WOJ 3 /19 Arno Surminski - Russlanddeutsche Kulturtage Seeing Moscow Die Grundgesetzwanderung - Gerhart-Hauptmann-Haus
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West-Ost-Journal | Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus | Deutsch-osteuropäisches Forum | Juli–September 2019 WOJ 3/19 Russlanddeutsche Kulturtage · Seeing Moscow · Die Grundgesetzwanderung Arno Surminski
2 Liebe Leserinnen und Leser, in diesem wichtigen Gedenkjahr 2019, in dem die Bundesrepu- hend zerschlagen, fast 400.000 Soldaten fielen, wurden verwun- blik Deutschland ihren 70. Geburtstag feiert, gilt es auch an ein det oder gingen in Gefangenschaft. Die militärische Katastrophe historisches Ereignis zu erinnern, das für das Selbstverständnis war größer als die von Stalingrad. Nur wenig militärischer Sach- der Bundesrepublik überragende Bedeutung hat: In den bevor- verstand war nötig, um zu wissen: der nächste Großangriff von stehenden sommerlichen Juli-Tagen liegt das Attentat auf Hitler, sowjetischer Seite würde bis aufs Reichsgebiet vordringen und welches Oberst Claus Schenk Graf Stauffenberg am 20. Juli 1944 er würde nicht aufzuhalten sein. Die Menschen in Ostpreußen, im ostpreußischen »Führerhauptquartier« bei Rastenburg verüb- Pommern und Schlesien hatten allen Grund zur Furcht vor dem te, ein dreiviertel Jahrhundert zurück. Kommenden – sie wurden indessen von der NS-Propaganda wei- terhin schamlos belogen. Das, was dann an der Jahreswende E s fand in einer aus deutscher Sicht bereits verzweifelten 1944/45 folgte, zeichnete sich ab – die Machthaber nahmen es Kriegslage statt: Am 6. Juni 1944 war den Westalliierten die in Kauf um des eigenen desparaten Machterhalts für kurze Zeit lange erwartete Landung an der französischen Küste und willen. Parallel zum Vordringen der Roten Armee im Sommer damit die Eröffnung der »Zweiten Front« gelungen. Seit dem 22. 1944 verlief der heroische Aufstand der polnischen Untergrund- Juni 1944 war die »Operation Bagration« im Gange – die Som- armee in Warschau. Er begann am 1. August und wurde bis Ende meroffensive der Roten Armee an der Ostfront. Die deutsche September mit brutalsten Mitteln und unter weitestgehender Heeresgruppe Mitte wurde in den folgenden Wochen weitge- Zerstörung der polnischen Hauptstadt von deutscher Seite un- West-Ost-Journal 4 Burg Hoheneck 7 Mitgebracht – Eugen Litwinow Juli 4 1949 – Das lange deutsche Jahr und Nikolaus Rode August 8 Drang nach Osten 5 Seeing Moscow September 6 Kirchen der Wolgadeutschen 8 Die Grundgesetzwanderung 6 Wolfskinder 8 Rose Ausländer & Marianne Moore
3 Editorial Denkmal für den Warschauer Aufstand vor dem Obersten Gericht Polens mit dem Rechtsgrundsatz »Gewalt darf man mit Gegengewalt abwehren« terdrückt. An der bevorstehenden Niederlage NS-Deutschlands re alten Bundesrepublik Deutschland – das sollte, das muss so änderte dies nichts. bleiben. Bei aller Freude über die Erfolgsgeschichte des 1949 begründeten Rechtsstaates, die nicht ohne Gefährdungen und I m Strahlen des zumindest hier bei uns gottlob friedlichen Som- Rückschläge verlief, aber den Deutschen dennoch eine längere mers fällt es 75 Jahre später nicht leicht, an das Grauen von Friedensperiode in ihrer Geschichte denn je beschert hat, ist damals zu erinnern – notwendig ist es gleichwohl. Dabei ist mit Blick auf den 20. Juli 1944 noch immer eines wahr: auch das es nicht entscheidend, dass Attentat und Umsturzversuch von Scheitern kann geschichtsmächtig sein. Stauffenberg, Beck, Goerdeler und all den anderen scheiterten. Ein unbeschwerter, erholsamer, vielleicht aber auch zuweilen Generalmajor Henning von Tresckow, der aus einer alten preu- durch Erinnerung nachdenklicher Sommer sei Ihnen allen von ßischen Offiziersfamilie in der Alt- und Neumark stammte und Herzen gegönnt. Sammeln Sie Kräfte, damit wir Sie nach der an- einer der wichtigsten Vordenker des militärischen Widerstands stehenden Pause wieder zu unserem umfangreichen Program- war, hat es auf den Punkt gebracht: »Es kommt darauf an, dass mangebot begrüßen können. Das erinnerungsträchtige Jahr die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der 2019 ist noch lange nicht vorbei! Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.« Dieser Satz gilt noch immer. Die Tradition des Widerstandes Auf bald! gegen das NS-Regime gehört zu den Fundamenten der 70 Jah- Ihr 9 Arno Surminski 11 Ostdeutsches Kulturgut 19 Interview Michael Deuschle 9 Sie sind wieder da 12 Rückblick Konzerte 20 Seminar »Oma kommt aus 9 Film Gruß aus Oppeln 14 Exkursion Schlesien« 9 Jerominkinder 14 Heimwehland 21 Mitarbeiter 10 HdO in Aachen 15 Kontrapunkt 22 Bibliothek 23 Chronologie
4 Lesung 2. September – 19.00 Uhr 26. September – 19.00 Uhr Wegen Republikflucht verurteilt! Burg 1949. Das lange deutsche Jahr Hoheneck und ein Leben danach Lesung und Gespräch mit Christian Bommarius Lesung und Gespräch mit Marie-Luise Knopp I n den 1970er-Jahren inhaftierte die DDR Die Bundesrepublik wird in diesem Jahr wegen geplanter Republikflucht viele 70 Jahre alt. 1949 brachten die ersten Frauen in dem berüchtigten Frauenge- Bundestagswahlen Konrad Adenauer ins fängnis Hoheneck. Hier herrschten ver- Kanzleramt, Theodor Heuss wurde Bun- heerende Zustände: überbelegte Zellen, despräsident, Bonn Hauptstadt der Bun- drakonische Strafen und Akkordarbeit in desrepublik. Damit begann in der Mitte den gefängniseigenen Produktionsstätten. Europas ein auf den ersten Blick bizarres Marie-Luise Knopp Politische Gefangene wurden zusammen Christian Bommarius Experiment. Ausgerechnet auf den Ruinen mit kriminellen Frauen eingesperrt und im Westen des politisch, wirtschaftlich und moralisch bankrotten von diesen bespitzelt und schikaniert. Besonders schlimm traf Deutschland sollte eine Demokratie entstehen. es die Mütter: ihre Kinder kamen in Heime, manche wurden zur D Zwangsadoption freigegeben. Marie-Luise Knopp, die 1973 we- as Experiment musste gelingen, weil die drei westlichen gen geplanter Republikflucht für ein Jahr in Hoheneck einsaß, hat Besatzungsmächte im Kalten Krieg ein demokratisches im vergangenen Jahr das Buch »Eingesperrte Gefühle bahnen Westdeutschland als Gegengewicht zur DDR wollten. An- sich ihren Weg« geschrieben. Sie schildert darin eindrücklich ihr dererseits waren die Erfolgsaussichten besorgniserregend, denn Schicksal als gefangene Frau und Mutter. Unter dem Trauma der die Westdeutschen waren auch Jahre nach dem Ende des Welt- gewaltsamen Trennung von ihrem damals siebenjährigen Sohn krieges auf die Demokratie nicht vorbereitet. und den Schikanen der Gefängniszeit leidet sie bis heute. An die- Christian Bommarius erzählt so kundig wie kurzweilig die Ge- sem Abend liest Marie-Luise Knopp Auszüge aus ihrem Buch und schichte des langen Jahres 1949, das bereits 1948 einsetzt, als berichtet von ihren persönlichen Erlebnissen. Marie-Luise Knopp mit Währungsreform und Auftrag zur Verfassungsbildung die wurde 1942 in einem kleinen Ort der ehemaligen DDR geboren, Weichen in Richtung Bundesrepublik gestellt wurden. Er schil- sie studierte Deutsch und Geschichte und arbeitete zehn Jahre dert zentrale und marginale Episoden aus Politik, Wirtschaft, als Lehrerin in Leipzig. 1974 wurde sie freigekauft und reiste in Kultur und Alltagsleben. Sein Buch ist ein buntes Panoptikum die Bundesrepublik aus. Dort arbeitete sie 30 Jahre als Lehrerin der frühen Bundesrepublik – und birgt eine höchst aktuelle Bot- an einer Förderschule. schaft: demokratisches Denken und Handeln muss gegen Wider- stände gelebt werden, damals wie heute. Christian Bommarius, geb. 1958, studierte Germanistik und Rechtswissenschaft. Nach journalistischen Stationen, u. a. als Korrespondent der Deutschen Presseagentur, war er von 1998 bis 2017 Redakteur der Berliner Zeitung. Seit 2018 ist er Kolum- nist der Süddeutschen Zeitung. Für sein publizistisches Werk wurde Bommarius der Heinrich-Mann-Preis verliehen. Das ehemalige Frauengefängnis Hoheneck Hinweisschilder zum Parlamentarischen Rat in Bonn 1948 Bilder: Hans Edinger, Bundesarchiv, Wikipedia
5 Ausstellung 6. September – 19.00 Uhr Seeing Moscow Eine Ausstellung von Thomas Koester – Ausstellungseröffnung #17, Moskau 2017 S Moskau ist eine Metropole im Wandel, Moskau ist das wirtschaft- tets entschied sich Koester dabei für eine fotografische Ar- Bild: © Thomas Koester, VG Bild-Kunst liche und geistig-kulturelle Herz Russlands. Moskau ist mit rund beitsweise in Analog und Schwarz-Weiß, was seinem An- 12 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt Euro- liegen einer reduzierten und scharfen Artikulation in der pas. Seit 2012 hat sich die Stadt durch Eingemeindungen flä- Bildsprache entspricht, an eine lange fotografische Historie an- chenmäßig mehr als verdoppelt. Heute ist sie eine der teuersten knüpft und somit die Möglichkeit schafft, in ein besonderes bild- Städte der Welt. Moskau fasziniert durch Größe, Vielfalt an Eth- ästhetisches Vergleichsspektrum einzutauchen. Aus einer Fülle nien und durch ständig gegenwärtige Gegensätze in allen Berei- von spannendem Bildmaterial, das der Künstler 2008 bis 2018 chen. 2017 dokumentierte Thomas Koester mit einer Mittelfor- in Moskau, aber auch in Riga und Berlin aufnahm, zeigt Thomas matkamera den 870. Jahrestag der Stadt Moskau, die Eröffnung Koester eine für ihn wichtige Auswahl in Form einer fotografi- des Kalaschnikow Denkmals, eine Demonstration der Oppositi- schen Installation, die er speziell für den Ausstellungsraum der on, zu der Alexej Nawalny aufgerufen hat, Bau- und Straßenarbei- Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus entwickelt hat. ten und Vororte von Moskau. Thomas Koester (geb. 1980) studierte an der Universität der Künste Berlin, am Central Saint Martins College London, an der LMA Art Academy of Latvia in Riga und absolvierte seinen Meis- terschüler bei Katharina Sieverding an der Universität der Künste Berlin. Er lebt und arbeitet in Düsseldorf und Berlin. Laufzeit der Ausstellung: 7. September bis 18. Oktober 2019
6 17. September – 30. Oktober Russlanddeutsche Kulturtage 2019 »60 Jahre LmDR – 60 Jahre zu Hause in NRW« 6. September – 19.00 Uhr Russlanddeutsche Kulturtage 2019 Vergessene Zivilisation – die Kirchen der Wolgadeutschen Ambrotypien von Artjom Uffelmann – Ausstellungseröffnung Wolgadeutsche Kirche, Ambrotypie, Artjom Uffelmann 2012 unternahm der Mannheimer Fotograf Artjom Uffelmann weite Teile des Schulwesens und der kommunalen Selbstverwal- eine fotografische Expedition ins historische Siedlungsgebiet der tung bestimmten. Mit dem Einzug der Sowjetmacht richtete sich Wolgadeutschen und hielt ihre architektonischen Hinterlassen- der staatliche Terror unvermittelt gegen die Kirchen und den schaften auf belichteten Glasplatten fest. Uffelmann arbeitet Stand der Geistlichen. 1941 wurde die Wolgadeutsche Repub- ausschließlich mit Mitteln der Ambrotypie (»Kollodiumnassplat- lik schließlich mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjet- tenverfahren«), einem fotografischen Verfahren, das in der zwei- union aufgelöst. Die Ambrotypien sind Leihgaben des Museums ten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war. In dieser für russlanddeutsche Kulturgeschichte Detmold und werden im Zeit entstanden auch die sakralen Bauten der Wolgadeutschen Rahmen der »Russlanddeutschen Kulturtage« gezeigt. im früheren Russischen Reich. Kirchen bildeten bis zur Oktober- Laufzeit der Ausstellung: 7. September bis 18. Oktober 2019 revolution den wichtigsten Identitätsanker der deutschen Sied- In Kooperation mit: Museum für russland- ler in Russland, da sie über ihre Aufgaben der Seelsorge hinaus deutsche Kulturgeschichte 30. September – 19.00 Uhr Nachkriegskinder im ehemaligen Ostpreußen. »Wolfskinder« – eine Kinder- Viele von ihnen versuchten sich nach dem generation nach 1945 Ende des Zweiten Weltkrieges vor den Solda- ten der Roten Armee in Sicherheit zu bringen. Ein Hörtheaterabend von und mit Heimat- und elternlos »verwilderten« sie und Anja Bilabel und Salome Amend wurden daher »Wolfskinder« genannt. Eine Eine spannende Melange aus Zeitzeugen- Geschichte über erschütternde Kinderschick- berichten, Literatur und Dokumentation umrahmt von musi- sale und gleichzeitig eine Geschichte über die Bedeutung von kalischen Impressionen: In ihrer szenischen Lesung beleuchtet Identität, Menschenwürde und Mitgefühl. Die begleitenden Im- Anja Bilabel in verschiedenen Facetten die Geschichte deutscher provisationen und Klänge werden gespielt von Salome Amend.
7 Weitere Veranstaltungstermine folgen in Kürze auf www.g-h-h.de 17. September – 13.30 Uhr Russlanddeutsche Kulturtage 2019 Mitgebracht. Eugen Litwinow – Nikolaus Rode. Erfahrungswelten russlanddeutscher Künstler Ausstellungseröffnung im Landtag NRW Eugen Litwinow, Ausstellungsansicht Nikolaus Rode, »Die Würfel sind gefallen« Unter dem Titel »Mitgebracht« präsentieren Eugen Litwinow (geb. sind Bekenntnisse und stumme Zeugnisse dieses Schreckens. 1987 in Kasachstan) und Nikolaus Rode (geb. 1940 in Eigental, Sie sind stumme Schreie dort, wo Sprache oft versagt bleibt. Die dt. Kolonie in der Ukraine) ihre künstlerischen Arbeiten. Deutschen werden im Russischen »Nemzy« genannt, was von dem Wort »die Stummen« (Nemye) abgeleitet ist. Somit steht I n seinem künstlerischen Projekt »Mein Name ist Eugen« port- diese doppeldeutige Wortbedeutung sowohl für die Wirkung rätiert der junge Berliner Grafikdesigner Eugen Litwinow drei- seiner Bilder wie auch die eigene Geschichte. Es sind Werke, die zehn junge Russlanddeutsche, die alle den Vornamen »Eugen« Erlebtes dokumentieren und zur Menschlichkeit aufrufen. Ihre tragen. Sie sind sich noch nie begegnet, doch alle hießen früher emotionale Wucht macht die Beschäftigung mit dem persön- »Evgenij«. Als sie Anfang der 1990er-Jahre nach Deutschland lich erfahrenen Trauma innerhalb eines künstlerischen Oeuvres zogen, wurde ihr Name radikal eingedeutscht. Litwinow führte sichtbar. So lassen sich wiederkehrende Motive und Symbole in umfangreiche und intensive Gespräche mit den dreizehn »Eu- Rodes Schaffen erkennen: Stacheldraht, Baumstümpfe und Fuß- gens« und gibt authentische Einblicke in die Herkunft, Abenteu- spuren im Schnee. Und im Mittelpunkt der Mensch. Rodes Bilder er, Namen und Identität dieser jungen Deutschen aus Russland. erzählen ein Schicksal, das er mit vielen teilt, die Krieg, Flucht Stellvertretend für eine ganze Generation zeigt der junge Künst- und Verbannung erleben. ler die Herausforderungen des Aufwachsens in einer neuen, nur Laufzeit der Ausstellung: 17. September bis 2. Oktober 2019 (nur zum Teil vertrauten Kultur. am Wochenende); Veranstaltungsort: Bürgerhalle des Landtags NRW, Platz des Landtags 1, Düsseldorf D ie Kunst von Nikolaus Rode ist untrennbar verknüpft Der Landtag ist am Wochenende von 11 bis 17 Uhr für Besucher mit seiner Lebensgeschichte. Es ist eine Geschichte von geöffnet. Weitere Infos siehe auf der Homepage des Landtags Flucht, Deportation und dem Leid, den diese mit sich zie- NRW unter »Besuch im Landtag«. hen. 1940 in Eigental, einer deutschen Kolonie in der Ukraine In Kooperation mit: geboren, floh er nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit Landtag NRW, LmDR seiner Familie nach Ostdeutschland, wo die Familie 1945 von NRW e. V. und der Roten Armee nach Sibirien deportiert wurde. Rodes Bilder Kulturreferat für Russlanddeutsche
8 Lesung & Finissage Bild: Magdalena Becker Bild: Ralf Peters 11. September – 19.00 Uhr 12. September – 19.00 Uhr Drang nach Osten Die Grundgesetzwanderung Lesung mit Artur Becker Eine Wander- und Rezitationsperformance mit In seinem autobiografisch gefärbten Familienroman »Drang nach Ralf Peters Osten« widmet sich Artur Becker den immer aktuellen Themen Ralf Peters hat in diesem Jahr eine Kunstperformance der be- Versöhnung und Schuld. Der Protagonist des Romans ist dem sonders ausdauernden Art abgeschlossen. Am 8. Mai 2017 star- Autor zum Verwechseln ähnlich und doch nicht er selbst. Arthur, tete er seine Grundgesetzwanderung in Aachen auf dem Euro- Ende 40, aus Masuren, lebt als Historiker und Schriftsteller in paplatz und lief innerhalb von zwei Jahren in Etappen bis nach Bremen. Für Recherchen besucht er seinen Onkel und erfährt Görlitz. An jedem Ort, an dem er übernachtete, rezitierte er an von dem ehemaligen Stalinisten, dass er 1945 freiheitshungrige öffentlichen Plätzen die ersten zwanzig Artikel des Grundgeset- Menschen gefoltert hat, darunter auch Arthurs polnischen Groß- zes. Dabei verstand der Stimm- und Performancekünstler und vater. Schockiert beschließt Arthur, sein nächstes Buch ganz den promovierte Philosoph seine Aktion vor allem als Einladung zum Schicksalen seiner Großeltern zu widmen und landet schnell bei Austausch darüber, wie wir heute das Grundgesetz verstehen. In den immer gleichen Fragen: Wie konnten all die Verbrechen ge- seinem Blog zum Projekt fragte er kurz vor Beginn der Reise: »Ist schehen? Woher kommt das Böse? Was ist Freiheit – und was ist es nur ein alter Text, ein Text für Juristen, ein heiliger Text des ihr Preis? Artur Becker wurde in Bartoszyce (Masuren) geboren, Nachkriegsdeutschlands, der wichtigste Text, der in Deutschland lebt seit 1985 in Deutschland und veröffentlicht Romane, Erzäh- im 20. Jahrhundert geschrieben wurde, ein utopischer Text, ein lungen, Gedichte und Übersetzungen. Für sein Werk wurde er Text, der den Verfassungspatriotismus rechtfertigt?« u. a. 2009 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und 2012 mit Welche Antworten und sicher auch neuen Fragen er im Laufe dem DIALOG-Preis der Deutsch-Polnischen Gesellschaft ausge- seiner zweijährigen Performance erhalten hat, davon wird er an zeichnet. diesem Abend erzählen. Moderation: Michael Serrer (Literaturbüro NRW) Moderation: Michael Serrer (Literaturbüro NRW) In Kooperation mit: Literaturbüro NRW In Kooperation mit: Literaturbüro NRW 2. Juli – 19.00 Uhr 12. Juli – 19.00 Uhr »Looking for a final start« – die amerikani- »… unser verwundetes / geheiltes schen Gedichte von Rose Ausländer Deutsch« Lesung mit Cornelia Schönwald und Helmut Finissage zur Ausstellung »Liebstes Fräulein Braun Moore – Wonderful Rose« In einer zweisprachigen Lesung stellen Im Juli 1956 kehrt Rose Ausländer aus Cornelia Schönwald (englisch) und Hel- der amerikanischen Dichtersprache in mut Braun (deutsch) Gedichte von Rose ihre deutsche Muttersprache zurück und Ausländer aus den Jahren 1948 bis 1956 beginnt wieder Gedichte auf Deutsch zu vor. Gerhard Weidmann, bekannt für sei- schreiben. Beeinflusst durch die Freun- ne Nachdichtung englischer Lyrik, über- din und Poetin Marianne Moore gelingen trug die Texte in die deutsche Sprache. ihr meisterhafte Gedichte, in denen sie Während der Lesung erzählt Helmut Braun vom englischsprachi- nahtlos an ihre amerikanische Lyrik anknüpft. Den Sprachwech- gen Schreiben Rose Ausländers, von ihren Bekanntschaften und sel vollzog Rose Ausländer öffentlich auf der New York Writers Freundschaften mit amerikanischen Dichterinnen und Dichtern, Konferenz auf Staten Island. Gelesen werden deutsche und eng- deren Gedichte ihr zumindest anfänglich wegweisend wurden; lische Gedichte, Auszüge aus dem Briefwechsel mit Marianne von der New Yorker Künstlergruppe »The Raven«, die einen An- Moore und Dokumente von der New York Writers Konferenz. Die satz von Heimat bot. Er berichtet von den ersten Publikations- Finissage wird von Musik aus den 1950er-Jahren und Lichteffek- erfolgen der Poetin in amerikanischen Literaturzeitschriften und ten begleitet. Moderation: Helmut Braun, unter Mitwirkung von im Rundfunk. Studierenden der Heinrich Heine-Universität In Kooperation mit: Helmut Braun (Köln) und der Rose Ausländer-Gesellschaft e. V., Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Düsseldorf e. V., Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
9 Lesung, Film & Vortrag Bild: Annette Hauschild 18. September – 19.00 Uhr 25. September – 19.00 Uhr Der lange Weg. Von der Memel zur Moskwa Sie sind wieder da. Lesung und Gespräch mit Arno Surminski Warum wir den neuen deutschen Nationalismus Ostpreußen im Jahr 1812. Martin Millbacher, Sohn eines Bauern nicht mehr los werden – Lesung und Gespräch an der Memel, zieht für Napoleon in den Krieg gegen Russland. mit Patrick Bahners Er hofft auf Abenteuer und reiche Beute. Doch bald wendet sich Patrick Bahners arbeitet seit über dreißig Jahren für die FAZ, war das Blatt. Russland lässt sich nicht erobern. Statt Ruhm und Ehre davon zehn Jahre Leiter der Feuilletonredaktion, drei Jahre Korre- warten Hunger und Kälte. Martin gerät in die Schlachten von spondent in New York und berichtet seit 2018 von Köln aus über Smolensk und Borodino, erlebt die Feuersbrunst von Moskau NRW-Kultur. In »Die Panikmacher« schrieb er über die deutsche und sieht das massenhafte Sterben seiner Kameraden an der Angst vor dem Islam, was ihm 2011 eine Nominierung für den Beresina und im litauischen Wilna. Statt an Beute denkt er nur Sachbuch-Preis der Leipziger Buchmesse einbrachte. Noch pro- noch ans Überleben. Sprachgewaltig erzählt Arno Surminski vom minenter ist Bahners durch seine Diskussionsfreude auf Twitter Schicksal des jungen Ostpreußen in den Wirren des napoleoni- geworden. In einem Interview bezeichnete er die Plattform als schen Russlandfeldzugs. Sein Roman ist lebendige Geschichte, »eine große Kneipe«, in der »man sich ohne große Formalitäten nicht aus der Sicht von Generälen und Monarchen, sondern aus einfach einmischt«. Das tut er leidenschaftlich und ausdauernd der Perspektive der einfachen Soldaten. und hat dadurch eine ebenso große Kritiker- wie Fangemeinde Arno Surminski, geb. 1934 in Jäglack/Ostpreußen, wuchs als gewonnen. In seinem neuen Buch »Sie sind wieder da« schildert Flüchtlingskind im schleswig-holsteinischen Trittau auf. Bekannt er, wie sich das politische Leben verändert, wenn der Protest von wurde Surminski mit vielen Erzählungen und Romanen, die sich rechts sich im System etabliert. Die neuesten Losungswörter der meist mit dem Schicksal der Vertriebenen aus den ehemaligen politischen Sprache sind »das Eigene« und »die Grenze«. Schon deutschen Ostgebieten und ihren Bemühungen, im Nachkriegs- jetzt gelingt es der AfD, die Themen des öffentlichen Gesprächs deutschland Fuß zu fassen, auseinandersetzten. Der vielfach zu bestimmen, und Politiker der etablierten Parteien haben die ausgezeichnete Schriftsteller lebt und arbeitet in Hamburg. Redensweisen der Rechtspopulisten bereits übernommen. In Kooperation mit: Literaturbüro NRW Moderation: Michael Serrer (Literaturbüro NRW) In Kooperation mit: Literaturbüro NRW 3. Juli – 19.00 Uhr 9. September – 19. 00 Uhr Gruß aus Oppeln. Die aktuelle Situation der Im Schatten der Kriege – Ernst Wiecherts deutschen Minderheit in Schlesien »Jerominkinder« Film und Gespräch mit Beata Kubica und Vortrag von Dr. Bärbel Beutner Dr. Gerhard Schiller Sowirog, ein kleines verlorenes Dorf mitten Die oberschlesische Stadt Oppeln (Opole) in den Wäldern und Mooren Ostpreußens. ist heute ein wichtiges Zentrum der in Polen Die Menschen sind es gewohnt, ein karges, lebenden Deutschen. Dass die Minderheit abgeschiedenes Leben zu führen. Im Zent- ein lebendiges Kulturleben führt, beweisen rum ihrer Gemeinschaft steht der Landarzt zwei Kurzfilme. »Die Deutschen in Polen« Jons Ehrenreich Jeromin, ein bescheidener zeigt unterhaltsam und leicht verständlich und um moralische Integrität bemühter die wechselvolle deutsch-polnische Ge- Mann. Als die Dorfbewohner sich in den 1930er-Jahren mit dem schichte und die heutige Situation der Deutschen in Polen. Der Terror der Nationalsozialisten konfrontiert sehen, schließen sie 30-minütige Dokumentarfilm »Gruß aus Oppeln« konzentriert sich zu einer verschworenen Gemeinschaft zähen Widerstands sich auf das alltägliche Leben in Oppeln der Vorkriegszeit und ist zusammen. In seinem zweibändigen Roman »Die Jerominkin- ein herausragendes Beispiel für die kulturelle Vermittlungsarbeit der«, der 1945 bis 1947 entstanden ist, beschreibt Ernst Wie- der Minderheit. Im Anschluss folgt ein Gespräch mit Beata Kubi- chert (1887–1950) eine ländliche Lebensgemeinschaft zwischen ca (frühere Stadträtin in Oppeln und heute Managerin für kultu- den beiden Weltkriegen, die bei aller Abgeschiedenheit den Um- relle Projekte) und dem Historiker und Journalisten Dr. Gerhard brüchen des 20. Jahrhunderts nicht entgeht. Dr. Bärbel Beutner, Schiller über die aktuelle Situation der Deutschen in Schlesien. Vorsitzende der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft, re- Veranstaltungen in Kooperation mit: Kultur- Oberschlesisches feriert in ihrem Vortrag über Wiecherts Roman. Landesmuseum referat für Oberschlesien Kulturreferat für Oberschlesien In Kooperation mit: BdV-Landesverband Nordrhein-Westfalen
10 Historie Mehr als nur erinnerungswürdig! In Aachen ist zu Jahresbeginn 2019 eine Ära zu Ende gegan- gen: Das dortige »Haus des deutschen Ostens« wurde nach fast sechs Jahrzehnten endgültig geschlossen. Uns hier im Gerhart- Hauptmann-Haus war es immerhin möglich, einige wertvolle Objekte aus dessen Sammlungen zu übernehmen und für die Zukunft zu bewahren. Neben der Sicherung dieser materiellen Erinnerungsstücke ist es jedoch mindestens ebenso wichtig an Immaterielles zu erinnern: Ein Haus wie das Aachener HdO hat überhaupt nur auf der Grundlage eines imponierenden eh- renamtlichen Engagements ungezählter Menschen – meist aus der »Erlebnisgeneration« von Flucht und Vertreibung – so lange das Gedenken an einen unverzichtbaren Teil der deutschen Ge- schichte und Kultur aufrecht erhalten können. Der folgende Bei- trag soll ein Zeichen sein, dass der Wert dieses Engagements nicht vergessen wird – vielmehr verdient es dauerhaft großen Dank und Respekt. Helga Sawatzky, selbst gebürtige Ostpreußin, hat über Jahr- zehnte an der ehrenamtlichen Arbeit im HdO großen Anteil ge- habt, wie bei so vielen anderen Menschen für lange Zeit auch neben ihrer beruflichen Tätigkeit. Sie hat es zuletzt übernommen, nicht nur die Sammlungsstücke angemessen unterzubringen, sondern sie hat zudem einen Bericht über das HdO geschrie- ben, der eindrucksvoll belegt, welche Leistungen um der Sache der ostdeutschen Kultur willen erbracht wurden. Stellvertretend für so viele andere Menschen sei ihr hier Dank gesagt! WH »Haus des Deutschen Ostens« in Aachen Nachdem zunächst die wichtigsten Probleme der wirtschaft- Das Grundkonzept des Hauses blieb bis heute, mit Ausnah- lichen Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in der me der vor Jahren aufgelösten Bücherei, unverändert. Es war Stadt Aachen im Vordergrund gestanden hatten, setzte etwa Mittel- und Treffpunkt für alle in Aachen existierenden Lands- ab 1950 die Kulturarbeit in den landsmannschaftlichen Ver- mannschaften und Jugendgruppen der ehemaligen deutschen bänden ein. Um das Zusammengehörigkeitsgefühl in den Ost- und Siedlungsgebiete, stand aber darüber hinaus auch für landsmannschaftlichen Gruppen zu stärken und zu einer andere Gruppen und Vereine zur Verfügung. Die Finanzierung Verbesserung des Verständnisses mit den Einheimischen zu des Hauses war ohne öffentliche Mittel durch Miet- und Pacht- kommen, regte der Kreisbeirat für Vertriebenen- und Flücht- einnahmen gesichert. Das Kuratorium war als gemeinnütziger lingsfragen bei der Stadt Aachen an, dafür geeignete Räum- Verein anerkannt und demzufolge steuerfrei. Die Verwaltung lichkeiten zu schaffen, und beauftragte den damaligen Rats- des Hauses lag in den Händen eines ehrenamtlich tätigen Vor- herrn, Bernhard Triebs, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. stands. Mit dem Hinweis auf die etwa 14.000 anerkannten Vertrie- benen und Flüchtlinge in der Stadt stellte Triebs am 22. Juni In dem Haus fanden viele Veranstaltungen, Feste im Verlauf 1956 an die Stadt Aachen den Antrag, zur Errichtung eines der Jahreszeiten, Gedenkfeiern, Konzerte sowie Ausstellungen »Hauses des Deutschen Ostens« ein geeignetes Trümmer- statt und machten es in der ganzen Stadt bekannt. Dank der grundstück zur Verfügung zu stellen, dem mit Ratsbeschluss unzähligen ehrenamtlich tätigen Mitglieder in allen Gruppen vom 13. Dezember 1956 mit der Übereignung eines 380 qm und im Kuratorium, die sich für die Pflege und Erhaltung des großes Grundstückes an der Franzstraße 74 auf dem Wege des Brauchtums und des Kulturgutes und die Erhaltung und Ver- Erbbaurechts für 75 Jahre entsprochen wurde. waltung des Hauses engagiert haben, konnte das Haus fast 60 Jahre bestehen. Im Laufe der Jahre wurden die Gruppen Zur Errichtung und späteren Verwaltung des Hauses wurde der Heimatvertriebenen auch in Aachen immer kleiner. Die das Kuratorium »Haus des Deutschen Ostens« Aachen e. V. Eingliederung war abgeschlossen und der Zweck des Hauses gegründet, dem die Vorsitzenden aller Vertriebenenverbän- erfüllt, so dass das Kuratorium »Haus des Deutschen Ostens« de und der »DJO-Deutsche Jugend des Ostens« angehörten. Aachen e. V. Ende 2017 seine Auflösung beschloss. Wie in der Bei der Verwirklichung des Projektes und auch der späteren Vereinssatzung vorgesehen, wurde das Haus zum 1. Januar Verwaltung blieb Bernhard Triebs weiterhin federführend. Die 2019 an die Stadt Aachen übertragen. Planung des Hauses mit einer Gaststätte, einem Saal für rund 300 Personen, einem Jugendheim, einer Bücherei und sechs Auf Anregung der Stadt Aachen wurde das »Haus des Deut- Sozialwohnungen sowie die Sicherstellung der Finanzierung schen Ostens« bereits 2015 wegen der Bedeutung des Bau- durch öffentliche Zuschüsse und Darlehen dauerte mehrere stils für die 1950er- und 1960er-Jahre, aber auch wegen der Jahre. 1961 wurde das »Haus des Deutschen Ostens« in An- Bedeutung für die Siedlungsgeschichte Aachens durch die wesenheit des damaligen NRW-Arbeits-und Sozialministers Eingliederung der Vertriebenen unter Denkmalschutz gestellt. Konrad Grundmann dann endlich eingeweiht. HS
11 Tagung Ostdeutsches Kulturgut im Fokus Fachtagung der AG Heimatstuben fand am 2. Mai in Ratingen-Hösel statt entstanden erstmals flächendeckend örtlich ganz verschiedene Heimatgefühle. Auch Direktor Stephan Kaiser vom gastgebenden Oberschlesischen Landesmuseum kennt diese Unterschiede und betonte darum den Willen zur Verständigung. Einst waren alle Heimatsammlungen auf die Selbstwahrnehmung ausgerichtet, so auch das 1983 eröffnete Ratinger Museum auf die damalige oberschlesische Volksgruppe in der Bundesrepublik Deutsch- Dr. Stephan Kaiser, Dr. Vasco Kretschmann, Julia Wahlsdorf und Prof. Dr. Winfrid Halder land. Die europäische Öffnung bot die Chance, aus den Samm- lungen attraktive Schaufenster der Bezugsregionen werden zu lassen. Heute ist jeder zur historisch-kulturellen Orientierung Heimat. Das Wort mit den vielen unterschiedlichen Deutungen gut beraten, sich in Heimatsammlungen über Mentalitäten und und individuellen Bedeutungen ist auch die Grundlage vieler Identitäten im Wandel von Raum und Zeit zu informieren. Der Sammlungen. Heimatsammlungen befinden sich im Museum Fundus solcher Sammlungen schafft Zugänge, die Unterschiede der Stadt Ratingen oder im Heiligenhauser Museum Abtsküche. erkennen und bei gutem Willen auch Gräben überwinden las- Über die Bedeutung, Weiterentwicklung und Vermittlung von sen. Viele der aus allen Teilen Nordrhein-Westfalens angereis- Heimatsammlungen der vertriebenen Deutschen informierte nun ten Tagungsteilnehmer berichteten von eigenen Erfahrungen eine Tagung im Haus Oberschlesien. Seit Jahrzehnten existiert beim grenzüberschreitenden Dialog, denn die einstige deutsche eine Arbeitsgemeinschaft Ostdeutscher Museen, Heimatstuben Heimat ist heute Heimat für Polen, Tschechen, Slowaken oder und Sammlungen in Nordrhein-Westfalen. Russen geworden. Julia Wahlsdorf vom Oberschlesischen Lan- desmuseum stellte die gegenwärtige große Sonderausstellung D eren Vorstandsvorsitzender, Professor Dr. Winfrid Halder als mustergültigen Rahmen vor, der es auch anderenorts den von der Stiftung Gerhart Hauptmann-Haus, hob eingangs Betreuern der Heimatstuben ermöglicht, generelle Themen mit die neue Offenheit für den Heimatbegriff hervor. Viele ihren besonderen Sammlungen in den Mittelpunkt neuer Wahr- neue Zugänge bieten sich durch den Zuzug von Migranten. Diese nehmung und eben der Gesamtgesellschaft zu rücken. Dr. Vasco fordern die schon Einheimischen zur stärkeren Selbstwahrneh- Kretschmann, Kulturreferent für Oberschlesien, informierte die mung heraus. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die erste große Zu- Teilnehmer der Fachtagung über mögliche Projektfördermittel, wanderung durch ostpreußische, pommersche und schlesische die die Tätigkeit in den Heimatstuben und Sammlungen erleich- Flüchtlinge und andere deutsche Heimatvertriebene erfolgte, da tern könnten.
& 12 »Helena Goldt und das Kaliningrad Orchester« Zwei Konzerte – Im letzten Quartal fanden im Gerhart-Haupt- mann-Haus zwei herausragende Konzerte statt: am 13. April stand die international renommierte Sängerin Helena Goldt zusammen mit dem Kali- ningrad Orchester auf unserer Bühne. Helena Goldt Mit Dietmar Schulmeister (LmDR Mit Lydia Bitsch (Dialog e. V.) NRW)
& 13 »V4 – Musik aus dem Herzen Europas« – ein Rückblick Anlässlich des Europatages am 4. Mai gaben junge Musiker aus Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei unter dem Titel »V4 – Musik aus dem Herzen Europas« ein Konzert, bei dem auch die diplomatischen Vertretungen der Vise- grád-Staaten anwesend waren. Bartosz Kołsut aus Polen Der ungarische Akkordeonist Krisztián Palágyi Thomas Geisel (OB Düsseldorf) Imrich Donath (Konsul der Slowakei), Balazs Szegner (Konsul von Ungarn), Jakub Wawrzyniak (Generalkonsul der Republik Polen), Daniel Žára (Konsul der Tschechischen Republik) Zuzana Leharova aus der Slowakei Veronika Böhmová und Markéta Anna Peldova aus Tschechien
14 Studienfahrt & lesung Bild: Wikipedia Maastricht 3. bis 4. Oktober Benelux-Jahr NRW 2019 – Zwischen Luxemburg, Eupen und Maastricht Studienfahrt mit Dr. Sabine Grabowski B elgien, die Niederlande und Luxemburg teilen sich mit xemburg, des Parlamentes der Deutschsprachigen Gemeinschaft Nordrhein-Westfalen einen Lebens- und Wirtschaftsraum Belgiens in Eupen und ein Rundgang durch das niederländische im Herzen Europas. Die enge Freundschaft wird in dem Maastricht. seit zehn Jahren bestehenden Kooperationsabkommen zwischen Anmeldeschluss: 2. September, Kosten: 163 €, EZ-Zuschlag 40 € Nordrhein-Westfalen und der Benelux-Union deutlich. Der Minis- Nähere Auskünfte zum Reiseverlauf und den im Reisepreis ent- ter für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationa- haltenen Leistungen bei Dr. Sabine Grabowski, grabowski@g-h- les des Landes NRW, Stephan Holthoff-Pförtner, hat eingeladen, h.de, 0211-1699113; Anmeldung über den Reiseveranstalter: dieses Jubiläum mit besonderen Veranstaltungen zu begehen. Neandertours, Bahnstraße 6, 40699 Erkrath, 0211-2496634, Auf einer kleinen Studienfahrt geht es zu Stationen der gemein- info@neandertours.de samen europäischen Geschichte der westlichen Nachbarländer. In Kooperation mit: VHS Geplant sind ein Besuch des Europäischen Gerichtshofes in Lu- Düsseldorf 5. September – 19.00 Uhr »Heimwehland« – ein literarisches Lesebuch Kommentierte Lesung mit Axel Dornemann und Katharina Grabowski D er Flüchtlingsstrom war noch nicht ab- der in den vergangenen 70 Jahren entstanden Werke ist außeror- geebbt, da erschien im Oktober 1945 dentlich, eine repräsentative Auswahl zu treffen, eine große Her- bereits ein wegweisendes Gedicht über ausforderung. 2018 hat Axel Dornemann, Lektor und ehemalige ihn: Dagmar Nick schrieb ihr berühmtes Ge- Leiter des Anton Hiersemann Verlags in Stuttgart, eine Antho- dicht »Flucht«, in dem es am Schluss existen- logie mit dem Titel »Heimwehland« herausgegeben. Auf annä- ziell heißt: »Ach, ich habe nichts mehr, kaum hernd 800 Seiten versammelte er Erzählungen, Romanauszüge, ein Leben, nur noch Angst.« Wenige Monate Essays und Gedichte von über 60 deutschen, polnischen, tsche- zuvor war die 19-Jährige mit ihrer Familie von chischen und litauischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Böhmen nach Bayern geflohen. Die Erlebnis- Zu finden sind feste Größen der deutschen Nachkriegsliteratur se und Eindrücke waren noch ganz frisch, als sie das Gedicht wie Anna Seghers, Peter Huchel, Siegfried Lenz, Günter Grass, niederschrieb. Kaum 15 Jahre alt war Christa Wolf, als sie 1945 Edzard Schaper oder Horst Bienek; daneben aber auch junge Au- mit ihrer Familie von Ostbrandenburg nach Mecklenburg floh. torinnen wie Tanja Dückers, Sabrina Janesch, Jakuba Katalpa und Erst posthum, drei Jahr nach dem Tod Joanna Bator. Die Anthologie ist eine bei- der DDR-Autorin im Jahr 2011 erschien spiellose Sammlung und Fundgrube zum »Nachruf auf Lebende. Die Flucht«. Darin Dagmar Nick Thema Heimat und Heimatverlust. An beschreibt die erwachsene Christa Wolf Flucht diesem Abend erzählt Axel Dornemann ihre Fluchterfahrungen als Jugendliche. Weiter. Weiter. Drüben schreit ein Kind. von seinen fast vier Jahre dauernden Re- Der Liedermacher und Musiker Heinz Ru- Laß es liegen, es ist halb zerrissen. cherchen, der schwierigen Auswahl der dolf Kunze hat den Krieg nicht miterlebt. Häuser schwanken müde wie Kulissen Texte und den Besonderheiten der aus- 1956 wurde er im Flüchtlingslager Espel- durch den Wind. gesuchten Beiträge. Katharina Grabows- kamp als Kind von Heimatvertriebenen ki, Preisträgerin der ersten Düsseldorfer Irgendjemand legt mir seine Hand geboren. Trotzdem hatte er immer das in die meine, zieht mich fort und zittert. Schreibtalentiade 2010, liest Passagen Gefühl nicht dazuzugehören und schrieb Sein Gesicht ist wie Papier zerknittert, aus dem Buch. Axel Dornemann wurde darüber den Song »Vertriebener«. unbekannt. 1951 in Osterode am Harz geboren. Nach Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dem Studium der Slawistik und Germa- Ob Du auch so um dein Leben bangst? haben Schriftstellerinnen und Schriftstel- Ach, ich habe nichts mehr, kaum ein Leben, nistik war er im Verlagswesen tätig, da- ler in ihren Werken Flucht, Vertreibung nur noch Angst. von drei Jahrzehnte als Leiter des Anton und Neubeginn thematisiert. Die Zahl Hiersemann Verlags in Stuttgart.
15 Kontrapunkt I Kontrapu n kt – Di e B e i lag e de r Kü nstle rwe r kstatt i m G e r hart-Hau ptman n-Haus »Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?« Nachträgliche Gedanken zu einem Buch Unter dem Titel »War die Vertreibung Unrecht?« liegt vom In- ternationalen Verlag der Wissenschaften/Peter Lang ein 2015 erschienener Sammelband vor, in dem die auf einer internati- onalen wissenschaftlichen Konferenz vorgetragenen Beiträge zusammengefasst sind. In seinem Grußwort weist der Historiker Rudolf von Thadden darauf hin, »dass wir bei der Diskussion über die Frage nach Recht und Unrecht in der Kriegs- und Nach- kriegszeit nicht stehenbleiben dürfen« und dass »die Kräfte der Versöhnung die Oberhand behalten« müssen. »Wir sind in der Lage«, so von Thadden, »geschichtliche Prozesse zu vergleichen und damit Erkenntnisse für neue Aufgaben in der Gegenwart [...] zu gewinnen.« E s mag dabei so unwichtig nicht sein, ob der Heimatver- lust der deutschen Schlesier und Ostpreußen, der Su- detendeutschen und Südostdeutschen als Vertreibung, Aussiedlung oder Umsiedlung zu bezeichnen ist. Die Auslegung der Rechtslage ist nach wie vor umstritten und wird sowohl historisch wie als Folgeerscheinung des Zweiten Weltkrieges unterschiedlich beurteilt. Punktuell ist immerhin eine Annä- Bild: Wikipedia herungsbereitschaft vorrangig zwischen Deutschen und Polen zu erkennen, insoweit davon nicht die Aufgabe grundsätzlicher Positionen infrage gestellt wird. Die vom »Dritten Reich« insbe- sondere gegenüber den östlichen Nachbarn praktizierte Über- Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin auf der Potsdamer Konferenz heblichkeit und der von Deutschland ausgegangene verbreche- rische Krieg boten keine Grundlage für Rücksichtnahmen in der und Integration der deutschen Heimatvertriebenen verlagert Festlegung einer Friedensordnung, von der kein Gnadenerlass sich zusehends in den Bereich der Historiker. Zudem bewirken erwartet werden konnte. »Die Verantwortlichkeit des Staates«, die Integration der ehemaligen Kriegsgegner und sogenannter schreibt Jerzy Kranz in seinem Beitrag »Schuld und Verantwor- Erzfeinde in die Europäische Union sowie die damit verbundene tung, Wunden und Narben: War die Vertreibung Unrecht?«, Interessengemeinschaft eine zunehmende Annäherung, auch »überträgt sich unweigerlich auf das Schicksal des gesamten wenn die Auslegung bestimmter historischer Ereignisse und Ent- Staatsvolkes [...] Diese Verantwortlichkeit kennt keine Unter- wicklungen widersprüchlich bleibt. scheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen [...] Es geht E dabei jedoch nicht darum, ein ganzes Volk für die Vorgehenswei- inen nicht unwesentlichen Beitrag dazu leisten die euro- se des Staates schuldig zu sprechen, sondern lediglich um das päischen Literaturen, auf die Irmela von der Lühe in ihrem Verantwortungsgefühl der Bürger für die Handlungen ihres Staa- Beitrag »Die ›kalte‹ Heimat: Flucht und Vertreibung in der tes als Kollektiv.« Diese »gesellschaftliche Haftung« für begange- deutschsprachigen Nachkriegsliteratur« hinweist. Es sind nicht ne Verbrechen des eigenen Staates führt auch Christoph Koch in zuletzt die Schriftsteller, die in ihren zeitbezogenen Werken nach seinem Beitrag »Über Unrecht« an. »Auch für den eingeschränk- Antworten auf die von Christa Wolf eindringlich gestellte Fra- ten Kreis der tatsächlich Unschuldigen aber wird die persönliche ge suchen: »Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?«. Unschuld überwölbt durch die Verantwortung des Einzelnen für Eine Frage, die uns begleitet und immer wieder neu zu stellen die Gesellschaft [...]. Ist die Gesellschaft ein Unrechtssystem, so ist, wenn radikale Maßnahmen durchzuführen als unerlässlich haftet auch der, der sich dem Unrecht vergebens widersetzt.« erscheinen und nachträglichen Rechtfertigungen standhalten Von dieser sowohl kollektiven wie individuellen Haftung sahen müssen. Denn weltweit sind weiterhin Vertreibungen und Mig- sich vor allem die Ostdeutschen und Auslandsdeutschen (be- rationen zu vermerken und auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu prü- sonders im ehemaligen Jugoslawien) betroffen, die enteignet, fen, wobei die davon unmittelbar interniert und vertrieben worden sind. Es mag rechtlich unter- Betroffenen sich ausgeschlossen schiedlich auszulegen sein, ob der Vorgang der zwangsweisen vorkommen. Das zu ändern wird so Ausbürgerung als Vertreibung, Aussiedlung oder Umsiedlung zu bald nicht gelingen, und so bleibt bezeichnen ist – im Bewusstsein der Millionen vom Heimatver- es überfällig, über das Recht auf lust Betroffenen haben sich die damit verbundenen Vorgänge Heimat nicht nur nachzudenken. nicht nur als gelegentliche Übergriffe erhalten, sondern schlicht- FH weg als gezielte Maßnahmen, bei deren Durchsetzung die Frage Christoph Koch (Hrsg.): War die ›Ver- nach Recht und Unrecht weniger gestellt worden ist. Sie steht treibung‹ Unrecht? Die Umsiedlungsbe- bis heute im Zentrum der nachträglichen Beurteilung und Histo- schlüsse des Potsdamer Abkommens risierung der Ereignisse, auch wenn diese in der dritten (voll in- und ihre Umsetzung in ihrem völkerrecht- tegrierten) Generation der deutschen Heimatvertriebenen eher lichen und historischen Kontext. Peter emotionslos geführt werden. Die Aufarbeitung der Vertreibung Lang, Frankfurt am Main 2015.
16 Kontrapunkt II Siebenbürgisches Pastell, patiniert Für Michael Markel von Franz Heinz E Wir hatten einen weiten Weg vor uns. Kurz nach sieben spannte r hatte manchen gepflanzt und manchen auch gefällt, zer- der alte Bruster das Pferd an und winkte mich einladend heran. sägt und gespalten. Verheizt. Der eine oder andere ist ihm Der enge Bauernwagen ließ es nicht zu, nebeneinander zu sitzen, in Erinnerung geblieben, wie der Birnbaum im Hof, wenn und so nahm ich auf einem quer gelegten Brett hinter dem Fuhr- er blühte. Sonst war nicht viel dran. Er warf die Birnen vor der mann Platz, der zum Tor hinauslenkte und dann, am Friedhof vor- Reife ab, und so wanderte alles, was er hergab, in den Schnaps- bei, ins offene Land. Das Pferd, der Alte rief es Juri, ahnte den lan- kessel. Ein Herbststurm riss ihn aus, und ein neuer kam an seine gen Tag und ließ sich nur ungern aufs Traben ein. Zwischen dem Stelle. Der aber mochte das alles nicht – den Boden, den Wind, Fuhrmann und meinem Querbrett war ein leeres Hundertliterfass die Stare, und gab vorschnell auf. Mitten in der Blüte. Er hielt festgekeilt. Es war Mitte September und die Weinlese stand be- nicht durch, und bis zuletzt zählt doch immer nur das, ob einer vor, und da waren die Winzer an beiden Kokeln und bis hinunter durchhält. Hast nur den Boden zu bieten, der da ist, und nur den in den Unterwald darauf bedacht, ihre Keller für den Heurigen Sommer, wie er kommt. Der mag so oder anders sein, aber er auszuräumen. Das drückte vorübergehend die Preise, und der kommt Jahr für Jahr und tut das Nötige. alte Bruster hatte vor, das zu nutzen, denn das Geld war nach wie vor knapp, während an Zeit genügend vorhanden war. Zählst nicht die Stunden und nicht die Tage, und irgendwann, wenn die Kirchenburg in Kleinscheuern Erinnerung größer geworden ist als die Erwartung, beginnst du ohnehin damit, die Jahre nach hinten hin aufzudröseln. Denn wo ist schon vorn, ließe sich fragen? Verrichtest dein Tagwerk und bleibst nützlich, so lang es der Herr zulässt. E r kannte einen Bauern in Kleinscheuern, den Engert Misch. Seit nahezu dreißig Jahren ließ er sein Hundertliterfass in dessen Keller füllen, vom Besten versteht sich. Vorgekos- tet. Da gibst du gern einen Tag her und siehst dabei noch etwas von der Welt. Kommst durch die Stadt und an den Salzbädern vorbei, die freilich, von der Straße her, nicht auszumachen sind, wie manches andere auch, das da ist weil es eben da ist. Von dort sind es nur noch an die sieben Kilometer bis Kleinscheuern. Schotterstraße. Kannst es dir eben nicht immer aussuchen wie den Wein in Engerts Keller. Der Tag war hell und mild, und das ist an sich genug. Lebst als Bauer mit dem Wetter und vertraust Jahr für Jahr auf den lieben Gott da droben, der es so eingerichtet hat wie's ist und seinen Sinn hat. Wächst nicht Brot und Wein in diesem Land genug für alle und für alle Zeit – wie man glauben sollte? Sagst es halblaut vor dich hin und weißt zugleich, wie die Habgier den Menschen im Nacken sitzt und sie gegen einander aufzubringen in der Lage ist. Hast immer einen hinter dir und selten nur an deiner Seite. Das macht wortkarg. Behältst es besser für dich, was ohnehin bekannt ist. K aum einer kam uns entgegen, und noch wenigere waren darauf aus, zu überholen. Nur die Flüsse sind schnell un- ter den Karpaten, und mitunter kommt es dich so an, als gälte auf der Straße noch immer der Ochsenschritt, der sein ge- nügsames Maß hat und dir Zeit lässt zum Schweigen. Da waren die vier Stunden, die Juri bis nach Kleinscheuern brauchte, nicht zu viel. Immerhin gab es sieben Jahrzehnte zu überdenken, und das Wichtigste davon behältst du ohnehin für dich. Drehst dich deswegen nicht nach deinem Begleiter auf dem Rücksitz um, der möglicherweise nichts rechtes darüber weiß, wie schnell die Zeit ist und wie wenig Klugheit sie zulässt. Zu sehen gab es, die Straße entlang, nicht viel, und schon gar nichts, was im letzten Jahr noch nicht da gewesen wäre. Zur Lin- ken – also bergwärts – war eine Baumreihe abgeholzt. Die run- den Schnittflächen auf den Strünken waren hell wie kleine Son- Bild: M. Benning nen und, wie es schien, mit sich selbst und dem Tag zufrieden. Bäume nehmen es wie's kommt, wusste der alte Bruster.
17 Kontrapunkt III Inzwischen war der Wehrturm von Kleinscheuern mit seiner ist und Erlösung, wie es eben ausgelegt oder gerade gebraucht großen Uhr ins Blickfeld geraten. Stand da wie sonst. War fes- wird. Beim Engert Misch hielten wir uns nicht lange auf. Er fragte te Burg und Bleibe. Ein rötlicher Schimmer lag auf dem rauen nach Brusters Frau, die er nicht kannte, und nach den Enkelkin- Mauerwerk und verniedlichte die strenge Wehrhaftigkeit der An- dern, die er voraussetzte. Wir stießen an, verkosteten den Wein lage. Sie hatte, fand der alte Bruster, ihre zwei Gesichter. Drau- und lobten ihn. Blieben noch eine ganze Weile dabei und hoben ßen und drinnen und, gegebenenfalls, vor der Weinprobe und dann das gefüllte Fass auf den Wagen. Juri, unserem Pferd, ging danach. Drinnen, erinnerte er sich, ziert ein runder Schlussstein das zu schnell. Das Heu will Zeit und einen Eimer Wasser danach. das Chorgewölbe, im blauen Feld das göttliche Lamm, das so ge- Wir stießen also noch einmal an und schüttelten uns wieder und nau nicht auszumachen ist. Um es besser zu sehen, musst du wieder die Hände. Es schlug vier, als der alte Bruster, geschmei- den Kopf weit in den Nacken zurücklegen, den du sonst vor dem diger als üblich, aus Engerts Hof hinausfuhr. Sein Blick, um eine Herrn zu beugen angehalten bist. Findest dich in seine Gnade. Note fröhlicher als sonst, traf mich. »Ein schöner Tag heut, nicht Ähnlich wird es mit dem Lamm auf dem Gewölbe sein, das Opfer wahr.« – Ich konnte das nicht bestreiten.
18 Kontrapunkt IV Aus dem Vollen schöpfen Neue Arbeiten von Marie-Luise Salden im Kurfürstlichen Gärtnerhaus Bonn Das Motto »Aus dem Vollen schöpfen...« und Grenzen sprengendem Gemeinschaftssinn zehrende Tanz- kann als Credo der exquisiten Künstlerin performance, die dem gleichnamigen europäischen Kunst-Kultur- Marie-Luise Salden interpretiert werden. Projekt gewidmet ist (Initiator Otto Freundlich, 1935). Aus dem Vollen oder ganzheitlich ge- Für ihre original japanische Farbholzschnittkunst macht die schöpft verlaufen Leben, Alltag, Karriere Künstlerin Gebrauch von folgenden traditionellen Requisiten und und Kunst. Hohe Achtung und Beachtung Verfahren: weichere maulbeerbaumbeschichtete Holzdruckplat- verdient vieles in der Biografie sowie in der ten oder Holzdruckstöcke aus steinhartem japanischen Sperrholz Bild- und Gedankenwelt der aus dem westpreußischen Elbing (Huan Pine, Red Wood), japanische Schneidemesser, mit dem stammenden Künstlerin: Dolmetscherexamen, eine vierfache aka- Pinsel aufgetragene Tusche, Wasserfarbe, Pigmente, saugfähiges demischen Ausbildung (Flensburg, Hamburg, Kiel, Paris) – vor al- Japanpapier und ein von Hand betriebenes Druckverfahren, das len Dingen aber das Profil einer international anerkannten Expertin gemäldeähnliche Anmutungen auslöst. für japanischen Farbholzschnitt, für japanische Papierschöpfun- S gen und japanische Kalligraphie. Seit dem 1997 erteilten Stipen- eit den späten neunziger Jahren folgt Marie-Luise Salden dium des »Fördervereins japanisch-deutsche Kulturbeziehungen« konstant dem inneren Ruf, die im japanischen Papierschöp- und der anschließenden Lehr- und Forschungstätigkeit an der ferdorf Obaramura angesiedelte Werkstadtidylle ihres japa- japanischen Kunstakademie zu Kanazawa (Gastprofessur für ex- nischen Lehrmeisters, Professor Yasuhiro Kasugai, aufzusuchen. pressionistischen Holzschnitt) häufen sich in der Vita der in Spich Auf rechteckige, in Metallbecken eingelassene Siebkonstruktio- lebenden Künstlerin die Auslandsstipendien und Studienaufent- nen schöpfen hier Marie-Luise Salden und ihr Meister mit Eimern halte, die primär nach Japan und Australien führen und dort, wie die stetig mit kristallklarem Bergwasser getränkte Maulbeer-, auch in Deutschland, anberaumte akademische, museale Lehrauf- Gampi- oder Mitsumatapulpe. Die glasige Masse erhält ihre pri- träge nach sich ziehen. märe Strukturen oder Adern durch das nicht immer berechen- Verletzung – Heilung bare, mit der Pipette gehandhabte Applizieren von langen sowie kurz geschnittenen Bast- oder Kozofäden. In stetiger Umrundung des hauchdünnen »Pulpen-Gespinstes« beginnt die Künstlerin mit Schöpfkellen zarte Farbenklänge, Gold- und Silberstaub auf- zutragen, weißlich schimmernde Pulpe zu integrieren und diese mit Fingerzeichnungen zu versehen. Abschließend wird die mem- branartige Papierschöpfung stabilisiert durch Hinterlegungen von abweichend blau eingefärbten Papieren. Die Bonner Ausstellung zeigt dazu die im Frühherbst 2018 entstandenen sublimen Papier- Engel über Elbing schöpfungen »Frühlingsklänge«, »Energien des Alls«, »Vertikal«, »Schwebend« und »Vernetzung«. Suggestiv wirksam werden V on jeher beseelt die Künstlerin ein investigativer Pionier- Chiffren, rhythmisierte Faserstrukturen, schwereloses Schwe- geist, »die Einheit, Wechselbeziehungen und Verflechtun- ben, das Fluidum von Unendlichkeit sowie kommunikative Kräfte. gen allen Seins« zu ergründen. Die Wirkung unsichtbarer Marie-Luise Salden hat im Bonner Kurfürstlichen Hofgärtnerhaus Kräfte sichtbar, nachvollziehbar zu machen, steht Pate auch für ein bezwingendes, formalästhetisch feinsinniges und gedanklich das aktuelle Werkensemble (2008–2019) der Künstlerin. Ins Auge komplexes Schauspiel in Szene gesetzt. sticht hier eine kleine Suite von eher szenischen oder portraitähn- Christina zu Mecklenburg lichen szenischen Darstellungen – einer symbolträchtigen »Annä- herung an die Gestalt Luther« (2017) sowie der Farbholzschnitt Redaktion der Beilage: Franz Heinz »Straße des Friedens« (2015), eine von Freiheit, Begeisterung
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