor Beginn Lebensmittel. Trotz der Schwierigkei- Interview: Ulrike Zander der Invasion. Wir entschieden uns zu ten taten wir, was wir konnten, zum > zurück zum Inhalt museumsmagazin 1.2023 13
imfokus Beispiel Batterien im Krankenhaus gesucht werden. Wie haben Sie aufladen und inmitten von herabfal- es geschafft, aus der Stadt her- lenden Bomben nach einer Verbin- auszukommen? dung suchen, um Fotos und Videos zu Chernov: Am 20. Tag in Mariupol senden. hatten wir unser Auto verloren und mm: Ist Ihnen von all den keine Möglichkeit, uns fortzubewegen Schrecknissen, die Sie in Ma- oder das Land zu verlassen. Dennoch riupol gesehen haben, ein Bild mussten wir unser Filmmaterial aus besonders in Erinnerung ge- der Stadt holen, um es der Welt zu blieben? zeigen. Ein ukrainischer Polizist half Chernov: Das Schlimmste, was ich uns, indem er uns mit seinem Privat- in Mariupol gesehen habe, war die wagen aus Mariupol herausfuhr. An Leiche eines 23 Tage alten Kindes, diesem Tag war der „grüne Korridor“ das durch Granatenbeschuss getö- offen und Tausende von Menschen tet wurde. Dieses Bild hat sich tief versuchten, die Stadt zu verlassen. in meine Erinnerung eingegraben. Als wir 15 russische Kontrollpunkte Nachdem wir das gefilmt hatten, ver- passierten, betete die Frau auf dem suchten wir, die Stadt zu evakuieren. Beifahrersitz inbrünstig und ihre Ich fühlte mich zutiefst schuldig, als Stimme war so laut, dass wir sie hö- ich die Stadt verließ und nicht mehr ren konnten. Jeder Kontrollpunkt, in der Lage war, weiter über die Ge- der mit schwer bewaffneten Solda- schichten der Menschen in Mariupol ten besetzt war, ließ meine Hoffnung zu berichten. auf ein Überleben der Stadt Mariupol mm: Als Sie Mitte März Mariupol und ihrer Einwohnerinnen und Ein- verließen, mussten Sie an russi- wohner schwinden. Die Aufgabe der schen Kontrollstationen vorbei, ukrainischen Armee, durchzubre- was für Sie als Kriegsjournalist chen, schien unüberwindbar. An ei- eine besondere Gefahr bedeute- ner zerstörten Brücke schlossen wir te, da Journalisten vornehmlich uns einem Konvoi des Roten Kreuzes mit 20 Fahrzeugen an und nahmen Nebenstraßen, um nicht entdeckt zu Mstyslav Chernov werden. Am 15. Kontrollpunkt wurden • 1985 in Charkiw (Ukraine) geboren wir angewiesen, unsere Scheinwerfer • Kriegsberichterstatter, Filme- auszuschalten, um nicht auf die am macher, Fotograf, Autor Straßenrand geparkte militärische • Mitarbeiter der „The Associated Ausrüstung aufmerksam zu machen. Press“ (AP) Der 16. Kontrollpunkt brachte uns • Präsident des Presseverbands Erleichterung, als wir ukrainische der ukrainischen Fotojournalisten Stimmen hörten; die Mutter auf dem • Mehrfach ausgezeichnet, zuletzt Beifahrersitz brach in Tränen aus. Fotojournalist Evgeniy Maloletka flieht für die Berichterstattung aus Wir waren die letzten Journalisten in vor dem Feuer in einem brennenden Mariupol im Februar/März 2022 Mariupol und am nächsten Tag nach Weizenfeld nach einem russischen Chernov: Ich war im Irak, in Syri- sich von der Ausstellung und wa- zurück. Wie schaffen Sie es, nicht mit dem „Freedom of Speech unserer Abreise wurde das Schau- Beschuss nahe der ukrainisch-russischen en, Libyen, Gaza und Bergkarabach. rum ist es wichtig, diese Objekte abzustumpfen, wenn Sie kon- Award“ der Deutschen Welle spielhaus der Stadt bombardiert, Grenze in Charkiw am 29. Juli 2022, Die Menschen leiden überall und an als Museumsstücke zu zeigen? tinuierlich Bilder von Massen- ohne dass jemand darüber berichten Fotografie von Mstyslav Chernov jedem Ort dieser Welt verdienen ihre Chernov: Ich hoffe, dass diese Ob- gräbern, Toten, Verwundeten, konnte. Als der litauische Dokumen- Tragödien Aufmerksamkeit und Mit- jekte für die Besucherinnen und Be- Zerstörung und Chaos vor Au- tarfilmer Mantas Kvedaravičius bei gefühl. Aber die Ukraine ist persönli- sucher einen sinnvollen Bezugspunkt gen haben und für die Außen- dem Versuch, die Stadt zu verlassen, cher, viel schmerzhafter. Die Ukraine darstellen. Sie wurden verwendet, welt dokumentieren? ums Leben kam, waren wir dankbar ist mein Zuhause. um mehrere Kriege zu dokumentie- Chernov: Ich fühle mich dazu ver- für unser eigenes Entkommen. mm: Die Kamera, mit der Sie ren und ich hoffe, dass sie auch eine pflichtet, die Geschichte meines Lan- mm: Ihre Fotos und Videos er- in Mariupol fotografiert haben, Erinnerung an die Realität des Krie- des, des mutigen Widerstands und zählen in erschreckenden De- Ihre Schutzweste, Ihren Helm ges sein werden, der nicht nur eine des Leidens meiner Mitbürgerinnen tails, wie das einst blühende und Mantel sowie Ihre Stiefel ferne Geschichte ist, sondern eine und Mitbürger sowie der möglichen Mariupol unter dem massiven haben Sie den Sammlungen des zerstörerische Kraft, die Leben for- russischen Kriegsverbrechen in der Beschuss durch russische Streit- Hauses der Geschichte überge- dert und alles ihr im Weg Stehende Ukraine zu dokumentieren. Trotz der kräfte in Zerstörung und Cha- ben. Sie werden in der Ausstel- verwüstet. Die Gegenstände zeugen Gefahren und der Erschöpfung werde os versinkt. Ist die Arbeit als lung „Unabhängigkeit! Fotografi- von diesem schweren Tribut. ich diese Arbeit fortsetzen. Kriegsberichterstatter im eige- en aus der Ukraine 1991 – 2022“ mm: Sie sind wehrpflichtig und Aus dem Englischen übersetzt von nen Land anders als im Ausland? präsentiert. Was erhoffen Sie müssen wieder in die Ukraine Erika Hensel. > zurück zum Inhalt museumsmagazin 1.2023 15
imfokus Das Haus der Geschichte sammelt Gegenwart. Der Auftrag, die deutsche Zeitgeschich- te nach 1945 bis in das aktuelle Hier und Jetzt zu dokumentieren und zu vermitteln, erfordert ein besonderes Augenmerk auf aktuelle Ereignisse und Entwicklungen, um aktiv künftige Museumsexponate nach dem Prinzip „von der Straße ins Museum“ zusammenzutragen. Eine besondere Herausforderung wird diese Aufgabe dann, wenn mit den Ereignissen persönliches Leid und menschliche Opfer verbunden sind. Der Krieg in der Ukraine und der russische Einmarsch seit Februar 2022 wirken sich in vielfältiger Weise auch auf Deutschland aus, wobei der Begriff der „Zeitenwende“ oder die Themen „Flüchtlingsaufnahme“, „Energiekrise“ und „Waffenlieferungen“ den langfristigen Einfluss kaum erfassen können. Somit sind der Krieg und seine Auswirkungen auf Deutschland unmittelbar in den Fokus unserer Sammlungsarbeit getreten. Schon kurz nach der Invasion sind die ersten Objekte in den Museumsbestand gekommen, in der Fachwelt als „Rapid-Response-Sammeln“ be- kannt. Ebenso schnell ging es darum, Prinzipien für die Übernahme und Anfragen von relevanten Objekten zu entwickeln. So verteilen sich die Anfra- gen und Bemühungen um aussagekräftige Original- objekte auf mehrere Themenkomplexe: 1. das un- mittelbare Kriegsgeschehen und dessen Folgen, 2. die Flucht von Menschen aus der Ukraine und die Situation der Flüchtlinge in Deutschland, 3. Protest-, Solidaritäts- und Hilfsaktionen, 4. politische Entscheidungen und gesellschaftliche Auswirkungen (Gasmangel, Aufrüstung, Diploma- tie), 5. Rezeption des Krieges in den Medien. Die ersten Objekte stammten von Protest- demonstrationen und Solidaritätskundgebungen in deutschen Städten im Februar und März 2022. Auch die Unterstützung der Ukraine durch Kir- chen, Vereine, Unternehmen und Kultur konnte bereits früh durch aussagekräftige Zeugnisse dokumentiert werden. Die Aufnahme und Unter- stützung der zivilen Flüchtlinge aus den Kriegs- gebieten belegen zahlreiche Exponate, etwa aus den Willkommenszentralen in deutschen Bahn- höfen oder von Hilfsorganisationen. Gleichzeitig erfuhren wir individuelle Geschichten, welche die Folgen des Krieges auf die Menschen in den Mittelpunkt rücken. Dafür spielen persönliche Kontakte und direkte Anfragen eine wichtige Rolle, da der Großteil neuer Exponate als Schenkung überlassen wird. Hier ist das Ver- trauen entscheidend, dass diese emotional Ein teilweise geschmolzener Teller aus einem zerstörten Haus in Sloboda-Kuharska (o.) sowie Fragmente eines Maschinengewehr- Gurts (re.) aus einem beschossenen Wohngebiet aus der Region Oblast Kiew von 2022 sind aktuelle Sammlungsobjekte aus der Ukraine, die den russischen Krieg in der Ukraine vor Augen führen. Nach der Invasion russischer Truppen am 24. Februar 2022 richtet > zurück zum Inhalt sich der Angriffskrieg explizit auch gegen zivile Ziele. museumsmagazin 1.2023 17
imfokus aufgeladenen Objekte angemessen und am richtigen Ort und so Tarnnetze für die Front lieferten. Dieses zivil ge- bewahrt werden. So wurden uns Kinderbilder zum Krieg fertigte Kriegsobjekt verweist auf die Bereitschaft, insbe- von geflüchteten Familien ebenso übergeben wie das sondere der Frauen, gemeinsam ihr Land zu verteidigen. „Überlebenspaket“ einer aus Kiew geflohenen Wissen- schaftlerin. Die Unterstützung von Deutschland aus ist ein weiterer zentraler Aspekt des Sammelns, etwa von privat organisierten Hilfstransporten oder dem Engage- Für unabhängige Medien ment beim Wiederaufbau von Infrastruktur in zerstörten Eine außergewöhnliche Schenkung thematisiert Gebieten. Ein besonderes Objekt stellt das etwa vier mal sowohl das unmittelbare Kriegsgeschehen als auch die sechs Meter große Tarnnetz dar, gefertigt von einer in Medienberichterstattung. Früh konnten wir direkten Leipzig lebenden Ukrainerin. Bei Kriegsbeginn war sie in Kontakt zu zwei der bekanntesten Fotojournalisten aus Kiew und organisierte dort eine Frauengruppe zur Un- der Ukraine aufbauen, die von Beginn an direkt aus dem terstützung der Armee, indem sie massenhaft Stoffreste Kriegsgeschehen berichteten: Mstyslav Chernov und in Fußballtornetze knüpften Evgeniy Maloletka. Sie sind seit Jahren für ihre Berich- te an die internationale Presse bekannt, unter anderem über den „Euromaidan“, den Konflikt im Donbass und von den Bürgerkriegen in Syrien und im Irak. Kurz nach Beginn der russischen Invasion fuhren Maloletka und Chernov in die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol. Sie berichteten vor Ort über die Angriffe und den rus- sischen Vormarsch. Als der Belagerungsring um die Stadt komplett geschlossen wurde, waren sie die letz- ten hier verbliebenen Journalisten. Sie filmten und fotografierten täglich die Angriffe und Besetzung der Stadt, in der die Bevölkerung keine Ver- Diese Buntstiftzeichnung stammt aus einer sorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser Caritas-Erstaufnahmestelle für ukrainische mehr erhielt. Die Strom- und Gasleitungen Kriegsflüchtlinge. Ein geflüchtetes Kind waren ebenso gekappt wie fast alle Kommu- die Kameras sowie den Laptop aus Mariupol dem Haus malt einen Feuerregen aus Bomben und nikations- und Rundfunkkanäle. Chernov der Geschichte übergeben. Ohne diese Objekte hätte die Raketen, der auf ein Haus fällt, während und Maloletka richteten sich mit anderen Weltöffentlichkeit nicht konkret erfahren, mit welcher sich ein Panzer und ein Soldat nähern. Flüchtlingen in einem Krankenhaus ein, Brutalität die russische Invasion von Beginn an ihre Bilder vom Einsatz der Sanitäterin- verlief. Zudem symbolisieren sie die Bedeutung nen und Sanitäter, vom Leid der Zivilbe- freier Presseberichterstattung und unabhängiger völkerung und von den Opfern sendeten Medien – gerade in Zeiten von Zensur, Kriegspro- sie während der Beschusspausen per paganda und gezielter Desinformationskampagnen. Laptop über eine verbliebene schwa- Schließlich zeugen sie von der individuellen Geschichte che Internetverbindung an die Nach- der beiden Journalisten und damit von der Lebensge- richtenagentur AP. Ihr Bericht über fahr, unter der Kriegsberichterstatter die Öffentlichkeit die Bombardierung der Geburtskli- informieren. nik in Mariupol im März 2022 ging Diese einmaligen Originalobjekte sind in dem Doku- um die Welt. Die russische Regie- mentarfilm „20 Days in Mariupol“ zu sehen, den Mstyslav rung versuchte diese Dokumen- Chernov aus dem Rohmaterial von Mariupol erstellt hat tation von Kriegsverbrechen als und der im Januar 2023 in den USA Premiere hatte. In Fälschung zu diskreditieren. Deutschland werden die Exponate im Original ab dem Für ihre Berichterstat- 24. Februar in einer Ausstellung im Zeitgeschichtlichen tung zeichnete die Deutsche Forum Leipzig präsentiert. Dort zeichnet eine Auswahl Welle sie im Juni 2022 mit hochwertiger Pressefotografien den Weg der Ukraine seit dem „Freedom of Speech“-Preis ihrer Unabhängigkeit nach, während die dreidimensio- aus. Im Anschluss erhielten wir die Zu- nalen Objekte den noch immer andauernden Krieg und sage, dass sie ihre Schutzausrüstung und dessen Folgen beleuchten, die uns alle betreffen. Diese Jacke und Schutzweste trägt Mstyslav Chernov bei seinem Einsatz Ein aktuelles Kriegsobjekt im Haus als Kriegsreporter in Mariupol der Geschichte: eine aufgeplatzte im Februar/März 2022. Patronenhülse aus einem beschossenen Wohngebiet in der Oblast Kiew > zurück zum Inhalt 18 museumsmagazin 1.2023 museumsmagazin 1.2023 19
inbonn Am 26. Januar 2023 veranstaltete „Zweitzeugen e. V.“ aus der Ukraine stammt, erzählte zusammen mit Lidia Holocaust-Gedenktag im Haus der Geschichte anlässlich des Holocaust-Gedenktags einen seiner Work- Kibkalo aus Köln davon, wie sie als Jüdinnen in Deutsch- shops im Haus der Geschichte in Bonn. land leben. Sie stellten sich den Fragen von Schülern, die Gegen Antisemitismus Rund 30 Schülerinnen und Schüler schrieben Briefe zunächst Schwierigkeiten mit der Definition „Jude“ hat- an Dr. Leon Weintraub, dessen Kindheitsgeschichte ihnen ten. „Wenn du eine jüdische Mutter hast, bist du Jude, zuvor erzählt worden war: 1926 in Łódź/Polen geboren, egal ob du nach den jüdischen Regeln lebst oder nicht“, kam er mit 13 Jahren zusammen mit seiner Familie ins erklärte Kibkalo. Ob Juden auch jüdische Feiertage be- Ghetto Litzmannstadt, 1944 erfolgte die Deportation ins gehen würden, selbst wenn sie nicht gläubig seien, woll- in Vergangenheit, Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Dort entging te ein Schüler wissen. Ein klares „Ja“ und Erklärungen Leon der Vergasung durch den unbemerkten Anschluss zum Schabbat-Essen, zu Purim oder Chanukka folgten als an einen Gefangenentransport. So kam er in das Konzen- Antwort. Koscheres Essen, Vorschriften für den Schabbat trationslager Groß-Rosen, danach ins Konzentrationsla- und eine deutsch-hebräische Tora waren weitere Themen, ger Flossenbürg, später ins Konzentrationslager Natz- wobei die Jüdinnen immer wieder betonten, dass es im Gegenwart und Zukunft weiler-Struthof/Kommando Offenburg. Schließlich gelang Judentum viele Regeln gäbe, aber noch mehr Ansichten Leon die Flucht in Richtung Bodensee. Nach dem Zwei- und Auslegungen derselben. „Ich habe den Wunsch, dass ten Weltkrieg studierte Leon in Göttingen Medizin und wir uns nicht komplett säkularisieren“, so Esther. „Wir wanderte später nach Schweden aus. Dort werden ihn die sind so eine kleine Gruppe, wurden von jeher angefeindet Briefe der Schüler erreichen, die schrieben, wie traurig und verfolgt. Wofür haben unsere Vorfahren gekämpft, und empört sie darüber seien, was ihm in der Kindheit wenn das Judentum jetzt vernachlässigt wird?“, fragte sie von Ulrike Zander angetan wurde: „Es tut mir sehr leid, dass Du so etwas in die Runde. durchmachen musstest, sodass ich beim Zuhören ange- Die Bildungsstätte Anne Frank richtete den dritten fangen habe zu weinen. Auf jeden Fall ist es klar, dass Du Workshop aus, in dem sich die Schüler mit aktuellen For- ein sehr tapferer und starker Mensch bist und nicht auf- men des Antisemitismus beschäftigten und über folgen- „Das ist für mich das größte Geschenk – Briefe von so vielen Kindern! Die verstehen. Die haben Ge- hören sollst, so zu sein“, schrieb eine 16-jährige Schülerin. de Fragen diskutierten: Wie und wo äußert sich Antise- mitismus? Wie fühlen sich junge Juden in Deutschland? fühl“, sagt die Holocaust-Überlebende Chava Wolf in einem Video des Vereins „Zweitzeugen e. V.“. Schabbat Schalom! Welche Absicht und welche Wirkung hat allein die Frage Dieses drehten Vereinsmitglieder 2015 in Israel, als sie rund 300 Briefe von deutschen Jugendlichen „Woher kommen Sie eigentlich?“ an die vom Verein interviewten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen übergaben. „Solche Briefe bedeuten „Meet a Jew“ hieß ein weiterer Workshop auf der „Ich finde, wir sind doch alle gleich“, schrieb Schü- Grundlage eines Projekts des Zentralrats der Juden, lerin Nele 2015 an Chava Wolf, die daraufhin nicht auf- für mich, dass man mich als Mensch sieht. Niemand hat mich viele Jahre lang als Mensch gese- das persönliche Begegnungen mit Jüdinnen und Juden grund der schrecklichen Erinnerungen, sondern vor hen“, so Chava Wolf. vermittelt. Schülerin Esther aus Aachen, deren Familie Freude weinte. Im Workshop „Meet a Jew“ findet Begegnung zwischen Juden und Nichtjuden statt, um gegenseitige Fragen zu beantworten und einan- der kennenzulernen. > zurück zum Inhalt museumsmagazin 1.2023 21
inbonn 60 Jahre deutsch-französische Beziehungsgeschichten BONN*E FÊTE von Maria Weyer und Ulrike Zander Der von dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 unterzeichnete Élysée-Vertrag legte den Grund- stein für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Mit der Unterzeichnung wurde das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) gegründet und ein Schwerpunkt auf den Jugendaustausch gesetzt. So richtete sich auch der Thementag anlässlich des Jubilä- ums am 17. Januar 2023 im Haus der Geschichte in Bonn an junge Menschen. 2 1 Zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Oberstufe so- und Bürger sind, brachten zur Abendveranstaltung am wie Studentinnen und Studenten aller Fachrichtungen 17. Januar 2023 vor allem die Jugendlichen zum Aus- aus Bonn, Köln und Paris beschäftigten sich in Kreativ- druck, die ihre Workshop-Ergebnisse vor zahlreichen projekten in Form von unterschiedlichen Textgattungen Gästen vortrugen 1. So las die Schülerin Tabea einen fikti- und Poetry Slams mit der deutsch-französischen Bezie- ven Brief ihrer Oma von 1963 an ihre Enkelin vor, den sie hungsgeschichte. Nach thematischen Schwerpunktbeglei- im Kreativ-Workshop verfasst hatte: „Ich wünsche mir, tungen durch die Dauerausstellung „Unsere Geschichte. dass wir mit Frankreich Hand in Hand in Richtung Unab- Deutschland seit 1945“ luden deutsche sowie französi- hängigkeit gehen und dabei Entscheidungen treffen, die sche Expertinnen und Experten zu Workshops ein. Dort zum Allgemeinwohl beitragen.“ Ebenso emotional führte diskutierten die Schüler und Studenten anhand der The- Poetry-Slammer mario el toro 3 vor, welche neuen Pers- menschwerpunkte Geschichte, Kultur und Politik über pektiven die Sprache bietet, um auf historische Ereignis- den Status des deutsch-französischen Austauschs. Der se zurückzublicken und den Bogen in die Gegenwart zu Thementag war Teil des Frankreichjahrs „BONN*E FÊTE – schlagen. „Ich baue gerne Anagramme“, so el toro, indem 60 Jahre Élysée-Vertrag!“ der Rheinischen Friedrich- er Worte nehme, sie in einzelne Buchstaben spalte und Wilhelms-Universität Bonn und wurde in Kooperation mit neu zusammensetze. Aus „Konrad, Bonn, Charles, Paris“ dem Institut français Bonn, dem Gustav-Stresemann-Ins- machte er „Also pro Nachbarskinder“, woraus ein Poetry titut (GSI), dem Centre Ernst Robert Curtius (CERC) und Slam entstand. „Eine Hand, die eine andere hält, kann den deutsch-französischen Studien der Universität Bonn keine Waffen tragen“, so el toro zum Ende seines Vortrags. durchgeführt. Der Deutsch-Französische Bürgerfonds so- Von dieser jugendlichen Sicht auf die historischen wie das DFJW unterstützten die Veranstaltungen. und aktuellen Zusammenhänge wollte Moderator Michael Krons (bis 2022 bei phoenix) auch im weiteren Verlauf der Schön-schwierige Freundschaft Veranstaltung nicht abweichen, sodass die anschließende Podiumsdiskussion 2 mit Prof. Dr. Jürgen Rüttgers, Bun- Die unverbrüchliche Gewissheit, dass die deutsch- desminister und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfa- französischen Beziehungen in all ihrer Ambivalenz gut len a. D., Dr. Christophe Arend, Leiter des Pariser Büros und wichtig für beide Staaten und ihre Bürgerinnen Saarbrücken, der Journalistin und Schriftstellerin Pascale > zurück zum Inhalt museumsmagazin 1.2023 23
3 4 1 2 5 6 3 4 Hugues aus Berlin und Prof. Dr. Ludger Kühnhardt, Direk- nach, ob wir noch in Nationen, Musik und Literatur den- Familiensonntag zur deutsch-französischen Freundschaft tor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung ken würden. Während Rüttgers darauf verwies, dass die Bonjour et Bienvenue (ZEI) der Universität Bonn 4, von Fragen der Schülerinnen Wiedervereinigung Deutschlands auch eine Wiederverei- und Studentinnen geleitet wurde 5, die sie in den Work- nigung Europas hervorgerufen hätte, erklärte Journalistin shops erarbeitet hatten. „Warum reden die nicht mitein- Hugues 7, die aus dem Elsass stammt und seit 20 Jahren ander? Warum fährt Scholz nach China?“, fragten Schü- in Berlin lebt, dass es kulturell ein großes Ungleichgewicht lerinnen 6 aus dem Workshop „Politik“ und fügten hinzu: zwischen Deutschland und Frankreich gäbe. Deutsche wä- „Sprachen zu sprechen ist das eine, sich zu verstehen das ren sehr interessiert an französischen Büchern und Filmen, andere.“ Das sahen die Teilnehmenden der Podiumsdiskus- aber umgekehrt sei das Interesse der Franzosen an deut- von Gwendolyn Keppler sion ebenso: „Freundschaft ist keine Selbstverständlich- schen Autoren und Filmen eher gering. Das Verhältnis sei keit“, so Christophe Arend, man müsse sie pflegen wie eine schwierig: „Heute gibt es kaum mehr Schüler im Elsass, die Anlässlich des 60. Jahrestags der Unterzeichnung des großen Anklang. Zudem war das französische Bistro der Pflanze. Der Élysée-Vertrag stehe für den Frieden. Auch Deutsch lernen wollen, die lernen eher Spanisch. Im Elsass Élysée-Vertrags feierte das Haus der Geschichte vom 14. bis Boulangerie „Madame Monsieur“ in der Lounge bei den Jürgen Rüttgers stellte heraus, dass in den letzten Jahren kann man es deutlich spüren, wie unterschiedlich die Men- zum 22. Januar 2023 im Rahmen einer französischen Besucherinnen und Besuchern sehr beliebt. Eine umfang- nicht genug für die deutsch-französische Freundschaft ge- talitäten sind.“ „Wir sind einfach sehr unterschiedlich“, er- Woche die deutsch-französische Freundschaft und den reiche Auswahl an leckeren Tartelettes, Croissants 1, Qui- tan worden sei und man wieder die Ärmel hochkrempeln gänzte Kühnhardt, aber sich in der Unterschiedlichkeit zu- engen Austausch auf politischer, kultureller und alltägli- ches und Éclairs warteten auf francophile Gäste, die zu- müsse. Schülerinnen aus dem Workshop „Kultur“ fragten sammenzuraufen, sei eine große Leistung. „Dafür steht der cher Ebene zwischen den beiden Ländern. Zum Abschluss dem den historischen Citroën HY vor dem Museumsein- Élysée-Vertrag.“ Kurz vor der Unterzeichnung habe jedoch fand am 22. Januar der Familiensonntag „Bonjour et Bien- gang bewundern konnten. Das Bistro war am Ende des 7 de Gaulle verhindert, dass Großbritannien in die Europä- venue. 60 Jahre deutsch-französische Freundschaft“ statt. Tages bis auf die letzte Leckerei ausverkauft. ische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) kommen konnte – Im Offenen Atelier bastelten zahlreiche Kinder Mixed- Den krönenden Abschluss des Familiensonntags und das habe letztlich zum Brexit geführt. Arend erinnerte da- up-Bücher mit typisch deutschen und französischen Moti- der französischen Woche im Haus der Geschichte bot das ran, dass es immer dann zwischen Deutschen und Fran- ven 2, während in der gemütlichen Leseecke in der Loun- Kölner Chanson-Duo „toi et moi“ mit einem Wohnzim- zosen am besten funktioniert habe, wenn sie die anderen ge von „Asterix & Obelix“ über „Der kleine Nick“ bis zu merkonzert in der Lounge 4. Julia Klomfaß und Raphael europäischen Nationen mit auf den Weg genommen hätten. „Der kleine Prinz“ verschiedene französische Buchklassi- Hansen haben sich mit Leib und Seele der Musik verschrie- „Beim Ukraine-Krieg ist es genau das Gleiche“, meinte der ker entdeckt und verschlungen wurden. ben. Ihre heiter-beschwingte Mischung aus Chanson, Folk Franzose. „Wenn wir die Dinge gemeinsam angehen, ist Neben den Familienbegleitungen fanden auch franzö- und Singer-Songwriter-Elementen ließ Kinder wie Erwach- ganz Europa gestärkt!“ Ansonsten gäbe es keine Garantie sischsprachige und Themenschwerpunkt-Begleitungen 3 sene in der vollbesetzten Lounge von Frankreich träumen. für einen Frieden in Europa. > zurück zum Inhalt museumsmagazin 1.2023 25
Neue Leihausstellung der Stiftung feiert Premiere im Ludwig Erhard Zentrum in Fürth „Zugespitzt“ von Thorsten Smidt Der Karikaturist Burkhard Mohr zeichnet 2015 seine Sicht auf die Haltung von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Ob als „Easy Rider“, „tatkräftiger Lotse“, „Birne“ oder „Schwarze Witwe“: Seit Konrad Adenauer stehen Hunderttausende Flüchtlinge kommen nach Europa. Die Kanzlerin entscheidet, die Grenzen zu öffnen, und tritt (bundes-)deutsche Regierungschefs und eine Regierungschefin im Zentrum der Satire. Karikaturistinnen für eine gesamteuropäische Lösung ein. In dieser soll Deutschland eine besondere Rolle einnehmen. und Karikaturisten kommentieren die Politik ihrer Zeit und ihre Persönlichkeiten. Damit prägen sie das Bild der bisherigen Bundeskanzler und der Bundeskanzlerin in der Öffentlichkeit – nicht immer zur Freude der Sie gab nicht nur Einblicke in den Wandel des Humors Blätterelemente zur Vertiefung. Dass auch der gebürtige dargestellten Charaktere, aber durchgängig mit viel Humor. Entsprechend unterhaltsam und attraktiv war und in die deutsche Zeitgeschichte seit 1945, sondern Fürther Ludwig Erhard in der Schau „sein Fett wegbe- warf gleichzeitig die Frage auf, wie weit Satire gehen kam“, nahm das Publikum dem Anlass gemäß mit Humor. die Ausstellung „Zugespitzt. Die Kanzler in der Karikatur“, die die Stiftung ab September 2019 im Haus darf. Wegen des großen Erfolgs beim Publikum fiel die Schließlich zielen die gezeigten Karikaturen nicht auf den der Geschichte in Bonn zeigte. Entscheidung leicht, aus dem vorhandenen Material eine „Vater des Wirtschaftswunders“, sondern auf die weni- Leihausstellung zu entwickeln. Pandemiebedingt stand gen Jahre seiner Kanzlerschaft. So zeigt eine Karikatur die in Transportkisten verpackte Ausstellung erst im Erhard in kurzen Hosen und ohne Zigarre hoch zu Ross, Sommer 2022 zur Verfügung – und wurde gleich vom darunter die umgedichteten „Erlkönig“-Verse: „Wer reitet Ludwig Erhard Zentrum angefragt. so spät durch Wald und Wiesen? Es ist der Vater mit sei- Anfang Oktober 2022 war es so weit: „Zugespitzt. nen Krisen.“ Die Kanzler in der Karikatur“ konnte in Fürth erstmals Die neue Ausstellung „Zugespitzt. Die Kanzler in der feierlich eröffnet werden. Evi Kurz, Vorsitzende des Karikatur“ bereichert das Leihausstellungsprogramm Vorstands der Stiftung Ludwig-Erhard-Haus, begrüß- der Stiftung und steht interessierten Einrichtungen zur te zahlreiche Gäste und betonte die inhaltliche Verbin- Verfügung. Während Olaf Scholz für die Fürther Station dung zur Dauerausstellung des Zentrums. Neben 50 noch zu kurz im Amt war, um mit aussagekräftigen Ka- Zeichnungen von bedeutenden Karikaturisten wie Heiko rikaturen präsent zu sein, ist die Ausstellung inzwischen Sakurai, Horst Haitzinger, Walter Hanel oder dem Mode- um den neunten Kanzler der Bundesrepublik Deutsch- macher Karl Lagerfeld bietet die Ausstellung zahlreiche land erweitert worden – auch sein Bild ist „zugespitzt“. Anfang Oktober 2022 wird die neue Leihausstel- lung der Stiftung „Zugespitzt. Die Kanzler in der Karikatur“ im Ludwig Erhard Zentrum in Fürth von > zurück zum Inhalt Ausstellungsdirektor Thorsten Smidt eröffnet. museumsmagazin 1.2023 27
inberlin „Orte der Einheit“ auf Papier können. Dabei schaut ihnen Gris über die Schulter und gibt Tipps, um anfängliches Zögern zu überwinden oder Unterwegs mit Stift die Reduktion auf das Wesentliche zu unterstützen. We- der die Auswahl eines passenden Stifts noch komplizier- te Farbmischungen sollen im Weg stehen, wenn sich die kreativen Teilnehmer die Orte zeichnerisch erschließen. Deshalb benutzen alle dieselben Materialien und können und Aquarellfarben sich darauf konzentrieren, Freude am Zeichnen zu ent- decken. Im Frühjahr sollen die Sketchwalks zu weiteren Schauplätzen des Online-Angebots „Orte der Einheit“ führen. Dann können Interessierte etwa die Kirschblüte am Mauerweg, das Reichstagsgebäude in der Abendson- von Alrun Schmidtke ne oder ein Mauerpark-Panorama mit Blick über die Stadt „sketchen“. Mit den „Orten der Einheit“ kommen mehr als 30 Motive zusammen, die Berlinerinnen und Berliner ebenso wie Gäste der Stadt zeichnerisch erkunden kön- Zeichnen statt Fotografieren: Bei sogenannten Sketchwalks können sich nen. Einige dieser Orte gehören vielleicht nicht zu den Besucherinnen und Besucher des Museums in der Kulturbrauerei und des zentralen touristischen Highlights der Hauptstadt, aber Tränenpalasts in Berlin seit November 2022 mit Stift und Aquarellfarben ausgestattet beim „Urban Sketching“ ist das nicht wichtig, wie Gris erklärt: „Ich sketche auch Baustellen. Hauptsache, wir an historische Schauplätze der „Orte der Einheit“ in Berlin begeben. Dort lassen Künstler Gris (o.) führt den Teilnehmerinnen sind unterwegs zum Zeichnen.“ Wer sehen möchte, wel- und Teilnehmern des Sketchwalks zunächst sie Tinte und Farbe über das Papier fließen und nehmen am Ende einzigartige, im Museum in der Kulturbrauerei vor, wie sie che Motive daraus bislang entstanden sind, wird auf dem persönliche Stadtansichten mit nach Hause. mit Stift und Aquarellfarbe „Orte der Einheit“ Instagram-Kanal der Stiftung @hdg_museen fündig. skizzieren können. Ein besonders beliebtes Motiv: der Tränenpalast (li., re.) „Ein tolles Angebot!“, schwärmte eine Teilnehmerin im November 2022. „Ich hätte am liebsten noch drei Freun- dinnen mitgebracht, die auch gerne zeichnen“, erzählte eine andere. Zwei Sketchwalks fanden bisher statt: im Tränenpalast im November 2022 und im Museum in der Kulturbrauerei im Januar 2023. Unter Anleitung des Berliner Künstlers und erfahrenen Kursleiters Gris hat- ten jeweils zwölf Museumsgäste die Möglichkeit auszu- probieren, wie sie mit wenigen Strichen eine komplexe Stadtansicht auf Papier bannen können. Für einige Teil- nehmerinnen und Teilnehmer war das Zeichnen in der Stadt ohnehin schon Hobby; bei vielen rief der Tränenpa- last längst vergessen geglaubte Erinnerungen an Grenz- abschiede mit Familienangehörigen und Freunden wach. Andere waren schon mehrmals an den historischen Or- ten, aber noch nie zum Zeichnen. „Ein Wahnsinnsort für den Workshop!“, fand auch Gris und erklärte jeden ein- zelnen Schritt seiner Skizze, während er die Glasfassade des Tränenpalasts in kürzester Zeit zu Papier brachte. Ansichten Das Besondere an einem Sketchwalk „Orte der Einheit“ ist, dass der Künstler Gris zunächst zeigt und erklärt, wie er ein bestimmtes Motiv zeichnet. Er geht darauf ein, wie er sich ihm nähert und welche Überle- gungen er trifft, um sich für einen konkreten Ausschnitt zu entscheiden. Dann probieren die Teilnehmer aus, wie Stadtansichten auf Postkartengröße gebracht werden > zurück zum Inhalt museumsmagazin 1.2023 29
inberlin Im Gegensatz zu den Punks, die in der DDR ebenfalls aneckten, arrangierten sich die „Heavys“ mit dem SED-Regime – jedoch ohne sich mit ihm zu identifi- zieren. Mit ihren langen Haaren, Lederkleidung, Ketten und Nieten sowie der Orientierung an westlichen Vorbildern stießen sie auf Ablehnung. Gleichzeitig versuchte das SED-Regime, die Heavy-Metal-Szene – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine der größten Subkulturen der DDR – nicht nur zu unterdrü- cken, sondern auch zu vereinnahmen. Fluch und Segen Die Umbruchjahre 1989/90 mit friedlicher Revolution, Mauerfall und deutscher Wiedervereinigung markierten einen Wendepunkt auch in der Mu- sik- und Jugendkultur der DDR: Erstmals erfüllten sich die Sehnsüchte vieler Fans nach Live-Konzerten westlicher Bands. Nichtsdestotrotz waren diese Entwicklungen zugleich die Anfänge vom Niedergang der spezifisch ostdeut- schen Heavy-Metal-Szene, die sich in den 1990er Jahren mehr und mehr auf- löste. Dennoch: Seit einigen Jahren wird diese zunehmend wiederbelebt. Die Ausstellung verortet die Heavy-Metal-Subkultur im zeithistorischen Kontext. Sie nimmt das Publikumsinteresse an Musik- und Jugendkultur in Neue Wechselausstellung in Planung der DDR auf, das sich beim Probeaufbau zur Überarbeitung der Daueraus- stellung mit dem Schwerpunkt „Jung sein“ zeigte: Besonders beliebt war bei Heavy Metal in der DDR Besucherinnen und Besuchern eine E-Gitarre – im Zebra-Muster lackiert nach dem Vorbild der US-amerikanischen Hardrock-Band „Kiss“. Die Ausstellung greift diese Vorliebe auf und zeigt das Thema „Heavy Me- tal in der DDR und Ostdeutschland“ im zeithistorischen Kontext mittels medi- und Ostdeutschland aler Inszenierungen sowie „story telling objects“ – Objekte, die „Geschichte(n) erzählen“. Am Beispiel der Heavy-Metal-Szene verdeutlicht die Stiftung Haus der Geschichte erstmals die Entwicklung der Musik- und Jugendkultur in den letzten Jahren der DDR sowie die neuen Möglichkeiten und Herausforderun- gen in Ostdeutschland seit den 1990er Jahren. von Franziska Gottschling und Liza Soutschek „Red Metal“ und „Iron East“ – in letzter Zeit erfuhr das Thema „Heavy Metal in der DDR“ neue Aufmerksamkeit. Der aktuelle Buchtitel des Historikers Dr. Nikolai Okunew „Red Metal. Die Heavy-Metal-Subkultur in der DDR“ und der Podcast „Iron East – Heavy Metal in der DDR“ von Musikjournalist Jan Kubon spielen auf die Besonderheit dieser Musikrichtung an: Die Szene florierte in den 1980er Jahren in der DDR trotz „Eisernem Vorhang“ und Schikanen. Das Museum in der Kulturbrauerei in Berlin greift diese historischen Zusammenhänge in einer Wechselausstellung auf, die ab Frühjahr 2024 zu sehen sein wird. Heavy-Metal-Fans vor einem Konzert in Berlin-Weißensee, 1985 (o.) Heavy-Metal-Konzert im „Renner“ > zurück zum Inhalt in Ost-Berlin, 1989 (Hintergrundbild) 30 museumsmagazin 1.2023 museumsmagazin 1.2023 31
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