Netzwerk Kulturelle Bildung und Integration - Dokumentation des Fünften Treffens 10. und 11. November 2016
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Netzwerk Kulturelle Bildung und Integration Dokumentation des Fünften Treffens 10. und 11. November 2016 Kun s t- un d Kul t ur ve r m i t t lun g i n Euro p a 1
Dokumentation des Fünften Treffens des Netzwerks Kulturelle Bildung und Integration am 10. und 11. November 2016 in der Stiftung Genshagen und im Bundeskanzleramt 2
Vorwort Im November 2016 durfte das Netzwerk Kulturelle Bildung und Integra- tion bereits sein fünfjähriges Jubiläum feiern. Dies war ein willkommener Anlass für seine Mitglieder, die bisher gemeinsam geleistete Arbeit kritisch Inhaltsverzeichnis zu reflektieren und einen Blick in die Zukunft des Netzwerks zu werfen. Staatsministerin Monika Grütters lud die Netzwerkmitglieder zum feierli- chen Abschluss des Treffens zu einem Gespräch ins Bundeskanzleramt ein, um über die Weiterentwicklung des erprobten Formats zu diskutieren. Das 3 — Vorwort Jahrestreffen wurde dadurch bewusst zur Zwischenbilanz und so konnten neue Schwerpunkte und Zielsetzungen für die kommenden Jahre erarbei- 5 — Einleitung tet werden. Der kontrovers diskutierte Begriff der Integration, die Optimie- rung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit auf Bundes-, Länder- und 6 — Programm des Fünften Treffens des Netzwerks Kulturelle Bildung und Integration kommunaler Ebene zum Thema Kultur und Integration sowie die diversi- tätsorientierten Entwicklungsprozesse in Kunst- und Kulturinstitutionen 9 — Teil 1: »Integration«: ein Ziel, ein Prozess, ein Konzept für die Zukunft? bildeten die thematischen Schwerpunkte des Netzwerktreffens vom 10. Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Naika Foroutan und 11. November 2016. Prof. Dr. Naika Foroutan plädierte in ihrem Vortrag für eine Rehabilitie- 14 — Teil 2: Funktioniert ressortübergreifende Zusammenarbeit? rung des Integrationsbegriffs. Dieser müsse vom Subtext der Assimila- Impuls aus Sicht der Arbeitsebene am Beispiel der Initiative »Kultur öffnet Welten!« tion befreit werden; es gehe vielmehr um die Integrationsfähigkeit einer Gesamtgesellschaft. Integration und Desintegration seien keine Fragen 17 — Teil 3: Arbeitsgruppen – Wie steht es um die realen Veränderungsprozesse in Kunst- der kulturellen, ethnischen, religiösen oder nationalen Herkunft allein, und Kulturinstitutionen? sondern auch eine Frage von Schicht und Klasse, Gender, sexueller Orien- tierung, etc. Zum Verständnis eines »postmigrantischen Integrationsbe- 26 — Zusammenfassung der Themen aus dem Speakers’ Corner griffs« sei das Akronym ACTIV hilfreich: es stehe für Anerkennung, Chan- cengleichheit und Teilhabe in Vielfaltsgesellschaften. Prof. Dr. Foroutans 29 — Kurzbiografien der Mitwirkenden Vortrag wurde lebhaft und kontrovers diskutiert, aber ihre Aussagen zum nach wie vor höchst umstrittenen Integrationsbegriff bildeten zweifellos 31 — Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fünften Netzwerktreffens einen Meilenstein. Eine Zusammenfassung des Vortrags und der anschlie- ßenden Diskussion ist in der vorliegenden Dokumentation zu finden. 32 — Impressum Die Optimierung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene ist eine der wichtigsten Aufgaben, der sich das Netzwerk seit seiner Gründung 2012 jedes Jahr aufs Neue stellt. Hier konnten erneut viele Fortschritte verzeichnet werden. Dies kam vor allem in der Präsentation regionaler Vernetzungsworkshops im Rahmen von »Kultur öffnet Welten!« 2015/2016, einer Initiative der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) koordiniert vom »netzwerk junge ohren«, zum Ausdruck. Die ersten Erkenntnisse aus diesen Vernet- zungsworkshops wurden mit Vertreterinnen und Vertretern der kommu- nalen, Landes- und Bundesverwaltung im Netzwerk diskutiert. Die Zusam- menarbeit mit allen Beteiligten der Initiative »Kultur öffnet Welten!« und damit auch mit dem »netzwerk junge ohren« soll zukünftig fortgeführt und intensiviert werden, um den Netzwerkmitgliedern Impulse für die Schaffung neuer Synergien zu geben.
Das Thema der diversitätsorientierten Entwicklungsprozesse in Kunst- und Einleitung Kulturinstitutionen wurde aus der Perspektive der Theater, der Museen und der Beratung von Kulturinstitutionen in vielfaltsensiblen Öffnungspro- zessen diskutiert. Dabei galt es, eine differenzierte Bestandsaufnahme zu machen, die Übertragbarkeit innovativer Ansätze der letzten fünf Jahre in Deutschland zu untersuchen und die noch bestehenden Widerstände bei den diversitätsorientierten Entwicklungsprozessen im Kulturbetrieb zu benennen. Die Idee für das 2012 gegründete Netzwerk Kulturelle Bildung und Integrati- Dabei wurden Erkenntnisse und Vorschläge aus den letzten vier Jahren der on wurde im Dialogforum »Kultur« des Nationalen Aktionsplans Integra- Netzwerkarbeit reflektiert und ein »Realitätscheck« durchgeführt. Erste Ergeb- tion 2011 geboren. Wichtige Akteure und Multiplikatoren hatten sich auf nisse lassen sich in der vorliegenden Publikation nachlesen. Fest steht, dass folgendes strategisches Ziel verständigt: Kulturelle Pluralität leben – in- uns das Thema der diversitätsorientierten Entwicklungsprozesse in Kunst- terkulturelle Kompetenz stärken. Drei operative Ziele sollen zum Erreichen und Kulturinstitutionen weiterhin intensiv beschäftigen wird. Die Stiftung dieses Ziels beitragen: a) Interkulturelle Öffnung von Kultureinrichtungen Genshagen wird zudem nach neuen Wegen suchen, die Leitungsebene der und Kulturprojekten; b) Vernetzung der Akteure; c) Vermittlung von For- Kunst- und Kulturinstitutionen stärker an die Netzwerkarbeit zu binden. schungsergebnissen, Qualifizierungsprogrammen, Qualitätsstandards und Die damals noch junge »Initiative kulturelle Integration«, die im Mai 2017 in die Modellprojekten des interkulturellen Dialogs. Die Stiftung Genshagen hat Formulierung der »15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt« gemeinsam mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me- mündete, wurde von Gabriele Schulz, stellvertretende Geschäftsführerin des dien (BKM) das ressortübergreifende Netzwerk Kulturelle Bildung und Inte- Deutschen Kulturrates, im Rahmen unseres Netzwerktreffens präsentiert und gration aufgebaut und arbeitet an dessen Ausbau. Seit 2012 koordiniert und diskutiert. Für die Zukunft zeichnen sich eine stärkere Auseinandersetzung realisiert sie die Jahrestreffen. Das Netzwerk versteht sich als Austausch- mit einzelnen Thesen im Rahmen der Netzwerkarbeit und eine engere Zusam- plattform, aber auch als informeller Think Tank. Es befasst sich insbeson- menarbeit mit dem Deutschen Kulturrat ab. dere mit der Frage, worin die kunst- und kulturspezifischen Beiträge zur Ein ganz besonderes Erlebnis war der Workshop mit der renommierten Jazz- Integration liegen. Die Diversitätsentwicklung in Kunst- und Kulturinsti- und Soul-Sängerin Jocelyn B. Smith, der uns die Macht der Musik und den tutionen zieht sich als thematischer roter Faden durch das Netzwerk seit Eigensinn der Kunst am eigenen Leib erfahren ließ. Mit einer Gesangseinlage dessen Gründung. Die jährlichen Netzwerktreffen dienen dem Know-how- im Bundeskanzleramt, zusammen mit Jocelyne B. Smith, konnten wir unserer Transfer zwischen den Netzwerkmitgliedern und der Diskussion über Kon- Zwischenbilanz fröhlichen Nachdruck verleihen. Für den sehr inspirierenden zepte, Arbeitsansätze und pragmatische Modelle der ressortübergreifenden Gesangsworkshop bedanken wir uns an dieser Stelle noch einmal sehr Zusammenarbeit. Dieser Erfahrungsaustausch soll in einem von Vertrauen herzlich! geprägten »geschützten Raum« erfolgen, in dem offen formuliert und kont- In einer sehr offenen Begegnung bestärkte Staatsministerin Monika Grütters rovers diskutiert werden kann. die Netzwerkmitglieder in ihrer Arbeit und betonte, dass sie das Netzwerk als einen Partner ansehe, der der BKM auch weiterhin beratend zur Seite stehen Die Stiftung Genshagen wird bei der Programmarbeit für das Netzwerk von solle. Sie freue sich auf Empfehlungen, wie der Bund seine Aktivitäten im einem informellen Zusammenschluss von zwölf Personen, der Steuerungs- Bereich der Kulturellen Integration intensivieren könnte. Wir freuen uns sehr gruppe, beraten. Sie bestand 2016 aus Mustafa Akça (Komische Oper Berlin), über den bisherigen gemeinsamen Weg und das uns entgegengebrachte Ver- Manfred Fischer (Verwaltungsdirektor der Akademie der Künste, Berlin), trauen. Wir bedanken uns bei Frau Staatsministerin Grütters und ihren Mitar- Andreas Freudenberg (Geschäftsführer der Global Music Academy, Berlin), beiterinnen und Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit und die Unterstüt- Sigrid Gareis (freie Kuratorin), Ulf Großmann (Netzwerkstelle Kulturelle zung der wertvollen Arbeit des Netzwerks, das sich innerhalb von vier Jahren als Bildung Kulturraum Oberlausitz–Niederschlesien), Timo Köster (damaliges bundesweite Plattform etabliert hat. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied, der Zukunftsakademie NRW), Uwe Herzlichen Dank auch an alle Netzwerkmitglieder für ihre aktive Teilnahme. Lübking (Beigeordneter des Deutschen Städte- und Gemeindebundes), Hans- Nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf, wenn Sie Beiträge dieser Dokumen- Joachim Ruile (ehem. Geschäftsführer des Kulturhauses Kresslesmühle tation kommentieren möchten. Wir freuen uns über Anregungen, neue Frage- GmbH/Internationales Kulturhaus Augsburg), Dr. Sebastian Saad (damali- stellungen und weitere kontroverse Diskussionsthemen! ger Referatsleiter Kulturelle Bildung und Integration bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Berlin), Dr. Azadeh Sharifi (Kulturwissenschaftlerin), Dr. Susanne Stemmler (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung), Matthias Wolf (damaliger Referatsleiter Kulturelle Bildung im Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg). Christel Hartmann-Fritsch Sophie Boitel 7 Anschließend Aussprache und Diskussion PRO G R A M M Moderation: Breschkai Ferhad TEIL 3: des Fünftes Treffens des Wie steht es um die realen Veränderungsprozesse in Kunst- und Kulturinstitutionen? Netzwerks Kulturelle Bildung und Integration 2016 17:10 Arbeitsgruppen Zwischenbilanz der bisherigen Arbeit des Netzwerks und Einführung Blick in die Zukunft Mustafa Akça, Leiter des interkulturellen Projekts »Selam Opera!« und Mitarbeiter der Dramaturgie, Komische Oper Berlin »Fokus externe Beratung zur vielfaltssensiblen Qualitätsentwick- Gesamtmoderation: lung im Kulturbetrieb«, Moderation: Naciye Demirbilek, Geschäfts- Breschkai Ferhad, Bundesweiter Ratschlag kulturelle Vielfalt, führerin, W3 – Werkstatt für internationale Kultur und Politik e. V., Berlin Hamburg »Fokus Theater«, Moderation: Barbara Kantel, Dramaturgin und ehem. Projektleiterin des Montagscafés, Staatsschauspiel Dresden DONNERSTAG, 10. NOVEMBER 2016 »Fokus Museum«, Moderation: Dietmar Osses, Sprecher des Arbeits- kreises Migration, Deutscher Museumsbund, Bochum 14:00 Begrüßung und kurzer Rückblick auf die bisherigen Netzwerktreffen 18:10 Kurze Pause Christel Hartmann-Fritsch, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied, 18:20 Resümee der Arbeitsgruppen und des ersten Tages im Plenum und Sophie Boitel, Projektleiterin, Stiftung Genshagen Moderation: Mustafa Akça und Breschkai Ferhad Dr. Sebastian Saad, Referatsleiter Kulturelle Bildung und Integration bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), 19:15 Abendessen Berlin 20:30 Verständigung über die Prioritäten zum Vortrag im Bundes- kanzleramt TEIL 1: In Kleingruppen, moderiert durch Mustafa Akça, Breschkai Ferhad, »Integration«: ein Ziel, ein Prozess, ein Konzept für die Zukunft? Christel Hartmann-Fritsch 14:30 Impulsvortrag aus der Sicht der Wissenschaft Prof. Dr. Naika Foroutan, stellvertretende Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung FREITAG, 11. NOVEMBER 2016 (BIM), Berlin Anschließende Diskussion 9:00 Vorbereitung auf das Gespräch im Bundeskanzleramt 15:30 Kaffeepause mit Jocelyn B. Smith, Jazz- und Soulsängerin, Berlin 11:00 Vorstellung der »Initiative kulturelle Integration« TEIL 2: Gabriele Schulz, stellvertretende Geschäftsführerin, Funktioniert die ressortübergreifende Zusammenarbeit auf Deutscher Kulturrat, Berlin Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene? 11:15 Aktuelles aus dem Netzwerk 16:00 Impuls aus Sicht der Arbeitsebene am Beispiel der bundesweiten Speakers’ Corner und Arbeit der Tandems Initiative »Kultur öffnet Welten!« Claudia Frenzel-Müncheberg, Projektleiterin, und Lydia Grün, 11:45 Mittagsimbiss Geschäftsführerin, netzwerk junge ohren, Berlin 13:30 Ankunft im Bundeskanzleramt Vesile Sarıtaş, Projektleiterin »oneworld! Interkulturelles TV Magazin«, Offener Kanal Magdeburg 14:00 Begrüßung Prof. Monika Grütters MdB, Staatsministerin für Kultur und Medien Kommentare und Reaktionen Dr. Sebastian Saad, Referatsleiter Kulturelle Bildung und Integration 14:10 Vorstellung der Zwischenbilanz des Netzwerks über die bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien vergangenen fünf Jahre (BKM), Berlin Mit anschließender Diskussion und gemeinsamem Ausblick Rebecca Eichhorn, Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft 15:20 Kurzes Resümee und Kultur, Referat 32, Kulturentwicklung, Kulturförderung, durch Prof. Monika Grütters MdB, Staatsministerin für Kultur und Kulturelle Bildung, Hannover Medien Harald Müller, Leiter des Kulturamts Neuss, in Kooperation mit dem Deutschen Städtetag 15:30 Ende der Veranstaltung
TEIL 1: »I N T E G R AT ION«: E I N Z I E L , E I N PROZ E S S , E I N KON Z E P T F Ü R DI E Z U K U N F T ? Zusammenfassung des Impulsvortrags von Professorin Dr. Naika Foroutan, stellvertretende Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BMI), und der anschließenden Diskussion Wir leben heute in einem postfaktischen Zeitalter, Besonders heftig zeigt sich die Irrationali- was weitreichende Auswirkungen auf die In- tät des Postfaktischen daran, dass, während tegrationsdebatte hat. Von den Menschen mit die Angst vor erhöhter Kriminalität durch Migrationshintergrund in Deutschland leben Geflüchtete steigt, gleichzeitig die Angriffe etwa 95 Prozent in Westdeutschland, nur fünf auf Asylunterkünfte zunehmen. Andererseits Prozent in Ostdeutschland – dennoch ist ge- gibt es jedoch auch die sogenannte »Willkom- rade in den neuen Bundesländern die Angst menskultur«, die seit Beginn der sogenannten vor Überfremdung besonders groß. Es besteht »Flüchtlingskrise« zu zeigen versucht, dass somit eine deutliche Ambivalenz zwischen die Geflüchteten in Deutschland gerne aufge- dieser Angst und den tatsächlich vorliegenden nommen werden. Fakten. Subjektive Fehleinschätzungen ergeben sich beispielsweise auch bei der Frage nach dem Kurze Geschichte des Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölke- Integrationsbegriffs seit rung in Deutschland. Während dieser Anteil real zwischen 4 und 5 Prozent der Gesamtbe- den 1950er Jahren völkerung beträgt, wird er von 69 Prozent der Befragten teilweise stark überschätzt. 21,6 Der Begriff »Integration« wurde in den 1950ern Prozent der Befragten vermuten den Anteil und 1960ern stark mit den sogenannten der Muslime an der Bevölkerung bei zwischen »Gastarbeitern« in Verbindung gebracht. Bis 11 und 20 Prozent. Der Anteil der Befragten, zum Anwerbeabkommen 3 1955 spielte er je- die den Anteil der Muslime mit 21 Prozent und doch keine große Rolle. mehr sehr stark überschätzen, liegt bei 23 Pro- Die 1970er Jahre waren durch den Anwerbe- zent. 1 stopp und den einsetzenden Familiennach- Die Angst vor Überfremdung bleibt somit zug geprägt. 4 Begriffe wie »Kofferkinder« und eine reine Idee ohne eine reale, faktenbasier- »Türkenklassen« standen damals im Mittel- te Grundlage. Mit Aussagen wie »Die Türken punkt. Man glaubte noch, dass diese Men- erobern Deutschland genauso, wie die Koso- schen sowieso wieder gehen würden. varen den Kosovo erobert haben: durch eine Durch das Kühn-Memorandum 5 1979 fand höhere Geburtenrate«, nährte Thilo Sarrazin in den 1980er Jahren eine Kehrtwende statt. 2010 2 diese Angst – ebenfalls ohne empiri- Erste Konzepte zur Bildungsbeteiligung und sche Grundlage. Die meisten Einwanderer in Integration der ersten Generation von Immi- Deutschland stammten damals wie heute aus granten wurden entwickelt, denn nun war europäischen Ländern, der Großteil sogar aus klar, dass die »Gastarbeiter« vielmehr Einwan- der Europäischen Union. Empirische Daten derer waren, die nicht zurückkehren würden. und Argumente scheinen die Menschen nicht In den 1990er Jahren kam es zu Rückschritten mehr zu erreichen. in Sachen Integration. Die Pogrome in Ros- 11
tock-Lichtenhagen und Hoyerswerda sowie 1. Strukturell, d. h. über Bildungsgrad, Arbeits- Gesellschaft angebracht ist. Darüber hinaus »Konvivialismus« ist ein wichtiger Begriff, das Ende des Asylkompromisses erschütterten marktpräsenz etc. haben bei gleichem Bildungsgrad Migrantin- um ein neues Integrationskonzept zu be- den Integrationsdiskurs im Land. 2. Kulturell, z. B. darüber, wie gut die Spra- nen und Migranten sowie Menschen mit Mi- schreiben, denn letztlich geht es um die Fra- Die 2000er waren von einem pragmatischen che des Aufnahmelandes gesprochen wird, ob grationshintergrund schlechtere Berufschan- ge des Miteinanders 11. Der Begriff »Integrati- Realismus geprägt: das Verständnis von muslimische Mädchen am Schwimmunter- cen. Die deutsche Gesellschaft muss weg vom on« sollte aber nicht aufgegeben werden. Hier Deutschland als Einwanderungsland wuchs richt teilnehmen etc. Leistungsmythos, laut dem bei ausreichender kann auch auf Wortergreifungsstrategien ab 2001 und wurde zu einem politischen Nar- 3. Sozial, d. h. über Freundschaften, Nachbar- Leistung einem Bildungsaufstieg nichts im und politische Kommunikation verwiesen rativ, mit dem sich auch die Gesetzgebung än- schaftskontakte, Heiratsverhalten. Wege stehe. werden. Wir müssen für unsere Worte kämp- derte. Das neue Staatsangehörigkeitsgesetz (2000), 4. Emotional, identifikativ, d. h. wie sehr man fen und sie zurückgewinnen. Das Wort »Inte- das Einwanderungsgesetz (2005) 6, die Leitkulturde sich mit der neuen bzw. alten Heimat verbun- Besonderes Augenmerk der Integrationsde- gration« muss vom Subtext der Assimilation batte (2000) und der Nationale Integrationsplan 7 den fühlt. batte liegt auch auf Ebene 4 des Modells, dem befreit werden. Klaus Bade und Michael Bom- zeugten von der enormen Macht des Begriffs emotionalen Raum, d. h. dem Grad der Iden- mes haben dies bereits 2004 versucht: »Inte- der »Integration«, aber auch vom Empower- Dieses Modell ist einfach, aber zu einsei- tifikation. Denn es geht heute in der öffentli- gration ist die messbare Teilhabe aller an den ment innerhalb der Gruppen mit Migrations- tig, denn es fasst lediglich die Menschen mit chen Integrationsdebatte viel um Fragen der zentralen Bereichen des gesellschaftlichen hintergrund. Es kam zu starken Aushandlun- Migrationshintergrund in den Blick. Die Ge- Haltung, nicht nur der Herkunft: Mit welchem Lebens, d. h. an Erziehung, Bildung, Ausbil- gen und Positionskämpfen, vor allem ab 2010 samtgesellschaft und deren Grad an Integra- Land, welcher Kultur und welchen Werten dung, Arbeitsmarktrecht, sozialer bis hin zu angeheizt durch Thilo Sarrazins Buch Deutsch tionsfähigkeit wird nicht beachtet. Auch so- identifiziere ich mich? Die Debatte stellt da- politischer Partizipation.«12 »Migrant« taucht land schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel set genannte Herkunftsdeutsche 9 können gemäß durch Menschen aller sozialer Gruppen, poli- in dieser Definition nicht auf, denn hier ist zen 8 . Sarrazin beschäftigte sich darin mit Fol- diesem Modell als »desintegriert« eingestuft tischer Lager und Ethnien in Deutschland den Integration ein Ziel, das alle betrifft und kei- gen der Kombination von Geburtenrückgang, werden, wenn diese beispielsweise vom Ar- neuen Migrantinnen und Migranten gegen- ne kulturelle, ethnische Frage. Merken kann wachsender Unterschicht und Zuwanderung beitsmarkt ausgeschlossen oder nicht sozial über. Dadurch dient die aktuelle Integrations- man sich auch das Akronym ACTIV, das für aus überwiegend muslimischen Ländern, die integriert sind. Zudem liegen dem Modell be- debatte dazu, viele andere soziale Konfliktlini- Anerkennung, Chancengleichheit, Teilhabe seiner Ansicht nach Deutschlands Zukunft stimmte kulturelle Vorstellungen von Integ- en zu überdecken, z. B. Bildungsgerechtigkeit, in vielfältigen Gesellschaften steht. Es ist gefährden. ration zugrunde, die man kritisch sehen kann. Gender etc. Die Debatte ist somit eine Art eine Art Add-on zu Bade und Bommes, da es Ist ein Mädchen mit Kopftuch, das nicht am Deckmantel für die eigentlichen gesellschaft- Anerkennung hinzufügt, denn diese ist es, Wie sich in diesem kurzen Abriss der Ge- Schwimmunterricht teilnimmt, automatisch lichen Herausforderungen bzw. Klüfte. wonach jeder Mensch strebt. schichte zeigt, erfolgte die Entwicklung eines weniger integriert? Muss ein Individuum sich Verständnisses von »Integration« in Wellen- für eine bestimmte Nationalität entscheiden bewegungen. Dabei geriet auch der Integrati- oder ist das lediglich eine Forderung des auf- onsbegriff selbst immer wieder in die Kritik: kommenden neuen Nationalismus? So suggeriert »Integration«, dass es eine Kern- DI SK US S ION gemeinschaft gibt, die bereits integriert ist, und eine Gemeinschaft von Zugezogenen, die Konzept für die Zukunft es noch zu integrieren gilt. Integration in die- sem Sinne erweckt den Eindruck, eine Assi- Integration sollte als »postmigrantisch« bzw. Im Anschluss an den Vortrag fand eine Dis- In der Diskussion wurde zudem angespro- milation der Migrantinnen und Migranten zu gesamtgesellschaftlich verstanden werden. kussion mit den anwesenden Netzwerkmit- chen, dass Integration und Postmigration fordern. Der Begriff wurde deswegen immer Dabei geht Integration alle an. In der Integra- gliedern statt, deren Fokus auf dem Verständ- unscharfe Begriffe sind. Während sie analy- stark kritisiert. Es wurde deshalb versucht, tionsdebatte zeigt sich jedoch ein Paradox: Je nis des Integrationsbegriffs und insbesondere tisch und sozialwissenschaftlich zwar erfass- ihn durch andere, inklusivere Begriffe wie z. B. besser strukturelle Integration von Migran- auf der im Vortrag angestoßenen Erweiterung bar sind, bleiben sie in anderen Aspekten – vor »Superdiversity« und »Transnationalismus« zu tinnen und Migranten sowie Menschen mit des Konzepts als »postmigrantische Integra- allem in ihrer normativen Dimension – un- ersetzen. In jüngerer Zeit zeichnet sich jedoch Migrationshintergrund in den letzten Jahren tion« lag. Hervorgehoben wurde dabei der in- scharf. Auch wurde kritisch diskutiert, dass eine Umdeutung des Integrationsbegriffs ab: gelang, desto stärker wurde eine Integrati- tuitive, künstlerische Zugang zu dem Begriff, dem Begriff »postmigrantisch« noch die Ana- Es wird häufiger über die »Integrationsfähig- onsdebatte à la »gelingende Integration ist ei- der nicht von Anfang an den Anspruch erhebt, lysewerkzeuge fehlen, um gegenwärtige Aus- keit« unserer Gesellschaft gesprochen, statt gentlich gar nicht möglich« geführt 10. Obwohl analytisch zu sein. Der Begriff, der im Kunst- schlussmechanismen unserer Gesellschaft über die Integration von Migrantinnen und z. B. die Bildungsbeteiligung und Abiturquote und Kulturbereich entwickelt wurde, schließt zu verstehen und zu analysieren. Ein stärke- Migranten. Die Gesamtgesellschaft muss bei türkischstämmigen Schülerinnen und eine Lücke in der soziologischen Forschung, rer Bezug auf den Inklusionsbegriff wurde demnach die nötigen Strukturen bieten, um Schülern in den letzten Jahren enorm gestie- indem er sich mit den nicht analytisch bzw. als mögliche Lösung in Erwägung gezogen, Integration gelingen zu lassen. Dies lässt sich gen sind, glauben viele, »Türken seien nicht empirisch erfassbaren Aspekten des Konzepts da dieser Analysekategorien ermöglicht, die als reflexive Wende im Integrationsverständ- bildungsfähig«. Es handelt sich dabei um eine der Integration befasst. Außerdem bietet er ei- Distinktionsmechanismen zum Thema ma- nis beschreiben. rassistische Behauptung: man geht davon aus, nen Zugang zu dem Konzept der Integration, chen, und auch Aspekte wie Chancengleich- dass es so ist und stellt es nicht in Frage. der es möglich macht, sich eine Gesellschafts- heit und Teilhabe abdeckt. Zudem scheint der 4-Ebenen-Modell (Esser/Alba etc.): Was hingegen der Realität entspricht, ist eine form und Perspektiven des Zusammenlebens Begriff passend, da er den Aspekt der Barrie- Integration wird in der Wissenschaft häufig starke Bildungsbenachteiligung in dieser vorzustellen. Kritisiert wurde, dass der Begriff refreiheit betont und die Zuständigkeiten für mithilfe des »4-Ebenen-Modells« untersucht. Gruppe, über die es sich zu reden lohnt und »postmigrantisch« den Anschein erwecken Inklusion umkehrt. Der Inklusionsbegriff ist Dieses misst den Grad der Integration: bei der das Thema Integrationsfähigkeit der könnte, dass Migration aufgehört habe. jedoch stark mit den Anliegen von Menschen 12 13
mit Behinderungen verbunden und wird von Teilhabegerechtigkeit – schwer messbar, aber für ihnen für ihre politischen Ziele verwendet. Dies das Verständnis von Integration dennoch von ist ein entscheidendes Argument gegen die Ver- großer Relevanz. wendung des Begriffs bei Fragen der Integration. In diesem Kontext wurde auch die Idee eines Auch die in dem Vortrag von Foroutan angesto- »sinnstiftenden Endpunkts«, die in dem Impuls- ßene Subsumierung von Chancengleichheit, An- vortrag vorgestellt wurde, im Plenum aufgegrif- erkennung und Teilhabe unter dem Begriff der fen. Vor allem die Frage, was dieser sinnstiften- »postmigrantischen Integration« wurde von ei- de Endpunkt sein könnte und wer ihn definiert, nigen Teilnehmenden des Netzwerktreffens kri- wurde kritisch beleuchtet. Es wurde angeregt, tisch diskutiert. Insbesondere wurde angemerkt, den sinnstiftenden Endpunkt als philosophische dass es sich um Begriffe sui generis handelt, die Vorstellung zu verstehen, bei der der sinnstiften- nicht ohne weiteres dem Konzept der postmig- de Endpunkt nicht im Hier und Jetzt verankert rantischen Integration untergeordnet werden sein muss, sondern als Leitbild verstanden wird, dürfen, da dies die Gefahr birgt, die Begriffe zu zu dem die Gesellschaft sich hin entwickeln kann. entkernen. Außerdem wurde im Plenum die Fra- Ein Integrationsbegriff mit sinnstiftendem End- ge aufgeworfen, ob das Konzept der Teilhabege- punkt könnte die Herstellung von Anerkennung, rechtigkeit dem gesamten Potenzial des Integra- Chancengleichheit und Teilhabe sein. Dies wür- tionsbegriffs gerecht werden kann. Dem Begriff de eine Umdeutung des Begriffs hin zu einer Ein- »Integration« wohnt etwas Konflikthaftes, Span- beziehung von allen Menschen ermöglichen und nungsvolles inne, das in »Teilhabegerechtigkeit« der Begriff könnte als etwas Zukunftsweisendes weniger enthalten ist, da sie eher Aspekte des verstanden werden. Zusammenlebens abdeckt, auf die man einen Anspruch hat. Ein weiteres Thema, das in der Diskussion ange- sprochen wurde, ist der Kontrast zwischen dem Insbesondere auf die Frage nach der Subsumie- umfassenden Faktenwissen zum Thema Migra- rung von Anerkennung, Chancengerechtigkeit tion, das in dem Vortrag von Foroutan angespro- und Teilhabe unter dem Begriff der »postmig- chen wurde, und der gegenwärtigen Verunsiche- rantischen Integration« argumentierte Foroutan rung in der Gesellschaft. Auf die Frage, warum es dagegen, dass mit den drei o. g. Begriffen die As- nicht gelingt, das vorhandene Zahlenmaterial in pekte zusammengefasst werden, die für ein um- der Gesellschaft bekannt zu machen und so auf fassendes Verständnis des Integrationsbegriffs Unwissenheit basierende Vorurteile abzubauen, relevant sind. Zwar können alle diese Worte auch führte Foroutan aus, dass das Problem vielmehr für sich alleine stehen. Der Integrationsbegriff darin liegt, dass der Kausalzusammenhang zwi- ist jedoch ein subsumierender Begriff, der einer- schen Wissen und Abbau von Stereotypen gegen- seits viele mit dem Konzept verbundene Themen wärtig nicht mehr funktioniert. Obwohl es viele berührt, und andererseits immer mit einer nor- Kanäle gibt, über die Informationen zugänglich mativen Auflage verbunden ist. Insbesondere hob sind, und die Fakten oftmals bekannt gemacht Foroutan den Aspekt der Anerkennung hervor, werden, basieren Haltungen verstärkt auf emoti- der ein philosophisch normativer Ansatz ist und onalen Grundlagen, auch wenn die Fakten dage- daher – im Gegensatz zu Chancengleichheit und gen sprechen. 1) Naika Foroutan/Coskun Canan/Sina Arnold/Benjamin Schwarze/Steffen Beigang/Dorina Kalkum, Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität – Erste Ergebnisse, Berlin 2014, S. 44 2) Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2010 3) Kabinett Adenauer II, »Vereinbarung über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der Bundesrepublik Deutschland« vom 20. 12.1955 4) Kabinett Brandt I, »Anwerbestopp ausländischer Arbeitnehmer« vom 23.11.1973 5) Heinz Kühn (Beauftragter der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration), »Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland«, September 1979 6) Kabinett Schröder I und II, »Das Zuwanderungsgesetz (Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern)«, Januar 2005 7) Anm. d. Red.: Auf dem ersten Integrationsgipfel am 14. Juli 2006 wurde beschlossen, einen Nationalen Integrationsplan zu erstellen 8) Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen 9) Anm. d. Red.: ohne migrantische Vorfahren in den letzten zwei Generationen 10) Vgl. Ferdinand Sutterlüty, Sippenhaft: Negative Klassifikationen in ethnischen Konflikten, Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2010 11) Vgl. Frank Adloff/Volker M. Heins, Konvivialismus. Eine Debatte, transcript Verlag, Bielefeld 2015 12) Klaus J. Bade/Michael Bommes/Rainer Münz, Migrationsreport 2004. Fakten – Analysen – Perspektiven. Für den Rat für Migration, Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York 2004 14
Synergien und lokale Vernetzung sind ein Gut, berücksichtigt wurden. Dies bedeutet konkret, das wiederbelebt und in ggf. modifizierten dass sich Zeit für Kommunikation (auch für Formen neu gedacht werden muss. Bei den und innerhalb der Verwaltung) genommen Workshops wurden Impulse für neue Vernet- werden muss. T E I L 2: zung und Austausch geschaffen, was bereits Eine Einbindung von migrantischen Akteu- beim neuen Zusammenstellen und Recher- rinnen und Akteuren in Entwicklungs- und F U N K T ION I E RT R E S S ORT Ü BE RG R E I F E N DE chieren von übergreifenden Adressverteilern Entscheidungsprozesse und die Nutzung mi- vor Ort beginnt. Für jeden Workshop wurde grantischer Kompetenz in der Verwaltung Z US A M M E NA R BE I T ? ein spartenübergreifender, akteurszentrierter sind ebenfalls notwendige Bedingung für eine Verteiler durch das Projektbüro vom netzwerk gelingende Zusammenarbeit. Fördermecha- junge ohren mit einem regionalen Screening nismen stehen vor neuen Herausforderungen Als impulsgebende und praxisorientierte Einführung zur Frage »Funktioniert ressortüber- zusammengestellt und mit den Partnerinnen und müssen überdacht werden: Dazu sollte greifende Zusammenarbeit auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene?« präsentierten und Partnern vor Ort abgestimmt. sich die Förderkonzentration auf sogenannte Lydia Grün und Claudia Frenzel-Müncheberg, Geschäftsführerin und Projektleiterin bei Leuchttürme zugunsten der Förderung von netzwerk junge ohren, Berlin, zusammen mit Vesile Saritaş, Projektleiterin bei »oneworld! Spartenübergreifende Kooperationen erfor- Beziehungsarbeit verändern. Ein Zusammen- Interkulturelles TV Magazin« beim Offenen Kanal Magdeburg, die regionalen Vernetzungs- dern in etablierten Betriebsstrukturen andere denken von Kultureller und politischer Bil- workshops, die im Rahmen des ersten Jahres der Initiative »Kultur öffnet Welten!« 2015/2016 Abläufe. Bevor eine neue Beziehung etabliert dung ist darüber hinaus nötig. stattgefunden haben. ist, muss Zeit in die Kommunikation der un- terschiedlichen Bereiche investiert werden. Die Ergebnisse der regionalen Vernetzungsworkshops Neue Kooperationen bedürfen veränderter von »Kultur öffnet Welten!« von 2015 bis 2017 werden Kommunikation mit neuen Kooperations- aktuell ausgewertet und im Laufe des Jahres in ver Energien und Synergien an einem Ort partnerinnen und -partnern, die über Kompe- schiedenen Formen, unter anderem auf der Plattform tenzen verfügen, die bisher nicht ausreichend von »Kultur öffnet Welten!«, veröffentlicht. zusammenbringen In acht verschiedenen Bundesländern hat das netzwerk junge ohren in seiner Funktion als Koor- DI SK US S ION dinierungsstelle der Initiative »Kultur öffnet Welten!« an verschiedenen Orten Workshops zu regional relevanten Themen organisiert, um möglichst viele Akteurinnen und Akteure der Kul- tur, der zivilgesellschaftlichen Institutionen, der Kommunen und der Migrant/innenorgani- In einem Statement zur ressortübergreifen- Eine Hilfestellung bietet dabei die Initiative sationen an einen Tisch zu bringen. Es galt herauszufinden, wer in den Regionen, Dörfern und den Zusammenarbeit aus Sicht der Kommu- »Kultur öffnet Welten!« u. a. durch Informati- Städten Kultur »macht« – vom Theater und Kulturvereinen über das soziokulturelle Zentrum bis nen ging Harald Müller, Kulturamtsleiter der onen wie zum Beispiel Fachexpertise, die sie zum Deutschen Roten Kreuz – und wie die Beteiligten sich vor Ort miteinander vernetzen kön- Stadt Neuss, auf die gegenwärtigen Heraus- zugänglich macht. Eva Stein, Redaktionslei- nen, um bereits vorhandene Potenziale in der inter- bzw. transkulturellen Arbeit gemeinsam zu forderungen der kommunalen Kulturarbeit terin im Haus der Kulturen der Welten, stellte stärken. Ebenfalls sollte die Frage geklärt werden, welche Hilfestellungen und Rahmenbedin- und die unterstützende Rolle des Bundes ein. in diesem Zusammenhang die Internetplatt- gungen dafür nötig sind. Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit dem form von »Kultur öffnet Welten!« www.kul- Bund betonte er die Wichtigkeit des gene- tur-oeffnet-welten.de und ihren zukünftigen rellen Inputs ebenso wie die politischen Be- Ausbau vor. kenntnisse zur Kulturellen Bildung und Inte- Leitthemen gration seitens des Bundes für die Arbeit von Mit Blick auf die aktuellen Herausforderun- Akteurinnen und Akteuren auf kommunaler gen für Kommunen ist es außerdem für die Folgende übergreifende »Leitthemen« konn- Die Balance zwischen dem hohen Anteil eh- Ebene. Während die Themen Kulturelle Bil- Themenfelder Kulturelle Bildung und Integ- ten aus allen Workshops identifiziert werden: renamtlichen Engagements, gerade im länd- dung und Interkultur zentral in der kommu- ration besonders relevant, ein kommunales Wissenstransfer ist nach wie vor ein bundes- lichen Raum, und professionellem Handeln nalen Kulturarbeit sind, bestehen auf diesem Handlungskonzept zu entwickeln, um den weit relevantes Thema. Vielerorts gibt es sehr und Kompetenzen der Kulturellen Bildung Gebiet große Herausforderungen. Kommuna- Umgang mit diesen Themen in der eigenen unterschiedliche Erfahrungen in der inter- muss neu ausgelotet werden. Methoden und le Ämter, die für Kultur zuständig sind, sind Gemeinde zu definieren und Strukturen dafür bzw. transkulturellen Kulturarbeit und be- Werkzeuge wie bspw. die der Mediation sind oftmals sehr ausgelastet. Es ist daher wichtig, zu schaffen. gleitend dazu den steigenden Bedarf, dieses hier strukturell von Nöten. Vereinfachung, Übersichtlichkeit und Profes- Wissen regional zu vervielfachen und zu teilen. sionalisierung herzustellen. Digitale Plattformen sind dafür ein Lösungs- Ein zentraler Erfolgsfaktor für das Gelingen weg, der jedoch den direkten Austausch von von kultureller Arbeit ist eine ausgewogene Praxiswissen nicht ersetzt. Kritische Reflek- und flexible sowie wechselseitig offene Kom- tionen im Gespräch von Mensch zu Mensch, munikation zwischen Projekt-Macherinnen auch anhand von fachlichen Impulsen, wur- und -machern und Vertreterinnen und Ver- den innerhalb der Workshops nachgefragt. tretern der Verwaltung. 16 16 17
T E I L 3: W I E S T E H T E S UM DI E R E A L E N V E R Ä N DE RU NG SPROZ E S SE I N K U NS T- U N D K U LT U R I NS T I T U T ION E N ? A R BE I T S G RU PPE 1 : Fokus externe Beratung zur vielfaltssensiblen Qualitätsentwicklung im Kulturbetrieb Moderation: Naciye Demirbilek, Geschäftsführerin, W3 – Werkstatt für internationale Kultur und Politik e. V., Hamburg Naciye Demirbilek berichtete über die Bera- nehmen und einer Kritik unterziehen. Insofern stehen tungstätigkeit von W3 – Werkstatt für interna- auch Intersektionalität und damit der Umgang mit tionale Kultur und Politik e. V. und insbeson Mehrfachdiskriminierung im Fokus unserer Arbeit. dere über das Projekt [in:szene] – mehr Vielfalt [in:szene] steht dabei für Veränderung der Kulturbetrie im Kulturbetrieb – 13: Die Grundidee des Projektes be von innen: durch den Einbezug vielfältiger Sicht- und besteht darin, sich vom Begriff der interkulturellen Öff Arbeitsweisen, durch gemeinsames Denken und Suchen, nung der Kulturinstitution zu verabschieden hin zur durch Repräsentation statt Präsentation, durch eine vielfaltssensiblen, diversitätsorientier ten Öffnung im Öffnung, die mehr Beteiligung und Teilhabe beinhaltet. Kulturbetrieb. Das Projekt steht für unsere Vision einer Kulturszene, in der sich eine vielfältige Gesellschaft wi Wie eine solche vielfaltssensible Öffnung gelingen und derspiegelt und Gehör findet – und somit letztendlich eine Kulturarbeit aussehen kann, die gesellschaftlichen auch eine gerechte Teilhabe aller ermöglicht. Ausschlüssen entgegentritt und (Selbst)Repräsentatio- Wir verwenden dabei bewusst den Begriff »vielfalts nen ermöglicht – das steht im Fokus unseres Projekts. sensible Öffnung«, um deutlich zu machen, dass wir ein Dabei ist es wichtig, den Perspektivwechsel zu durch Verständnis von Vielfalt zugrunde legen, welches über laufen: es geht eigentlich nicht um die Zielgruppen, die die üblichen Ansätze im Unternehmensbereich hinaus zu erreichen sind, sondern darum, den Fokus auf die Ge geht, Machtverhältnisse und deren Geschichte in den samtinstitution zu setzen. Festgefahrene Abläufe bis hin Blick nimmt und Ausschlüsse auf individueller, gesell zu ausschließenden und unbewusst auch rassistischen schaftlicher und struktureller Ebene thematisiert. Die Strukturen sollen in den Blick genommen und in Frage ses Verständnis beinhaltet gleichzeitig eine Absage an gestellt werden. Fachliche Expertise sowie finanzielle ein naives oder romantisches Verständnis von Diversi Ressourcen müssen in den Wandlungsprozess mitein tät, in dem »alles so schön bunt und vielfältig« erscheint, bezogen werden, wobei der Wille zum Wandel im Kul aber Hierarchien und Diskriminierungen ausgeblendet turbetrieb als Grundlage vorhanden sein muss. Es han werden. Wir verstehen den Begriff politisch und wollen delt sich um eine strukturelle Veränderung, bei der die unter der Überschrift »Diversität« auch Machtstruk Beteiligung der gesamten Belegschaft und nicht nur der turen und strukturelle Benachteiligungen in den Blick Leitungsebene notwendig ist, so Naciye Demirbilek. DI SK US S ION Die größte Herausforderung: vom Bewusst- und -träger in Kulturinstitutionen geben zu, sein hin zur operativen Umsetzung hierfür keine Strategien zu haben. Es fehlen Mittlerweile ist es vielen Kulturinstitutionen also Konzepte, wobei die Häuser bereits den bewusst, dass diversitätsorientierte Entwick- Druck haben, sich zu öffnen: Das Problem des lungsprozesse ein zukunftsweisendes Thema Publikumsschwunds ist bekannt, viele Men- sind, doch viele Entscheidungsträgerinnen schen werden nicht erreicht, auch wenn die 19
Förderer schon klare Ansprüche an die Insti- dadurch gesellschaftliche Verantwortung ge- bricht man die Routine und wie lässt man turen. Durch die Analyse, Beschreibung und tutionen haben, unterrepräsentierte Gruppen weckt. Es wurde in diesem Zusammenhang sich auf Veränderung ein? Sind wir bereit, be- Hinterfragung dieser Strukturen werden miteinzubeziehen. Selbst wenn der Wille da die Frage gestellt, wie der Kultursektor sich stimmte Themen ohne Tabu in unserer Ins- längerfristige, klare und spezifische Hand- ist, fehlen oft die Mittel und die Kompetenzen, den mit den Diversitätsentwicklungsprozes- titution zu thematisieren, wie z. B. Ausgren- lungsoptionen eingeleitet und somit deren denn bei einem so umfangreichen Prozess sen verbundenen Herausforderungen stellen zungsmechanismen und Ausschlüsse? Veränderungspotenziale in den Fokus ge- müssen alle Ebenen der Einrichtung unter die könne, die durch die Fluchtbewegung 2015 stellt. Gibt es ein gemeinsames Verständnis Lupe genommen werden. und 2016 noch verstärkt wurde. Externe fachliche Begleitung wahrnehmen von grundlegenden Begriffen und Konzepten Ein Beispiel aus einer Mittelstadt wurde von Die »interkulturelle Öffnung von Kunst- und (z. B. »Kultur«)? Wie werden Teilhabe, Vielfalt, Welche zwischenmenschlichen Schwierig- einem Netzwerkmitglied dargestellt: Nach Kulturinstitutionen« wird seit Jahren poli- Barrierearmut und Diversität verstanden? keiten können mit diversitätsorientierten zehn Jahren Diskussion wurde endlich ein tisch gefordert. Man braucht hierfür aller- Wie ist die Umsetzung im Alltag? Oder ist es Entwicklungsprozessen einhergehen? Konzept für die Stadt verfasst: »Es dauert Jah- dings Ressourcen und Kompetenzen, die nur in Leitbildern verankert und liegt in der Auf der operativen Ebene kann sich der Wand- re, bis man genug Verbündete in der Stadt hat, vielerorts fehlen. Viele Kunst- und Kulturins- Schublade? Wie spiegeln sich die im Leitbild lungsprozess schwierig gestalten, da Men- um den Willen zur Öffnung der Einrichtun- titutionen sind nicht in der Lage, die richtigen verankerten Grundsätze in den institutio- schen sich in homogenen Gruppen sehr wohl gen zu erreichen. Damit sind die Kulturins- Fragen zu stellen, daher muss über Unterstüt- nellen Strukturen wider? Wer wird bei stra- fühlen und man Mitarbeiterinnen und Mit- titutionen jedoch noch lange nicht geöffnet, zungsstrukturen gesprochen werden. Diejeni- tegischen Entscheidungen miteinbezogen? arbeiter oft überfordert, wenn Diversität über denn auch dies kann wiederum zehn Jahre gen, die es alleine versuchen, scheitern oft, Wie sind die Kooperationen gestaltet und wie alles gestellt wird. Es wird in kulturpädago- dauern.« daher brauchen sie professionelle Unterstüt- sichtbar sind die einzelnen Partner darin? gischen Einrichtungen und Schulen häufig Ein Ansatz zur Zielerreichung könnte in der zung. Perspektiven anzunehmen, die nicht der ei- gesagt, dass sie sich nicht auf diversitätsori- Frage nach der Einschätzung der Entwicklun- Das Thema Rassismus wurde von der Gruppe genen entsprechen, oder Gewohnheiten zu entierte Entwicklungsprozesse eingelassen gen liegen. Wenn die Haltung nicht da ist, vertieft behandelt, genau wie die Frage, wie verlassen, ist nicht selbstverständlich und er- hätten, wenn sie vorher gewusst hätten, was muss sie erzwungen werden, z. B. durch Zah- Einrichtungen mit diesem sensiblen Punkt fordert auch Mut und Stärke. Es gelingt nicht auf sie zukommt und dies, obwohl gleichzei- len, die erreicht werden müssen. Eine strate- umgehen. Es ist nicht einfach, doch es gibt immer, einen erwünschten Zustand zu errei- tig ein großes Bewusstsein für die Wichtigkeit gische Vorgehensweise seitens der Kulturpoli- ausschlaggebende Prozesse in den Instituti- chen und es braucht Zeit, sich mit den kom- dieser Prozesse vorhanden ist. Daher muss ein tik wird so gefördert. onen, die man festhalten kann. Was müssen plexen Themen diskriminierungskritisch Wandlungsprozess Schritt für Schritt umge- Kulturbetriebe tun, um allen Menschen tat- und sensibel auseinander zu setzen. Neue setzt werden. Dafür sollten unterschiedliche Weit über die »Drei P's« (Personal, sächlich gleiche Teilhabechancen und -mö- Allianzen, Austausch und das Zulassen von Zugangsmöglichkeiten (z. B. über Projektein- Programm, Publikum) hinaus! glichkeiten zu eröffnen? Wie entstehen die neuen Konzepten helfen, bringen voran, las- stieg oder Beratungseinstieg) angeboten wer- In Kulturinstituten gilt es, einen defizitären Themen für das Programm und wer wird ein- sen mehr Stimmen und Meinungen sichtbar den. Es kann sich beispielsweise auch zu- Blick auf die Menschen abzuschaffen, die man bezogen? Welcher Sprachgebrauch wird ver- werden. Abschließend wurde an die eigene nächst nur eine Abteilung einer Institution als Publikum gewinnen will. Das Bild des »Mi- wendet? Wie ist die Haltung innerhalb der Fähigkeit appelliert, mehrdeutige Situatio- mit dieser Frage beschäftigen, damit sich granten«, des »Muslimen«, des »Deutschen« Institution zu bestimmten Themen? Spiegelt nen und widersprüchliche Handlungsweisen nicht die gesamte Institution auf einmal um- usw. muss neu überdacht werden, denn man sich die Multiperspektivität der Gesellschaft in unserer Gesellschaft zu ertragen, aber auch gestalten muss. darf eine bestimmte Zielgruppe nicht auf die in den Strukturen der Organisation wider? zu nutzen. Im Widerspruch dazu erscheint es aber für für sie spezifizierten Inhalte reduzieren. In Das alles bedeutet zwangsläufig einen lang- einige Netzwerkmitglieder notwendig, ein diesem Zusammenhang wurde diskutiert, in- fristigen Organisationsentwicklungsprozess Bedarf an kulturpolitischen Impulsen radikaleres Denken zu fordern, bei dem die wiefern ein neues Publikum tatsächlich ande- mit Einbezug von verschiedenen Perspekti- Welche Wege gibt es, um eine »diversere« Per- gesamte Institution sich ändern soll. Neu zu re Inhalte braucht. ven. Durch das Reflektieren von Organisati- sonalpolitik umzusetzen? Welcher konkrete besetzende Leitungspositionen müssen so Bei der Programmgestaltung sollten sich die onsabläufen und Verantwortlichkeiten, wie Passus in Stellenausschreibungen ist hierfür ausgeschrieben werden, dass Kompetenzen in Institutionen folgende Fragen stellen: Von bspw. durch eine externe Beratung, kann da- denkbar? diesem Bereich zum Leistungs- und Qualifi- wem werden die Inhalte festgelegt? Mit wem für sensibilisiert und die Problematik in den Wenn es eine politische Intention ist, könnte kationsprofil gehören. wird kooperiert? Wie kommen diese Koopera- Blick genommen werden. Solch eine externe man die interkulturelle Öffnung auch top- tionen zustanden? Die Mitarbeiterinnen und Beratung ermöglicht einen externen kriti- down als Bedingung für alle Kultureinrich- Eine Haltung vor Ort erzeugen Mitarbeiter haben oft bestehende Netzwerke, schen Fachblick auf die bestehenden Struk- tungen umsetzen. Der Diversitätsentwicklungsprozess betrifft die nicht unbedingt Kontakte zu Personen mit den Gesamtbetrieb. Die nötigen Verände- unterschiedlicher kultureller und/oder mig- rungen sind daher Aufgaben, die auf der Lei- rantischer Geschichte beinhalten. Auch wenn A R BE I T S G RU PPE 2: tungsebene gewollt sein müssen. Wie bringt von einer Institutionsleitung der Wunsch ge- man die Leitungsebene dazu, Inhalte zu ver- äußert wird, Kooperationen mit neuen Part- Fokus Theater ändern bzw. diese Veränderungsprozesse her- nern einzugehen, ist das oft nicht ausreichend, beiführen zu wollen? Eine Antwort auf diese um diese tatsächlich zu realisieren. Moderation: Barbara Kantel, Dramaturgin im Schauspiel Hannover und ehem. Projektleiterin Frage lautet, dass man vor Ort (in der Stadt, Die Drei P's sind zwar wichtige Ansatzpunk- des Montagscafés, Staatsschauspiel Dresden bzw. in der Umgebung des Kulturbetriebs) ein te, dennoch reichen sie in Qualitätsentwick- Klima dafür schaffen muss. Der »Bundesfach- lungsprozessen nicht aus, da sie u. a. zu ope- Die Arbeitsgruppe beschäftigte sich insbe- mit dem starken Zuzug von Geflüchteten in kongress Interkultur 2012« in Hamburg hat rational sind. In solchen Prozessen sollten sondere mit den Entwicklungen in den The- Deutschland zu beobachten sind. Diese Ent- in diese Richtung hingewirkt, denn es wurde folgende Fragen thematisiert werden: Wie aterhäusern, die seit 2015 in Zusammenhang wicklungen werden unter der Perspektive 20 21
beobachtet, inwiefern sie eine tatsächliche, jedoch schwierig, Künstlerinnen und Künst- nachhaltige »Öffnung« der Theaterhäuser an- ler mit Fluchterfahrung strukturell zu be- stoßen. In diesem Kontext lässt sich meistens teiligen und zu vergüten. Im Arbeitsprozess feststellen, dass alte Strukturen in den Thea- wären Tandems zwischen Menschen mit tern trotz des Zuwachses an interkulturellen Migrationsgeschichte oder -erfahrung und Projekten erhalten bleiben. Es gilt, einen Ort Theatermitarbeiterinnen und -mitarbeitern des Kulturschaffens in den Theatern zu etab- sinnvoll. lieren, der langfristig auch für Geflüchtete of- Das Schauspiel Hannover wurde in den Fokus fen ist – keine sich wie bisher in den meisten der Diskussion genommen: Mit mittlerweile Theatern ständig wandelnde Projektarbeit. Bei 70 Musikerinnen und Musikern arbeitet die den Projekten mit Geflüchteten spielt auch die Initiative Musikland Niedersachsen zusam- soziale Unterstützung der Geflüchteten eine men, mit der das Schauspiel Hannover im For- wichtige Rolle. Es ist gleichzeitig wichtig zu mat »Dance the Tandem« kollaboriert. Ziel ist es, beachten, dass Kunst- und Kulturschaffende die Musikerinnen und Musiker untereinander keine Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu vernetzen und sie zu qualifizieren, indem sein können. sie beispielsweise über Arbeitsmöglichkei- ten und Förderstrukturen informiert werden. Kurzfristig sollen ihnen dadurch Auftritts- 3+1 P's (Personal, Programm, möglichkeiten, langfristig sogar Arbeitsplät- Publikum + Partner) ze verschafft werden. Ähnliches plant das Schauspiel Hannover nun Programm auch für Theaterleute mit dem Format »YALLA!« Beim Programm mit und für Geflüchtete im Rahmen seiner partizipatorischen Thea- geht es nicht nur um reine gegenseitige Wis- terarbeit (mit finanzieller Unterstützung des sensvermittlung, sondern insbesondere auch niedersächsischen Ministeriums für Wissen- um die gegenseitige Vermittlung emotiona- schaft und Kultur). Ein diverses Ensemble aus ler Kenntnisse, z. B. über Narrative. Für neue jungen Zugewanderten und Einheimischen Vermittlungsformen und Austauschmecha- trifft sich einmal wöchentlich, um – angelei- nismen braucht man Raum, Zeit und finan- tet von zugewanderten Künstlerinnen und zielle Ressourcen zum Experimentieren. Bei Künstlern – nach gemeinsamen Erzählungen der Programmgestaltung besteht auf der Lei- und produktiven Differenzen zu suchen und tungsebene meistens die Angst, dass das Pub- daraus unterschiedliche künstlerische Projek- likum bei neuen Formaten wegbleiben könnte. te zu entwickeln. Man muss die Frage stellen, was das Publikum In vielen Theaterhäusern gibt es leider noch verstehen kann und wofür es sich interessiert. »Beharrungstendenzen«, d. h. beispielsweise, Es gibt nach wie vor eine Kluft zwischen der dass sich immer noch »weiße Personen« die »Hohen Kunst« und partizipativen Projekten. Konzepte ausdenken. Es stellt sich die Frage, Die Theater könnten einen Raum für Debatten wie man Verständnis für die Projektarbeit mit öffnen. In diesem Zusammenhang braucht Geflüchteten schaffen und gleichzeitig die nö- man allerdings Signale von den kulturpoli- tigen Transformationsprozesse in Gang brin- tischen Entscheidungsträgerinnen und -trä- gen kann. Wie kommt man mit diesen Projek- gern, wie etwa in der Förderung von Beratung ten in das »Kerngeschäft« der Theater hinein? und Publikumsbegleitung. Im Rahmen der Die Einführung von Quoten im Einstellungs- Programmgestaltung sollten auch Geflüchte- prozess wurde in diesem Zusammenhang te oder Menschen aus marginalisierten Grup- ebenfalls diskutiert. pen in den Programmbeirat mit einbezogen werden. Publikum Insgesamt sind die Publikumszahlen 14 sehr Personal gering, nicht nur unter Geflüchteten und Rechtslage und Mentalitäten ändern Menschen mit Migrationshintergrund. Ziel Es sollte angestrebt werden, Künstlerinnen sollte es demnach sein, sich weg vom defizi- und Künstler mit Fluchterfahrung in den tären Blick zu bewegen und stattdessen Integ- Theatern im Rahmen von bezahlten Arbeits- ration gesamtgesellschaftlich zu denken und verhältnissen einzubinden. Das Aufenthalts- darauf basierend ein spannendes, diverses und Arbeitsrecht in Deutschland macht es Programm zu gestalten. 22 23
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