FRIEDEN Theorien, Bilder, Strategien Von der Antike bis zur Gegenwart - Gerd Althoff Eva-Bettina Krems Christel Meier Hans-Ulrich Thamer (Hg.)

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FRIEDEN Theorien, Bilder, Strategien Von der Antike bis zur Gegenwart - Gerd Althoff Eva-Bettina Krems Christel Meier Hans-Ulrich Thamer (Hg.)
Gerd Althoff · Eva-Bettina Krems
Christel Meier · Hans-Ulrich Thamer (Hg.)

FRIEDEN
Theorien, Bilder, Strategien
Von der Antike bis zur Gegenwart
FRIEDEN Theorien, Bilder, Strategien Von der Antike bis zur Gegenwart - Gerd Althoff Eva-Bettina Krems Christel Meier Hans-Ulrich Thamer (Hg.)
FR IEDEN
Theorien, Bilder, Strategien
Von der Antike bis zur Gegenwart

Gerd Althoff · Eva-Bettina Krems
Christel Meier · Hans-Ulrich Thamer (Hg.)

SAN DSTEI N
FRIEDEN Theorien, Bilder, Strategien Von der Antike bis zur Gegenwart - Gerd Althoff Eva-Bettina Krems Christel Meier Hans-Ulrich Thamer (Hg.)
Inhalt

     Gerd Althoff, Eva-Bettina Krems, Christel Meier, Ulrich Thamer          Christoph Kampmann
8    Einleitung                                                         236 Friedensnorm und Sicherheitspolitik.
                                                                            Grundprobleme frühneuzeitlicher Friedensstiftung
     Gerd Althoff                                                           am Beispiel des Westfälischen Friedens
22   Vertrauensbildung.
     Zur Geschichte einer elementaren Kategorie                              Ludwig Siep
     der Friedensherstellung                                            256	Ewiger Friede und gerechter Krieg in der politischen
                                                                             Philosophie der Neuzeit
     Kurt A. Raaflaub
40   Intellektuelle gegen Politiker?                                         Werner Telesko
     Von Friedenssehnsucht zu Friedenspolitik                           274 Neuordnung Europas?
     in der griechisch-römischen Antike                                     Friedensikonografie und Bildpolitik am Wiener Kongress (1814/1815)

     Marion Meyer                                                            Christina Brauner
58   Friede in der Bilderwelt der Griechen                              292 Friede auf Erden?
                                                                            Grenzen des Völkerrechts und Perspektiven
     Achim Lichtenberger, H.-Helge Nieswandt, Dieter Salzmann               einer Globalgeschichte der Vormoderne
86   Eine imperiale Göttin.
     Die Friedensgöttin Eirene/Pax in der römischen Münzprägung              Gerd Krumeich
                                                                        314	Entstehung und Bedeutung des »Kriegsschuld-Paragraphen«
     Jan-Dirk Müller                                                         im Versailler Vertrag
112 Das mühsame Geschäft des Friedens.
    Semantik und Erscheinungsform von vride in der Heldenepik                Jost Dülffer
                                                                        330 Friedensschlüsse und Friedlosigkeit 1945 –1990
     Ruedi Imbach
124 Pax universalis – tranquillitas civitatis.                               Hans-Ulrich Thamer
    Die politische und philosophische Bedeutung des Friedensgedankens   346 »Entrüstet Euch«.
    bei Augustin, Dante und Marsilius von Padua.                            Frieden und soziale Bewegungen

     Christel Meier                                                          Winfried Nachtwei
146 Homo pacificus.                                                     362 »Nie wieder!« Nie wieder?
    Friedensmythen in Anthropologie und Kosmologie,                         Verantwortung zum Schutz vor Krieg und Massengewalt
    Heilsgeschichte und Politik
                                                                             Eckart Conze
     Claudia Zey                                                        378 Versicherheitlichung des Friedens.
170 Papsttum und Frieden im Mittelalter                                     Zur Entwicklung des Verhältnisses von Frieden und Sicherheit
                                                                            in der jüngsten Zeitgeschichte
     Bruno Quast
194 Achte auch für deine Brüder all türcken vnd heiden.                      Martina Wagner-Egelhaaf
    Über Geist, Schrift und Toleranz bei Sebastian Franck               390 Reden für den Frieden.
                                                                            Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und seine Öffentlichkeit
     Eva-Bettina Krems
208 Zur Visualisierung der pax christiana.
    Die Päpste im 16. und 17. Jahrhundert                               412 Abbildungsnachweis
FRIEDEN Theorien, Bilder, Strategien Von der Antike bis zur Gegenwart - Gerd Althoff Eva-Bettina Krems Christel Meier Hans-Ulrich Thamer (Hg.)
Friede ist für uns, im Europa des 21. Jahrhunderts, ein unbestritten positiv besetzter Begriff
                 und ein allgemein akzeptierter Wert. Es dürfte keinen bewaffneten Konflikt geben, der
                 (sofern er die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregt) nicht Friedensappelle nach
                 sich zöge, egal wie lange er schon dauert und wie aussichtslos Friedensbemühungen auch
                 sein mögen. Eben dies macht es schwer, Vorstellungen, Thematisierungen und Visualisie-
                 rungen von Frieden in anderen Kulturen angemessen zu beurteilen. Einerseits gibt es
                 anthro­pologische Konstanten – niemand möchte um sein Leben fürchten oder in Dauer-
                 stress leben – andererseits werden Verhaltenskodizes und Werte von den jeweiligen Gesell-
                 schaften ausgehandelt und neuen Gegebenheiten dynamisch angepasst.
                         So wäre beim Thema Friede in der griechischen Antike zu differenzieren zwischen
                 den Zeiten, als jede Familie fürchten musste, im Kriegsfall einen Angehörigen zu verlieren,
                 und der hellenistischen Zeit (323 –31 v. Chr.), als Kriege von Söldnerheeren gefochten wurden.

Friede in        Bilder des Friedens stammen bezeichnenderweise alle aus früheren Epochen. Es ist den-
                 noch möglich, einige verallgemeinernde Aussagen zu machen. Für die gesamte griechische

der Bilderwelt
                 Bilderwelt gilt, dass Kämpfe zu allen Zeiten, seit dem Beginn der Handlungsbilder im mitt-
                 leren 8. Jh. v. Chr., in großer Anzahl und in diversen Bildmedien dargestellt wurden, der
                 Friede aber nur äußerst selten thematisiert wurde. Bei den Kampfdarstellungen handelt es

der Griechen     sich sehr häufig um Szenen, die wir dem Mythos zurechnen, die also in der Vorstellung der
                 Griechen in ferner Vergangenheit spielten. In der Regel geht es bei diesen Kämpfen nicht
                 um die Darstellung der Niederwerfung und des Sieges (wie etwa in römischen Staatsreliefs),
                 sondern um den gemeinsamen Einsatz und die Bewährung angesichts einer schweren Her-
                 ausforderung. Es werden paradigmatische Verhaltensweisen einer Männergemeinschaft
Marion Meyer     thematisiert, oftmals als Reaktion auf den Angriff von monströsen Gegnern wie den Ama-
                 zonen oder den Kentauren, und eigene Verluste werden nicht ausgespart.1 Der Gedanke von
                 Friedensverhandlungen und -abschlüssen hat hier keinen Platz. Die ubiquitären Bilder von
                 physischer Gewalt – ob in Kämpfen mythischer Personen oder auch in den seltenen Dar-
                 stellungen historischer Kriege2 – evozierten von ihrem narrativen Kontext her bei den anti-
                 ken Betrachtern nicht den Gedanken an Frieden, weder als Abschluss der Kampfhandlun-
                 gen noch als Alternative zu ihnen.

                 1 Zu den frühesten Kampfdarstellungen: DIETRICH BOSCHUNG, Wie das Bild entstand. Kunstfertigkeit, Ruhmsucht und die Entwick-
                 lung der attischen Vasenmalerei im 8. Jh. v. Chr., in: HENNER V. HESBERG – WOLFGANG THIEL (Hgg.), Medien in der Antike. Kommuni-
                 kative Qualität und normative Wirkung, Köln 2003, S. 17–49, hier S. 21–49; ANNETTE HAUG, Bilder und Geschichte im 8. und 7. Jh.
                 v. Chr. Ein diskursanalytischer Ansatz, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 132, 2017, S. 1–39, hier S. 18–28. – Zu
                 Kampfdarstellungen in späterer Zeit: SUSANNE MUTH, Gewalt im Bild. Das Phänomen der medialen Gewalt im Athen des 6. und
                 5. Jhs. v. Chr., Berlin 2008; FELIX PIRSON, Ansichten des Krieges. Kampfreliefs klassischer und hellenistischer Zeit im Kulturvergleich,
                 Wiesbaden 2014. – Zur Präferenz mythischer Kampfszenen nach den Perserkriegen: MARION MEYER, Bilder und Vorbilder. Zu Sinn
                 und Zweck von Siegesmonumenten Athens in klassischer Zeit, in: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts 74,
                 2005, S. 279–314, hier S. 285–311. – Zum Krieg: HORST-DIETER BLUME, Achills Rüstung und Lysistrates Streik, in: ACHIM LICHTENBER-
                 GER u. a. (Hgg.), Eirene/Pax. Frieden in der Antike, Dresden 2018, S. 41–47; PETER FUNKE, Von der Schwierigkeit, Frieden zu finden,
                 in: LICHTENBERGER u. a. (Hgg.), Eirene/Pax. (wie Anm 1), S. 27–39. 2 Zu diesen s. TONIO HÖLSCHER, Griechische Historienbilder des
                 5. und 4. Jhs. v. Chr., Würzburg 1973; OLGA PALAGIA, Alexander’s Battles Against Persians in the Art of the Successors, in: TIMOTHY
                 HOWE u. a. (Hgg.), Ancient Historiography on War and Empire, Oxford 2017, S. 177–187. – Zum Verhältnis von Bildern und Geschichte
                 grundsätzlich: HAUG, Bilder und Geschichte (wie Anm. 1), S. 1–39.

                                                                                                                                                     59
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Konzeptionen von ›Frieden‹                                                                                                                wird explizit auf die Menschen bezogen: sie sind Instanzen, die das Miteinander der Sterb-
Wo also sind Vorstellungen des Friedens zu fassen, und welche Bilder machte man sich von                                                  lichen regeln. Nicht explizit gesagt, aber impliziert ist, dass sie für das menschliche Zusam-
ihm? Die schriftlichen Quellen kann ich hier nicht ausführlich behandeln, möchte aber die                                                 menleben notwendig sind. Ohne Eunomia, Dike und Eirene herrschte das, was am Anfang
frühesten nennen, weil sie für die spätere Zeit prägend waren. Für uns ist ›Friede‹ ein Ab­­                                              der Theogonie stand: das Chaos. Eirene ist hier also die Idee des Friedens, zugleich ein
straktum, das keine konkrete Visualisierung aufruft. Im antiken Griechenland mit seiner                                                   ethischer Wert, ein für die Menschheit essentielles Gut. Dass einzig sie als blühend bezeich-
ganz auf den Körper fixierten Bilderwelt wurden auch Abstrakta figürlich dargestellt, wobei                                               net wird, mag darauf hinweisen, dass sie auch verblühen kann.7
das Geschlecht der Figur vom grammatikalischen Geschlecht des bezeichnenden Wortes                                                                Hesiod bezeichnet diese drei Töchter der Themis als Horen. Die Horen sind eine
vorgegeben war.3 Das griechische Wort eirene, der Frieden, ist weiblich, und als weibliche                                                geläufige Mädchentrias, die seit dem 6. Jh. v. Chr. auch in Bildern dargestellt wird. Allerdings
Person erscheint eirene in einer der frühesten griechischen Quellen, in Hesiods Theogonie,                                                haben sie nur bei Hesiod diese Namen bzw. nur von Hesiod wird Eirene als eine der Horen
einem Weltentstehungsepos des frühen 7. Jhs. v. Chr. Der Dichter präsentiert in seinem Werk                                               bezeichnet. Sonst werden die Horen nicht mit menschlicher Interaktion, sondern mit der
den kosmos, die gute Ordnung, als das Ergebnis von Kämpfen sukzessiver Göttergeneratio-                                                   Zeit und ihrem Ablauf und den im Laufe der Zeit wiederkehrenden Veränderungen der
nen, mit dem Sieg des Olympiers Zeus und seiner Familie als den Garanten dieser Ordnung.                                                  Vegetation verbunden. Sie verkörpern die Jahreszeiten, dem agrarischen Zyklus des Jahres
In diese Erzählung des Fortschreitens vom chaos zum kosmos werden göttliche Mächte,                                                       entsprechend drei an der Zahl. Erst allmählich setzte sich die Vorstellung von vier Jahres-
Monster und Abstrakta in personifizierter Form genealogisch eingebunden. Nach der Schil-                                                  zeiten durch, und seit dem 3. Jh. v. Chr. erscheinen die Horen als Vierergruppe mit für die
derung der Kämpfe, die der Etablierung der Herrschaft des Zeus vorausgingen, kommt                                                        jeweilige Saison charakteristischen Attributen.8
Hesiod auf die zahlreiche Nachkommenschaft des Zeus zu sprechen.4 Als erste Lagergenos-                                                           Hesiods Genealogie hingegen blieb bestimmend. Pindar präsentiert in seiner
sin des Göttervaters nennt er Metis, die personifizierte Klugheit, als Mutter der Göttin                                                  13. Olympischen Ode (von 464 v. Chr.) Eirene gleichfalls als Schwester der Eunomia und Dike
Athena. Als zweite Gefährtin führt er Themis an. Themis ist das Recht als eine Kategorie                                                  und als Kind der Themis.9 Timotheos von Milet spricht um 400 v. Chr. von der eirene, die in
göttlicher Ordnung (das gegebene Recht), und sie ist älter als Zeus. Als Schwester seiner                                                 der eunomia blüht.10
Eltern Rhea und Kronos gehört sie der unterworfenen Göttergeneration der Titanen an.                                                              Bei Hesiods Zeitgenosse Homer kommt eirene nur als abstrakter Begriff vor. In der
                                                                                                                                          Ilias bezeichnet eirene den Zustand, der dem im Epos behandelten Kriegszustand voraus-
          »Dann verband sich Zeus mit der glänzenden Themis; die Horen
                                                                                                                                          ging, also die Friedenszeit. In der Odyssee stellt Zeus dem Odysseus nach zwanzigjähriger
          schenkte sie ihm: Eunomia und Dike und blühend Eirene,
                                                                                                                                          Abwesenheit von zu Hause ploutos und eirene (Reichtum und Frieden) in Aussicht.11 Das sind
          sie, die das Tun und Treiben der sterblichen Menschen betreuen.«5
                                                                                                                                          die beiden Komponenten menschlichen Glücks: ein sorgenfreies und ruhiges Leben. Der
Bilder dieser Figuren gab es zur Zeit Hesiods nicht. Die Zuhörer waren auf die Worte des                                                  Frieden ist hier das Gegenbild zu den vorausgegangenen unsteten, mühsamen Jahren des
Dichters angewiesen, um sie sich vorzustellen. Eirene ist Teil einer Mädchentrias, das Adjek-                                             Lebens in der Ferne mit den ständigen Herausforderungen und Gefahren.
tiv ›blühend‹ betont ihre Jugendlichkeit. Mädchentriaden waren eine wohlvertraute
Erscheinung, in Kult und Mythos weit verbreitet, in Schicksal und Wirken eng verbunden.
Die Schwestern der Eirene sind Eunomia (›guter Gesetzlichkeit‹) und Dike (›Recht‹ im Sinne
von gesetztem, verabredetem Recht), im Unterschied von Themis, der gemeinsamen Mutter,                                                    Bild der Jahreszeiten im Wandel der Kulturen und Zeiten (Morphomata 7), München 2013, S. 161–178, hier S. 170 f. – Zu Themis s.
die das göttliche Recht verkörpert.6 Das Wirken dieser Zeustöchter Eunomia, Dike und Eirene                                               SHAPIRO, Personifications (wie Anm. 3), S. 216–226, Abb. 179–185; JEAN RUDHARDT, Thémis et les Horai, Genf 1999; HARVEY ALAN
                                                                                                                                          SHAPIRO, Eniautos. Time, Seasons, and the Cycle of Life in the Ancient Greek World, in: GÜNTER BLAMBERGER – DIETRICH BOSCHUNG
                                                                                                                                          (Hgg.), Morphomata. Kulturelle Figurationen: Genese, Dynamik und Medialität, München 2011, S. 199–222, hier S. 200–207; SMITH,
                                                                                                                                          Polis (wie Anm. 3), S. 15, 46–49; BREMMER, The Birth (wie Anm. 6), S. 170 f. 7 BORG, Der Logos (wie Anm. 3), S. 207; MEYER, Das
                                                                                                                                          Bild des ›Friedens‹ (wie Anm. 3), S. 62 f. 8 Zu den Horen und ihren bildlichen Darstellungen: VASSILIKI MACHAIRA, Horai, in: LIMC 5,
                                                                                                                                          Zürich – München 1990, S. 502–510; LORENZO ABAD CASAL, Horae, in: LIMC 5, Zürich – München 1990, S. 510–538; RUDHARDT, Thémis
3 Zu abstrakten Personifikationen im Bild s. HARVEY ALAN SHAPIRO, Personifications in Greek Art. The Representation of Abstract           (wie Anm. 6); MEYER, Das Bild des ›Friedens‹ (wie Anm. 3), S. 62, 69 f.; SHAPIRO, Eniautos (wie Anm. 6), S. 199 – 207, 217 – 219;
Concepts 600 – 400 B. C., Kilchberg 1993; BARBARA BORG, Der Logos des Mythos. Allegorien und Personifikationen in der frühen              BREMMER, The Birth (wie Anm. 6), S. 161–178. Bereits der Dichter Alkman (7. Jh. v. Chr.) spricht von vier Jahreszeiten (s. BREMMER,
griechischen Kunst, München 2002; MARION MEYER, Wunschbilder. Zu bildlichen Darstellungen abstrakter Personifikationen des                The Birth [wie Anm. 6], S. 163 f.); ikonographisch differenziert erscheinen die Horen erstmals in der Pompé Ptolemaios’ II. (s. ebd.,
guten Lebens, in: BRIGITTE GRONEBERG – HERMANN SPIECKERMANN (Hgg.), Die Welt der Götterbilder, Berlin – New York 2007, S. 183–            S. 177 mit Anm. 73 f.). 9 Pindar, Olympische Ode 13,6– 11 (die drei Schwestern sind die tamiai des Reichtums für die Menschen,
205; MARION MEYER, Das Bild des ›Friedens‹ im Athen des 4. Jhs. v. Chr.: Sehnsucht, Hoffnung und Versprechen, in: MARION MEYER            d. h. sie behüten ihn); SHAPIRO, Eniautos (wie Anm. 6), S. 200–206 mit Anm. 9. – Eirene als Schwester von Eunomia und Dike auch
(Hg.), Friede – Eine Spurensuche, Wien 2008, S. 61 – 85, hier S. 61 mit Anm. 4; S. 69; AMY C. SMITH, Polis and Personification in Clas-   im Lied eines anonymen Dichters: DENYS L. PAGE, Poetae Melici Graeci, Oxford 1962, S. 536 Nr. 1018; SHAPIRO, Personifications (wie
sical Athenian Art, Leiden 2011. 4 Hesiod, Theogonie 886 – 944. Zur Datierung (frühes 7. Jh. v. Chr.) s. WALTER BURKERT, Griechische      Anm. 3), S. 49; RUDHARDT, Thémis (wie Anm. 6), S. 154; SMITH, Polis (wie Anm. 3), S. 77; BREMMER, The Birth (wie Anm. 6), S. 171 f.
Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart ²2011, S. 18. 5 Hesiod, Theogonie 901 – 903 (Übersetzung A. von                10 PAGE, Poetae (wie Anm. 9), S. 413, Nr. 791, Timotheos Fr. 15, V. 240; SHAPIRO, Personifications (wie Anm. 3), S. 49; RUDHARDT,
Schirnding). 6 ERIKA SIMON, Eirene und Pax. Friedensgöttinnen in der Antike (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft         Thémis (wie Anm. 6), S. 147, 151; SMITH, Polis (wie Anm. 3), S. 75, 77. 11 Homer, Odyssee 24,486. ERIKA SIMON, Eirene, in: LIMC 3,
an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 24/3), Stuttgart 1988, S. 57. – Zu Eunomia s. SMITH, Polis (wie Anm. 3),      Zürich – München 1986, S. 700–705, hier S. 700; MEYER, Das Bild des ›Friedens‹ (wie Anm. 3), S. 63. – Zur Datierung Homers s. ebd.,
S. 72–76; JAN N. BREMMER, The Birth of the Personified Seasons (Horai) in Archaic and Classical Greece, in: THIERRY GREUB (Hg.), Das      S. 61, Anm. 3; BURKERT, Griechische Religion (wie Anm. 4), S. 191 f.

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FRIEDEN Theorien, Bilder, Strategien Von der Antike bis zur Gegenwart - Gerd Althoff Eva-Bettina Krems Christel Meier Hans-Ulrich Thamer (Hg.)
Es ist diese Vorstellung von eirene als F r ie d e n sg l ü c k , die wir in der Folgezeit in schriftli-
chen und bildlichen Quellen finden: eirene als Wunschvorstellung, als Vision, als Utopie.
Eirene wird mit Begriffen verbunden wie ploutos (Reichtum), olbos (Glück), euphrosyne (der
guten Gesinnung).12 eirene, ob als abstrakter Begriff oder als Personifikation in weiblicher
Gestalt, bleibt bis zum späten 5. Jh. v. Chr. ein poetischer Begriff (s. unten).

Bilder des Friedensglücks in Zeiten des Krieges:
Athen im späten 5. Jh. v. Chr.
Die frühesten und die meisten der – insgesamt sehr wenigen – Bilder des personifizierten
Friedens stammen aus Athen, der mit Abstand bilderfreudigsten Stadt des antiken Griechen-
lands, und zwar aus dem späten 5. Jh. v. Chr.13 Seit Beginn des Peloponnesischen Krieges im
Jahre 431 v. Chr. muss viel über Krieg und Frieden diskutiert worden sein, wie sich daran zeigt,
dass der Komödiendichter Aristophanes den Frieden zum Kernthema von zwei seiner frühen
Stücke machte. In den Acharnern, aufgeführt 425 v. Chr., schließt ein Bauer aus dem im Bin-
nenland Attikas gelegenen Dorf Acharnai seinen Privatfrieden mit den Spartanern und
genießt sein Leben auf dem Land. Vier Jahre später, nach zehnjähriger Kriegserfahrung, bringt
der Dichter den ›Frieden‹ selbst auf die Bühne. Dem Protagonisten, einem attischen Weinbau-
ern, gelingt es, die von Polemos (dem Krieg) gefangengehaltene Eirene zu befreien. Eirene                                                   1 a, b
                                                                                                                                            Eirene im Gefolge des Dionysos.
kehrt zu den Menschen zurück, in Begleitung von Opora (Erntesegen) und Theoria (der Freude                                                  Mischgefäß aus Athen (ca. 400 v. Chr.).
des Schauens und Feierns). Eirene bringt also das Glück mit. Ihr wird ein Opfer dargebracht.14                                              Wien, KHM IV 1024

        Eirene und Opora sind auf einem wenige Jahre nach der Aufführung dieser Komödie
entstandenen attischen Kelchkrater dargestellt (Abb. 1 a, b).15 Das Gefäß, zum Mischen des
Weines bestimmt, thematisiert die freudenreiche Welt des Dionysos. Der Gott selbst ist in

12 So in einem Lied, das auf der Insel Samos gesungen wurde: »Öffnet Euch, Ihr Türen, von selbst, denn Ploutos will einziehen /
voller Pracht, und mit ihm die blühende Euphrosyne und Eirene, die gute«. ERNST DIEHL (Hg.), Anthologia lyrica graeca II, Leipzig
²1942, Bd. 6, S. 29, Z. 3 – 5. SIMON, Eirene und Pax (wie Anm. 6), S. 58. – Theognis wünscht einer Stadt eirene und ploutos. MARTIN L.
WEST (Hg.), Iambi et Elegi Graeci I, Oxford 1971, S. 215, V. 885; BARBARA VIERNEISEL-SCHLÖRB, Klassische Skulpturen des 5. und 4. Jhs.
v. Chr., München 1979, S. 258. 13 Zum Frieden in visuellen Medien der griechischen Antike: INGEBORG SCHEIBLER, Götter des Frie-
dens in Hellas und Rom, in: Antike Welt 15, 1984, S. 39 – 57; SIMON, Eirene (wie Anm. 11), S. 700–705; DIES. Eirene und Pax (wie
Anm. 6), S. 56 – 69; SHAPIRO, Personifications (wie Anm. 3), S. 45 – 50; INGEBORG KADER, Eirene und Pax. Die Friedensidee in der
Antike und ihre Bildfassungen in der griechischen und römischen Kunst, in: WOLFGANG AUGUSTYN (Hg.), Pax. Beiträge zu Idee und
Darstellung des Friedens, München 2003, S. 117–160, hier S. 117–139; MEYER, Das Bild des ›Friedens‹ (wie Anm. 3), S. 61–85; SMITH,
Polis (wie Anm. 3), S. 77–81; MARION MEYER, Zwischen Abstraktion und dionysischem Rausch. Eirene in der griechischen Bilderwelt,
in: ACHIM LICHTENBERGER u. a. (Hgg.), Eirene/Pax (wie Anm. 1), S. 49 – 57; DIES., Lebensfreude und Zukunftsplanung – Friede in der
griechischen Bilderwelt, in: Antike Welt 49/3, 2018, S. 13–16; MASSIMILIANO PAPINI, Frieden bringt Reichtum. Die Eirene des Kephi-
sodot, in: ACHIM LICHTENBERGER u. a. (Hgg.), Eirene/Pax (wie Anm. 1), S. 62 –73. 14 Aristophanes, Die Acharner, V. 1–1234. – Aris-
tophanes, Der Friede (aufgeführt 421 v. Chr.), V. 1 – 1359. Opfer für Eirene: V. 923–1062. Lob des guten, friedvollen Lebens: V. 1130–
1171. – SHAPIRO, Personifications (wie Anm. 3), S. 49 f.; ÉRIC PERRIN-SAMINADAYAR, Si vis pacem, gere bellum. L’aspiration à la paix
dans la société anthénienne, de la guerre du Péloponnèse à la guerre lamique, in: FRANCIS PROST (Hg.), Armées et sociétés de la
Grèce classique, Paris 1999, S. 147 – 162, hier S. 147 – 152; RUDHARDT, Thémis (wie Anm. 6), S. 149; MEYER, Das Bild des ›Friedens‹
(wie Anm. 3), S. 70; PAPINI, Frieden (wie Anm. 13), S. 64 f. – Zu Opora und Theoria s. SMITH, Polis (wie Anm. 3), S. 77–81. 15 Wien,
KHM IV 1024: Beazley Archive Pottery Database (BAPD) 215261, s. www.beazley.ox.ac.uk/pottery/default.htm (Stand 24. 2. 2019);
SHAPIRO, Personifications (wie Anm. 3), S. 46, 232, Kat. 9, Abb. 7 – 8; MEYER, Das Bild des ›Friedens‹ (wie Anm. 3), S. 70, Abb. 2 a – b;
SMITH, Polis (wie Anm. 3), S. 78 – 80, 157 f., VP 22, Abb. 7.2; MEYER, Abstraktion (wie Anm. 13), S. 44 f.; ACHIM LICHTENBERGER u. a.
(Hgg.), Eirene/Pax (wie Anm. 1), S. 85, Kat. 5 mit Abb.; MEYER, Lebensfreude (wie Anm. 13), S. 13 f., Abb. 1.

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Friedensvorstellungen des Mittelalters werden meist unter Berufung auf Augustins Pax-­
                   Konzeption in der Dichotomie von irdischem defizitären und himmlischem vollkommenen
                   Frieden, von einer pax terrena in dieser Welt und einer pax caelestis im Jenseits begriffen.1
                   Dabei wird übersehen, dass neben diesem Modell, neben dem Mainstream theologisch
                   aspektierter Friedensdiskurse, seit dem 12. Jahrhundert allmählich ein zweites integral-­
                   anthropozentrisches Konzept des Friedens mit kosmologischer Dimension entwickelt wird,
                   und zwar in enger Anlehnung an antik-philosophische Friedensideen. Durch seine litera-
                   risch-poetische Bildlichkeit und einen umfassenden human-ethischen Deutungsanspruch
                   ist dieses im Folgenden zu erläuternde Konzept aber nicht nur von der theologischen Frie-
                   densdogmatik unterschieden, sondern auch von der Friedenspragmatik der politisch-dip-
Homo pacificus.    lomatischen Sphäre.2 Hier geht es nicht um die Beschreibung von konkreten Strategien des
                   Friedenschließens, sondern um die Offenlegung und Analyse von Gründen des allgegen-
                   wärtigen Unfriedens, der Kriege, des Chaos in der Welt, um Gründe der Friedlosigkeit, die in

Friedensmythen
                   der menschlichen Natur angelegt scheinen, und um ihre Bewusstmachung und mögliche
                   Überwindung. Kurz: Wie kommt der Frieden in die Köpfe der Menschen? Diese Analyse wird
                   in der Dichtung des Mittelalters – bis weit in die Neuzeit hinein – symbolisch, allegorisch

in Anthropologie   und zugleich argumentativ im jeweils gültigen philosophischen Rahmen geführt. Wie die
                   bildende Kunst leistet damit auch die Dichtung ihren spezifischen Beitrag zum Frieden. Die

und Kosmologie,    Anfänge solcher Friedensarbeit in epischen Werken des 12. Jahrhunderts sind hier Thema.

Heilsgeschichte    Friede in kosmisch-anthropologischer Perspektive:
                   der Homo novus Alans von Lille

und Politik        Gegen Ende des 12. Jahrhunderts verfasst Alan von Lille, Dichter und Theologe, ein allego­
                   risches Epos, dessen Handlung auf das utopische Ziel einer neuen Goldenen Zeit mit Frieden
                   und Gerechtigkeit hinführt.3 Dieses Werk mit dem merkwürdigen Titel ›Anticlaudianus
                   (de Antirufino)‹ entfaltete eine enorme Wirkung in den lateinischen und volkssprachigen
                   Literaturen bis in die Frühe Neuzeit; es wurde bald Schultext und wieder und wieder kom-
Christel Meier

                   1 Augustinus, De civitate Dei, Lib. XIX, hg. von BERNHARD DOMBART – ALPHONS KALB (Corpus Christianorum. Series Latina 47/48),
                   Turnhout 1955, Bd. 48, S. 656–699; HARALD FUCHS, Augustin und der antike Friedensgedanke. Untersuchungen zum neunzehnten
                   Buch der Civitas Dei, Berlin – Zürich 21965; WILHELM GEERLINGS, Augustin und der antike Friedensgedanke, in: KLAUS GARBER (Hg.),
                   Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision, Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlech-
                   ter – Natur und Kultur, hg. von DEMS. u. a., München 2001, S. 63–81; STEFAN HOHMANN, Friedenskonzepte. Die Thematik des Friedens
                   in der deutschsprachigen politischen Lyrik des Mittelalters (Ordo 3), Köln u. a. 1992, S. 32–38 ›Augustins Friedensvorstellungen als
                   Brücke zwischen Antike und Mittelalter‹; vgl. auch die knappe Darstellung von Augustins Friedenstheorie, die letztlich ein theokra-
                   tisches Modell beschreibt, bei RUEDI IMBACH, Pax universalis, in diesem Band, mit weiterer Lit. 2 Vgl. GERD ALTHOFF, Vertrauens-
                   bildung, in diesem Band; ferner DERS., Friede. Zur Komplexität des Themas und zur Konzeption der Ausstellung, in: HERMANN
                   ARNHOLD (Hg.), Wege zum Frieden. Ausstellungskatalog LWL-Museum Münster 2018, Dresden 2018, S. 15 – 25. 3 Alain de Lille
                   (Alanus ab Insulis), Anticlaudianus, hg. von ROBERT BOSSUAT (Textes philosophiques du moyen âge 1), Paris 1955 (zit.); Text (mit
                   Korrekturen, die hier z. T. übernommen sind) und Übersetzung bei Wetherbee: Alan of Lille, Literary Works, hg. und übers. von
                   WINTHROP WETHERBEE (Dumbarton Oaks. Medieval Library), Cambridge, Mass. – London 2013. Dazu PETER OCHSENBEIN, Studien
                   zum Anticlaudianus des Alanus ab Insulis (Europäische Hochschulschriften. Reihe I, 114) Bern – Frankfurt a. M. 1975.

                                                                                                                                                 147
mentiert.4 Der Titel gibt einen deutlichen Hinweis darauf, in welchen Sinnhorizont der                                                      von den Göttern als Retter gesandte magister militum Stilicho auf, der vollkommene Held
Autor seine Dichtung stellen wollte. Sein Bezugspunkt ist ein kleines Epos des spätantiken                                                  gegen den verruchten Antihelden.10 Die Wende des Kampfs zum Besseren prophezeit am
Dichters Claudian mit dem invektiven Titel ›In Rufinum‹ (›Gegen Rufin‹), in dem dieser als                                                  Ende die von Megaera attackierte Tugend Gerechtigkeit: Sie kündigt den nahen Untergang
Hofdichter des weströmischen Kaisers Honorius 396 die reichsbedrohenden Taten, ja Ver-                                                      Rufins und die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters mit einer neuen Weltordnung an.11 Zu
nichtungsexzesse des Prätorianerpräfekten Rufinus geißelt.5 Am Hof des Honorius in Mai-                                                     Beginn des Werks hatte der Autor seinen Zweifel daran ausgedrückt, ob die Götter sich über-
land vom Dichter vorgetragen, weist das Werk zugleich panegyrisch auf den Antipoden des                                                     haupt um das Schicksal der Irdischen kümmerten, ob es einen Lenker (rector) gebe, wie er
Reichsgefährders Rufinus, auf den Heerführer und Vertrauten des Honorius Stilicho, hin,                                                     vor diesem Chaos, in dem allein Fortuna zu regieren schien, geglaubt hatte. Rufins schließ-
der später auf dem Trajansforum eine Statue erhielt.6                                                                                       licher Untergang kann diesen Zweifel am Wirken der Götter aufheben.12
        Claudian überformt das politische Geschehen der 90er Jahre des 4. Jahrhunderts mit                                                          Für den mittelalterlichen Leser von Claudians Invektive war die konkrete politische
einer episch-mythischen Handlung, die die Götter und Unterweltkräfte in einen kosmi-                                                        Situation weniger interessant, bedeutsamer war für ihn die mythische Überhöhung, die
schen Kampf einbezieht. Das Imperium Romanum ist unter Theodosius befriedet, Gerech-                                                        Bedrohung der Erde durch die Kräfte des Chaos und die anvisierte Möglichkeit der Rettung
tigkeit herrscht, als eine von der Furie Allecto einberufene Versammlung der bösen Kräfte                                                   der Menschheit durch deren Überwindung mithilfe der von Concordia angeführten ord-
der Unterwelt, der Laster7, beschließt, den Ausbruch eines neuen Goldenen Zeitalters zu                                                     nenden Kräfte der Gerechtigkeit und des Friedens – eine Konstellation also der Konfronta-
verhindern und den Völkern der Erde Tod und Untergang zu bringen. Ihre Hassrede, die                                                        tion eines neuen Retters und Heilbringers mit seinem Antipoden, dem Weltzerstörer.
Allecto vor Discordia und den übrigen Lastern hält, fordert zum Handeln auf: »Sollen wir                                                            Angeregt von dieser politisch-situationsbezogenen Dichtung und ihrem figural-­
also dulden, dass die Jahrhunderte in so ruhigem Verlauf fortdauern, dass die Völker so                                                     mythischen Szenario, hat Alan seinen ›Anticlaudianus‹ konzipiert und damit ein Epos
glücklich weiterleben? Welche neue Milde verdirbt unsere Sitten? [.  .  .] Weh, ihr allzu Trägen,                                           geschaffen, in dem ganz grundsätzlich die Problematik der Friedensfähigkeit des Menschen
die Jupiter vom Olymp fernhält und Theodosius von der Erde, zieht da etwa ein Goldenes                                                      und ihrer Bedingungen philosophisch erörtert und figural-poetisch dargestellt wird. Das
Zeitalter herauf, kommt das alte Geschlecht zurück?«8 Die Furie Megaera bringt den von                                                      Werk führt aus, welche Kräfte gestärkt, welche Gefahren und Entgleisungen vermieden
Grund auf bösen Rufin, ihren Zögling, ins Spiel, der als geeignetes Werkzeug des Bösen sein                                                 werden müssen, um die kosmische sowie die individuelle und soziale Harmonie wieder­
Zerstörungswerk gegen das Reich in Gang setzen soll.9 Gegen ihn tritt bald erfolgreich der                                                  zuerlangen. Ähnlich haben weitere große kosmologische Dichtungen des 12. Jahrhunderts in
                                                                                                                                            bildmächtigen poetischen Figurationen philosophische Fragen und Aporien entwickelt, um
                                                                                                                                            Lösungsansätze zu erwägen und zu markieren. Alan hatte mit seinem Epos viele Nachfolger,
                                                                                                                                            die diese Vorlage in ihrer je modifizierten Interpretation oder Nachschöpfung a­ daptierten.13
4 CHRISTEL MEIER, Die Rezeption des Anticlaudianus Alans von Lille in Textkommentierung und Illustration, in: DIES. – UWE RUBERG,                   Sein Epos erzählt – so der Plot – die von Natura in Gang gesetzte Erschaffung eines
Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wiesbaden 1980, S. 408–549; CHRIS-              neuen vollkommenen Menschen, den sie als Stellvertreterin Gottes auf der Erde gegen die
TOPH HUBER, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thoma-
sin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und
                                                                                                                                            bösen Kräfte des Chaos und der Vernichtung führen will, sodass am Ende mit Gerechtigkeit
Johannes von Tepl (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 89), Zürich – München 1988; dazu             und Frieden ein neues Goldenes Zeitalter heraufzieht (Abb. 1).
ULRICH KREWITT, Natura, artes, virtutes und Inkarnation. Zum ›Anticlaudianus‹ Alans von Lille in mittelhochdeutschen Texten, in: GERT
                                                                                                                                                    Das Überraschende dieser Konzeption im Kontext des Hochmittelalters ist die Idee
RICKHEIT – SIGURD WICHTER (Hgg.), Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse, Tübingen 1990, S. 25 – 42. 5 Claudius Claudianus, In
Rufinum liber primus, hg. von THEODOR BIRT (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores: Auctores antiqui 10), Berlin 1892, ND                einer Restitution der in Zwietracht und Disharmonie versinkenden Welt nicht durch den
1961, S. 17–33 (zit.); Claudien, In Rufinum. Liber I, hg. von JEAN-LOUIS CHARLET, in: Ders., Oeuvres, Tome II 1 (Collection Budé), Paris    göttlichen Erlöser der Heilsgeschichte, sondern durch eine von irdischen Kräften in Angriff
2000, S. 54–80. 6 GERNOT MICHAEL MÜLLER, Lectiones Claudianeae. Studien zu Poetik und Funktion der politisch-zeitgeschichtlichen
Dichtungen Claudians (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften, NF. 2. Reihe 133), Heidelberg 2011, besonders S. 119–             genommene Anthropogenese eines Homo novus et perfectus, durch den parabiblisch die
164 zu den beiden Dichtungen gegen Rufinus (In Rufinum 1 und 2), S. 119 f. zum Vortrag in Mailand 396. Zu den neueren Positionen            ­Wiederherstellung und Versöhnung von Kosmos und Mensch geleistet wird, erst in der
der Forschung ebd. 23–33, vor allem ALAN CAMERON, Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford 1970. Ferner
PETER L. SCHMIDT, Politik und Dichtung in der Panegyrik Claudians (Konstanzer Universitätsreden 55), Konstanz 1972; SIEGMAR DÖPP,
                                                                                                                                             Rezeptionsgeschichte des Werks wird der neue Mensch mit dem Erlöser Christus gleich­
Zeitgeschichte in Dichtungen Claudians (Hermes Einzelschriften 43), Wiesbaden 1980, besonders S. 85–101; ALESSANDRO FO, Studi
sulla tecnica poetica di Claudiano (Studi e ricerche dei Quaderni Catanesi 4), Catania 1982; HEINZ HOFMANN, Überlegungen zu einer
Theorie der nichtchristlichen Epik der lateinischen Spätantike, in: Philologus 132, 1988, S. 101–154; CLAUDIA SCHINDLER, Per carmina
laudes. Untersuchungen zur spätantiken Verspanegyrik von Claudian zu Coripp (Beiträge zur Altertumskunde 253), Berlin – New York
2009. 7 Claudian, In Rufinum (wie Anm. 5), S. 19, V. 25–38 zum Concilium der Laster: [. . .] nutrix Discordia belli, / Imperiosa Fames,
leto vicina Senectus / Impatiensque sui Morbus Livorque secundis / Anxius et scisso maerens velamine Luctus / Et Timor et caeco praeceps    V. 97–100: Meque etiam tradente dolos artesque nocendi / Edidicit: [Rufinus]: simulare fidem sensusque menaces / Protegere et blando
Audacia vultu / Et Luxus populator opum, quem semper adhaerens / Infelix humili gressu comitatur Egestas, / Foedaque Avaritiae complexae    fraudem praetexere risu. / Plenus saevitiae lucrique cupidine fervens. 10 Ebd. S. 28, V. 256–267, keiner wagt, sich gegen den Terror
pectora matris / Insomnes longo veniunt examine Curae. 8 Ebd. S. 20, V. 45–52: Sicine tranquillo produci saecula cursu, / Sic fortunatas    aufzulehnen: At non magnanimi virtus Stilichonis eodem / Fracta metu; solus medio sed turbine rerum / Contra letiferos rictus contraque
patiemur vivere gentes? / Quae nova corrumpit nostros clementia mores? / [. . .] Heu nimis ignovae, quas Iuppiter arcet Olympo, / Theudo-   rapacem / Movit tela feram etc. 11 Ebd. S. 32 f., V. 354–387, bes. V. 368–372, Iustitia sagt: Non ulterius bacchabere demens. / Iam poenas
sius terris. En aurea nascitur aetas, / En proles antiqua redit; der Angriff soll sich gegen die Tugenden richten, von denen besonders      tuus iste dabit, iam debitus ultor / Imminet [. . .] / Iamque aderit laeto promissus Honorius aevo etc. Mars selbst unterstützt zusammen mit
genannt werden: Concordia, Virtus, Fides, Pietas, Iustitia (V. 52 – 57). 9 Ebd. S. 21 f., V. 74 – 115, aus Megaeras Rede bes. S. 22,        Bellona den Kampf Stilichos und verhilft ihm zum Sieg (S. 31, V. 334–353). 12 Ebd. S. 18 f., V. 1–23. 13 Dazu oben Anm. 4.

148                                                                                                                                                                                                                                                                               149
gesucht),16 sondern um die grundsätzliche Konfliktizität des Menschen, ihre Ursachen und
                                                                                                                                                 Folgen sowie die Möglichkeit ihrer Befriedung. Alan lässt als handelnde Figuren Allegorien
                                                                                                                                                 auftreten, um in dieser integumentalen Form seine philosophische Konzeption verhüllt
                                                                                                                                                 und zugleich enthüllend, d. h. erklärt durch Deutungshinweise, zu präsentieren.17 Die
                                                                                                                                                 Akteure agieren in einem Konfliktfeld von Mensch und Welt, Mikro- und Makrokosmos. Es
                                                                                                                                                 handelt sich also um eine offene Allegorieform mit Figuren, die zudem vom Erzähler in
                                                                                                                                                 Charakter und Funktion weiter erläutert werden. Protagonisten der epischen Handlung
                                                                                                                                                 sind die Allegorien Natura, Concordia und Prudentia. Unter ihnen ist Concordia, die Tochter
                                                                                                                                                 der Pax,18 eine besonders wichtige Figur, da sie an den Hauptpunkten der Handlung immer
                                                                                                                                                 wieder ordnend und befriedend eingreift. Ihre Antagonistin ist dabei wiederholt Discordia
                                                                                                                                                 in Kampf und Friedensfindung. Und beide haben ein charakteristisches Gefolge: Discordia
                                                                                                                                                 kommt daher mit Hass, Streit, Zorn, Wut, Furcht, Concordia hält dagegen mit wahrer Freund-
                                                                                                                                                 schaft, Frieden, Selbstbeherrschung und Hoffnung.19 Nahe stehen ihnen Excessus hier und
                                                                                                                                                 Moderantia oder Temperantia dort. Auch sie haben verstärkende Begleitung, in der der Sinn
                                                                                                                                                 der Begriffe veranschaulicht wird: zu Excessus gehören Überdruss, Rache, Luxus, Völlerei,
                                                                                                                                                 Trunksucht und Begehren des Körpers, zu Moderantia Ratio, Tolerantia, Sobrietas.20
                                                                                             1                                                           In den neun Büchern des Werks läuft eine epische Handlung ab, deren Akteure schon
                                                                                             Naturas Plan vom neuen Menschen:
                                                                                             Alan von Lille, Anticlaudianus;
                                                                                                                                                 mit ihren Namen den Sinn der Allegorie anzeigen: Natura, Gottes Stellvertreterin in der
                                                                                             Verona, Biblioteca Capitolare, Ms. CCLI, fol. 4r.   sublunaren kreatürlichen Welt, ruft aus ihrer Einsicht in die Entgleisungen der Weltord-
                                                                                                                                                 nung und des Menschen ein Konzil der Tugenden zusammen, um Abhilfe zu suchen und
                                                                                                                                                 über ihren Plan entscheiden zu lassen, einen neuen vollkommenen Menschen zu schaffen,
gesetzt.14 Mit diesem Werk beantwortet Alan eine Frage, die er selbst in seiner früheren Dich-                                                   der die Ordnung wiederherstellen kann.21 Dieser Plan steht in genauem Gegensatz zu Clau-
tung ›Planctus Nature‹ gestellt hatte: Das Prosimetrum ›Klage der Natur‹ behandelt die                                                           dians Plot im ›In Rufinum‹ – und das betonen die mittelalterlichen Werkerklärungen auch.22
gestörte Ordnung von Mensch und Kosmos und das Leiden beider unter diesem Zustand                                                                Da der Mensch aus Leib und Seele besteht, ist für den neuen Menschen der Erhalt einer Seele
der Zerfallenheit, des Aufruhrs und der Disharmonie (discordia); in dieser Aporie lässt er                                                       von Gott notwendig. Es wird eine Himmelsreise beschlossen, die die Sinne des Menschen
zwanzig Jahre zuvor den ›Planctus‹ ohne Lösung enden.15                                                                                          unter Mithilfe der sieben Künste zusammen mit Ratio und Prudentia unternehmen; darin
       Aus der politisch-mythologischen Vorlage Claudians übernimmt Alan im ›Anticlau-                                                           ist das mittelalterliche Programm eines Aufstiegs gespiegelt. Mit der neuen Seele auf die
dianus‹ also die epische Form und Technik sowie wenige Punkte des Handlungsgerüsts, um                                                           Erde zurückgekehrt, erfolgt die Vereinigung von Körper und Seele des neuen Menschen und
daraus etwas ganz Neues zu schaffen. Ihm geht es nicht um einen konkreten politischen                                                            seine Ausstattung mit Tugenden. Ein Gegen-Konzil der Laster beschließt seine Vernichtung
Konflikt (einen solchen hat die Forschung für den Homo novus vergeblich zu finden

                                                                                                                                                 16 Z. B. wurde die politische Deutung auf den jungen Philipp II. von Frankreich vorgeschlagen: MICHAEL WILKS, Alan of Lille and the
                                                                                                                                                 New Man, in: DEREK BAKER (Hg.), Renaissance and Renewal in the Christian History, Oxford 1977, S. 137–157; LINDA E. MARSHALL,
14 Diesen Plan entwickelt Natura vor den von ihr zum Konzil geladenen Tugenden, die sie zur Zustimmung und zur Hilfe bei der                     The Identity of the ›New Man‹ in the ›Anticlaudianus‹ of Alan of Lille, in: Viator 10, 1979, S. 77–94. 17 Zur Charakterisierung dieser
Durchführung bewegen will. In ihm sollen alle guten Kräfte und Tugenden zur Vollkommenheit vereint werden; Alan, Anticlaudi-                     Allegorieform CHRISTEL MEIER, Zwei Modelle von Allegorie im 12. Jahrhundert: Das allegorische Verfahren Hildegards von Bingen
anus (wie Anm. 3), S. 64, I 235 – 241: Non terre fecem redolens, non materialis / Sed diuinus homo nostro molimine terras / Incolat et           und Alans von Lille, in: WALTER HAUG (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie (Germanistische Symposien. Berichtsbände 3),
nostris donet solacia damnis, / Insideat celis animo, sed corpore terris: / In terris humanus erit, diuinus in astris. / Sic homo sicque Deus    Stuttgart 1979, S. 70–89. 18 Alan, Anticlaudianus (wie Anm. 3), S. 58, I 33 Concordia eilt als erste zum Konzil der Tugenden: Pacis
fiet, sic factus uterque / Quod neuter mediaque uia tutissimus ibit. Dazu CHRISTEL MEIER, Der ideale Mensch in Alans von Lille ›Anticlau-        alumpna mouet primos Concordia gressus etc. 19 Dazu unten bei Anm. 44 – 46. 20 Vgl. dazu unten bei Anm. 47. 21 Dazu die
dianus‹ und seine Verwandlungen, in: NIKOLAUS STAUBACH (Hg.), Exemplaris Imago. Ideale in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frank-                 Rede der Natura: Alan, Anticlaudianus (wie Anm. 3), S. 64, I 228 – 234: Hoc in mente diu scriptum mihi sedit, ut omnes / Et simul
furt a. M. 2012, S. 137 – 157, Taf. I – III. – Die Gleichsetzung des Homo novus mit Christus findet sich im ›Compendium Anticlaudiani‹           instanter, caute, solerter ad unum / Desudemus opus, in quo tot munera fundat / Quelibet ut post has dotes uideatur egere, / Nostrorum
und in den Bildtafeln zum Anticlaudian des Pommersfeldener Codex Hs. 215 aus dem Zisterzienserorden: MEIER, Die Rezeption des                    crimen operum redimatur in uno / Unius probitas multorum crimina penset / Unaque quamplures exterminet unda litturas. Vgl. auch
Anticlaudian (wie Anm. 4), S. 471 – 483. 15 Alan of Lille, De planctu Nature, in: Ders., Literary Works (wie Anm. 3), S. 21–225. Zu              MEIER, Der ideale Mensch (wie Anm. 14). 22 So in dem anonymen Summarium, in: Alan, Anticlaudianus (wie Anm. 3), S. 199–201,
Alans Natur-Figuren und ihrer Problematik BEATE KELLNER, Allegorien der Natur bei Alanus ab Insulis – mit einem Ausblick auf die                 hier S. 201: Dicitur autem liber iste ›Anticlaudianus‹ ratione materie, quia materia hujus libri contraria est principio materie Claudiani.
volkssprachliche Rezeption, in: BERNHARD HUSS – DAVID NELTING (Hgg.), Schriftsinn und Epochalität. Zur historischen Prägnanz                     Cum etenim in principio sui libri Claudianus introducat Vicia ad deformandum Rufinum, in principio huius libri introducuntur Virtutes ad
allegorischer und symbolischer Sinnstiftung, Heidelberg 2017, S. 113 – 143.                                                                      informandum hominem beatum; unde et homo ille, de quo agitur in hoc libro, dicitur Antirufinus, quasi contrarius Rufino.

150                                                                                                                                                                                                                                                                                   151
Die kunsthistorische Forschung hat in den letzten Jahren neue und differenzierte Sicht­
                      weisen zum übergreifenden Fragenkomplex geliefert, mit welchen Intentionen und unter
                      welchen Rahmenbedingungen historische Ereignisse in den Bildmedien der Frühen Neu-
                      zeit und des 19. Jahrhunderts umgesetzt wurden. Dabei hat man sich über weite Strecken
                      von der lange dominierenden Vorstellung verabschiedet, ein Kunstwerk könne als visuelles
                      Analogon zu einer Schriftquelle betrachtet werden.1
                              Das damit vielfach verbundene Ende logozentrischer Deutungshoheiten in Bezug
                      auf die Analyse von Bildern hat letzteren in gewisser Weise ihren berechtigten Anteil an der
                      ursprünglichen Relevanz im breiten Kanon der abendländischen Medienlandschaft zurück-
                      gegeben. Da Bilder Wahrnehmungen immer eine subjektive Struktur einprägen, spiegeln
Neuordnung Europas?   Visualisierungen demnach in der Regel nicht historische »Wirklichkeiten«, sofern solche
                      heute überhaupt ermittelt bzw. rekonstruiert werden können, sondern sind als höchst
                      spezi­fische Sichtweisen dieser »Wirklichkeiten« anzusprechen.2

Friedensikonografie
                              Wenn die einzelnen Text- und Bildmedien mit ihren unterschiedlichen Möglichkei-
                      ten und Traditionsbildungen die Prozesshaftigkeit und das kommunikative Potential von
                      Geschichte überformen und letztlich zu determinieren vermögen, also das jeweilige Ereig-

und Bildpolitik       nis unweigerlich in die spezifische Grammatik der Medien eingeschrieben wird,3 dann stellt
                      sich in besonderer Weise die grundsätzliche Frage, nach welchen Gesetzen Medialität eigent-

am Wiener Kongress    lich funktioniert und welchen besonderen Konfigurierungen sie unterliegt.
                              Eine zentrale Frage in diesem und im vorliegenden Zusammenhang ist jene nach
                      den prinzipiellen Möglichkeiten einer »Ikonografie« des Friedens im Verlauf des 19. Jahr-
(1814/1815)           hunderts: In welchem Verhältnis steht eine solche Bildgeschichte zu den Sujets, die Frieden
                      ursächlich betreffen? Rezipieren die visuellen Medien vorwiegend die Leitthemen, die von
                      Politik und Diplomatie auf die Tagesordnung gebracht werden, oder befeuern gar wirk-
                      mächtige Darstellungen, die von bestimmten Seiten mehr oder weniger gezielt Anwendung
                      finden, politische Entscheidungen vor, während oder nach einem Friedensprozess?
Werner Telesko

                      1 Grundlegend: SILVIA SERENA TSCHOPP, Das Unsichtbare begreifen. Die Rekonstruktion historischer Wahrnehmungsmodi als
                      methodische Herausforderung der Kulturgeschichte, in: Historische Zeitschrift 280/1, 2005, S. 39 – 81; BIRGIT EMICH, Bilder einer
                      Hochzeit. Die Zerstörung Magdeburgs 1631 zwischen Konstruktion, (Inter-)Medialität und Performanz, in: DIES. – GABRIELA SIGNORI
                      (Hgg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit (Beiheft der Zeitschrift für Historische Forschung 42), Berlin 2009, S. 197–235.
                      2 Zu diesem breiten Fragenkomplex: ANNA-MARIA BLANK – VERA ISAIASZ – NADINE LEHMANN, Einleitung: Visuelle Repräsentationen
                      zwischen Konflikt und Stabilität, in: DIES. (Hgg.), Bild – Macht – Unordnung. Visuelle Repräsentationen zwischen Stabilität und
                      Konflikt (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Vergleich 24), Frankfurt am Main – New York 2011,
                      S. 9–24, hier S. 11. 3 Grundlegend: FABIO CRIVELLARI – MARCUS SANDL, Die Medialität der Geschichte. Forschungsstand und Pers-
                      pektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Geschichts- und Medienwissenschaften, in: Historische Zeitschrift 277/3,
                      2003, S. 619–654; MARCUS SANDL u. a. (Hgg.), Die Medien der Geschichte. Medialität und Historizität in interdisziplinärer Perspek-
                      tive, Konstanz 2004; MARCUS SANDL, Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichts-
                      wissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, in: Günter OESTERLE (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen.
                      Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (Formen der Erinnerung 26), Göttingen 2005, S. 89–119, hier S. 116 f.;
                      MARCUS SANDL, Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 18),
                      Zürich 2011; WOLFGANG BEHRINGER – MILOŠ HAVELKA – KATHARINA REINHOLDT (Hgg.), Mediale Konstruktionen in der Frühen Neuzeit
                      (Studien zur Mediengeschichte 1), Affalterbach 2013.

                                                                                                                                                        275
1                                                                                                                                   2
Friede von Passarowitz (1718), Ausführliche Beschreibung des ungarischen Feldzuges,                                                 Franz Wolf nach Johann Nepomuk Höchle, Empfang der verbündeten Monarchen in
Kupferstich, Verlag von Johann Albrecht in Nürnberg                                                                                 Wien anlässlich des Wiener Kongresses (1814), Lithografie, 1833

Eine Szene der Verhandlungen zum Frieden von Passarowitz (1718) zwischen der Habsbur-                                               schiedlichster Art zunehmend in ausdifferenzierter Weise auf verschiedenen (medialen und
germonarchie und den Osmanen, gestaltet als Stich zur Ausführlichen Beschreibung des unga­                                          qualitativen) Stilhöhen reflektiert werden konnten. Die damit verbundene Steigerung der
rischen Feldzuges, erschienen im Verlag von Johann Albrecht in Nürnberg (Abb. 1),4 etwa will                                        Produktion einerseits sowie die größere Nähe zwischen den politischen Protagonisten, den
keine Inhalte des laufenden Friedensprozesses oder gar übergreifende politische Aussagen                                            künstlerischen Akteuren und dem Publikum im Sinne einer zuweilen fast greifbaren
bzw. Postulate vermitteln. Die Darstellung veranschaulicht vielmehr in der Anordnung der                                            »Augenzeugenschaft«6 (Peter Burke) andererseits machen es sinnstiftend, die Bildkünste
historischen Verhandlungssituation in Gestalt eines Kreuzes (!) mit dem eigent­lichen Zelt                                          als wesentliche Seismografen der Kongresszeit zu befragen.
für die Unterhändler im Zentrum den Anspruch zeremonieller Distinktion zweier mächti-                                                       Die qualitativ durchaus unterschiedlichen Zeugnisse dieser Bildkultur sind letztlich
ger diplomatischer Partner auf Augenhöhe.                                                                                           Teil einer noch viel zu wenig erforschten und gattungsübergreifend ausgerichteten multi­
        Im Zuge des Wiener Kongresses 1814/1815 wurde keine Bildkultur sui generis ausge-                                           media culture während des Kongresses, in der höfische Auftragsvergaben einerseits und
bildet, wie sie etwa die visuelle Publizistik der Französischen Revolution5 und die umfang-                                         stärker ökonomisch ausgerichtete, tendenziell bürgerliche, weil stärker marktgebundene
reiche Produktion von Karikaturen in der Epoche Napoleons auszeichnet. Vielmehr erfuh-                                              Strategien andererseits auf höchst eigene Art miteinander verflochten waren. Die Bildpro-
ren die bis dahin zur Anwendung gekommenen druckgrafischen Medien eine beträchtliche                                                duktion am und kurz nach dem Wiener Kongress kann gesamthaft betrachtet nicht als
quantitative Verdichtung, die sich unter anderem darin äußerte, dass Ereignisse unter-                                              Resultat gezielter höfischer Strategien oder Bemühungen von Staatskanzleien gedeutet
                                                                                                                                    werden, sondern als Ergebnis individueller künstlerischer Ambitionen im weiten Kontext
                                                                                                                                    der Perspektiven der wirtschaftlichen Absetzbarkeit der entsprechenden Produkte.

4 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung, 223.684–B, zu einem verwandten Stich: HERMANN
ARNHOLD (Hg.), Wege zum Frieden, Ausstellungskatalog, LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster/W., Dresden – Münster/W. 2018,
S. 172 f., Nr. 112. 5 Grundlegend: KLAUS HERDING – ROLF REICHARDT, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt
am Main 1989; ROLF REICHARDT – HUBERTUS KOHLE, Visualizing the Revolution. Politics and Pictorial Arts in Late Eighteenth-century
France, London 2008.                                                                                                                6 PETER BURKE, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2003.

276                                                                                                                                                                                                                         277
Ein besonderes Charakteristikum der visuellen Medien zur Zeit des Wiener Kongresses ist
in jenen bildlichen Zeugnissen zu suchen, die inhaltlich gleichsam auf Dauer angelegt sind
und somit nachdrücklich programmatisches Potenzial pro futuro implizieren können. In
diese Kategorie gehören vor allem Medaillen und (druck-)grafische Darstel­lungen mit den
drei Monarchen von Österreich (Franz I.), Russland (Alexander I.) und Preußen (Friedrich Wil-
helm III.). Die Wiedergabe dieser drei politischen Protagonisten7 (Abb. 2) kann als eines der
wichtigsten Kennzeichen einer spezifischen Ikonografie des Wiener Kongresses, wie immer
diese genau zu definieren ist, angesehen werden. Zumeist geht hier das Reportagehafte eine
enge Verbindung mit dem Symbolträchtigen ein. Die schiere Fülle an Darstellungen in unter-
schiedlichen Gattungen, die vor allem Begegnungen der drei wichtigsten Monarchen der
Kongresszeit zum Inhalt hat, enthüllt allerdings die scheinbar report­ageartigen Komponen-
ten dynastischer Gipfeltreffen als verdächtig repetitiv eingesetzte Bildschemata, die letztlich
auf die Wiederholung eingängiger Images mit dem Ziel einer möglichst offensiven Propag-
anda der exponierten Rolle dieser drei politischen Protagonisten ausgerichtet sind.
        In diesem Punkt gewinnt auch die eingangs angesprochene Wirksamkeit des Frie-
densthemas in allen Gattungen, insbesondere im aufblühenden Kunstgewerbe, im frühen
19. Jahrhundert eine besondere Bedeutung, da etwa die Präsenz dieser Monarchen in einer
zeitgenössischen Stutzuhr8 dem Aspekt der Zeit der um dauernden Frieden bemühten Fürs-
ten eine innovative Note zu verleihen vermag. Der hier und andernorts deutliche Akzent                                              3
                                                                                                                                    Jean Godefroy, Der Wiener Kongress. Sitzung der Bevollmächtigten der acht Signatarstaaten des Pariser Friedens,
auf dem Dynastischen in den bildlichen Zeugnissen rückt andere Aspekte des Friedens-
                                                                                                                                    Linien- und Punktierstich, 1819 (nach einer Sepiazeichnung Jean-Baptiste Isabeys aus dem Jahr 1815)
schlusses des Wiener Kongresses wie den Frieden von Nationen und den Frieden der betei-
ligten Völker deutlich in den Hintergrund. Im medialen Vergleich wurden nationale Spezi-
fika am intensivsten im Rahmen der musikalischen Produktion thematisiert.9
        Im Schnittpunkt der beiden grundlegenden inhaltlichen Charakteristika der Bild-                                             Achterkomitees am Kongress (Abb. 3). Eine der wesentlichsten künstlerischen Traditions­
zeugnisse des Kongresses, einer programmatisch-allegorischen Ausrichtung einerseits, die                                            linien, auf die sich Isabey für den von ihm hier verwendeten Bildtypus bezog, ist in Darstel-
vor allem das reiche ikonografische Erbe der Frühen Neuzeit verwaltet, und einer reporta-                                           lungen der Versammlungen von Gesandten zu suchen, die Frieden diplomatisch aushan-
gehaft unterlegten, eigentlich Vorspiegelung von Authentizität betreibenden Erzählung                                               deln. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts und verstärkt ab dem frühen 18. Jahrhundert ist
andererseits, ist das wohl berühmteste Bildzeugnis des Kongresses zu verorten. Es handelt                                           eine deutliche Konjunktur entsprechender visueller Zeugnisse feststellbar: Auf dem Avers
sich um den berühmten, 66 × 88 cm großen Linien- und Punktierstich Jean Godefroys aus                                               einer Medaille auf den Aachener Frieden des Jahres 1748 von Konrad Boehrer11 wird diese
dem Jahr 1819 (nach einer Sepiazeichnung Jean-Baptiste Isabeys aus dem Jahr 1815)10 mit                                             Akzentsetzung auf der gemeinschaftsstiftenden Praxis des Aushandelns von Frieden, auf
der Wiedergabe einer fiktiven Versammlung der diplomatischen Bevollmächtigten des sog.                                              der in der Folge Isabeys Komposition aufbauen konnte, deutlich. In der Ausprägung dieses
                                                                                                                                    conversation piece tritt allerdings seit dem 17. Jahrhundert der Konversations- gegenüber
                                                                                                                                    dem Porträtaspekt in den Hintergrund. Auch stellte Isabey in den zahlreichen Vorstudien
                                                                                                                                    seiner berühmten Erfindung das Ziel der Erfassung der physiognomischen Indivi­dualität
7 Zusammenfassend: KATHARINA LOVECKY, Bilder eines Bündnisses: die drei Monarchen, in: AGNES HUSSLEIN-ARCO – SABINE GRAB-           jedes einzelnen Porträtierten deutlich in den Vordergrund.
NER – WERNER TELESKO (Hgg.), Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/15, Ausstellungskatalog, Belvedere Wien, München 2015,
S. 104– 109. 8 ARNHOLD (Hg.), Wege zum Frieden (wie Anm. 4), S. 186 – 188, Nr. 127. 9 Christian GLANZ, »Triumph, auf Klängen
getragen«. Streiflichter zum Thema Musik und Wiener Kongress, in: THOMAS JUST – WOLFGANG MADERTHANER – HELENE MAIMANN
(Hgg.), Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, Wien 2014, S. 306–319; BRIAN VICK, The Congress of Vienna. Power and Politics
after Napoleon, Cambridge 2014, S. 88 – 99. 10 WERNER TELESKO, Jean-Baptiste Isabeys Kongressbild, in: HUSSLEIN-ARCO – GRAB-        11 WERNER TELESKO, Mundus concors? Der Wiener Kongress und die europäische Friedensikonografie im 19. Jahrhundert, in: HUSS-
NER – TELESKO (Hgg.), Europa in Wien (wie Anm. 7), S. 130 f.; DERS., »Pax Europeana«. Die Schrecken des Krieges und die Bemühun-    LEIN-ARCO – GRABNER – TELESKO (Hgg.), Europa in Wien (wie Anm. 7), S. 17–27, hier S. 21; grundsätzlich: DOROTHEE LINNEMANN,
gen um Frieden in den visuellen Medien des 19. Jahrhunderts, in: OLIVER AUGE – ULRICH LAPPENKÜPER – ULF MORGENSTERN (Hgg.),         Die Bildlichkeit von Friedenskongressen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts im Kontext zeitgenössischer Zeremonialdarstellung
Der Wiener Frieden 1864. Ein deutsches, europäisches und globales Ereignis (Otto-von-Bismarck-Stiftung, wissenschaftliche Reihe     und diplomatischer Praxis, in: RALPH KAUZ – GIORGIO ROTA – JAN PAUL NIEDERKORN (Hgg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und
22), Paderborn 2016, S. 371 –394, hier S. 379 – 382, Abb. 4; RAINER VALENTA, Bilder aus der Zeit des Wiener Kongresses als Medien   im mittleren Osten in der Frühen Neuzeit (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 796;
der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit[en], Diss. phil., Wien 2017, S. 116–166.                                           Archiv für österreichische Geschichte 141; Veröffentlichungen zur Iranistik 52), Wien 2009, S. 155–186, 388–398 (Abb.).

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