WOJ 3 /19 Arno Surminski - Russlanddeutsche Kulturtage Seeing Moscow Die Grundgesetzwanderung - Gerhart-Hauptmann-Haus

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WOJ 3 /19 Arno Surminski - Russlanddeutsche Kulturtage Seeing Moscow Die Grundgesetzwanderung - Gerhart-Hauptmann-Haus
West-Ost-Journal | Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus | Deutsch-osteuropäisches Forum | Juli–September 2019

WOJ 3/19
Russlanddeutsche Kulturtage · Seeing Moscow · Die Grundgesetzwanderung

Arno Surminski
WOJ 3 /19 Arno Surminski - Russlanddeutsche Kulturtage Seeing Moscow Die Grundgesetzwanderung - Gerhart-Hauptmann-Haus
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Liebe Leserinnen und Leser,

in diesem wichtigen Gedenkjahr 2019, in dem die Bundesrepu-          hend zerschlagen, fast 400.000 Soldaten fielen, wurden verwun-
blik Deutschland ihren 70. Geburtstag feiert, gilt es auch an ein    det oder gingen in Gefangenschaft. Die militärische Katastrophe
historisches Ereignis zu erinnern, das für das Selbstverständnis     war größer als die von Stalingrad. Nur wenig militärischer Sach-
der Bundesrepublik überragende Bedeutung hat: In den bevor-          verstand war nötig, um zu wissen: der nächste Großangriff von
stehenden sommerlichen Juli-Tagen liegt das Attentat auf Hitler,     sowjetischer Seite würde bis aufs Reichsgebiet vordringen und
welches Oberst Claus Schenk Graf Stauffenberg am 20. Juli 1944       er würde nicht aufzuhalten sein. Die Menschen in Ostpreußen,
im ostpreußischen »Führerhauptquartier« bei Rastenburg verüb-        Pommern und Schlesien hatten allen Grund zur Furcht vor dem
te, ein dreiviertel Jahrhundert zurück.                              Kommenden – sie wurden indessen von der NS-Propaganda wei-
                                                                     terhin schamlos belogen. Das, was dann an der Jahreswende

E
      s fand in einer aus deutscher Sicht bereits verzweifelten      1944/45 folgte, zeichnete sich ab – die Machthaber nahmen es
      Kriegslage statt: Am 6. Juni 1944 war den Westalliierten die   in Kauf um des eigenen desparaten Machterhalts für kurze Zeit
      lange erwartete Landung an der französischen Küste und         willen. Parallel zum Vordringen der Roten Armee im Sommer
damit die Eröffnung der »Zweiten Front« gelungen. Seit dem 22.       1944 verlief der heroische Aufstand der polnischen Untergrund-
Juni 1944 war die »Operation Bagration« im Gange – die Som-          armee in Warschau. Er begann am 1. August und wurde bis Ende
meroffensive der Roten Armee an der Ostfront. Die deutsche           September mit brutalsten Mitteln und unter weitestgehender
Heeresgruppe Mitte wurde in den folgenden Wochen weitge-             Zerstörung der polnischen Hauptstadt von deutscher Seite un-

West-Ost-Journal                           4	Burg Hoheneck                              7	Mitgebracht – Eugen Litwinow
Juli                                       4 1949 – Das lange deutsche Jahr               und Nikolaus Rode
August                                                                                  8 Drang nach Osten
                                           5 Seeing Moscow
September
                                           6 Kirchen der Wolgadeutschen                 8 Die Grundgesetzwanderung
                                           6 Wolfskinder                                8	Rose Ausländer & Marianne
                                                                                          Moore
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3                                           			Editorial

                                                Denkmal für den Warschauer Aufstand
                                                vor dem Obersten Gericht Polens mit
                                                dem Rechtsgrundsatz »Gewalt darf man
                                                mit Gegengewalt abwehren«

   terdrückt. An der bevorstehenden Niederlage NS-Deutschlands          re alten Bundesrepublik Deutschland – das sollte, das muss so
   änderte dies nichts.                                                 bleiben. Bei aller Freude über die Erfolgsgeschichte des 1949
                                                                        begründeten Rechtsstaates, die nicht ohne Gefährdungen und

   I
     m Strahlen des zumindest hier bei uns gottlob friedlichen Som-     Rückschläge verlief, aber den Deutschen dennoch eine längere
     mers fällt es 75 Jahre später nicht leicht, an das Grauen von      Friedensperiode in ihrer Geschichte denn je beschert hat, ist
     damals zu erinnern – notwendig ist es gleichwohl. Dabei ist        mit Blick auf den 20. Juli 1944 noch immer eines wahr: auch das
   es nicht entscheidend, dass Attentat und Umsturzversuch von          Scheitern kann geschichtsmächtig sein.
   Stauffenberg, Beck, Goerdeler und all den anderen scheiterten.       Ein unbeschwerter, erholsamer, vielleicht aber auch zuweilen
   Generalmajor Henning von Tresckow, der aus einer alten preu-         durch Erinnerung nachdenklicher Sommer sei Ihnen allen von
   ßischen Offiziersfamilie in der Alt- und Neumark stammte und         Herzen gegönnt. Sammeln Sie Kräfte, damit wir Sie nach der an-
   einer der wichtigsten Vordenker des militärischen Widerstands        stehenden Pause wieder zu unserem umfangreichen Program-
   war, hat es auf den Punkt gebracht: »Es kommt darauf an, dass        mangebot begrüßen können. Das erinnerungsträchtige Jahr
   die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der            2019 ist noch lange nicht vorbei!
   Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.«
   Dieser Satz gilt noch immer. Die Tradition des Widerstandes          Auf bald!
   gegen das NS-Regime gehört zu den Fundamenten der 70 Jah-            Ihr

 9	Arno Surminski                           11	Ostdeutsches Kulturgut                     19	Interview Michael Deuschle
 9 Sie sind wieder da                       12	Rückblick Konzerte                         20 Seminar »Oma kommt aus
 9	Film Gruß aus Oppeln                     14	Exkursion                                     Schlesien«
 9 Jerominkinder                            14 Heimwehland                                21	Mitarbeiter
10	HdO in Aachen                            15 Kontrapunkt                                22	Bibliothek
                                                                                          23	Chronologie
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4                                                                                                                                                                            Lesung

2. September – 19.00 Uhr                                                                                            26. September – 19.00 Uhr
Wegen Republikflucht verurteilt! Burg                                                                               1949. Das lange deutsche Jahr
Hoheneck und ein Leben danach                                                                                       Lesung und Gespräch mit Christian Bommarius
Lesung und Gespräch mit Marie-Luise Knopp

                     I
                         n den 1970er-Jahren inhaftierte die DDR                                                                          Die Bundesrepublik wird in diesem Jahr
                         wegen geplanter Republikflucht viele                                                                             70 Jahre alt. 1949 brachten die ersten
                         Frauen in dem berüchtigten Frauenge-                                                                             Bundestagswahlen Konrad Adenauer ins
                       fängnis Hoheneck. Hier herrschten ver-                                                                             Kanzleramt, Theodor Heuss wurde Bun-
                       heerende Zustände: überbelegte Zellen,                                                                             despräsident, Bonn Hauptstadt der Bun-
                       drakonische Strafen und Akkordarbeit in                                                                            desrepublik. Damit begann in der Mitte
                       den gefängniseigenen Produktionsstätten.                                                                           Europas ein auf den ersten Blick bizarres
Marie-Luise Knopp      Politische Gefangene wurden zusammen                                                         Christian Bommarius   Experiment. Ausgerechnet auf den Ruinen
                       mit kriminellen Frauen eingesperrt und                                                       im Westen des politisch, wirtschaftlich und moralisch bankrotten
von diesen bespitzelt und schikaniert. Besonders schlimm traf                                                       Deutschland sollte eine Demokratie entstehen.
es die Mütter: ihre Kinder kamen in Heime, manche wurden zur

                                                                                                                    D
Zwangsadoption freigegeben. Marie-Luise Knopp, die 1973 we-                                                                as Experiment musste gelingen, weil die drei westlichen
gen geplanter Republikflucht für ein Jahr in Hoheneck einsaß, hat                                                          Besatzungsmächte im Kalten Krieg ein demokratisches
im vergangenen Jahr das Buch »Eingesperrte Gefühle bahnen                                                                  Westdeutschland als Gegengewicht zur DDR wollten. An-
sich ihren Weg« geschrieben. Sie schildert darin eindrücklich ihr                                                   dererseits waren die Erfolgsaussichten besorgniserregend, denn
Schicksal als gefangene Frau und Mutter. Unter dem Trauma der                                                       die Westdeutschen waren auch Jahre nach dem Ende des Welt-
gewaltsamen Trennung von ihrem damals siebenjährigen Sohn                                                           krieges auf die Demokratie nicht vorbereitet.
und den Schikanen der Gefängniszeit leidet sie bis heute. An die-                                                   Christian Bommarius erzählt so kundig wie kurzweilig die Ge-
sem Abend liest Marie-Luise Knopp Auszüge aus ihrem Buch und                                                        schichte des langen Jahres 1949, das bereits 1948 einsetzt, als
berichtet von ihren persönlichen Erlebnissen. Marie-Luise Knopp                                                     mit Währungsreform und Auftrag zur Verfassungsbildung die
wurde 1942 in einem kleinen Ort der ehemaligen DDR geboren,                                                         Weichen in Richtung Bundesrepublik gestellt wurden. Er schil-
sie studierte Deutsch und Geschichte und arbeitete zehn Jahre                                                       dert zentrale und marginale Episoden aus Politik, Wirtschaft,
als Lehrerin in Leipzig. 1974 wurde sie freigekauft und reiste in                                                   Kultur und Alltagsleben. Sein Buch ist ein buntes Panoptikum
die Bundesrepublik aus. Dort arbeitete sie 30 Jahre als Lehrerin                                                    der frühen Bundesrepublik – und birgt eine höchst aktuelle Bot-
an einer Förderschule.                                                                                              schaft: demokratisches Denken und Handeln muss gegen Wider-
                                                                                                                    stände gelebt werden, damals wie heute.

                                                                                                                    Christian Bommarius, geb. 1958, studierte Germanistik und
                                                                                                                    Rechtswissenschaft. Nach journalistischen Stationen, u. a. als
                                                                                                                    Korrespondent der Deutschen Presseagentur, war er von 1998
                                                                                                                    bis 2017 Redakteur der Berliner Zeitung. Seit 2018 ist er Kolum-
                                                                                                                    nist der Süddeutschen Zeitung. Für sein publizistisches Werk
                                                                                                                    wurde Bommarius der Heinrich-Mann-Preis verliehen.

Das ehemalige Frauengefängnis Hoheneck                                                                              Hinweisschilder zum Parlamentarischen Rat in Bonn 1948
                                                                    Bilder: Hans Edinger, Bundesarchiv, Wikipedia
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5                                                                                                                Ausstellung

6. September – 19.00 Uhr

Seeing Moscow
Eine Ausstellung von Thomas Koester – Ausstellungseröffnung

#17, Moskau 2017

                                                                   S
Moskau ist eine Metropole im Wandel, Moskau ist das wirtschaft-           tets entschied sich Koester dabei für eine fotografische Ar-
                                                                                                                                         Bild: © Thomas Koester, VG Bild-Kunst

liche und geistig-kulturelle Herz Russlands. Moskau ist mit rund          beitsweise in Analog und Schwarz-Weiß, was seinem An-
12 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Euro-              liegen einer reduzierten und scharfen Artikulation in der
pas. Seit 2012 hat sich die Stadt durch Eingemeindungen flä-       Bildsprache entspricht, an eine lange fotografische Historie an-
chenmäßig mehr als verdoppelt. Heute ist sie eine der teuersten    knüpft und somit die Möglichkeit schafft, in ein besonderes bild-
Städte der Welt. Moskau fasziniert durch Größe, Vielfalt an Eth-   ästhetisches Vergleichsspektrum einzutauchen. Aus einer Fülle
nien und durch ständig gegenwärtige Gegensätze in allen Berei-     von spannendem Bildmaterial, das der Künstler 2008 bis 2018
chen. 2017 dokumentierte Thomas Koester mit einer Mittelfor-       in Moskau, aber auch in Riga und Berlin aufnahm, zeigt Thomas
matkamera den 870. Jahrestag der Stadt Moskau, die Eröffnung       Koester eine für ihn wichtige Auswahl in Form einer fotografi-
des Kalaschnikow Denkmals, eine Demonstration der Oppositi-        schen Installation, die er speziell für den Ausstellungsraum der
on, zu der Alexej Nawalny aufgerufen hat, Bau- und Straßenarbei-   Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus entwickelt hat.
ten und Vororte von Moskau.                                        Thomas Koester (geb. 1980) studierte an der Universität der
                                                                   Künste Berlin, am Central Saint Martins College London, an der
                                                                   LMA Art Academy of Latvia in Riga und absolvierte seinen Meis-
                                                                   terschüler bei Katharina Sieverding an der Universität der Künste
                                                                   Berlin. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf und Berlin.
                                                                   Laufzeit der Ausstellung: 7. September bis 18. Oktober 2019
WOJ 3 /19 Arno Surminski - Russlanddeutsche Kulturtage Seeing Moscow Die Grundgesetzwanderung - Gerhart-Hauptmann-Haus
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                                  17. September – 30. Oktober
                                  Russlanddeutsche Kulturtage 2019
                                  »60 Jahre LmDR – 60 Jahre zu Hause in NRW«

6. September – 19.00 Uhr Russlanddeutsche Kulturtage 2019

Vergessene Zivilisation – die Kirchen der Wolgadeutschen
Ambrotypien von Artjom Uffelmann – Ausstellungseröffnung

Wolgadeutsche Kirche, Ambrotypie, Artjom Uffelmann

2012 unternahm der Mannheimer Fotograf Artjom Uffelmann             weite Teile des Schulwesens und der kommunalen Selbstverwal-
eine fotografische Expedition ins historische Siedlungsgebiet der   tung bestimmten. Mit dem Einzug der Sowjetmacht richtete sich
Wolgadeutschen und hielt ihre architektonischen Hinterlassen-       der staatliche Terror unvermittelt gegen die Kirchen und den
schaften auf belichteten Glasplatten fest. Uffelmann arbeitet       Stand der Geistlichen. 1941 wurde die Wolgadeutsche Repub-
ausschließlich mit Mitteln der Ambrotypie (»Kollodiumnassplat-      lik schließlich mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjet-
tenverfahren«), einem fotografischen Verfahren, das in der zwei-    union aufgelöst. Die Ambrotypien sind Leihgaben des Museums
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war. In dieser      für russlanddeutsche Kulturgeschichte Detmold und werden im
Zeit entstanden auch die sakralen Bauten der Wolgadeutschen         Rahmen der »Russlanddeutschen Kulturtage« gezeigt.
im früheren Russischen Reich. Kirchen bildeten bis zur Oktober-     Laufzeit der Ausstellung: 7. September bis 18. Oktober 2019
revolution den wichtigsten Identitätsanker der deutschen Sied-      In Kooperation mit: Museum für russland-
ler in Russland, da sie über ihre Aufgaben der Seelsorge hinaus     deutsche Kulturgeschichte

30. September – 19.00 Uhr                                                              Nachkriegskinder im ehemaligen Ostpreußen.
»Wolfskinder« – eine Kinder-                                                           Viele von ihnen versuchten sich nach dem
generation nach 1945                                                                   Ende des Zweiten Weltkrieges vor den Solda-
                                                                                       ten der Roten Armee in Sicherheit zu bringen.
Ein Hörtheaterabend von und mit                                                        Heimat- und elternlos »verwilderten« sie und
Anja Bilabel und Salome Amend                                                          wurden daher »Wolfskinder« genannt. Eine
Eine spannende Melange aus Zeitzeugen-                                                 Geschichte über erschütternde Kinderschick-
berichten, Literatur und Dokumentation umrahmt von musi-            sale und gleichzeitig eine Geschichte über die Bedeutung von
kalischen Impressionen: In ihrer szenischen Lesung beleuchtet       Identität, Menschenwürde und Mitgefühl. Die begleitenden Im-
Anja Bilabel in verschiedenen Facetten die Geschichte deutscher     provisationen und Klänge werden gespielt von Salome Amend.
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                                                             Weitere Veranstaltungstermine folgen in Kürze auf www.g-h-h.de

17. September – 13.30 Uhr Russlanddeutsche Kulturtage 2019

Mitgebracht. Eugen Litwinow – Nikolaus Rode. Erfahrungswelten
russlanddeutscher Künstler
Ausstellungseröffnung im Landtag NRW

Eugen Litwinow, Ausstellungsansicht                                 Nikolaus Rode, »Die Würfel sind gefallen«

Unter dem Titel »Mitgebracht« präsentieren Eugen Litwinow (geb.     sind Bekenntnisse und stumme Zeugnisse dieses Schreckens.
1987 in Kasachstan) und Nikolaus Rode (geb. 1940 in Eigental,       Sie sind stumme Schreie dort, wo Sprache oft versagt bleibt. Die
dt. Kolonie in der Ukraine) ihre künstlerischen Arbeiten.           Deutschen werden im Russischen »Nemzy« genannt, was von
                                                                    dem Wort »die Stummen« (Nemye) abgeleitet ist. Somit steht

I
  n seinem künstlerischen Projekt »Mein Name ist Eugen« port-       diese doppeldeutige Wortbedeutung sowohl für die Wirkung
  rätiert der junge Berliner Grafikdesigner Eugen Litwinow drei-    seiner Bilder wie auch die eigene Geschichte. Es sind Werke, die
  zehn junge Russlanddeutsche, die alle den Vornamen »Eugen«        Erlebtes dokumentieren und zur Menschlichkeit aufrufen. Ihre
tragen. Sie sind sich noch nie begegnet, doch alle hießen früher    emotionale Wucht macht die Beschäftigung mit dem persön-
»Evgenij«. Als sie Anfang der 1990er-Jahre nach Deutschland         lich erfahrenen Trauma innerhalb eines künstlerischen Oeuvres
zogen, wurde ihr Name radikal eingedeutscht. Litwinow führte        sichtbar. So lassen sich wiederkehrende Motive und Symbole in
umfangreiche und intensive Gespräche mit den dreizehn »Eu-          Rodes Schaffen erkennen: Stacheldraht, Baumstümpfe und Fuß-
gens« und gibt authentische Einblicke in die Herkunft, Abenteu-     spuren im Schnee. Und im Mittelpunkt der Mensch. Rodes Bilder
er, Namen und Identität dieser jungen Deutschen aus Russland.       erzählen ein Schicksal, das er mit vielen teilt, die Krieg, Flucht
Stellvertretend für eine ganze Generation zeigt der junge Künst-    und Verbannung erleben.
ler die Herausforderungen des Aufwachsens in einer neuen, nur       Laufzeit der Ausstellung: 17. September bis 2. Oktober 2019 (nur
zum Teil vertrauten Kultur.                                         am Wochenende); Veranstaltungsort: Bürgerhalle des Landtags
                                                                    NRW, Platz des Landtags 1, Düsseldorf

D
      ie Kunst von Nikolaus Rode ist untrennbar verknüpft           Der Landtag ist am Wochenende von 11 bis 17 Uhr für Besucher
      mit seiner Lebensgeschichte. Es ist eine Geschichte von       geöffnet. Weitere Infos siehe auf der Homepage des Landtags
      Flucht, Deportation und dem Leid, den diese mit sich zie-     NRW unter »Besuch im Landtag«.
hen. 1940 in Eigental, einer deutschen Kolonie in der Ukraine       In Kooperation mit:
geboren, floh er nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit          Landtag NRW, LmDR
seiner Familie nach Ostdeutschland, wo die Familie 1945 von         NRW e. V. und
der Roten Armee nach Sibirien deportiert wurde. Rodes Bilder        Kulturreferat für Russlanddeutsche
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8                                                                                                                                         Lesung & Finissage
Bild: Magdalena Becker

                                                                                                       Bild: Ralf Peters
                         11. September – 19.00 Uhr                                                                         12. September – 19.00 Uhr
                         Drang nach Osten                                                                                  Die Grundgesetzwanderung
                         Lesung mit Artur Becker                                                                           Eine Wander- und Rezitationsperformance mit
                         In seinem autobiografisch gefärbten Familienroman »Drang nach                                     Ralf Peters
                         Osten« widmet sich Artur Becker den immer aktuellen Themen                                        Ralf Peters hat in diesem Jahr eine Kunstperformance der be-
                         Versöhnung und Schuld. Der Protagonist des Romans ist dem                                         sonders ausdauernden Art abgeschlossen. Am 8. Mai 2017 star-
                         Autor zum Verwechseln ähnlich und doch nicht er selbst. Arthur,                                   tete er seine Grundgesetzwanderung in Aachen auf dem Euro-
                         Ende 40, aus Masuren, lebt als Historiker und Schriftsteller in                                   paplatz und lief innerhalb von zwei Jahren in Etappen bis nach
                         Bremen. Für Recherchen besucht er seinen Onkel und erfährt                                        Görlitz. An jedem Ort, an dem er übernachtete, rezitierte er an
                         von dem ehemaligen Stalinisten, dass er 1945 freiheitshungrige                                    öffentlichen Plätzen die ersten zwanzig Artikel des Grundgeset-
                         Menschen gefoltert hat, darunter auch Arthurs polnischen Groß-                                    zes. Dabei verstand der Stimm- und Performancekünstler und
                         vater. Schockiert beschließt Arthur, sein nächstes Buch ganz den                                  promovierte Philosoph seine Aktion vor allem als Einladung zum
                         Schicksalen seiner Großeltern zu widmen und landet schnell bei                                    Austausch darüber, wie wir heute das Grundgesetz verstehen. In
                         den immer gleichen Fragen: Wie konnten all die Verbrechen ge-                                     seinem Blog zum Projekt fragte er kurz vor Beginn der Reise: »Ist
                         schehen? Woher kommt das Böse? Was ist Freiheit – und was ist                                     es nur ein alter Text, ein Text für Juristen, ein heiliger Text des
                         ihr Preis? Artur Becker wurde in Bartoszyce (Masuren) geboren,                                    Nachkriegsdeutschlands, der wichtigste Text, der in Deutschland
                         lebt seit 1985 in Deutschland und veröffentlicht Romane, Erzäh-                                   im 20. Jahrhundert geschrieben wurde, ein utopischer Text, ein
                         lungen, Gedichte und Übersetzungen. Für sein Werk wurde er                                        Text, der den Verfassungspatriotismus rechtfertigt?«
                         u. a. 2009 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und 2012 mit                                       Welche Antworten und sicher auch neuen Fragen er im Laufe
                         dem DIALOG-Preis der Deutsch-Polnischen Gesellschaft ausge-                                       seiner zweijährigen Performance erhalten hat, davon wird er an
                         zeichnet.                                                                                         diesem Abend erzählen.
                         Moderation: Michael Serrer (Literaturbüro NRW)                                                    Moderation: Michael Serrer (Literaturbüro NRW)
                         In Kooperation mit: Literaturbüro NRW                                                             In Kooperation mit: Literaturbüro NRW

                         2. Juli – 19.00 Uhr                                                                               12. Juli – 19.00 Uhr
                         »Looking for a final start« – die amerikani-                                                      »… unser verwundetes / geheiltes
                         schen Gedichte von Rose Ausländer                                                                 Deutsch«
                         Lesung mit Cornelia Schönwald und Helmut                                                          Finissage zur Ausstellung »Liebstes Fräulein
                         Braun                                                                                             Moore – Wonderful Rose«
                         In einer zweisprachigen Lesung stellen                                                                                  Im Juli 1956 kehrt Rose Ausländer aus
                         Cornelia Schönwald (englisch) und Hel-                                                                                  der amerikanischen Dichtersprache in
                         mut Braun (deutsch) Gedichte von Rose                                                                                   ihre deutsche Muttersprache zurück und
                         Ausländer aus den Jahren 1948 bis 1956                                                                                  beginnt wieder Gedichte auf Deutsch zu
                         vor. Gerhard Weidmann, bekannt für sei-                                                                                 schreiben. Beeinflusst durch die Freun-
                         ne Nachdichtung englischer Lyrik, über-                                                                                 din und Poetin Marianne Moore gelingen
                         trug die Texte in die deutsche Sprache.                                                                                 ihr meisterhafte Gedichte, in denen sie
                         Während der Lesung erzählt Helmut Braun vom englischsprachi-                                      nahtlos an ihre amerikanische Lyrik anknüpft. Den Sprachwech-
                         gen Schreiben Rose Ausländers, von ihren Bekanntschaften und                                      sel vollzog Rose Ausländer öffentlich auf der New York Writers
                         Freundschaften mit amerikanischen Dichterinnen und Dichtern,                                      Konferenz auf Staten Island. Gelesen werden deutsche und eng-
                         deren Gedichte ihr zumindest anfänglich wegweisend wurden;                                        lische Gedichte, Auszüge aus dem Briefwechsel mit Marianne
                         von der New Yorker Künstlergruppe »The Raven«, die einen An-                                      Moore und Dokumente von der New York Writers Konferenz. Die
                         satz von Heimat bot. Er berichtet von den ersten Publikations-                                    Finissage wird von Musik aus den 1950er-Jahren und Lichteffek-
                         erfolgen der Poetin in amerikanischen Literaturzeitschriften und                                  ten begleitet. Moderation: Helmut Braun, unter Mitwirkung von
                         im Rundfunk.                                                                                      Studierenden der Heinrich Heine-Universität
                         In Kooperation mit: Helmut Braun (Köln) und der Rose Ausländer-Gesellschaft e. V., Gesellschaft
                         für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Düsseldorf e. V., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
WOJ 3 /19 Arno Surminski - Russlanddeutsche Kulturtage Seeing Moscow Die Grundgesetzwanderung - Gerhart-Hauptmann-Haus
9                                                                                                                Lesung, Film & Vortrag

                                                                                                                                                     Bild: Annette Hauschild
18. September – 19.00 Uhr                                                       25. September – 19.00 Uhr
Der lange Weg. Von der Memel zur Moskwa                                         Sie sind wieder da.
Lesung und Gespräch mit Arno Surminski                                          Warum wir den neuen deutschen Nationalismus
Ostpreußen im Jahr 1812. Martin Millbacher, Sohn eines Bauern
                                                                                nicht mehr los werden – Lesung und Gespräch
an der Memel, zieht für Napoleon in den Krieg gegen Russland.                   mit Patrick Bahners
Er hofft auf Abenteuer und reiche Beute. Doch bald wendet sich                  Patrick Bahners arbeitet seit über dreißig Jahren für die FAZ, war
das Blatt. Russland lässt sich nicht erobern. Statt Ruhm und Ehre               davon zehn Jahre Leiter der Feuilletonredaktion, drei Jahre Korre-
warten Hunger und Kälte. Martin gerät in die Schlachten von                     spondent in New York und berichtet seit 2018 von Köln aus über
Smolensk und Borodino, erlebt die Feuersbrunst von Moskau                       NRW-Kultur. In »Die Panikmacher« schrieb er über die deutsche
und sieht das massenhafte Sterben seiner Kameraden an der                       Angst vor dem Islam, was ihm 2011 eine Nominierung für den
Beresina und im litauischen Wilna. Statt an Beute denkt er nur                  Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse einbrachte. Noch pro-
noch ans Überleben. Sprachgewaltig erzählt Arno Surminski vom                   minenter ist Bahners durch seine Diskussionsfreude auf Twitter
Schicksal des jungen Ostpreußen in den Wirren des napoleoni-                    geworden. In einem Interview bezeichnete er die Plattform als
schen Russlandfeldzugs. Sein Roman ist lebendige Geschichte,                    »eine große Kneipe«, in der »man sich ohne große Formalitäten
nicht aus der Sicht von Generälen und Monarchen, sondern aus                    einfach einmischt«. Das tut er leidenschaftlich und ausdauernd
der Perspektive der einfachen Soldaten.                                         und hat dadurch eine ebenso große Kritiker- wie Fangemeinde
Arno Surminski, geb. 1934 in Jäglack/Ostpreußen, wuchs als                      gewonnen. In seinem neuen Buch »Sie sind wieder da« schildert
Flüchtlingskind im schleswig-holsteinischen Trittau auf. Bekannt                er, wie sich das politische Leben verändert, wenn der Protest von
wurde Surminski mit vielen Erzählungen und Romanen, die sich                    rechts sich im System etabliert. Die neuesten Losungswörter der
meist mit dem Schicksal der Vertriebenen aus den ehemaligen                     politischen Sprache sind »das Eigene« und »die Grenze«. Schon
deutschen Ostgebieten und ihren Bemühungen, im Nachkriegs-                      jetzt gelingt es der AfD, die Themen des öffentlichen Gesprächs
deutschland Fuß zu fassen, auseinandersetzten. Der vielfach                     zu bestimmen, und Politiker der etablierten Parteien haben die
ausgezeichnete Schriftsteller lebt und arbeitet in Hamburg.                     Redensweisen der Rechtspopulisten bereits übernommen.
In Kooperation mit: Literaturbüro NRW                                           Moderation: Michael Serrer (Literaturbüro NRW)
                                                                                In Kooperation mit: Literaturbüro NRW

3. Juli – 19.00 Uhr                                                             9. September – 19. 00 Uhr
Gruß aus Oppeln. Die aktuelle Situation der                                     Im Schatten der Kriege – Ernst Wiecherts
deutschen Minderheit in Schlesien                                               »Jerominkinder«
Film und Gespräch mit Beata Kubica und                                          Vortrag von Dr. Bärbel Beutner
Dr. Gerhard Schiller                                                                                  Sowirog, ein kleines verlorenes Dorf mitten
                       Die oberschlesische Stadt Oppeln (Opole)                                       in den Wäldern und Mooren Ostpreußens.
                       ist heute ein wichtiges Zentrum der in Polen                                   Die Menschen sind es gewohnt, ein karges,
                       lebenden Deutschen. Dass die Minderheit                                        abgeschiedenes Leben zu führen. Im Zent-
                       ein lebendiges Kulturleben führt, beweisen                                     rum ihrer Gemeinschaft steht der Landarzt
                       zwei Kurzfilme. »Die Deutschen in Polen«                                       Jons Ehrenreich Jeromin, ein bescheidener
                       zeigt unterhaltsam und leicht verständlich                                     und um moralische Integrität bemühter
                       die wechselvolle deutsch-polnische Ge-                   Mann. Als die Dorfbewohner sich in den 1930er-Jahren mit dem
schichte und die heutige Situation der Deutschen in Polen. Der                  Terror der Nationalsozialisten konfrontiert sehen, schließen sie
30-minütige Dokumentarfilm »Gruß aus Oppeln« konzentriert                       sich zu einer verschworenen Gemeinschaft zähen Widerstands
sich auf das alltägliche Leben in Oppeln der Vorkriegszeit und ist              zusammen. In seinem zweibändigen Roman »Die Jerominkin-
ein herausragendes Beispiel für die kulturelle Vermittlungsarbeit               der«, der 1945 bis 1947 entstanden ist, beschreibt Ernst Wie-
der Minderheit. Im Anschluss folgt ein Gespräch mit Beata Kubi-                 chert (1887–1950) eine ländliche Lebensgemeinschaft zwischen
ca (frühere Stadträtin in Oppeln und heute Managerin für kultu-                 den beiden Weltkriegen, die bei aller Abgeschiedenheit den Um-
relle Projekte) und dem Historiker und Journalisten Dr. Gerhard                 brüchen des 20. Jahrhunderts nicht entgeht. Dr. Bärbel Beutner,
Schiller über die aktuelle Situation der Deutschen in Schlesien.                Vorsitzende der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, re-
Veranstaltungen in Kooperation mit: Kultur-       Oberschlesisches              feriert in ihrem Vortrag über Wiecherts Roman.
                                              Landesmuseum
referat für Oberschlesien                     Kulturreferat für Oberschlesien   In Kooperation mit: BdV-Landesverband
                                                                                Nordrhein-Westfalen
WOJ 3 /19 Arno Surminski - Russlanddeutsche Kulturtage Seeing Moscow Die Grundgesetzwanderung - Gerhart-Hauptmann-Haus
10                                                                                                                     Historie

Mehr als nur erinnerungswürdig!

In Aachen ist zu Jahresbeginn 2019 eine Ära zu Ende gegan-
gen: Das dortige »Haus des deutschen Ostens« wurde nach fast
sechs Jahrzehnten endgültig geschlossen. Uns hier im Gerhart-
Hauptmann-Haus war es immerhin möglich, einige wertvolle
Objekte aus dessen Sammlungen zu übernehmen und für die
Zukunft zu bewahren. Neben der Sicherung dieser materiellen
Erinnerungsstücke ist es jedoch mindestens ebenso wichtig
an Immaterielles zu erinnern: Ein Haus wie das Aachener HdO
hat überhaupt nur auf der Grundlage eines imponierenden eh-
renamtlichen Engagements ungezählter Menschen – meist aus
der »Erlebnisgeneration« von Flucht und Vertreibung – so lange
das Gedenken an einen unverzichtbaren Teil der deutschen Ge-
schichte und Kultur aufrecht erhalten können. Der folgende Bei-
trag soll ein Zeichen sein, dass der Wert dieses Engagements
nicht vergessen wird – vielmehr verdient es dauerhaft großen
Dank und Respekt.
Helga Sawatzky, selbst gebürtige Ostpreußin, hat über Jahr-
zehnte an der ehrenamtlichen Arbeit im HdO großen Anteil ge-
habt, wie bei so vielen anderen Menschen für lange Zeit auch
neben ihrer beruflichen Tätigkeit. Sie hat es zuletzt übernommen,
nicht nur die Sammlungsstücke angemessen unterzubringen,
sondern sie hat zudem einen Bericht über das HdO geschrie-
ben, der eindrucksvoll belegt, welche Leistungen um der Sache
der ostdeutschen Kultur willen erbracht wurden. Stellvertretend
für so viele andere Menschen sei ihr hier Dank gesagt!      WH

  »Haus des Deutschen Ostens« in Aachen
  Nachdem zunächst die wichtigsten Probleme der wirtschaft-         Das Grundkonzept des Hauses blieb bis heute, mit Ausnah-
  lichen Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in der      me der vor Jahren aufgelösten Bücherei, unverändert. Es war
  Stadt Aachen im Vordergrund gestanden hatten, setzte etwa         Mittel- und Treffpunkt für alle in Aachen existierenden Lands-
  ab 1950 die Kulturarbeit in den landsmannschaftlichen Ver-        mannschaften und Jugendgruppen der ehemaligen deutschen
  bänden ein. Um das Zusammengehörigkeitsgefühl in den              Ost- und Siedlungsgebiete, stand aber darüber hinaus auch für
  landsmannschaftlichen Gruppen zu stärken und zu einer             andere Gruppen und Vereine zur Verfügung. Die Finanzierung
  Verbesserung des Verständnisses mit den Einheimischen zu          des Hauses war ohne öffentliche Mittel durch Miet- und Pacht-
  kommen, regte der Kreisbeirat für Vertriebenen- und Flücht-       einnahmen gesichert. Das Kuratorium war als gemeinnütziger
  lingsfragen bei der Stadt Aachen an, dafür geeignete Räum-        Verein anerkannt und demzufolge steuerfrei. Die Verwaltung
  lichkeiten zu schaffen, und beauftragte den damaligen Rats-       des Hauses lag in den Händen eines ehrenamtlich tätigen Vor-
  herrn, Bernhard Triebs, die Angelegenheit weiter zu verfolgen.    stands.
  Mit dem Hinweis auf die etwa 14.000 anerkannten Vertrie-
  benen und Flüchtlinge in der Stadt stellte Triebs am 22. Juni     In dem Haus fanden viele Veranstaltungen, Feste im Verlauf
  1956 an die Stadt Aachen den Antrag, zur Errichtung eines         der Jahreszeiten, Gedenkfeiern, Konzerte sowie Ausstellungen
  »Hauses des Deutschen Ostens« ein geeignetes Trümmer-             statt und machten es in der ganzen Stadt bekannt. Dank der
  grundstück zur Verfügung zu stellen, dem mit Ratsbeschluss        unzähligen ehrenamtlich tätigen Mitglieder in allen Gruppen
  vom 13. Dezember 1956 mit der Übereignung eines 380 qm            und im Kuratorium, die sich für die Pflege und Erhaltung des
  großes Grundstückes an der Franzstraße 74 auf dem Wege des        Brauchtums und des Kulturgutes und die Erhaltung und Ver-
  Erbbaurechts für 75 Jahre entsprochen wurde.                      waltung des Hauses engagiert haben, konnte das Haus fast
                                                                    60 Jahre bestehen. Im Laufe der Jahre wurden die Gruppen
  Zur Errichtung und späteren Verwaltung des Hauses wurde           der Heimatvertriebenen auch in Aachen immer kleiner. Die
  das Kuratorium »Haus des Deutschen Ostens« Aachen e. V.           Eingliederung war abgeschlossen und der Zweck des Hauses
  gegründet, dem die Vorsitzenden aller Vertriebenenverbän-         erfüllt, so dass das Kuratorium »Haus des Deutschen Ostens«
  de und der »DJO-Deutsche Jugend des Ostens« angehörten.           Aachen e. V. Ende 2017 seine Auflösung beschloss. Wie in der
  Bei der Verwirklichung des Projektes und auch der späteren        Vereinssatzung vorgesehen, wurde das Haus zum 1. Januar
  Verwaltung blieb Bernhard Triebs weiterhin federführend. Die      2019 an die Stadt Aachen übertragen.
  Planung des Hauses mit einer Gaststätte, einem Saal für rund
  300 Personen, einem Jugendheim, einer Bücherei und sechs          Auf Anregung der Stadt Aachen wurde das »Haus des Deut-
  Sozialwohnungen sowie die Sicherstellung der Finanzierung         schen Ostens« bereits 2015 wegen der Bedeutung des Bau-
  durch öffentliche Zuschüsse und Darlehen dauerte mehrere          stils für die 1950er- und 1960er-Jahre, aber auch wegen der
  Jahre. 1961 wurde das »Haus des Deutschen Ostens« in An-          Bedeutung für die Siedlungsgeschichte Aachens durch die
  wesenheit des damaligen NRW-Arbeits-und Sozialministers           Eingliederung der Vertriebenen unter Denkmalschutz gestellt.
  Konrad Grundmann dann endlich eingeweiht.                                                                                 HS
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Ostdeutsches Kulturgut im Fokus
Fachtagung der AG Heimatstuben fand am 2. Mai in Ratingen-Hösel statt
                                                                           entstanden erstmals flächendeckend örtlich ganz verschiedene
                                                                           Heimatgefühle. Auch Direktor Stephan Kaiser vom gastgebenden
                                                                           Oberschlesischen Landesmuseum kennt diese Unterschiede und
                                                                           betonte darum den Willen zur Verständigung. Einst waren alle
                                                                           Heimatsammlungen auf die Selbstwahrnehmung ausgerichtet,
                                                                           so auch das 1983 eröffnete Ratinger Museum auf die damalige
                                                                           oberschlesische Volksgruppe in der Bundesrepublik Deutsch-
Dr. Stephan Kaiser, Dr. Vasco Kretschmann, Julia Wahlsdorf und Prof. Dr.
Winfrid Halder                                                             land. Die europäische Öffnung bot die Chance, aus den Samm-
                                                                           lungen attraktive Schaufenster der Bezugsregionen werden zu
                                                                           lassen. Heute ist jeder zur historisch-kulturellen Orientierung
Heimat. Das Wort mit den vielen unterschiedlichen Deutungen                gut beraten, sich in Heimatsammlungen über Mentalitäten und
und individuellen Bedeutungen ist auch die Grundlage vieler                Identitäten im Wandel von Raum und Zeit zu informieren. Der
Sammlungen. Heimatsammlungen befinden sich im Museum                       Fundus solcher Sammlungen schafft Zugänge, die Unterschiede
der Stadt Ratingen oder im Heiligenhauser Museum Abtsküche.                erkennen und bei gutem Willen auch Gräben überwinden las-
Über die Bedeutung, Weiterentwicklung und Vermittlung von                  sen. Viele der aus allen Teilen Nordrhein-Westfalens angereis-
Heimatsammlungen der vertriebenen Deutschen informierte nun                ten Tagungsteilnehmer berichteten von eigenen Erfahrungen
eine Tagung im Haus Oberschlesien. Seit Jahrzehnten existiert              beim grenzüberschreitenden Dialog, denn die einstige deutsche
eine Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Museen, Heimatstuben                 Heimat ist heute Heimat für Polen, Tschechen, Slowaken oder
und Sammlungen in Nordrhein-Westfalen.                                     Russen geworden. Julia Wahlsdorf vom Oberschlesischen Lan-
                                                                           desmuseum stellte die gegenwärtige große Sonderausstellung

D
       eren Vorstandsvorsitzender, Professor Dr. Winfrid Halder            als mustergültigen Rahmen vor, der es auch anderenorts den
       von der Stiftung Gerhart Hauptmann-Haus, hob eingangs               Betreuern der Heimatstuben ermöglicht, generelle Themen mit
       die neue Offenheit für den Heimatbegriff hervor. Viele              ihren besonderen Sammlungen in den Mittelpunkt neuer Wahr-
neue Zugänge bieten sich durch den Zuzug von Migranten. Diese              nehmung und eben der Gesamtgesellschaft zu rücken. Dr. Vasco
fordern die schon Einheimischen zur stärkeren Selbstwahrneh-               Kretschmann, Kulturreferent für Oberschlesien, informierte die
mung heraus. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die erste große Zu-            Teilnehmer der Fachtagung über mögliche Projektfördermittel,
wanderung durch ostpreußische, pommersche und schlesische                  die die Tätigkeit in den Heimatstuben und Sammlungen erleich-
Flüchtlinge und andere deutsche Heimatvertriebene erfolgte, da             tern könnten.
&
12

               »Helena Goldt und das Kaliningrad Orchester«
                                               Zwei Konzerte –
                            Im letzten Quartal fanden im Gerhart-Haupt-
                            mann-Haus zwei herausragende Konzerte statt:
                            am 13. April stand die international renommierte
                            Sängerin Helena Goldt zusammen mit dem Kali-
                            ningrad Orchester auf unserer Bühne.

Helena Goldt                Mit Dietmar Schulmeister (LmDR   Mit Lydia Bitsch (Dialog e. V.)
                            NRW)
&
     13

    »V4 – Musik aus dem Herzen Europas«
– ein Rückblick
     Anlässlich des Europatages am 4. Mai gaben
     junge Musiker aus Polen, Tschechien, Ungarn
     und der Slowakei unter dem Titel »V4 – Musik
     aus dem Herzen Europas« ein Konzert, bei dem
     auch die diplomatischen Vertretungen der Vise-
     grád-Staaten anwesend waren.

                                                                              Bartosz Kołsut aus Polen               Der ungarische Akkordeonist
                                                                                                                     Krisztián Palágyi

     Thomas Geisel (OB Düsseldorf)      Imrich Donath (Konsul der Slowakei), Balazs Szegner (Konsul von Ungarn), Jakub Wawrzyniak (Generalkonsul der
                                        Republik Polen), Daniel Žára (Konsul der Tschechischen Republik)

     Zuzana Leharova aus der Slowakei   Veronika Böhmová und Markéta Anna Peldova aus Tschechien
14                                                                                                    Studienfahrt & lesung
Bild: Wikipedia

                                                                                                                                                   Maastricht
                  3. bis 4. Oktober
                  Benelux-Jahr NRW 2019 – Zwischen Luxemburg, Eupen und Maastricht
                  Studienfahrt mit Dr. Sabine Grabowski

             B
                         elgien, die Niederlande und Luxemburg teilen sich mit            xemburg, des Parlamentes der Deutschsprachigen Gemeinschaft
                         Nordrhein-Westfalen einen Lebens- und Wirtschaftsraum            Belgiens in Eupen und ein Rundgang durch das niederländische
                         im Herzen Europas. Die enge Freundschaft wird in dem             Maastricht.
                  seit zehn Jahren bestehenden Kooperationsabkommen zwischen              Anmeldeschluss: 2. September, Kosten: 163 €, EZ-Zuschlag 40 €
                  Nordrhein-Westfalen und der Benelux-Union deutlich. Der Minis-          Nähere Auskünfte zum Reiseverlauf und den im Reisepreis ent-
                  ter für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationa-           haltenen Leistungen bei Dr. Sabine Grabowski, grabowski@g-h-
                  les des Landes NRW, Stephan Holthoff-Pförtner, hat eingeladen,          h.de, 0211-1699113; Anmeldung über den Reiseveranstalter:
                  dieses Jubiläum mit besonderen Veranstaltungen zu begehen.              Neandertours, Bahnstraße 6, 40699 Erkrath, 0211-2496634,
                  Auf einer kleinen Studienfahrt geht es zu Stationen der gemein-         info@neandertours.de
                  samen europäischen Geschichte der westlichen Nachbarländer.             In Kooperation mit: VHS
                  Geplant sind ein Besuch des Europäischen Gerichtshofes in Lu-           Düsseldorf

                  5. September – 19.00 Uhr

                  »Heimwehland« – ein literarisches Lesebuch
                  Kommentierte Lesung mit Axel Dornemann und Katharina Grabowski

                                      D
                                           er Flüchtlingsstrom war noch nicht ab-           der in den vergangenen 70 Jahren entstanden Werke ist außeror-
                                           geebbt, da erschien im Oktober 1945              dentlich, eine repräsentative Auswahl zu treffen, eine große Her-
                                           bereits ein wegweisendes Gedicht über            ausforderung. 2018 hat Axel Dornemann, Lektor und ehemalige
                                    ihn: Dagmar Nick schrieb ihr berühmtes Ge-              Leiter des Anton Hiersemann Verlags in Stuttgart, eine Antho-
                                    dicht »Flucht«, in dem es am Schluss existen-           logie mit dem Titel »Heimwehland« herausgegeben. Auf annä-
                                    ziell heißt: »Ach, ich habe nichts mehr, kaum           hernd 800 Seiten versammelte er Erzählungen, Romanauszüge,
                                    ein Leben, nur noch Angst.« Wenige Monate               Essays und Gedichte von über 60 deutschen, polnischen, tsche-
                                    zuvor war die 19-Jährige mit ihrer Familie von          chischen und litauischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
                                    Böhmen nach Bayern geflohen. Die Erlebnis-              Zu finden sind feste Größen der deutschen Nachkriegsliteratur
                  se und Eindrücke waren noch ganz frisch, als sie das Gedicht              wie Anna Seghers, Peter Huchel, Siegfried Lenz, Günter Grass,
                  niederschrieb. Kaum 15 Jahre alt war Christa Wolf, als sie 1945           Edzard Schaper oder Horst Bienek; daneben aber auch junge Au-
                  mit ihrer Familie von Ostbrandenburg nach Mecklenburg floh.               torinnen wie Tanja Dückers, Sabrina Janesch, Jakuba Katalpa und
                  Erst posthum, drei Jahr nach dem Tod                                                             Joanna Bator. Die Anthologie ist eine bei-
                  der DDR-Autorin im Jahr 2011 erschien                                                            spiellose Sammlung und Fundgrube zum
                  »Nachruf auf Lebende. Die Flucht«. Darin        Dagmar Nick                                      Thema Heimat und Heimatverlust. An
                  beschreibt die erwachsene Christa Wolf          Flucht                                           diesem Abend erzählt Axel Dornemann
                  ihre Fluchterfahrungen als Jugendliche.         Weiter. Weiter. Drüben schreit ein Kind.
                                                                                                                   von seinen fast vier Jahre dauernden Re-
                  Der Liedermacher und Musiker Heinz Ru-          Laß es liegen, es ist halb zerrissen.            cherchen, der schwierigen Auswahl der
                  dolf Kunze hat den Krieg nicht miterlebt.       Häuser schwanken müde wie Kulissen               Texte und den Besonderheiten der aus-
                  1956 wurde er im Flüchtlingslager Espel-        durch den Wind.                                  gesuchten Beiträge. Katharina Grabows-
                  kamp als Kind von Heimatvertriebenen                                                             ki, Preisträgerin der ersten Düsseldorfer
                                                                  Irgendjemand legt mir seine Hand
                  geboren. Trotzdem hatte er immer das            in die meine, zieht mich fort und zittert.       Schreibtalentiade 2010, liest Passagen
                  Gefühl nicht dazuzugehören und schrieb          Sein Gesicht ist wie Papier zerknittert,         aus dem Buch. Axel Dornemann wurde
                  darüber den Song »Vertriebener«.                unbekannt.                                       1951 in Osterode am Harz geboren. Nach
                  Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs                                                             dem Studium der Slawistik und Germa-
                                                                  Ob Du auch so um dein Leben bangst?
                  haben Schriftstellerinnen und Schriftstel-      Ach, ich habe nichts mehr, kaum ein Leben,       nistik war er im Verlagswesen tätig, da-
                  ler in ihren Werken Flucht, Vertreibung         nur noch Angst.                                  von drei Jahrzehnte als Leiter des Anton
                  und Neubeginn thematisiert. Die Zahl                                                             Hiersemann Verlags in Stuttgart.
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 Kontrapu n kt – Di e B e i lag e de r Kü nstle rwe r kstatt i m G e r hart-Hau ptman n-Haus

»Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?«
Nachträgliche Gedanken zu einem Buch

Unter dem Titel »War die Vertreibung Unrecht?« liegt vom In-
ternationalen Verlag der Wissenschaften/Peter Lang ein 2015
erschienener Sammelband vor, in dem die auf einer internati-
onalen wissenschaftlichen Konferenz vorgetragenen Beiträge
zusammengefasst sind. In seinem Grußwort weist der Historiker
Rudolf von Thadden darauf hin, »dass wir bei der Diskussion
über die Frage nach Recht und Unrecht in der Kriegs- und Nach-
kriegszeit nicht stehenbleiben dürfen« und dass »die Kräfte der
Versöhnung die Oberhand behalten« müssen. »Wir sind in der
Lage«, so von Thadden, »geschichtliche Prozesse zu vergleichen
und damit Erkenntnisse für neue Aufgaben in der Gegenwart [...]
zu gewinnen.«

E
       s mag dabei so unwichtig nicht sein, ob der Heimatver-
       lust der deutschen Schlesier und Ostpreußen, der Su-
       detendeutschen und Südostdeutschen als Vertreibung,
Aussiedlung oder Umsiedlung zu bezeichnen ist. Die Auslegung
der Rechtslage ist nach wie vor umstritten und wird sowohl
historisch wie als Folgeerscheinung des Zweiten Weltkrieges
unterschiedlich beurteilt. Punktuell ist immerhin eine Annä-

                                                                                                                                                  Bild: Wikipedia
herungsbereitschaft vorrangig zwischen Deutschen und Polen
zu erkennen, insoweit davon nicht die Aufgabe grundsätzlicher
Positionen infrage gestellt wird. Die vom »Dritten Reich« insbe-
sondere gegenüber den östlichen Nachbarn praktizierte Über-           Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin auf der Potsdamer
                                                                      Konferenz
heblichkeit und der von Deutschland ausgegangene verbreche-
rische Krieg boten keine Grundlage für Rücksichtnahmen in der         und Integration der deutschen Heimatvertriebenen verlagert
Festlegung einer Friedensordnung, von der kein Gnadenerlass           sich zusehends in den Bereich der Historiker. Zudem bewirken
erwartet werden konnte. »Die Verantwortlichkeit des Staates«,         die Integration der ehemaligen Kriegsgegner und sogenannter
schreibt Jerzy Kranz in seinem Beitrag »Schuld und Verantwor-         Erzfeinde in die Europäische Union sowie die damit verbundene
tung, Wunden und Narben: War die Vertreibung Unrecht?«,               Interessengemeinschaft eine zunehmende Annäherung, auch
»überträgt sich unweigerlich auf das Schicksal des gesamten           wenn die Auslegung bestimmter historischer Ereignisse und Ent-
Staatsvolkes [...] Diese Verantwortlichkeit kennt keine Unter-        wicklungen widersprüchlich bleibt.
scheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen [...] Es geht

                                                                      E
dabei jedoch nicht darum, ein ganzes Volk für die Vorgehenswei-             inen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leisten die euro-
se des Staates schuldig zu sprechen, sondern lediglich um das               päischen Literaturen, auf die Irmela von der Lühe in ihrem
Verantwortungsgefühl der Bürger für die Handlungen ihres Staa-              Beitrag »Die ›kalte‹ Heimat: Flucht und Vertreibung in der
tes als Kollektiv.« Diese »gesellschaftliche Haftung« für begange-    deutschsprachigen Nachkriegsliteratur« hinweist. Es sind nicht
ne Verbrechen des eigenen Staates führt auch Christoph Koch in        zuletzt die Schriftsteller, die in ihren zeitbezogenen Werken nach
seinem Beitrag »Über Unrecht« an. »Auch für den eingeschränk-         Antworten auf die von Christa Wolf eindringlich gestellte Fra-
ten Kreis der tatsächlich Unschuldigen aber wird die persönliche      ge suchen: »Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?«.
Unschuld überwölbt durch die Verantwortung des Einzelnen für          Eine Frage, die uns begleitet und immer wieder neu zu stellen
die Gesellschaft [...]. Ist die Gesellschaft ein Unrechtssystem, so   ist, wenn radikale Maßnahmen durchzuführen als unerlässlich
haftet auch der, der sich dem Unrecht vergebens widersetzt.«          erscheinen und nachträglichen Rechtfertigungen standhalten
Von dieser sowohl kollektiven wie individuellen Haftung sahen         müssen. Denn weltweit sind weiterhin Vertreibungen und Mig-
sich vor allem die Ostdeutschen und Auslandsdeutschen (be-            rationen zu vermerken und auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu prü-
sonders im ehemaligen Jugoslawien) betroffen, die enteignet,                                           fen, wobei die davon unmittelbar
interniert und vertrieben worden sind. Es mag rechtlich unter-                                         Betroffenen sich ausgeschlossen
schiedlich auszulegen sein, ob der Vorgang der zwangsweisen                                            vorkommen. Das zu ändern wird so
Ausbürgerung als Vertreibung, Aussiedlung oder Umsiedlung zu                                           bald nicht gelingen, und so bleibt
bezeichnen ist – im Bewusstsein der Millionen vom Heimatver-                                           es überfällig, über das Recht auf
lust Betroffenen haben sich die damit verbundenen Vorgänge                                             Heimat nicht nur nachzudenken.
nicht nur als gelegentliche Übergriffe erhalten, sondern schlicht-                                     FH
weg als gezielte Maßnahmen, bei deren Durchsetzung die Frage
                                                                                                       Christoph Koch (Hrsg.): War die ›Ver-
nach Recht und Unrecht weniger gestellt worden ist. Sie steht
                                                                                                       treibung‹ Unrecht? Die Umsiedlungsbe-
bis heute im Zentrum der nachträglichen Beurteilung und Histo-                                         schlüsse des Potsdamer Abkommens
risierung der Ereignisse, auch wenn diese in der dritten (voll in-                                     und ihre Umsetzung in ihrem völkerrecht-
tegrierten) Generation der deutschen Heimatvertriebenen eher                                           lichen und historischen Kontext. Peter
emotionslos geführt werden. Die Aufarbeitung der Vertreibung                                           Lang, Frankfurt am Main 2015.
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Siebenbürgisches Pastell, patiniert
Für Michael Markel von Franz Heinz

                                                                                            E
Wir hatten einen weiten Weg vor uns. Kurz nach sieben spannte                                     r hatte manchen gepflanzt und manchen auch gefällt, zer-
der alte Bruster das Pferd an und winkte mich einladend heran.                                    sägt und gespalten. Verheizt. Der eine oder andere ist ihm
Der enge Bauernwagen ließ es nicht zu, nebeneinander zu sitzen,                                   in Erinnerung geblieben, wie der Birnbaum im Hof, wenn
und so nahm ich auf einem quer gelegten Brett hinter dem Fuhr-                              er blühte. Sonst war nicht viel dran. Er warf die Birnen vor der
mann Platz, der zum Tor hinauslenkte und dann, am Friedhof vor-                             Reife ab, und so wanderte alles, was er hergab, in den Schnaps-
bei, ins offene Land. Das Pferd, der Alte rief es Juri, ahnte den lan-                      kessel. Ein Herbststurm riss ihn aus, und ein neuer kam an seine
gen Tag und ließ sich nur ungern aufs Traben ein. Zwischen dem                              Stelle. Der aber mochte das alles nicht – den Boden, den Wind,
Fuhrmann und meinem Querbrett war ein leeres Hundertliterfass                               die Stare, und gab vorschnell auf. Mitten in der Blüte. Er hielt
festgekeilt. Es war Mitte September und die Weinlese stand be-                              nicht durch, und bis zuletzt zählt doch immer nur das, ob einer
vor, und da waren die Winzer an beiden Kokeln und bis hinunter                              durchhält. Hast nur den Boden zu bieten, der da ist, und nur den
in den Unterwald darauf bedacht, ihre Keller für den Heurigen                               Sommer, wie er kommt. Der mag so oder anders sein, aber er
auszuräumen. Das drückte vorübergehend die Preise, und der                                  kommt Jahr für Jahr und tut das Nötige.
alte Bruster hatte vor, das zu nutzen, denn das Geld war nach
wie vor knapp, während an Zeit genügend vorhanden war. Zählst
nicht die Stunden und nicht die Tage, und irgendwann, wenn die                              Kirchenburg in Kleinscheuern
Erinnerung größer geworden ist als die Erwartung, beginnst du
ohnehin damit, die Jahre nach hinten hin aufzudröseln. Denn wo
ist schon vorn, ließe sich fragen? Verrichtest dein Tagwerk und
bleibst nützlich, so lang es der Herr zulässt.

E
      r kannte einen Bauern in Kleinscheuern, den Engert Misch.
      Seit nahezu dreißig Jahren ließ er sein Hundertliterfass in
      dessen Keller füllen, vom Besten versteht sich. Vorgekos-
tet. Da gibst du gern einen Tag her und siehst dabei noch etwas
von der Welt. Kommst durch die Stadt und an den Salzbädern
vorbei, die freilich, von der Straße her, nicht auszumachen sind,
wie manches andere auch, das da ist weil es eben da ist. Von
dort sind es nur noch an die sieben Kilometer bis Kleinscheuern.
Schotterstraße. Kannst es dir eben nicht immer aussuchen wie
den Wein in Engerts Keller.
Der Tag war hell und mild, und das ist an sich genug. Lebst als
Bauer mit dem Wetter und vertraust Jahr für Jahr auf den lieben
Gott da droben, der es so eingerichtet hat wie's ist und seinen
Sinn hat. Wächst nicht Brot und Wein in diesem Land genug für
alle und für alle Zeit – wie man glauben sollte? Sagst es halblaut
vor dich hin und weißt zugleich, wie die Habgier den Menschen
im Nacken sitzt und sie gegen einander aufzubringen in der Lage
ist. Hast immer einen hinter dir und selten nur an deiner Seite.
Das macht wortkarg. Behältst es besser für dich, was ohnehin
bekannt ist.

K
       aum einer kam uns entgegen, und noch wenigere waren
       darauf aus, zu überholen. Nur die Flüsse sind schnell un-
       ter den Karpaten, und mitunter kommt es dich so an, als
gälte auf der Straße noch immer der Ochsenschritt, der sein ge-
nügsames Maß hat und dir Zeit lässt zum Schweigen. Da waren
die vier Stunden, die Juri bis nach Kleinscheuern brauchte, nicht
zu viel. Immerhin gab es sieben Jahrzehnte zu überdenken, und
das Wichtigste davon behältst du ohnehin für dich. Drehst dich
deswegen nicht nach deinem Begleiter auf dem Rücksitz um, der
möglicherweise nichts rechtes darüber weiß, wie schnell die Zeit
ist und wie wenig Klugheit sie zulässt.
Zu sehen gab es, die Straße entlang, nicht viel, und schon gar
nichts, was im letzten Jahr noch nicht da gewesen wäre. Zur Lin-
ken – also bergwärts – war eine Baumreihe abgeholzt. Die run-
den Schnittflächen auf den Strünken waren hell wie kleine Son-
                                                                         Bild: M. Benning

nen und, wie es schien, mit sich selbst und dem Tag zufrieden.
Bäume nehmen es wie's kommt, wusste der alte Bruster.
17                                                                                                           Kontrapunkt III

Inzwischen war der Wehrturm von Kleinscheuern mit seiner             ist und Erlösung, wie es eben ausgelegt oder gerade gebraucht
großen Uhr ins Blickfeld geraten. Stand da wie sonst. War fes-       wird. Beim Engert Misch hielten wir uns nicht lange auf. Er fragte
te Burg und Bleibe. Ein rötlicher Schimmer lag auf dem rauen         nach Brusters Frau, die er nicht kannte, und nach den Enkelkin-
Mauerwerk und verniedlichte die strenge Wehrhaftigkeit der An-       dern, die er voraussetzte. Wir stießen an, verkosteten den Wein
lage. Sie hatte, fand der alte Bruster, ihre zwei Gesichter. Drau-   und lobten ihn. Blieben noch eine ganze Weile dabei und hoben
ßen und drinnen und, gegebenenfalls, vor der Weinprobe und           dann das gefüllte Fass auf den Wagen. Juri, unserem Pferd, ging
danach. Drinnen, erinnerte er sich, ziert ein runder Schlussstein    das zu schnell. Das Heu will Zeit und einen Eimer Wasser danach.
das Chorgewölbe, im blauen Feld das göttliche Lamm, das so ge-       Wir stießen also noch einmal an und schüttelten uns wieder und
nau nicht auszumachen ist. Um es besser zu sehen, musst du           wieder die Hände. Es schlug vier, als der alte Bruster, geschmei-
den Kopf weit in den Nacken zurücklegen, den du sonst vor dem        diger als üblich, aus Engerts Hof hinausfuhr. Sein Blick, um eine
Herrn zu beugen angehalten bist. Findest dich in seine Gnade.        Note fröhlicher als sonst, traf mich. »Ein schöner Tag heut, nicht
Ähnlich wird es mit dem Lamm auf dem Gewölbe sein, das Opfer         wahr.« – Ich konnte das nicht bestreiten.
18                                                                                                           Kontrapunkt IV

  Aus dem Vollen schöpfen
  Neue Arbeiten von Marie-Luise Salden im Kurfürstlichen Gärtnerhaus Bonn

                      Das Motto »Aus dem Vollen schöpfen...«          und Grenzen sprengendem Gemeinschaftssinn zehrende Tanz-
                      kann als Credo der exquisiten Künstlerin        performance, die dem gleichnamigen europäischen Kunst-Kultur-
                      Marie-Luise Salden interpretiert werden.        Projekt gewidmet ist (Initiator Otto Freundlich, 1935).
                      Aus dem Vollen oder ganzheitlich ge-            Für ihre original japanische Farbholzschnittkunst macht die
                      schöpft verlaufen Leben, Alltag, Karriere       Künstlerin Gebrauch von folgenden traditionellen Requisiten und
                      und Kunst. Hohe Achtung und Beachtung           Verfahren: weichere maulbeerbaumbeschichtete Holzdruckplat-
                      verdient vieles in der Biografie sowie in der   ten oder Holzdruckstöcke aus steinhartem japanischen Sperrholz
Bild- und Gedankenwelt der aus dem westpreußischen Elbing             (Huan Pine, Red Wood), japanische Schneidemesser, mit dem
stammenden Künstlerin: Dolmetscherexamen, eine vierfache aka-         Pinsel aufgetragene Tusche, Wasserfarbe, Pigmente, saugfähiges
demischen Ausbildung (Flensburg, Hamburg, Kiel, Paris) – vor al-      Japanpapier und ein von Hand betriebenes Druckverfahren, das
len Dingen aber das Profil einer international anerkannten Expertin   gemäldeähnliche Anmutungen auslöst.
für japanischen Farbholzschnitt, für japanische Papierschöpfun-

                                                                      S
gen und japanische Kalligraphie. Seit dem 1997 erteilten Stipen-            eit den späten neunziger Jahren folgt Marie-Luise Salden
dium des »Fördervereins japanisch-deutsche Kulturbeziehungen«               konstant dem inneren Ruf, die im japanischen Papierschöp-
und der anschließenden Lehr- und Forschungstätigkeit an der                 ferdorf Obaramura angesiedelte Werkstadtidylle ihres japa-
japanischen Kunstakademie zu Kanazawa (Gastprofessur für ex-          nischen Lehrmeisters, Professor Yasuhiro Kasugai, aufzusuchen.
pressionistischen Holzschnitt) häufen sich in der Vita der in Spich   Auf rechteckige, in Metallbecken eingelassene Siebkonstruktio-
lebenden Künstlerin die Auslandsstipendien und Studienaufent-         nen schöpfen hier Marie-Luise Salden und ihr Meister mit Eimern
halte, die primär nach Japan und Australien führen und dort, wie      die stetig mit kristallklarem Bergwasser getränkte Maulbeer-,
auch in Deutschland, anberaumte akademische, museale Lehrauf-         Gampi- oder Mitsumatapulpe. Die glasige Masse erhält ihre pri-
träge nach sich ziehen.                                               märe Strukturen oder Adern durch das nicht immer berechen-

                                                                       Verletzung – Heilung

                                                                      bare, mit der Pipette gehandhabte Applizieren von langen sowie
                                                                      kurz geschnittenen Bast- oder Kozofäden. In stetiger Umrundung
                                                                      des hauchdünnen »Pulpen-Gespinstes« beginnt die Künstlerin
                                                                      mit Schöpfkellen zarte Farbenklänge, Gold- und Silberstaub auf-
                                                                      zutragen, weißlich schimmernde Pulpe zu integrieren und diese
                                                                      mit Fingerzeichnungen zu versehen. Abschließend wird die mem-
                                                                      branartige Papierschöpfung stabilisiert durch Hinterlegungen von
                                                                      abweichend blau eingefärbten Papieren. Die Bonner Ausstellung
                                                                      zeigt dazu die im Frühherbst 2018 entstandenen sublimen Papier-
  Engel über Elbing                                                   schöpfungen »Frühlingsklänge«, »Energien des Alls«, »Vertikal«,
                                                                      »Schwebend« und »Vernetzung«. Suggestiv wirksam werden

V
       on jeher beseelt die Künstlerin ein investigativer Pionier-    Chiffren, rhythmisierte Faserstrukturen, schwereloses Schwe-
       geist, »die Einheit, Wechselbeziehungen und Verflechtun-       ben, das Fluidum von Unendlichkeit sowie kommunikative Kräfte.
       gen allen Seins« zu ergründen. Die Wirkung unsichtbarer        Marie-Luise Salden hat im Bonner Kurfürstlichen Hofgärtnerhaus
Kräfte sichtbar, nachvollziehbar zu machen, steht Pate auch für       ein bezwingendes, formalästhetisch feinsinniges und gedanklich
das aktuelle Werkensemble (2008–2019) der Künstlerin. Ins Auge        komplexes Schauspiel in Szene gesetzt.
sticht hier eine kleine Suite von eher szenischen oder portraitähn-                                     Christina zu Mecklenburg
lichen szenischen Darstellungen – einer symbolträchtigen »Annä-
herung an die Gestalt Luther« (2017) sowie der Farbholzschnitt                         Redaktion der Beilage: Franz Heinz
»Straße des Friedens« (2015), eine von Freiheit, Begeisterung
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