2: Zweck und Rechtfertigung von Strafe und Maßregeln

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Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil
     Wintersemester 2021/2022                                             Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen
     Albert-Ludwigs-Universität Freiburg                               Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht

                           § 2: Zweck und Rechtfertigung von Strafe und Maßregeln

I.   Straftheorien – Sinn und Zweck des Strafens
     Es ist gleich zu Beginn zweierlei strikt auseinanderzuhalten: Die Aufgabe des Strafrechts im Allgemeinen,
     also die Aufgabe aller Strafgesetze und der Zweck, der im konkreten Fall mit der Bestrafung eines Täters
     oder einer Täterin verfolgt wird (Roxin/Greco AT I § 3 Rn. 1). Eine weitere Unterscheidung, die unentbehrlich
     ist für das Verständnis des Themas, ist diejenige zwischen deskriptiven und normativen Ansätzen. Erstere
     versuchen, aus historischer, soziologischer, (evolutions-)psychologischer (usf.) Sicht zu ergründen, warum
     eine Gesellschaft tatsächlich zum Mittel der Strafe greift. Die nachfolgenden Ansätze sind hingegen sämtlich
     darauf ausgerichtet, eine Rechtfertigung der Strafe zu liefern und nicht lediglich zu beschreiben, wie es zum
     Institut der Kriminalstrafe gekommen ist (wobei die deskriptiven Ansätze natürlich einen wertvollen Beitrag
     dazu leisten, das Strafrecht überhaupt kritisch beleuchten zu können); vgl. dazu Hörnle Straftheorien, 2.
     Aufl. 2017, S. 1 ff.

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1.   Absolute Theorien
          Nach den absoluten Straftheorien dient die Strafe der Vergeltung, d.h. es wird bestraft, weil und wenn
          eine Tat vorliegt, und nicht, um bei dem Täter etwas zu bewirken. Diese Straftheorien werden als ab-
          solut bezeichnet, weil die Strafe losgelöst (lat. absolutus = losgelöst) von ihrer gesellschaftlichen Wir-
          kung erfolgen soll.
     Bezieht man hingegen das Ziel der Verwirklichung von Gerechtigkeit in die Strafzwecke mit ein, so lassen
     sich auch die Vergeltungstheorien als Zwecktheorien und also als relativ bezeichnen (vgl. Roxin/Greco AT I
     § 3 Rn. 2 Fn. 7). Insofern ist eine terminologische Grundentscheidung zu treffen.
     Die Gerechtigkeit fordert die Strafe für die mit der Tat verwirklichte Schuld, um das Recht wiederherzustel-
     len. Sieht man dies als „Zweck“ an, so kann man im obigen Sinne (also Zweck der Bestrafung im Einzelfall)
     auch nach der Vergeltungstheorie von Zweckstrafe sprechen.
     Das Problem der Evaluierbarkeit bliebe auch bei dieser Sichtweise freilich bestehen, die Wiederherstellung
     des Rechts wäre eher ein Bild. Hält man einen derartigen Zweck für gesellschaftlich bzw. verfassungsrecht-
     lich belanglos, spricht man besser von einer zweckfreien Strafe. Jedenfalls muss das dem Täter zuzufügende
     Strafübel dem Schaden des Opfers entsprechen und darf aber auch nicht darüber hinausgehen (Talionsprin-
     zip). Die Strafe hat somit rein repressiven Charakter.

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Vertreter und Originalstellen:
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797):
„Richterliche Strafe [...] kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher
selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden,
weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehand-
habt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden.“
„Welche Art aber und welcher Grad der Bestrafung ist es, welche die öffentliche Gerechtigkeit sich zum
Prinzip und Richtmaße macht? Kein anderes, als das Prinzip der Gleichheit [...], sich nicht mehr auf die eine,
als auf die andere Seite hinzuneigen [...] Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis), aber, wohl zu ver-
stehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturteil), kann die Qualität und Quantität der
Strafe bestimmt angeben [...] Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Es gibt kein Surrogat zur Befriedi-
gung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem
Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung, als durch den am Täter ge-
richtlich vollzogenen, doch von aller Misshandlung, welche die Menschheit in der leidenden Person zum
Scheusal machen könnte, befreiter Tod.“
„Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z.B. das eine Insel
bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müsste der letzte
im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine
Taten wert sind und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat
[…].“
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821):
„Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in
sich nichtig ist. Die Manifestation dieser ihrer Nichtigkeit ist die ebenso in die Existenz tretende Vernichtung
jener Verletzung, – die Wirklichkeit des Rechts, als seine sich mit sich durch Aufhebung seiner Verletzung
vermittelnde Notwendigkeit. [...] Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben
des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederherstellung des Rechts [...].
Die Verletzung, die dem Verbrecher widerfährt, ist nicht nur an sich gerecht, als gerecht ist sie zugleich sein
[...] Recht. [...] Dass die Strafe darin als sein eigenes Recht enthaltend angesehen wird, darin wird der Ver-
brecher als Vernünftiges geehrt. – Diese Ehre wird ihm nicht zuteil, wenn aus seiner Tat selbst nicht der
Begriff und der Maßstab seiner Strafe genommen wird; – ebenso auch, wenn er nur als schädliches Tier
betrachtet wird, das unschädlich zu machen sei, oder in den Zwecken der Abschreckung und Besserung. [...]
Es ist mit der Begründung der Strafe auf diese Weise, als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt,
und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt.“
Ein Vertreter aktueller Formen der Vergeltungstheorien ist Pawlik (Das Unrecht des Bürgers, 2012; dazu die
Rezensionen von Engländer JZ 2014, 38 und Bung Rechtswissenschaft 2014, 546). Nach ihm sind die prä-
ventiven Straftheorien (dazu sogleich) vor allem deshalb obsolet, weil das Strafrecht erst dann eingreife,
wenn bereits ein Rechtsgut verletzt (oder gefährdet) worden sei und demnach die „Erwartung, Rechtsgü-
terschutz schon durch die Aufstellung von Verhaltensnormen und deren Bewehrung mit Sanktionen errei-
chen zu können, sich mithin als unbegründet erwiesen“ habe (Pawlik a.a.O., S. 61 ff.). Stattdessen werde
durch die Strafe die Pflichtverletzung des Bürgers, die in seinem Normverstoß liegt, vergolten. Im Zentrum

                                                                                                          §2    KK 37
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dieses Ansatzes steht nicht das Rechtsgut als Objekt der Tat, sondern die Rechtsperson als freiverantwort-
licher Bürger (Pawlik a.a.O., S. 131 ff.). Die Legitimation der Strafe ergebe sich nur aus der Freiheit der ein-
zelnen Bürgerinnen und Bürger und der damit korrespondierenden Bürgerpflicht, die Freiheitssphäre der
anderen zu achten. Die Mitwirkungspflicht folge aus dem „Umstand, daß nur auf diese Weise [also durch
Strafbewehrung ebendieser Pflicht] ein Zustand der Freiheitlichkeit aufrechterhalten werden“ könne
(Pawlik a.a.O., S. 92), denn der Bürger werde an seiner Pflicht „in der Strafe festgehalten, indem auf seine
Kosten die Wechselbezüglichkeit von Mitwirkungspflichterfüllung und Freiheitsgenuß bestätigt wird.“
(Pawlik a.a.O., S. 110). Der Bürger habe also „an der Aufrechterhaltung des bestehenden Rechtszustandes
[durch Erfüllung der konkreten Aufgaben seiner gesellschaftlichen Rolle] mitzuwirken“; daher sei das „Ver-
brechen begrifflich ein Unrecht gegenüber der Rechtsgemeinschaft als ganzer“ (Pawlik a.a.O., S. 106 f.).
Kritik: Der Kern der Kritik an den absoluten Straftheorien liegt darin, dass sie nicht mit der elementaren
Aufgabe des Strafrechts, dem Rechtsgüterschutz, vereinbar ist. Denn das Strafrecht darf sich zur Erfüllung
dieser Aufgabe nicht einer Strafe bedienen, die von allen sozialen Zwecken absieht. So fordert die Idee der
Vergeltung auch dort Strafe, wo sie aus Gründen des Rechtsgüterschutzes nicht notwendig ist. Der Staat ist
nicht berechtigt, die metaphysische Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die Idee, ein Übel (die Straftat)
durch ein weiteres Übel (das Strafleiden) aufzuheben, ist nur einem Glauben zugänglich, auf den ein dem
Grundgesetz verpflichteter Staat niemanden verpflichten darf (Roxin/Greco AT I § 3 Rn. 8).
Bezeichnenderweise und in bedenklicher Weise stellen sich die absoluten Straftheorien im Hinblick auf die
Kriminologie unangreifbar, weil sie ohne evaluierbaren Zweck auskommen.
Warum die Aufrechterhaltung des Rechtszustandes gerade durch Strafe gewährleistet werden kann, wird
nicht begründet, andere Sanktionsmöglichkeiten bleiben unerörtert. Zudem war und ist ein Strafvollzug,
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der vom Prinzip der Übelszufügung ausgeht, ein weiteres Mal mit dem GG und dem Zweck des Strafvollzugs,
der Resozialisierung, nicht vereinbar.
Zwar versucht Pawlik die Absolutheit aufzubrechen, indem er die Strafe als notwendig ansieht, um einen
„Zustand der Freiheitlichkeit“ aufrechtzuerhalten. Doch bleibt dies nicht mehr als ein Postulat, das sich je-
der empirischen Überprüfbarkeit entzieht und daher ein „ästhetisches“ Konstrukt bleibt.
Einem weiteren Ansatz zufolge soll sich die Vergeltung als Strafzweck empirisch-soziologisch begründen
lassen (T. Walter ZIS 2011, 636; ders., Strafe und Vergeltung, 2016; Andrissek, Vergeltung als Strafzweck,
2017). Damit setzt auch diese Sichtweise auf die sozialpsychologische Eindruckskraft der Vergeltung und
versucht zusätzlich die Empirie für sich zu vereinnahmen. Doch diese dient allein als Beweis für existierende
Strafbedürfnisse und ist daher deskriptiv. Die Empirie ist aber in einer modernen Gesellschaft nur zum Be-
weis von mit der Verfassung konformen gesellschaftlichen Zwecksetzungen heranzuziehen (so bei den re-
lativen Straftheorien). Zu diesem Ansatz s. auch T. Walter im LTO-Beitrag, https://www.lto.de/recht/hinter-
gruende/h/wozu-strafe-straftheorien-vergeltung-praevention-fall-luegde/         (zuletzt   abgerufen       am
18.10.2021).
Erwiderung von Müller, https://www.lto.de/recht/hintergruende /h/strafen-zweck-grund-mehr-als-vergel-
tung-praevention-normvertrauen-resozialisierung/ (zuletzt abgerufen am 18.10.2021).

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2.   Relative Theorien
     Strafe dient der Verhinderung weiterer Straftaten zum Schutz der Gesellschaft; sie hat also präventiven
     Charakter. In dem Sinne, dass die Strafe sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit auswirken soll, sind diese
     Theorien also relativ. Im Sinne unserer obigen Unterscheidung dient das Strafrecht als Ganzes nach diesen
     Ansätzen dem Rechtsgüterschutz. Diese allgemeine Aufgabe des Strafrechts ist nicht mit dem Zweck der
     konkreten Bestrafung zu verwechseln. Wurde beispielsweise durch einen Totschlag das konkrete Rechtsgut
     „Leben“ eines anderen vernichtet, so lässt sich dieses natürlich nicht mehr durch die Bestrafung des Täters
     schützen. Der Zweck, den die Bestrafung somit verfolgt, ist daher auf zukünftige Taten gerichtet. Je nach-
     dem, ob man an die latente Bereitschaft der Allgemeinheit zur Begehung einer (weiteren) Straftat anknüpft
     oder an die Gefährlichkeit des jeweiligen Täters, kann man unterscheiden:
     a)   Gedanke der Generalprävention
          Negative Generalprävention: Kenntnis von Gegenstand und Umfang des Verbotes sowie Androhung
          der Strafe, Strafverfahren, Verhängung und Vollzug der Strafe sollen andere potenzielle Straftäter von
          der Begehung einer Straftat abhalten. Nach dieser Lehre vom psychologischen Zwang soll der potenzi-
          elle Täter bei der Ermittlung der Vor- und Nachteile seiner Tat auch die mögliche Bestrafung seiner
          Handlungsweise mitberücksichtigen.
          Positive Generalprävention: Strafandrohung und -vollzug sollen das Vertrauen der Allgemeinheit in
          die Rechtsordnung stärken. Die Strafe hat demnach die Aufgabe, die Unverbrüchlichkeit der Rechts-
          ordnung vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken.

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Vertreter und Originalstellen:
Paul Johann Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des Peinlichen Rechts (1801):
„Alle Übertretungen haben einen psychologischen Entstehungsgrund, in der Sinnlichkeit, inwiefern das Be-
gehrungsvermögen des Menschen durch die Lust an oder aus der Handlung zur Begehung derselben ange-
trieben wird. Dieser sinnliche Antrieb wird dadurch aufgehoben, dass jeder weiß, auf seine Tat werde un-
ausbleiblich ein Übel folgen, welches größer ist, als die Unlust, die aus dem nichtbefriedigten Antrieb zur
Tat entspringt.“
„Unter Zweck der Strafe wird die Wirkung verstanden, deren Hervorbringung als Ursache des Daseins einer
Strafe gedacht werden muss, wenn der Begriff von Strafe vorhanden sein soll. I. Der Zweck der Androhung
der Strafe im Gesetz ist Abschreckung aller Bürger als möglicher Beleidiger von Rechtsverletzungen. II. Der
Zweck der Zufügung derselben ist die Begründung der Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung, inwiefern
ohne sie diese Drohung eine leere (unwirksame) Drohung sein würde. Da das Gesetz alle Bürger abschre-
cken, die Exekution aber dem Gesetz Wirkung geben soll, so ist der mittelbare Zweck (Endzweck) der Zufü-
gung ebenfalls bloße Abschreckung der Bürger durch das Gesetz.“
„Hieraus fließen folgende, keiner Ausnahme unterworfenen, untergeordneten Grundsätze: I. Jede Zufügung
einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus [...]. II. Die Zufügung der Strafe ist bedingt durch die Existenz der
bedrohten Handlung [...].“
Kritik: Strafe ist danach auch dann sinnvoll, wenn im Einzelfall keine Wiederholungsgefahr besteht. Beim
Gedanken der Generalprävention droht der Einzelne zum Objekt staatlichen Handelns zu werden.  Ver-
stoß gegen die Menschenwürde i.S.v. Art. 1 I GG.
                                                                                                          §2    KK 41
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b)   Gedanke der Spezialprävention
     Negative Spezialprävention: Der einzelne Straftäter soll von der Begehung künftiger Straftaten abge-
     halten werden (Abschreckung) und die Allgemeinheit soll durch Inhaftierung des Täters geschützt wer-
     den (Sicherung).
     Positive Spezialprävention: Strafvollzug soll der Resozialisierung des Täters dienen (Besserung als
     Schutz vor Rückfälligkeit).
Vertreter und Originalstellen:
Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1883):
„[...] Die richtige, d.h. die gerechte Strafe ist die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Ein-
haltung des durch den Zweckgedanken erforderten Strafmaßes. Wie die Rechtsstrafe als Selbstbeschrän-
kung der Strafgewalt durch die Objektivierung entstanden ist, so erhält sie ihre höchste Vollkommenheit
durch die Vervollkommnung der Objektivierung. Das völlige Gebundensein der Strafgewalt durch den
Zweckgedanken ist das Ideal der strafenden Gerechtigkeit.
Nur die notwendige Strafe ist gerecht. Die Strafe ist uns Mittel zum Zweck. Der Zweckgedanke aber verlangt
Sparsamkeit in seiner Verwendung. Diese Forderung gilt ganz besonders der Strafe gegenüber; denn sie ist
ein zweischneidiges Schwert: Rechtsgüterschutz durch Rechtsgüterverletzung.“
„[...] Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung: das sind demnach die unmittelbaren Wirkungen der
Strafe; die in ihr liegenden Triebkräfte, durch welche sie den Schutz der Rechtsgüter bewirkt [...].“

                                                                                                           §2    KK 42
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„Wenn aber Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung wirklich die möglichen wesentlichen Wirkun-
gen der Strafe und damit zugleich die möglichen Formen des Rechtsgüterschutzes durch Strafe sind, so
müssen diesen drei Strafformen auch drei Kategorien von Verbrechern entsprechen. 1) Besserung der bes-
serungsfähigen und besserungsbedürftigen Verbrecher; 2) Abschreckung der nicht besserungsbedürftigen
Verbrecher; 3) Unschädlichmachung der nicht besserungsfähigen Verbrecher [...].“
„Gegen die Unverbesserlichen muss die Gesellschaft sich schützen; und da wir köpfen und hängen nicht
wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bzw. auf unbestimmte
Zeit).“
Kritik: Reintegration des Täters und Schutz der Allgemeinheit werden gleichermaßen berücksichtigt; oft
besteht im Einzelfall jedoch gar keine Wiederholungsgefahr. Der Ansatz der positiven Spezialprävention
enthält ferner keine immanente Begrenzung der Strafe und würde auch unverhältnismäßige, von der in der
Tatschuld entkoppelte Sanktionen rechtfertigen. Zudem erscheint eine nachhaltige Umerziehung zu lega-
lem Verhalten in der gegenwärtigen Form des Strafvollzuges schwer zu realisieren. Schließlich werden auch
Überzeugungstäter nicht erfasst. Es ist schließlich nicht klar, warum gerade das Mittel der Strafe besonders
geeignet sein sollte, die angegebenen Ziele zu erreichen. So ließe sich wohl einem Großteil der Eigentums-
/Vermögens- und Betäubungsmittelkriminalität mit entsprechender Sozialpolitik wirkungsvoller begegnen.

                                                                                                        §2    KK 43
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3.   Vereinigungstheorien
     Aufgrund der spezifischen Schwachstellen der absoluten und relativen Theorien wird häufig eine so be-
     zeichnete Vereinigungstheorie vertreten. Man kann hier noch weiter in vergeltende und präventive Verei-
     nigungstheorien unterscheiden, die ihre Schwerpunktsetzung im Namen tragen. Letztere verzichten ganz
     auf das Vergeltungsmoment und sind daher aus den oben genannten Gründen vorzugswürdig. Die Rspr.
     und insbesondere das BVerfG folgen demgegenüber den vergeltenden Vereinigungstheorien: „[Das BVerfG]
     hat als allgemeine Aufgabe des Strafrechts bezeichnet, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens
     zu schützen. Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begange-
     nes Unrecht werden als Aspekte eines angemessenen Strafsanktion bezeichnet.“ (BVerfGE 45, 187, 253 f.).
     Danach kann Bestrafung also auch legitim sein, wenn kein präventiver Zweck mehr verfolgt werden kann
     und sich die Bestrafung somit lediglich auf Vergeltung berufen kann. Hiergegen sind die gegen die absoluten
     Theorien geäußerten Bedenken ein weiteres Mal zu richten.
     Unglücklicherweise scheint gerade der Begriff der Schuld Einfallstor für vergeltende Komponenten insbe-
     sondere in der Praxis zu sein. Strafe setzt Schuld voraus und darf das Maß der Schuld nicht übersteigen (§ 46
     I StGB). Innerhalb dieser Grenzen hat die Rspr. Spielraum, inwieweit sie spezial- oder generalpräventive
     Aspekte berücksichtigen will. Strafe darf daher sogar die Schuld unterschreiten (vgl. § 46 I 2 StGB).
     Hieran erkennt man, dass die Schuld natürlich keine Komponente der Vergeltung ist. Mit der Bezeichnung
     des sog. Schuldausgleichs wird sie aber in diesem Sinne missbraucht.

                                                                                                              §2    KK 44
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Straftatbestände und ihre Strafandrohung dienen generalpräventiv der Abschreckung. Die Strafverhän-
gung (das Urteil) dient der negativen Spezialprävention (Abschreckung des Täters), der negativen General-
prävention (Abschreckung Dritter) und der positiven Generalprävention. Der Strafvollzug dient allein der
Resozialisierung, also der positiven Spezialprävention, wirkt aber natürlich während der Verhängung fak-
tisch, aber auch negativ spezialpräventiv.
Testfall: „Strafverfahren gegen alte Straftäter“
Beispielhaft sei der Fall des 2015 erstinstanzlich verurteilten (rechtskräftig seit 20.9.2016) Oskar Gröning
genannt. Gröning wurde wegen 300.000 Fällen der Beihilfe zum Mord in Ausschwitz zu vier Jahren Frei-
heitsstrafe verurteilt (hierzu KK § 29 (Teil 2); vgl. ferner den „Fall Demjanjuk“, LG München II, Urteil vom
12.5.2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08, BeckRS 2011, 139286). Vor Haftantritt starb Gröning im Alter von 96
Jahren im Frühjahr 2018. Zuvor hatte das BVerfG (NJW 2018, 289 ff.) entschieden, das hohe Alter stehe
dem Haftantritt nicht von Verfassungs wegen entgegen. In seinen aus Art. 1 I, 2 II GG folgenden Rechten
werde Gröning nicht verletzt. In seiner Entscheidung berücksichtigte das BVerfG aber vornehmlich die Men-
schenwürdegarantie (die nach dem BVerfG verbürgt, dass der Täter eine realistische Chance hat, wieder in
Freiheit zu gelangen) sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (welches aufgrund der
häufigen Erkrankungen alter Menschen relevant ist) und nicht die präventiven Strafzwecke.
Den präventiven Theorien wird vorgeworfen, sie könnten in solchen Fällen die Legitimität der Bestrafung
nicht begründen, weil es an einem zu verfolgenden Strafzweck fehlte. Allein durch Vergeltung ließe sich die
Sanktion rechtfertigen.

                                                                                                        §2    KK 45
Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil
     Wintersemester 2021/2022                                           Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen
     Albert-Ludwigs-Universität Freiburg                             Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht

     Dies überzeugt nicht: Zwar vermögen weder Abschreckung noch positive Spezialprävention die Strafe zu
     legitimieren. Würde jedoch allein aufgrund des Alters des Täters die Strafe nicht verhängt, so geriete das
     Vertrauen der Gesellschaft in die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung (gerade bei schwersten Verbre-
     chen) in Gefahr. Die Strafe lässt sich demnach auch positiv generalpräventiv und damit ohne Rückgriff auf
     den Vergeltungsgedanken (daran zweifelnd Koriath Jura 1995, 631) rechtfertigen (Roxin/Greco AT I § 3 Rn.
     44).

4.   Gedanke der Genugtuung
     In neuerer Zeit werden zur Begründung von Strafe zunehmend das Deliktsopfer und dessen Genugtuungs-
     interesse in den Blick genommen. Hierbei geht es nicht um die Befriedigung von Rachewünschen des kon-
     kreten Opfers, denn es besteht Einigkeit darüber, dass die Zurückdrängung eines solchen emotionalen Op-
     ferbedürfnisses gerade die Errungenschaft des „rationalen“ staatlichen Strafrechts ist. Vielmehr wird die
     Bedeutung des staatlichen Bestrafungsaktes für das Opfer hervorgehoben. Das Opfer habe ein berechtigtes
     Interesse daran, dass der Staat ihm gegenüber kommuniziert, dass ihm „Unrecht und kein Unglück“ wider-
     fahren ist und hierauf reagiert wird.
     Die so verstandene Genugtuung wird allerdings bereits durch den Ausspruch der Strafe selbst erreicht und
     ist daher den (zu kritisierenden) absoluten Straftheorien zuzuordnen.
     Zur Vertiefung: Hörnle Straftheorien (2. Aufl. 2017) S. 37 ff.; Weigend RW 2010, 39, 42 ff.; vgl. insb. die
     zutreffende Kritik zu den opferorientierten Straftheorien von Greco GA 2020, 258 ff.

                                                                                                            §2    KK 46
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II.   Zweck von Maßregeln
      Der Zweck der Maßregeln ist terminologisch vorgegeben. Ausweislich ihrer gesetzlichen Bezeichnung die-
      nen sie der Besserung und Sicherung (vgl. Überschrift des Sechsten Titels des StGB), also ausschließlich prä-
      ventiven Zwecken. Insbesondere im Rahmen der freiheitsentziehenden Maßregeln soll der Täter durch die
      vornehmlich therapeutisch ausgerichtete Unterbringung die ihm attestierte Gefährlichkeit überwinden.
      Gleichzeitig dient die Unterbringung auch dem Schutz der Allgemeinheit vor dem Betroffenen, solange die
      Gefährlichkeitsprognose aufrechterhalten wird.
      Diese primär spezialpräventive Ausrichtung (wobei die einzelnen Maßnahmen im Spannungsfeld zwischen
      Besserung und Sicherung unterschiedliche Akzente setzen) wird dabei auch von generalpräventiven Ele-
      menten ergänzt. So kann etwa die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) abschreckender wirken als die
      bei Verkehrsdelikten zu erwartende Strafe.
      Kein Zweck der Maßregeln darf hingegen der Schuldausgleich sein, da ihre Verhängung im Gegensatz zur
      Strafe gerade keine schuldhaft begangene Straftat voraussetzt. Begrenzt werden die Maßregeln daher auch
      nicht vom Ausmaß der Schuld, sondern vom Verhältnismäßigkeitsprinzip (Roxin/Greco AT I § 3 Rn. 65). Die-
      ses lässt tiefergreifende Eingriffe in die Rechtsposition des Bürgers zu. Gerechtfertigt wird dies im Rahmen
      der Maßregeln durch die Überlegung, dass „die Freiheit entzogen werden kann, wenn ihr Gebrauch mit
      hoher Wahrscheinlichkeit zu Beeinträchtigungen anderer führt, die in ihrer Gesamtheit weit schwerer wie-
      gen als die Einschränkungen, die der Verursacher der Gefahr durch die Maßregel auf sich nehmen muss.“
      (Roxin AT I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 66).

                                                                                                               §2    KK 47
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III. Tat- und Täterstrafrecht
    Tatstrafrecht: Gesetzliche Regelung, der zufolge die Strafbarkeit an eine tatbestandlich umschriebene ein-
    zelne Handlung (oder allenfalls mehrere) anknüpft und die Sanktion sich nur als Antwort auf die Einzeltat
    und nicht auf die gesamte Lebensführung des Täters oder die von ihm künftig erwarteten Gefahren dar-
    stellt. Das deutsche Strafrecht ist zwingend als Tatstrafrecht zu charakterisieren, wobei allerdings jedenfalls
    im Bereich der Strafzumessung täterspezifische Aspekte und Einstellungen eine Rolle spielen können.
    Täterstrafrecht: Regelung, bei der die Strafe an die Persönlichkeit des Täters anknüpft und deren (Ausmaß
    an) Asozialität über die Sanktion entscheiden lässt. Im deutschen Strafrecht ist es allenfalls (in hier nicht
    darzustellenden Maßen) zu akzeptieren, dass täterstrafrechtliche Aspekte im Rahmen eines festgestellten
    tatstrafrechtlichen Tatvorwurfs strafschärfend oder -mildernd Berücksichtigung finden.

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Literatur zu § 2:
Rengier AT § 3
Roxin/Greco AT I § 3
Anmerkung: Zum Begriff des Feindstrafrechts als modernem Ausläufer des Täterstrafrechts s. das Inter-
view mit Roland Hefendehl, https://www.heise.de/tp/artikel/26/26131/1.html (zuletzt abgerufen am
18.10.2021).

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                                             Wiederholungs- und Vertiefungsfragen
  I.        Für welche Strafzwecke stehen Kant, Feuerbach und Liszt?
II.         Welche Argumente werden gegen die relativen Straftheorien vorgebracht?
III.        Was ist der Grund für die sog. Vereinigungstheorien bei den Strafzwecken?

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