100 JAHRE BETRIEBSVERFASSUNG - AUCH EINE GESCHICHTE DER FRAUEN? - Dr. Johanna Wenckebach Jahrestagung Arbeitsrechtsgeschichte 2021 18. Juni 2021 ...
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100 JAHRE BETRIEBSVERFASSUNG – AUCH EINE GESCHICHTE DER FRAUEN? Dr. Johanna Wenckebach Jahrestagung Arbeitsrechtsgeschichte 2021 18. Juni 2021, online
Gliederung • Warum die Frage? • Ein offenes Forschungsfeld • Gründe für die Unsichtbarkeit von Frauen • Pionierinnen der Mitbestimmung – erste Erkenntnisse • Einfluss auf die Entstehung des Betriebsrätegesetzes: Akteurinnen, Forderungen und Ergebnisse • Erste Betriebsrätinnen • Das Betriebsrätegesetz in der Rechtswissenschaft – feministische Kritik • Fazit und: wie geht es weiter? Ideen für die Forschung 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 2
4.2.2020 – 100 Jahre Betriebsrätegesetz Quellen: Beck-Verlag; Magazin Mitbestimmung / HBS 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 3
Auch eine Geschichte der Frauen? Warum die Frage • Aktuelle Analysen beantworten die Frage nicht – stellen sie aber auch nicht • Haben Frauen „keine Rolle gespielt“ ? ➢ Ein Verdacht. 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 4
Auch eine Geschichte der Frauen? Warum die Frage • Geschlechtergerechte Geschichtsschreibung – „fair share“ der historischen Wahrnehmung • Vorbilder, Inspiration, Würdigung und Erinnerung • Was hat Frauen damals bewegt, wie haben sie politisch agiert? • Wie war ihre ökonomische Situation? • Was lernen wir daraus? 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 5
Ein offenes Forschungsfeld Kerstin Wolff: „Von einem Ende der offenen Fragen kann nicht gesprochen werden“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 6
Ein offenes Forschungsfeld • Erste Gewerkschafterinnen: Emma Ihrer, Paula Thiede, Wilhelmine Kähler • Geschichte und Bewegung der demokratischen Frauenbewegung • Frauenpolitik der Gewerkschaften ➢ Frauen in der Rechtsgeschichte der Mitbestimmung? ➢ Warum wird die Geschichte der Betriebsverfassung bisher nicht als Geschichte der Frauen erforscht und erzählt? 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 7
Geschlechtergeschichte der Rätebewegung In: Streichhahn / Jakob (Hrsg.): Geschlecht und Klassenkampf − Anja Thuns: „Alle Macht den Räten! Keine Macht den Frauen?“ − Axel Weipert: „Frauen für die Räte, die Frauen in die Räte?“ − Marion Röwekamp: „Von der Klassenkämpferin zur Republikanerin. Sozialdemokratinnen in der Weimarer Republik.“ (Kapitel zu Arbeitsrecht) 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 8
Geschlechtergeschichte der Rätebewegung Anja Thuns: „Alle Macht den Räten! Keine Macht den Frauen?“ −„Geschlecht wurde bislang nicht als ein entscheidender Faktor bei den Entwicklungen in der Arbeiterschaft gesehen, die zu der Revolution 1918/19 führten.“ (S.93) −„Den Forschungsstand zu Frauen in den Räten der Revolution 1918/19 zu beschreiben, bedeutet zunächst, auf eine Lücke hinzuweisen.“ (S.94) 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 9
Ein offenes Forschungsfeld Kerstin Wolff: − Proletarische Frauenbewegung stand Mitte der 1960er Jahre hoch im Kurs historischer Forschung, verebbte in den frühen 1980er Jahren; − Danach stand die bürgerliche Frauenbewegung im Fokus. 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 10
Ein offenes Forschungsfeld Kerstin Wolff: − Clara Zetkin: „reinliche Scheidung“ zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung; − Fruchtbar wäre, auf Verbindungsfäden zu achten. ➢ Entstehung des Betriebsrätegesetzes als Beispiel für Verbindungen der Bewegungen? ➢ Fattmann stellt interfraktionelle Zusammenarbeit fest, aber auch eine „weitgehende Leerstelle in der historischen Forschung“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 11
Gründe für Unsichtbarkeit von Frauen im Rückblick; Hemmnisse für politische Beteiligung 1919 Thesen von A. Thuns zu Räten sind übertragbar: – Patriarchal geprägte Gesellschaft; von Krieg geprägtes Männlichkeitsbild – Bis 1908 Verbot für Frauen, sich politischen Vereinen anzuschließen (preuß. Vereinsrecht); – Soziale und wirtschaftliche Lebenslage verhinderte umfassende politische Betätigung – Weniger Publikationen, z.B. in Publikationsorganen der Parteien – Weniger Selbstzeugnisse – Gender bias in Berichten; „Revolution ist für viele, auch Forschende, rein männlich konnotiert“ – Unentgeltliche Sorge- und Hausarbeit. 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 12
Wirtschaftliche Situation von Frauen 1919 Anja Thuns & Axel Weipert: – Vor dem 1. Weltkrieg war Zahl der Industriearbeiterinnen um 50 % gestiegen; – Z.B. Maschinenbau Berlin: vor dem Krieg: 29.000 Frauen, danach 100.000; – Frauen wurden nach dem Krieg aus den Betrieben verdrängt: Fristlose Entlassungen nach Kriegsende, Arbeitsplätze für Kriegsrückkehrer; – Frühjahr 1919: Beschäftigungsstand von Frauen wie vor dem Krieg; – Konkurrenzsituation unter Arbeitskräften entstand; – Frauen als Billiglohnkonkurrenz; – „Arbeitsschutz“ für Frauen eher als Nachteil, da Arbeitskräfte mit „Sonderstatus“ (Röwekamp). 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 13
Rainer Fattmann, HSI Working Paper Nr.15 „Pionierinnen der Mitbestimmung Annäherung an eine bisher vernachlässigte Forschungsthematik“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 14
Betriebsrätegesetz – Referentenentwurf aus dem Reichsarbeitsministerium vom 15. Mai 1919 – Erste Lesung in der Nationalversammlung 21.8.1919 – 37, später weitere 4 Frauen von 423 Abgeordneten der Nationalversammlung – Verhandlungen im sozialpolitischen Ausschuss der Nationalversammlung – darin: von 28 Mitgliedern 8 Frauen; – 2. Lesung (begleitet von blutigen Protesten) am 13. Januar 1920 – Gesetz mit 106 §§ gegen Widerstand der Linkssozialisten und der bürgerlichen Rechtsparteien mit Stimmen von DDP, SPD und Zentrum am 18.1.1920 verabschiedet – Ab 4.2.1920 in Kraft ➢Fattmann: Frauen haben auf die Ausarbeitung erheblichen Anteil genommen 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 15
Einflussnahme von Frauen auf Gleichstellungspolitik: interfraktionelle Kooperation Wally Zepler (1865-1940, sozialdemokratische Publizistin) In: Sozialistische Monatshefte vom 26.7.1920, S.590: „…Die Frauen, die auch hier fürchten müssen, dass die männlichen Arbeitnehmer ihr Mitbestimmungsrecht bei Einstellungen und Kündigungen zu einer Verdrängung der weiblichen ausnutzen könnten, setzten sich interfraktionell energisch und geschlossen dafür ein, dass die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht […] als Grund zu Einstellung oder Kündigung gesetzlich ausgeschlossen wurde.“ ➢Forderung nach Diskriminierungsverbot bei Kündigungen und Einstellungen 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 16
Bedenken gegen den Entwurf aus frauenrechtlicher Sicht Else Theodora Lüders (1872-1948, radikaler Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung) In: Soziale Praxis, 1919: „Auch diejenigen Frauenkreise, die dem guten Grundgedanken des Gesetzes […] durchaus wohlwollend gegenüber stehen, haben dennoch die Befürchtung, dass das Gesetz trotz scheinbarer Gleichberechtigung der Geschlechter schwere Schädigungen der arbeitenden Frauen mit sich bringt. Die Erfahrungen, die sie mit den Arbeiter- und Angestelltenausschüssen […] gemacht haben, rechtfertigen diese Befürchtungen nur allzu sehr.“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 17
Marie-Elisabeth Lüders, 1878-1966 − Profilierte Sozialpolitikerin der DDP; − 1921-24 in der Nationalversammlung; 1924-30 im Reichstag; − 1953-61 im Deutschen Bundestag (Alterspräsidentin) ➢ Sah im Betriebsrätegesetz „brauchbare Grundlagen“, hatte jedoch „schwerwiegende Bedenken“ ➢ Sie forderte gemeinsam mit anderen u.a. im Gesetzgebungsverfahren: Frauenquote, besseren Schutz Lüders, Marie-Elisabeth von Frauen vor Entlassungen und bei Einstellungen Quelle: https://www.wikitree. com/photo/jpg/Luders-36 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 18
Marie-Elisabeth Lüders, 1878-1966 − § 42 sah Arbeiter als Vertrauenspersonen vor, die bei der Einstellung mitbestimmen sollten − Dazu Lüders bei den Verhandlungen im Reichstag im Oktober 1919: „Ich nehme ja nicht an, daß nach berühmten Muster wie zB. in der Schöffenklausel ein Deutscher immer nur ein Mann ist, zunächst ein Arbeiter auch immer nur ein Mann sein soll.[…] Aber – und wer die weiblichen Arbeitsverhältnisse kennt, der weiß, daß das ein großes Aber ist – dieser Arbeiter muss 25 Jahre sein – Lüders, Marie-Elisabeth wählen kann er mit 20 – und er muss drei Jahre im Betrieb gewesen sein. Das sind Voraussetzungen, die bei Hunderttausenden von Quelle: https://www.wikitree. com/photo/jpg/Luders-36 Arbeiterinnen nicht zutreffen und durch die sie insofern einfach bei der Vertretung der Interessen herausfallen.“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 19
Sorge um Diskriminierungen bei Einstellungen und Entlassungen − Änderungsantrag zu § 84, unterstützt unter anderem von Anna v. Gierke − „hinter Kündigung einfügen: „wegen der Zugehörigkeit zu einem bestimmtem Geschlechte“ − Antrag hatte Erfolg − Gleichlautende Formulierung für Mitbestimmung bei Einstellungen in § 81 − Problematisch jedoch: die Auslegung Lüders, Marie-Elisabeth Quelle: https://www.wikitree. com/photo/jpg/Luders-36 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 20
Anna von Gierke, 1874-1943 - Abgeordnete der DNVP (Austritt im Mai 1920) - Sozialpädagogin - Gründerin des „Sozialpädagogischen Seminars“ 1911; - Gründerin der Zeitschrift „Soziale Arbeit“, 1923. - Beteiligt an der Gründung des Vorläufers des Dt. Paritätischen Wohlfahrtsverbands, 1925 Gierke, Anna von Quelle: ➢ Sie forderte Frauenquoten im Betriebsrätegesetz http://www.familiewegener.de/anna. htm 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 21
HSI Working Paper von Rainer Fattmann Antrag in 2. Lesung, in § 22 einzufügen: „Den wahlberechtigten weiblichen Arbeitnehmern ist eine ihrer Zahl entsprechende Vertretung zu sichern.“ Begründung: „daß es unbedingt notwendig ist, überall da, wo Frauen in nennenswerter Zahl beschäftigt sind, ihre Vertretung im Gierke, Anna von Betriebsrat zu sichern. Quelle: http://www.familiewegener.de/anna. […] Wir vertrauen auf die Gewerkschaften, dass überall da, wo htm Frauen in nennenswerter Zahl beschäftigt sind, sie […] als Frauen in diesem Betriebsrat ihre Vertretung haben.“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 22
HSI Working Paper von Rainer Fattmann § 22 lautete schließlich allerdings „Bei der Zusammensetzung des Betriebsrats sollen die verschiedenen Berufsgruppen der im Betriebe beschäftigten männlichen und weiblichen Arbeitnehmer nach Möglichkeit berücksichtigt werden.“ − Immerhin: Im Regierungsentwurf waren die weiblichen Arbeitnehmerinnen noch garnicht erwähnt. − Johanna Reitze, SPD-Abgeordnete und Gewerkschafterin − In: Die Gleichheit, 15.5.1920: „Die Rechte, die das Betriebsrätegesetz den Frauen verliehen hat, werden bei richtiger Anwendung und Ausnutzung zur schnelleren Erreichung des gesteckten Ziels“ „wirtschaftliche Gleichstellung“ beitragen. − Die Hoffnung sollte sich nicht bewahrheiten 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 23
Das Betriebsrätegesetz in der Praxis − Analyse der Quellenlage, gewerkschaftspolitische Einordnung und Statistiken bei Däubler/Kittner 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 24
Das Betriebsrätegesetz in der Praxis Erste Betriebsrätinnen? – Datenlage dünn: Frauenanteil bei Betriebsratswahlen wurden – obwohl bereits damals umfangreich analysiert – nicht dokumentiert (Fattmann mwN) – Däubler/Kittner: Jahresberichte der Preußischen Gewerbeaufsichtsbeamten: deutliche Unterrepräsentation – weniger Betriebsratsmitglieder als Anteil an Beschäftigten – Däubler/Kittner (S.213) „Als Gründe wurden Desinteresse, Fluktuation durch Heirat und mangelnde Konfliktfähigkeit genannt. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass unverheiratete Arbeiterinnen oft jünger, also unerfahrener als ihre männlichen Kollegen waren, während ältere verheiratete Frauen sich aufgrund ihrer familiären Belastung weniger in Betriebsräten engagierten.“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 25
Das Betriebsrätegesetz in der Praxis Erste Betriebsrätinnen? – Gewerkschafterinnen beklagten niedrigen Frauenanteil – auch im Verhältnis zum Frauenanteil in Gewerkschaften – Susanne Suhr (1893-1989, SPD-Politikerin, Schriftstellerin, Publizistin, Funktionärin im „Zentralverband der Angestellten“): – 1933, vor den letzten Betriebsratswahlen vor Zerschlagung der Mitbestimmung, zitiert bei Fattmann): Weibliche Angestellte seien „in den Betriebsvertretungen in einer so geringen Anzahl vertreten, wie sie weder ihrer zahlenmäßigen Stärke noch ihrer Bedeutung im Beruf im entferntesten entspricht.“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 26
Das Betriebsrätegesetz in der Praxis Erste Betriebsrätinnen? – In fünf Verbänden stellten Frauen 1928 die Mehrheit der Mitglieder – Frauenanteil sank in den ADGB-Verbänden ab 1920 insgesamt rapide: von 21,7 % 1920 auf 14,3 % 1930 – ADGB Kongress 1928: 2 Frauen unter 282 Delegierten – Textilarbeiterverband bemühte sich um Frauenpartizipation: Textilarbeiterinnenkongress 1926 – Schulungsveranstaltungen: von 17.098 Teilnehmenden im Jahr 1925 4.590 Betriebsrätinnen – Wer waren sie? Was hat sie bewegt? ➢Zwei Pionierinnen im Papier von Fattmann: 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 27
Anna Braun-Sittarz, 1892-1945 - Weberin in einer Textilfabrik - Betriebsrätin, gewählt für den Textilarbeiterverband - Vertrat 1924-29 die KPD im Stadtrat Aachen - Betrieb ab 1929 (am heutigen Anna Sittarz-Platz in Aachen) einen Kiosk, der Anlaufstelle für Verfolgte und Gegner des NS- Regimes war - 1937 zu 27 Monaten Zuchthaus wegen Hochverrat verurteilt Braun-Sittarz, Anna - Initiatorin und Mitbegründerin des „Freien Deutschen Quelle: https://archiv.kaz- Gewerkschaftsbundes“ im März 1945 online.de/pdf/311/311_50.pdf 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 28
Liesel Kapp-Kaule, 1906-1992 - Gelernte Schneiderin - Akkordarbeiterin der Seidensticker-Werke Bielefeld - Gewählte Betriebsrätin; setzte sich zB für höhere Löhne jüngerer Frauen ein - Anfrage bei Seidensticker ergab, dass keine Dokumente zur Betriebsratsarbeit erhalten sind - Nach 1945 Anstellung als Gewerkschaftssekretärin der Gewerkschaft Textil-Bekleidung-Leder Kipp-Kaule, Liesel - 1946-49 einzige Frau im Geschäftsführenden Hauptvorstand Quelle: J.H. Darchinger / Friedrich- Ebert-Stiftung der Gewerkschaft Textil und Bekleidung - 1949-65 SPD-Abgeordnete im Bundestag; maßgeblich am Mutterschutzgesetz beteiligt 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 29
Arbeitsrechtswissenschaft zum Betriebsrätegesetz – feministische Kritik Susanne Suhr: 1931, „Rundschau der Frau“: Kritik an Kommentar zum Betriebsrätegesetz von Georg Flatow/Otto Kahn-Freund; (Zu deren Einfluss: Däubler/Kittner) – Auslegung zum Einspruch gegen Kündigung wegen Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht (§ 84 Abs.5 Ziff.1), 13. Aufl. 1931: „Ziff.1 ist unanwendbar, wenn der Arbeitgeber systematisch Frauen, deren Mann im gesicherten Erwerb steht und beiden der standesgemäße Unterhalt schon durch den bloßen Erwerb des Mannes dauernd gewährleistet ist (Doppelverdienerinnen) entläßt, um anderen sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmern Platz zu machen. …. Ist ein solches Verfahren geradezu häufig notwendig. 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 30
Arbeitsrechtswissenschaft zum Betriebsrätegesetz – feministische Kritik Hier richtet sich die Kündigung nicht gegen die Frau wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, sondern wegen ihrer durch die Erwerbstätigkeit des Mannes günstigeren sozialen Lage. (…) in erster Linie die Frau zu entlassen, ist in der herrschenden Sozialanschauung begründet, wonach der Erwerb des Familienunterhalts in erster Linie Sache des Mannes ist. Ebenfalls ist Ziff.1 nicht anzuwenden, wenn der Arbeitgeber die Frau nicht wegen ihrer Doppelverdiener-Eigenschaft, sondern mit Rücksicht auf die Tatsache der beabsichtigten oder eben vollzogenen Eheschließung kündigt, da er befürchtet, dass die Frau durch die Haushaltsführung oder spätere Schwangerschaft und Kindererziehung vom dem Interesse für die Berufsarbeit abgelenkt wird.“ 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 31
Arbeitsrechtswissenschaft zum Betriebsrätegesetz – feministische Kritik − Dazu Susanne Suhr: „Die dieser Erläuterung zugrundeliegende Anschauung mag zwar mit der augenblicklich „herrschenden Sozialanschauung“ übereinstimmen – aber doch nur der Sozialanschauung bestimmter Kreise. Es liegt aber doch sicher im Sinne des Kommentars, gegenüber der „herrschenden“ Sozialanschauung die wahren sozialen Bestimmungen herauszuarbeiten – umso mehr, da es sich in diesem Falle um zwei Sozialisten handelt. […Es] ist eigentlich gefährlich, wenn nun auch schon „im Flatow“ steht, dass das Verfahren, systematisch erwerbstätige Frauen aus heute gesichert erscheinender Familie zu entlassen, „häufig geradezu notwendig ist“.“ − Eine weitere Auflage des Kommentars erschien nach 1931 nicht mehr. Flatow wurde 1944 in Ausschwitz ermordet. 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 32
Fazit ➢100 Jahre Mitbestimmung sind auch eine Geschichte der Frauen ➢Nimmt man sie in den Blick, verändert sich die Wahrnehmung auf Normen und deren Entstehung ➢Themen und Argumentationen von Bedeutung bis heute ➢Es fehlt allerdings weiterhin Sichtbarkeit ➢Vieles ist unerforscht 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 33
Anstöße zur weiteren Forschung ➢Viele Anregungen zur weiteren Forschung: • Weitere Akteurinnen, auch in späteren Reformprozessen der Betriebsverfassung • Akteurinnen in Betriebsräten • Interfraktionelle Zusammenarbeit in Gleichstellungsfragen • Wie wirkten strukturelle Ausschlussmechanismen der (betriebs-) politischen Beteiligung von Frauen? • Die Veränderungen erweiterter Partizipationsmöglichkeiten können nur erfasst werden, wenn Selbstwahrnehmung der Frauen in den Blick genommen wird (A. Thuns, S.119) 18. Juni 2021 100 Jahre Betriebsverfassung – auch eine Geschichte der Frauen?, Dr. Johanna Wenckebach 34
VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMERKSAMKEIT www.hugo-sinzheimer-institut.de Folgen Sie uns auf Twitter: http://twitter.com/ArbeitsrechtHSI 18. Juni 2021 Geschichte der Mitbestimmung, Dr. Johanna Wenckebach 35
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